Schatten über Grenchen - Iris Minder - E-Book

Schatten über Grenchen E-Book

Iris Minder

0,0
10,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Etwas Bedrohliches liegt wie eine schwarze Wolke über Grenchen und über Doro Schenker. Aber noch spürt sie davon nichts. Doro lässt sich frühzeitig pensionieren und möchte sich das Leben gemütlich einrichten. Von ihrer Nachbarin Olivia lässt sie sich mit süssen Kuchen und Törtchen verwöhnen. Olivia kümmert sich hingebungsvoll um ihre Mitmenschen und kämpft vehement gegen Ungerechtigkeit. Aber die heile Welt trügt. Bald schon wird Doro in die beängstigenden Vorfälle hineingezogen. Unerklärliche Todesfälle – besonders im Umfeld des Vereins «Weltstadt Grenchen» erschüttern die Stadt. Die vom Präsidenten, Kilian Zahler, dieses Vereins gemobbte Sekretärin wird als erste vergiftet in ihrer Wohnung aufgefunden. Gleichzeitig entdeckt Andrea Erisman, die Stadtarchivarin, brisante Unterlagen, die in einem Zusammenhang mit den Morden stehen. Sie schweigt aber plötzlich und Doro Schenker wird immer mehr in diese Geschehnisse hineingezogen und muss sogar um ihr Leben fürchten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

Schatten über Grenchen

KRIMINALROMAN

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

VON IRIS MINDER

 

 

 

 

 

FÜR SUSI

FÜR ERIKA

FÜR MEINE GESCHWISTER DORIS UND THOMAS

 

 

 

 

 

 

 

«Böse Menschen müssen das Böse

aus Hass gegen die Bösen tun» (Novalis)

 

Vorwort

 

In «Schattenvermächtnis» sind Doro Schenker, Fotografin, und ihr Geschäftspartner Roland Rothenbühler, Journalist, in eine unheimliche Geschichte bei der Ruine Witeli involviert. Die Ruine liegt am Südhang des Juras, mitten im Wald und war bis Mitte des 19. Jahrhunderts ein abgelegener Bauernhof in einer Lichtung. Wegen schlimmer Verbrechen an diesem Ort geistern dort heute die unerlösten Seelen der Täter als unheimliche, dunkle Schatten umher. Bei der Recherche vor Ort verschwindet Roland auf unerklärliche Weise und ist bis heute nicht gefunden worden. Eines scheint sicher zu sein, es ging dabei auf jeden Fall nicht mit rechten Dingen zu.

 

Am gleichen Ort verschwindet auch die Tochter der Archivarin Andrea Erismann und ihres Mannes Bruno. Sie ist dort auf einem Ausflug mit der Klasse, um den Samichlaus zu treffen. Sie spürt die Bedrohungen der unheimlichen Schattenmänner an diesem Ort. Gleichzeitig muss Andrea im Stadtarchiv grausige Dinge erleben. Es scheint, als ob die unerlösten Seelen auch sie bedrohen. Selbst der Schulhauswart, Franco Sieber, kann ihr nicht helfen. Die gemeinsame Freundin von Andrea und Bruno, Karin Muster, ist ebenfalls ins ganze Geschehen involviert.

 

Mit Hilfe von verschiedenen Menschen können die Rätsel gelöst und die Geister befreit werden. So helfen die Nachforschungen der Serviceangestellten Eva Ellenberger, die bei einem ihrer Stammgäste, Edi Rüefli, zuhause auf die Suche nach alten Dokumenten geht und so die alte Geschichte aufdecken kann. Da sind auch die beiden Inhaberinnen des Investigation-Büros, Daniela, eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern Saskia und Silvan, und Daniela, die beide Doro bei der Suche und den Abklärungen tatkräftig unterstützen.

 

Am Ende sind die alten Seelen erlöst, die Rätsel um die Gerüche im Stadtarchiv geklärt. Aber Roland bleibt verschwunden und niemand weiss, was mit ihm geschehen ist.

Ich muss es tun. Ich kann es tun. Man wird mir dankbar sein. Das Böse kann nur mit Bösem ausgerottet werden. Und so muss ich mich opfern, um die Menschheit, um Grenchen vom Diabolischen zu befreien. Man kann es ein für alle Mal und für immer auslöschen. Und ich bin das Vorbild, der Vorreiter. Es ist meine von Gott gegebene Aufgabe, den Menschen zu zeigen, dass man gegen das Böse kämpfen kann. Ja, ich bin auserkoren. Der allmächtige Gott hat Satan nicht vernichtet. Er hätte es mit links tun können. Warum hat er es nicht getan? Ganz einfach, weil er darauf wartet, dass es Menschen gibt, die diese Aufgabe übernehmen. Als Prüfung. Genauso ist es. Und ich bin die auserkorene Person Gottes. Nächstenliebe ist Gottes Wille. Und wer dessen nicht fähig ist, muss vernichtet werden. Wie Burri und Garcia. Oh, was für ein Werk. Alle denken, sie seien an diesem Virus gestorben. Ihnen werden die Augen aufgehen, wenn mein Werk vollendet ist und alle Bösen in Grenchen von mir eliminiert worden sind. Jetzt werde ich mich um die nächste Gestalt kümmern. Und Grenchen wird noch heller werden, wenn auch die weg ist. Für immer.

 

 

1

 

Langsam normalisierte sich das Leben von Doro Schenker. Sie ahnte allerdings nicht, was für eine unheimliche Gefahr über Grenchen und besonders über ihr lauerte.

 

Seit dem mysteriösen Verschwinden ihres Partners vor zwei Jahren hatte sich alles völlig verändert. Diese Ungewissheit, die unendlichen Befragungen durch die Polizei, die sie sogar verdächtigt hatten, schuldig an Rolands Verschwinden zu sein, hatten zu einer grossen Lebenskrise geführt. Noch heute bedrückt es sie, wie schnell man völlig unschuldig in Verdacht geraten kann. Keiner wollte ihr wirklich die Geschichte dieser unheimlichen Fotos in ihrer Kamera glauben und dass sie plötzlich wieder verschwunden waren. Einzig die Kolleginnen konnten es bezeugen, wurden aber nicht sehr ernst genommen. Vor allem geriet sie unter Verdacht, weil sie das plötzliche, unheimliche Verschwinden ihres Geschäftspartners nicht sofort gemeldet hatte. Aber ehrlich! Wer glaubt schon so eine Geschichte. Man dreht sich um, geht ein paar Schritte und beim nächsten Blick zurück ist der Mensch, der gerade noch dort stand, weg. Alles Suchen und Rufen war ohne Erfolg. Beweise hatte sie keine. Die Fotos waren weg, Roland war weg. Ihr war schon klar, dass das für andere äusserst verdächtig erschien und man ihr Leben und die Beziehung zu Roland richtiggehend umkrempelte. Es war kein Trost für sie, dass auch andere verdächtigt wurden. Aber kein Verdacht hat sich als berechtigt erwiesen. Sie konnte das gemeinsame Büro ROSCH-press kaum noch betreten, geschweige denn es weiterhin benützen. Deshalb kündigte sie den Mietvertrag an der Kirchstrasse 32 und packte alle Sachen von Roland, ohne sie durchzusehen, in mehrere Bananenschachteln, die dann zuhinterst im Keller ihres Hauses lagerten.

 

Wochenlang blieb sie zuhause und ging nur nach draussen, um den Abfallsack zu deponieren. Essen bestellte sie übers Internet. Das Telefon liess sie klingeln, das Handy blieb ausgeschaltet. Und wie beim Tod ihrer Lebenspartnerin hörte sie in einer Endlosschleife den Refrain vom Lied «Heaven» der Gruppe Gotthard in voller Lautstärke:

 

Let me find my piece of heaven

Let me find my way back home

I want this love to last forever

And back together, rise once again

From the ashes to the sky

From the ashes to the sky

 

(Lass mich mein Stück vom Himmel finden,

lass mich meinen Weg nach Hause finden.

Ich will, dass diese Liebe ewig dauert

und -wieder zusammen-

noch einmal auferstehen

aus der Asche in den Himmel.

aus der Asche in den Himmel.)

 

Sie liess sich in die Melodie fallen und in dieser Sehnsuchtswelle davontragen, tränenüberströmt. Und doch lag ein grosser Trost für sie darin. Eigentlich blöd, wunderte sich Doro, dass so traurige und flehende Texte und Melodien Trost sein können. Es sollte doch vielmehr wilde und lebensfreudige Musik sein. Aber für sie war es richtige Seelenmedizin und eine Hilfe, um aus einer verzweifelten und deprimierenden Lebenslage zu kommen. Die fröhlichen Lieder sind für glückliche Zeiten. In traurigen nerven sie nur und machen aggressiv. Warum das wohl so ist?

 

Doro versuchte nach wie vor zu verstehen, was da passiert war. Wie kann ein Mensch einfach von einer Sekunde auf die andere verschwinden? Ohne Spuren? Jedenfalls keine sichtbaren Spuren. Der Geruch seiner Zigaretten war damals mehrfach in der Luft gelegen, dort oben beim Witeli. Doro fand jedoch keine Erklärung, die ein Mensch mit Vernunft, Verstand und wissenschaftlichen Argumenten hätte nachvollziehen können. Es blieb ihr nur die Deutung von sogenannten Esoterikern: Es gibt halt nach wie vor mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, die wir mit dem Verstand nicht erklären können. Schliesslich wurden ja auch diese Geister der Vergangenheit erlöst, welche beim Witeli als dunkle Nebelgestalten herumwaberten. So wird es sicher auch eine Lösung, gleich welcher Art, für Rolands Verschwinden geben. Diese Hoffnung wird sie nie aufgeben.

Eva Ellenberger – die junge Bedienstete in der «Häufti», die inzwischen die Ausbildung als Polizistin begonnen hatte und eine Zeit lang ebenfalls im Fokus der Polizei stand – meinte zu ihr, bei einem der wenigen Gespräche, die Doro während ihres Rückzugs zugelassen hatte, dass das Schicksal einem manchmal genau die Dinge beschere, die uns in unserer Entwicklung weiterbringen. Und mit dieser Aussage sollte sie Recht bekommen. Es gab noch einige andere Menschen, die ihr mit kleinen Liebesbeweisen und Zeichen zu spüren gaben, dass sie nicht alleine ist. Olivia Eicher, die zusammen mit ihrer Schwester Lotti im alten Haus nebenan wohnt, hatte ihr immer wieder einen ihrer legendären Kuchen vor die Türe gelegt. Hereingelassen hatte Doro sie allerdings nie. Ab und zu lagen bunte Zeichnungen der drei Kinder von Andrea Erismann, der Stadtarchivarin, vor der Türe. Mit vielen Herzchen übersäte kleine Kunstwerke und Brieflein von Stefanie, die auf dramatische Weise beim Witeli verschwunden war und Gott sei Dank wiedergefunden wurde, und auch welche von den Zwillingen Laura und Lena überraschten Doro ab und zu auf der Türschwelle. Sie freute sich immer sehr darüber, auch wenn sie lange nicht in der Lage war, sich zu melden oder gar zu danken.

 

Zuerst konnte sich Doro nicht erklären, warum sie dermassen stark und verzweifelt auf das Verschwinden von Roland reagierte. Aber es war für sie so was wie der Tropfen auf den heissen Stein. Jahrzehntelang hatte sie gearbeitet, gekämpft, sich und ihre Fotokunst mit viel Energie und Kraftaufwand vermarktet. Es ging um ihre Existenz. Seit Jahrzehnten immer der gleiche Kampf und die gleichen Probleme. Sie merkte, dass sie erschöpft war, dass sie keine Lust mehr hatte, dass sie ihre Kräfte für was anderes einsetzen wollte. Diese Ermüdung, zusammen mit der ganzen Geschichte mit Roland, führten zu ihrem Rückzug und zu ihrem Tief.

 

Nach drei Monaten jedoch tauchte Doro dann doch langsam wieder aus ihrem Seelensumpf auf. Trauer und Depression verwandelten sich in eine hilflose Wut. Was geht sie dies alles eigentlich an? Nichts, gar nichts. Wenn Roland verschwinden will, dann ist es seine Sache. Und wenn sie ihr bisheriges Leben aufgeben will, dann verdammt nochmal, möchte sie das jetzt auch machen, was immer auf sie zukommen wird und wie immer es werden soll.

 

Doro stapfte mit einem Gemisch von Trauer und Wut in den Keller. Dort hatte sie nach dem Tod ihrer Lebenspartnerin mitten im Raum eine Mauer aufgebaut. Mit dem Vorschlaghammer wütete sie darauf ein und rammte ihn in die Steine. Erschöpft und ausser Atem lag sie danach jeweils auf dem Rücken. Am Tag darauf baute sie mit den zerschlagenen Ziegelsteinen die Mauer erneut auf, machte sie mit Mörtel stabil, nur um sie später wieder zu zerstören.

 

Als Kind konnte sie so ihre Gefühle von Verlorenheit, von abgelehnt werden verarbeiten. Ihre Eltern – beide auf ihre Art sehr bemüht – waren unfähig, der kleinen Doro Wärme und Geborgenheit zu geben. Es fehlte ihr als Kind an nichts: genügend zu essen, Ausflüge, ein eigenes Zimmer, Förderung beim Lernen und jedes Lob, wenn sie gute Noten nachhause gebracht hatte. Ihr Zuhause war sauber und sehr ordentlich. Die Eltern sorgten für eine gute und anständige Erziehung, waren bestrebt gewesen, aus Doro ein ordentliches und gebildetes Kind zu formen. Eines allerdings hatte gefehlt, Wärme und das Gefühl von Geborgenheit. Nie wurde Doro in den Arm genommen. Kuscheln mit dem eigenen Kind war für die Eltern völlig fremd. Wenn Doro traurig war, waren die Eltern unfähig drauf einzugehen, sie zu trösten. Wenn Doro fröhlich war, wurde es den Eltern schnell zu viel, ja peinlich. Man hatte Doro in diesen Situationen gebeten in ihr Zimmer zu gehen und sich zu beruhigen. Nie fiel ein lautes Wort, nie wurde geschimpft, geweint oder laut gelacht. Alles war immer moderat, ruhig und gefasst. Man zeigte keine Gefühle. Es wurde nur analysiert und sachlich diskutiert. Doro hatte schon als sehr kleines Kind den Eindruck gewonnen, dass zwischen ihr und den Eltern eine unsichtbare, aber unüberwindbare Mauer stehen würde. Eine Mauer, die sie aussperrte und traurig machte. Sie träumte sogar von dieser Mauer, rannte dagegen an und erwachte dann mit Kopfweh. Da sie aber ein kreatives und findiges Mädchen war, baute sie diese Mauer mit ihren Holzbauklötzen sorgfältig auf. Wenn das Gefühl von Ausgeschlossen sein, von Verlassen sein überhandnahm, setzte sie sich vor die Mauer und schlug mit ihrer ganzen Kraft darauf ein, baute sie wieder auf, schlug sie wieder zusammen und dies bis zur Erschöpfung. Es vermittelte ihr das Gefühl, dieser Mauer zwischen den Eltern und ihr nicht völlig ausgeliefert zu sein, etwas dagegen tun zu können. Und dieses Ventil hat sie nun bis ins Alter beibehalten. Immer wenn sie sich ausgeliefert, hilflos, wehrlos, verlassen, einsam und wütend fühlte, half es ihr mit diesen Gefühlen klar zu kommen, wenn sie ihre Mauer im Keller zusammendonnerte.

 

Wie damals verwandelte sich auch diesmal ihre Trauer in Aggression und Wut. Ihre ganze Hilflosigkeit gegenüber dem Tod, dem Verschwinden von Roland und der Leere in ihrem bisherigen Berufsleben schmetterte sie mit dem Hammer in die Mauer, so lange, bis alles zertrümmert war. Nach mehrmaligem Aufbauen und Zerschmettern während der letzten drei Wochen, ging sie eines Abends unter die Dusche und fühlte sich zum ersten Mal wieder Herrin ihres Lebens.

 

Doro tauchte aus ihrem Tief auf und packte mit wiedergewonnener Energie einen Neuanfang an. Als erstes überprüfte sie ihre finanzielle Situation. Zum ersten Mal nach dem Tod ihrer Lebenspartnerin holte sie die Nachlasspapiere von ihr hervor und stellte erstaunt fest, dass sie ihr fast eine Million hinterlassen hatte. Doro sass einen Moment völlig erstarrt da. Dann sprang sie auf, tanzte durchs Zimmer und jubelte. Voller Dankbarkeit und Liebe jauchzt sie ihrer verstorbenen Lebenspartnerin zu: «Danke, danke, dass du mir ein neues Leben ermöglichst. Ich liebe dich. Wir sehen uns wieder. Irgendwann.»

 

Doro wurde kürzlich 62 Jahre alt. Mit der Hinterlassenschaft ihrer Freundin konnte sie es sich nun leisten, nicht mehr Geld verdienen zu müssen. Als Fotografin hat man heutzutage kaum noch lukrative Aufträge. Zeitungen veröffentlichen lieber Handyfotos von voyeuristischen Lesern oder lassen ihre Schreiberlinge selbst Fotos schiessen. Der Wert einer professionellen Fotografie wird in einer derart schnelllebigen, ständig nach Sensationen lüsternen Gesellschaft kaum noch erkannt. «Ums Himmels Willen», ruft sie aus, «ich denke schon fast wie eine frustrierte alte Tante.»

 

Kurzentschlossen liess sie sich in einem Reisebüro eine mehrwöchige Reise nach Island zusammenstellen. Dieses grossartige Land mit seinen Gegensätzen von heiss und kalt, schwarzer Erde bis hin zu weissen Gletschern, Stille und unendliche Weite, hatten es ihr schon lange angetan. Island war immer ihr Sehnsuchtsland.

 

«Ich habe das Gefühl, dass dieses Land das Bild meiner Seele ist, mit all den Gegensätzen und ständigen Wechseln von Wind und Wetter, den verhüllenden Nebeln oder dem gleissenden Licht, ewiger Tage und ewiger Nächte, nur durchdrungen von geheimnisvollen, tanzenden Lichtern am schwarzen Himmel.» So erklärte sie Bekannten ihre Liebe zu diesem Land. Und: «Was mich besonders fasziniert, ist die Tatsache, dass die Isländer an Elfen glauben, sie respektieren und in ihr Leben einbeziehen. Unglaublich, dass es in diesem Land sogar staatlich engagierte Elfenbeauftragte gibt, die beim Bau von neuen Strassen zuerst überprüfen, ob diese nicht ein Elfenland tangieren. Und wenn dem so ist, wird der Verlauf der Strasse geändert. Unglaublich und grossartig.»

 

Vier Wochen lang erlebte sie dieses grossartige Land und kam innerlich ruhig und gelassen zurück. Einen Plan, was sie mit ihrem neuen Leben, mit der gewonnenen Freiheit anfangen soll, hatte sie bewusst nicht gefasst. Sie konnte sich den Luxus leisten abzuwarten, was auf sie zukommen wird. Und so kehrte Doro Schenker wieder in ihr Leben in Grenchen zurück.

 

Als erstes liess sie sich eine neue Frisur machen. Sie hatte dichtes, volles Haar, das sie bisher sehr kurz trug. Jetzt in den Ferien und während ihrer langen selbstgewählten Klausur ist es fast bis zu den Schultern gewachsen. Sie entschloss sich, es bis zum Kinn schneiden zu lassen mit einer langen Strähne vorne, die sie leuchtend blau einfärben liess. «Ich bin zwar alt, aber auch ein wenig verrückt. Deshalb passt das zu mir!» überzeugt sie ihre Coiffeuse.

 

Dann denkt sie darüber nach, sich vielleicht eine Katze oder einen Hund anzuschaffen. Etwas Gesellschaft in ihrem Haus würde ihr guttun. Aber nicht nur das, sie könnte sich um jemanden kümmern, hätte mit einem Hund Bewegung. Ja, vielleicht wäre ein Hund besser. Mal schauen.

 

Doro freut sich auf ihr neues Leben. Es jetzt mal gemütlich nehmen und den Alltag geniessen, wie er gerade kommt. Mit Nachbarn tratschen, spontan mit jemandem abmachen, in die Stadt zum Flanieren gehen. Einfach ein wenig dahintreiben.

 

Dass es ganz anders kommen und sie in tödlicher Gefahr schweben wird, käme ihr im schlimmsten Traum nicht in den Sinn.

 

2

 

Doro steht vor der Terrassentüre ihres Hauses und schaut hinaus. Seit zwei Tagen ist sie aus Island zurück.

 

«Es ist wie eine Neugeburt. Der Aufenthalt war sozusagen die Zeit zwischen zwei Leben, zwischen sterben und geboren werden», erklärte sie bei ihrer Rückkehr ihrer Nachbarin Olivia.

 

Endlich hat ein Gewitter Abkühlung gebracht. Jetzt löst ein kühlender Sommerregen die schwüle Hitze ab. Diese Momente erzeugen bei Doro immer eine Art Glücksgefühl, eine Befreiung, Entlastung. Aber, wie zeigt sich jetzt das neue Leben? Nur noch das tun, was mir Freude bereitet, ausschlafen, sich Zeit für andere nehmen? Aber wie geht das? Will ich das wirklich, sinniert sie. Was soll ich mit meinem restlichen Leben noch anfangen? Wie es gestalten? Was interessiert mich eigentlich noch? Werde ich überhaupt irgendwo gebraucht? Wie bringe ich die vielen Stunden eines Tages durch? Wie kann ich sie ausfüllen? Muss ja nicht alles sofort sein, ich kann mir Zeit lassen, tröstet sie sich. Ein Leben führen wie ihre neue Nachbarin, Olivia? Für alle da sein. Kuchen backen. Zum Tee einladen. Nein, das ist sicher nicht das, was sie sich erträumt. Aber auf keinen Fall so werden wie Olivias Schwester Lotti, die mit allem hadert und alle und jeden als ihren Feind ansieht.

 

«Ich kann mir Zeit lassen. Jawohl!», ruft sie aus.

 

Sie will sich gerade vom Fenster abwenden, da sieht sie Olivia in den Glastüren des Wintergartens mit den vielen exotischen Pflanzen, von Lotti gehegt und gepflegt, stehen. Sie winkt Doro lachend zu und zeigt ihr eine Tasse. Doro gibt ihr mit dem Daumen nach oben zu verstehen, dass sie verstanden hat und die pantomimische Einladung zum Kaffee annehmen will.

 

Olivia mit den wilden rostroten Haaren ist eine herzensgute und liebevolle Frau. Die Ideale einer Hausfrau der 50er Jahre lebt sie noch heute. Das zeigt sich auch an ihrer Kleidung. Taillierte Röcke aus karierten, gepunkteten und gestreiften Stoffen, Chemisekleider, in der Küche Schürzen mit Volants, beim Haushalten ein kleines, hinten gebundenes Kopftuch und sonst leicht auf Volumen toupierte Haare mit einem farblich zur Kleidung passenden Samtband. Sie liebt es zu dienen. Da sie keinen passenden Mann gefunden hat, wie sie oft achselzuckend selber sagt, verwöhnt sie halt nun all die Menschen um sie herum. Unglaublich, dass jemand immer für andere da ist, ihnen zuhört, sie bekocht und sie beschenkt. Immer wirkt sie gut gelaunt und hat ein freundliches Lächeln für alle. Nur ganz selten wird sie richtig wütend. Aber dann richtig. Ungerechtigkeiten, arrogante und ignorante Menschen, Bösartigkeiten, Leute die sich, ganz gleich auf welche Art und Weise, auf Kosten anderer bereichern, Typen, die misshandeln, sei es seelisch oder körperlich: dies alles macht sie so wütend, dass man sie fast nicht mehr erkennt. «Solche Kreaturen müsste man ausrotten», meinte sie einmal zu Doro. Erschrocken über ihre Aussage entwarnt sie sofort: «Keine Angst, das mache ich natürlich niemals. Aber, wenn ich das viele Leiden sehe, das gewisse Menschen verursachen, kommt man schon auf solche bösen Gedanken.»

 

Ganz anders ist die strohblonde Lotti. Im Gegensatz zu ihrer Schwester, die meist helle und freundliche Farben trägt, sieht man Lotti nur in Schwarz. Wenn Olivia einen knalligen pinkfarbenen Lippenstift aufträgt, entstellt sich ihre Schwester mit dunkelvioletten Lippen, die dick mit Schwarz umrandet sind. Beide haben allerdings die gleiche Autormarke, einen Renault Twingo von der Garage Frutig in Grenchen. Nur, der von Olivia ist – wie kann es anders sein – rosa mit Blümchen. Lottis Auto ist schwarz. Einfach nur schwarz. Unglaublich, dass zwei Schwestern so verschieden sein können. Lotti ist griesgrämig, abweisend und sieht alle Menschen um sich als ihre Feinde an. Bei den wenigen Gesprächen mit Lotti hört Doro immer nur Vorwürfe, alle Menschen sind schlecht, jeder nur auf seinen Vorteil bedacht, überall nur Böses. Alle, die sogenannt Gutes tun und für jeden da sein wollten, würden das sowieso nur für sich selber tun. Von wegen Nächstenliebe. Da ginge es nur darum, sich zu befriedigen. Es sei widerlich, wie sich Olivia so edelmütig, mitfühlend und aufopfernd für jeden einsetze. Die täte das nur für sich, um ihrem eigenen langweiligen Leben einen Sinn zu geben. Von wegen Nächstenliebe! Und dann das Geschwätz rundum. Jeder würde labern und schwätzen. Alles unsinniges Zeug. Viel zu viele Worte. Da würde sie lieber schweigen und nicht reden. Im Übrigen, wenn sie reden würde, dann wäre sie offen und dann würde jeder in sie hineinsehen und sie verletzen. Denn darauf würden alle Leute lauern, darauf, sie herabzusetzen und fertig zu machen. Olivia hatte Doro einmal erklärt, dass Lotti schon als kleines Kind sehr verschlossen gewesen wäre. Aber erst als die Eltern sich getrennt hatten und der Vater verschwunden war, sei sie zu einem finsteren Sauertopf geworden. Sie würde halt nicht wissen, was zwischen Lotti und ihnen vorgefallen sei. Es hätte jeder sowieso ein anderes Elternbild.

 

«Lotti ist aber inzwischen erwachsen und sollte eigentlich solche Kindheitsbelastungen verarbeitet haben. Aber scheinbar ist es einfacher für sie, auf alle und jeden wütend zu sein, als sich auf Menschen einzulassen. Es ist halt jetzt wie es ist. Im Grunde tut sie ja niemandem etwas zuleide, ausser sich selbst. Ich könnte es auf jeden Fall nicht ertragen, wenn man um mich einen Bogen machen würde, wie alle um Lotti», erklärte Olivia mal bei einem Kaffeeklatsch. «Und schliesslich ist sie meine Schwester, und ich liebe sie so wie sie ist», ergänzt sie achselzuckend und fügte lachend hinzu: «Vielleicht verwöhne ich deshalb alle Menschen und bin für alle da. Weisst du, so als Ausgleich zu Lotti. Wir sind halt beide etwas extrem. Wenn man uns zusammenfügen würde, käme ein ganz normaler Mensch heraus!»

Jetzt winkt sie mit der Kaffeetasse zu einem Schwätzchen und hat sicher wieder etwas Gluschtiges gebacken. Doro freut sich darauf, nimmt den Regenschirm aus dem Ständer und öffnet die Türe. Etwas streicht ihr über die Wange. Ein Hauch. Sie hält den Atem an. Ihr Herz rast. Ihre Nackenhaare stellen sich auf. Was ist das? Etwas Unheimliches ist da. Was soll jetzt das wieder?! Doro muss lachen. «Langsam werde ich paranoid. Unglaublich. Jetzt erschrecken mich schon Spinnweben oder ein Windhauch.» Kopfschüttelnd öffnet sie das Gartentor und geht hinüber zu Olivia und Lotti. Sie schaut zurück. Soll sie ihren Schreck ernst nehmen? War da wirklich etwas Unheimliches? Ein Bauchgefühl? Sie beschliesst abzuwarten und geht über die Strasse zum Haus der Schwestern.

 

Das Haus von Olivia und Lotti stammt aus der Zeit des Jugendstils. Allerdings haben Sonne und Wetter vieles ausgebleicht. Die schmutzig grünen Fensterläden und Rahmen blättern an einigen Orten ab oder hängen teilweise schief in den Angeln. Ein Erker mit bleiverglasten bunten Fensterscheiben zeugt von der blühenden Entstehungszeit des Hauses. Man sieht noch deutlich, dass da eine wohlhabende Familie wohnte. Auch die einst weisse Fassade weist die Spuren der Zeit auf. Die Fenstersimse werden durch kunstvoll geschmiedete Einfassungen, die teilweise Rost aufweisen, geschmückt. Olivia hat sich schon oft darüber beklagt, dass sie das Haus renovieren sollten, aber ihnen fehle einfach das Geld. Das Haus der beiden Schwestern strahlt etwas Geheimnisvolles, Märchenhaftes aus. Doro kommt es manchmal wie ein Hexenhäuschen vor. Besonders dann, wenn der Duft von Olivias süssen Bäckereien aus dem Küchenfenster strömt. So wie jetzt.

 

Doro öffnet das schmiedeeiserne, quietschende Gartentor, das Teil eines ebenso kunstvoll gestalteten Gartenhages ist. Einige Teile dieses Zaunes sind von wild wuchernden Thuja- und Fliederbüschen überwachsen. Beim Schliessen des Gartentores schaut sie nochmals zurück zu ihrem Haus. Ist da ein Schatten im Fenster ihrer Küche? Nicht, ich möchte das einfach nicht. Nicht nochmals. Doro atmet tief ein und klingelt.

 

 

Das Büro des Vereins «Weltstadt Grenchen» befindet sich in zwei Räumen auf dem Areal der ehemaligen Ebosa. Die Uhrenfirma hat Wecker, Reisewecker und Taschenuhren mit Weckerfunktion und Teile für ebensolche Uhren produziert und stellte diese bereits im Jahre 1949 an der Uhrenmesse in Basel aus. Die Patente für diese Uhren waren in den USA registriert worden. Die Uhrenfirma war bis zur Liquidation 1999 grösstenteils in den Händen der Grenchner Familie Glocker. Heute sind in den Ebosa-Büros und -Hallen verschiedene kleine Firmen und Betriebe eingemietet. Unter vielen anderen befinden sich dort das Netzwerk Grenchen mit Werkstätten, Büros und einem Verkaufsladen für Menschen ohne Arbeit, die hervorragende EDV-Firma SevenBit GmbH, ITS Time AG, verschiedene Angebote in Alternativmedizin und Gesundheit, das Arbeitsamt Grenchen, die Kindertagesstätte Momo, Reiseveranstalter Vollenweider, Angebote für verschiedene mechanische und technologische Betriebe wie auch Sportclubs.

 

Und so befindet sich dort auch der Verein «Weltstadt Grenchen», dessen Ziel es ist, Grenchen nicht nur imagemässig, sondern auch wirtschaftlich und kulturell zu fördern. Der Verein wurde gegründet, weil der Stadt die finanziellen Mittel fehlten, um diese Aufgaben zu übernehmen. So wurde das alles «outgesourct» und im Auftrag der Stadt sozusagen kommissarisch dem Verein übergeben. Das Problem der Stadt am Jurasüdfuss ist, dass sie zwischen zwei grossen Städten liegt, die historisch bis ins Mittelalter gehen oder die grösste Entwicklung während des Barocks durchgemacht haben. Grenchen wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von einem Bauerndorf zu einer Uhrenindustriestadt, deren bauliche Entwicklung einen Höhepunkt in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts hatte. Wegen der gut erhaltenen und gepflegten 50er Jahresbauten bekam Grenchen auch den Wakkerpreis. Grenchen ist eine lebendige Stadt, innovativ in Industrie, Kultur und Sport mit aktiven und engagierten Bewohnern. Aber rund um Grenchen nimmt man es nicht zur Kenntnis, im Gegenteil, man lächelt über die kleine Stadt und findet es beispielsweise unter der Würde, als Solothurner oder Bieler in Grenchen Anlässe zu besuchen. Um diese Vorurteile abzubauen, gründete man gemeinsam mit der Stadt den besagten Verein «Weltstadt Grenchen».

 

Kilian Zahler, der Präsident des Vereins «Weltstadt Grenchen», starrt von seinem Chefsessel in sein makellos aufgeräumtes Büro. Er ist Anfang Sechzig, kein sportlicher Mann, aber er schaut auf sein Äusseres. Heute trägt er ein weisses Hemd mit beiger Hose, die allerdings in der Taille etwas eng sitzt, sodass sich sein Bauch leicht darüber wölbt. Um den Hals trägt er wie immer ein seidener Foulard, das zu seinem Markenzeichen geworden ist. Über die kahle Kopfhaut zieht er die seitlich langgewachsenen Haare, um auf diese Weise den Eindruck zu vermitteln, dass dort oben noch Haare sind. Er merkt nicht, dass dieses Verdecken so auffällig ist, dass die darunterliegende Glatze nur noch mehr betont wird. Zahler hat diese Stelle in Grenchen angenommen, in der Hoffnung, weniger arbeiten zu müssen, etwas mehr Status zu haben und sich so für den Rest seines Berufslebens eine ruhige Kugel schieben zu können. Als kantonaler Beamter in Solothurn im Schulamt fühlte er sich zu sehr kontrolliert und als kleines Rädchen unter vielen anderen Rädchen.

 

Kilian Zahler ist wütend und klopft mit der rechten Faust nervös auf den Tisch. So eine Frechheit lässt er sich nicht gefallen. So geht man mit ihm als Chef nicht um, so nicht. Was denkt der sich eigentlich. Schliesslich ist er als Präsident dieses Vereins vom Gemeinderat und den Vereinsmitgliedern einstimmig gewählt worden. Dann hat man ihm auch zu gehorchen. Er muss sich nichts, aber auch gar nichts gefallen lassen. Vor allem haben die Mitarbeitenden sich zurückzuhalten. Die Lorbeeren gehören ihm, ihm dem Präsidenten. Dieser Lorenz Gautschin, was der sich erlaubt!

 

«Heidi!»

«Ja?»

«Daher! Aber ein bisschen dalli! – Hübscher Ausschnitt.»

«Ja? Gefällt er dir?»

«Bring mir die Ordner des Ortsvereins. Alle!»

«Aber das sind 20 Stück.»

«Wenn ich sage alle, dann meine ich alle. Ja, der Ausschnitt gefällt mir, nur das darunter nicht.»

«Entschuldige, Kilian. Ich bringe sie gleich. Es tut mir leid. Bitte entschuldige.»

«In deinem Alter bitte ich, dich dezenter zu kleiden. Das ist ja widerlich!» Er gibt ihr einen Klaps auf den Hintern und stösst sie weg.

 

Heidi Bohny huscht beschämt mit Tränen in den Augen zurück in ihr Büro. Einmal reklamiert er, weil sie eine geschlossene Bluse trägt. Sie sei schliesslich eine Frau und er ein Mann und er möchte was zu sehen haben. Dann - wie gerade eben - beleidigt er sie, weil sie nicht das trägt, was er gefordert hat. Heidi getraut sich aber nicht, sich zu wehren. Sie spürt, dass er nur darauf wartet, dass sie ihm einen Grund zur Kündigung gibt. Deshalb kuscht sie, macht sich winzig, kommt als erste und geht als letzte ins Büro. Sollte er ihr kündigen, wäre sie stellenlos. Mit ihren 58 Jahren würde sie keine Arbeit mehr finden. Seit Jahren muss sie sich die Anzüglichkeiten und Beleidigungen ihres Chefs gefallen lassen. Am liebsten würde sie am Morgen im Bett liegen bleiben, um nicht ins Büro gehen zu müssen. Dann könnte sie endlich mal ausschlafen. Die Nächte sind für sie alles andere als erholsam. Quälende Gedanken, die immer schneller drehen und sie wachhalten, plagen sie beim Einschlafen. Und wenn sie nach gefühlten Stunden endlich erschöpft in den Schlaf sinkt, erwacht sie morgens um vier Uhr und das Drehen beginnt von Neuem. Dann liegt sie wach, bis der Wecker um 6 Uhr schrillt, genau in dem Moment, in dem sie das Gefühl hat, endlich wieder einschlafen zu können. Müde, bedrückt und mühsam steht sie auf. Freude hat sie schon lange keine mehr empfunden. An nichts. Sie kommt sich vor wie in einer Welt ohne Farben. Alles ist grau und unscharf. Die belastenden Tage im Büro, ab und zu einkaufen und dann die schlaflosen Nächte. Das ist ihr ganzes Leben. Einzig ihre Körperpflege ist ihr wichtig und dafür nimmt sie sich immer noch viel Zeit. Aber das Verhalten Ihres Chefs ihr gegenüber hat nicht nur in ihrer Seele Spuren hinterlassen, sondern auch im Körper. Die müden, traurigen Augen versinken unter geschwollenen Lidern und Tränensäcken. Ihre grauen hochgesteckten Haare sind stumpf geworden, trotz guter Pflege. Sie hat keine Lust und keine Kraft Kontakt mit Freunden zu pflegen. Sie schafft es einfach nicht mehr.

 

Kürzlich hat sie mit Olivia Eicher über ihre Situation gesprochen. Deren Reaktion hat sie aber so erschreckt, dass sie auch mit ihr nicht mehr spricht. Herrje, wie ist Olivia wütend geworden. Kastrieren müsse man diesen Typen. Umbringen müsse man so einen. Heidi bekommt noch jetzt Hühnerhaut, wenn sie daran denkt. Wie kann eine so liebenswürdige und herzliche Frau wie Olivia so ausrasten!

 

Heidi sammelt die zwanzig Ordner ein und trägt sie ins Büro vom Kilian Zahler.

«Wo soll ich sie dir hinstellen?»

«Was?»

«Die zwanzig Ordner, die ich dir bringen soll.»

«Was soll ich mit all denen?»

«Aber … aber …»

«Aber, aber, aber», äfft er sie nach. «Ich habe dir klar gesagt, dass ich nur den vom letzten Jahr will. Bringt das Huhn mir zwanzig!»

«Es tut mir leid.»

«Ich kann dein ‘tut mir leid’ nicht mehr hören.»

«Entschuldige.»

«Raus mit dir! Nimm das ganze Zeug wieder mit.»

«Alle Ordner?»

«Was alle? Bist du senil? Den vom letzten Jahr lässt du hier. Und jetzt verschwinde!»

 

Heidi legt den einen Hefter auf den Tisch. In ihrer Aufregung fallen ihr die andern auf den Boden. Mit eingezogenen Schultern geht sie in die Knie und sammelt die Ordner zusammen. Er steht daneben und klopft mit dem Lineal ungeduldig in seine Handfläche. Heidi huscht aus dem Büro.

 

«Türe zu, alte Wachtel!», ruft er ihr nach und Heidi zieht den Kopf ein, soweit es überhaupt noch geht. Da klingelt ihr Telefon. Sie rennt ans Pult und lässt erneut alle Hefter fallen. Panisch schaut sie zur Türe des Chefbüros in Erwartung erneuter Beleidigungen. Aber diesmal bleiben sie aus.

 

«Verein Weltstadt Grenchen. Guten Tag. Heidi Bohny am Apparat.»

«Kann ich meinen Mann sprechen?»

«Gerne Frau Zahler. Einen Moment, bitte!»

«Stopp. Warten Sie noch. Was hat er heute für Termine? Ist er oft auswärts? Und wo?»

«Wie immer ist er im Büro, Frau Zahler. Ich verbinde.»

Heidi ruft: «Herr Zahler. Ihre Frau. Ich stelle durch.»

 

Ihr Chef will, dass sie ihn siezt, wenn seine Frau Franziska in der Nähe ist. Das Du will er nur im Büro, wenn sie alleine sind. Das sei gut fürs Arbeitsklima. Seine Frau allerdings ist krankhaft eifersüchtig. Sie sieht in jeder Frau eine Konkurrenz, die nichts anderes im Sinn hat, als ihr diesen grossartigen Mann auszuspannen. In aufmüpfigen Momenten denkt Heidi, dass sie diesen Mann eher vergiften würde als irgendetwas von ihm zu wollen. In einer Gefängniszelle eingesperrt zu sein, wäre das reine Paradies verglichen mit einer sexuellen Beziehung zu Kilian. Dann erschrickt sie jeweils über ihre schlimmen Gedanken und schämt sich dafür.

 

Sie hört Ihren Chef ins Telefon brüllen: «Tue es einfach. Schreib es so wie ich es diktiert habe und schieb es unter der Türe durch. Basta! Bis heute Abend, Schatz.»

 

Was hat er wieder im Sinn? Heidi mag gar nicht darüber nachdenken. Müde liest sie die Aktenmappen wieder vom Boden auf und stellt sie ins Gestell. Müde macht sie sich daran Adressdateien zu überprüfen und zu ergänzen. Müde. Immer nur müde.

 

Olivia öffnet Doro strahlend die Türe und umarmt sie lange und herzlich. Der Duft nach Vanille strömt aus der Wohnung und Doro hat das Gefühl als würde ihre Seele erwärmt. Bei Vanille fühlt sie sich immer gleich geborgen und wohlig. Es erinnert sie an ihre Grossmutter. Andere verbinden ihre Grossmütter mit Lavendelduft. Für Doro ist es Vanille.

 

«Ach, so schön, dich zu sehen. Komm rein. Komm rein. Du riechst es sicher schon. Ich habe deinen Lieblingscake gebacken. Vanillesandkuchen. Der Tisch ist schon gedeckt.»

 

Und in der Tat. Auf dem runden Tisch liegt eine weisse Tischdecke mit gestickten Blümchen. Doro weiss, dass die von der Mutter der Schwestern selbst gemacht wurde. Ein Strauss mit rosa Rosen in einer ebenfalls geblümten Vase steht da. Auf den Tellern aus Meissener Porzellan mit dem berühmten Rosenmuster liegen weisse Servietten mit dem gleichen gestickten Muster wie auf dem Tischtuch. Daneben die zu den Tellern passenden Tassen und Untertassen. Kuchengabeln aus Silber, auf Hochglanz gebracht, vervollständigen den wertvollen Zvieritisch.

 

«Das ist genau das, was ich jetzt brauche! Du bist die Beste. Dann hast du also das Rezept von meinem Grossmuetti noch?»

«Natürlich. Was denkst du denn. Es gibt doch nichts Wichtigeres, als sich all die kleinen und grösseren Lieblingsdinge der Mitmenschen zu merken. So kann man ihnen doch zeigen, dass sie wichtig sind, dass man sie gernhat und sie es wert sind, verwöhnt zu werden. Also, setz dich hin und geniesse deinen Grossmuettikuchen.»

 

Das Wohnzimmer der beiden Schwestern könnte aus einem alten Agatha Christie-Film stammen. Auf allen Sesseln, Stühlen und Tischen sind gehäkelte Deckchen, runde, ovale, kleine, grosse in goldenen und braunen Rahmen gefasste Blumen- und Früchtestillebenbilder an den Wänden liebevoll drapiert. Was für Staubfänger, denkt Doro jedes Mal, wenn sie zu Besuch kommt. Auf dem Fenstersims stehen St. Pauli-Veilchen in bunten Töpfen. In jeder Ecke steht ein Beistelltischchen in irgendeinem Louis-Stil auf denen Kunstgläser, Schalen und Porzellanhündchen drapiert sind. Von den Hündchen müssen es weit über hundert sein. Bemalte, weisse, mit Maschen, Deckchen und Herzchen, golden, silbern oder rosa. Doro wundert sich jedes Mal, dass Lotti damit einverstanden ist. Diese ganzen Dekorationen passen zu Olivia, aber keineswegs zu Lotti. Einmal hat sie Lotti bei einem der seltenen Treffen gefragt, ob sie sich nicht ein anderes Wohnzimmer wünsche. Sie meinte auf ihre ruppige Art: «Das ist Kitsch und der gehört zu Olivia. Mir passt es so oder so nicht in so einer Stube. Dieses Pseudogemütlich in einem Gesellschaftsraum geht mir gegen den Strich. Alles Heuchelei. Ich habe mein Zimmer im ersten Stock und das genügt völlig. Zufrieden mit der Antwort? Tschau.»

 

Vor der Stube, neben dem Sitzplatz, ist ein kleiner Wintergarten. Dieser sieht aus wie ein Urwald. Wenn da nicht ein rotes Bänklein mit einem runden Gartentisch aus weissgestrichenem Metall stehen würde, könnte man meinen, es sei ein Treibhaus. Hinten auf einem Gestell stehen Tiegel und Flaschen in verschiedenen Farben und Grössen. In einem kleinen Küchenschrank aus den 50er Jahren schimmern hinter den gläsernen Schubladen verschiedene Pulver und Instrumente durch. Man merkt, dass da jemand eine grosse Passion hat, exotische Pflanzen zu hegen und zu pflegen. Dieser Wintergarten ist die Leidenschaft von Lotti und ihr Heiligtum. Olivia darf ausnahmsweise einmal aufs rote Bänklein sitzen und die Blumenpracht bewundern. Am häufigsten findet man sie dort, wenn der chinesische Klebsamen, Pittosporum tobira, blüht. Der süsse und betörende Duft lässt sie von fernen Ländern träumen. Sie selber meint immer, dass sie nie so weit reisen möchte, all die Beschwernisse, diese fremden Sitten und Gebräuche möchte sie sich nicht antun. Und dann könne sie dort nicht backen. Sie werde deshalb hier gebraucht und könne nur schon deswegen nicht fortgehen. Es genüge ihr, den Duft im Wintergarten von Lotti zu geniessen und schon sei sie in Gedanken weit, weit fort. Lotti lässt aber mehr als die zeitweiligen Besuche von Olivia in ihrem kleinen Paradies nicht zu. Ein Einmischen oder Helfen bei der Pflege würde sie zum Ausrasten bringen.

 

«So, meine Liebe. Hier kommt der Kuchen. Heute gibt es Tee dazu. Weisst du, ich habe gelesen, dass Schwarztee hilft, das Herz bis ins hohe Alter gesund zu erhalten, weil er gegen Arteriosklerose ist. Und dann erst noch der Grüntee. Der soll bei 60 Krankheiten helfen. Ja. Ja, staune nur. Darum trinke ich nur noch eine Mischung aus grünem und schwarzem Tee. Und dann ist es sowieso gemütlich, Tee, statt Kaffee zu trinken. Oder wäre dir doch Kaffee lieber. Kein Problem. Ich mache ihn dir gerne.»

«Nein, danke. Ich mag Tee und trinke ihn selber häufig.»

« Oh, schön. Das freut mich. Schade regnet es, sonst hätten wir es uns draussen gemütlich machen können. Bitte greif zu. Ich sehe es gerne, wenn meine Gäste essen. Ich bin froh, ist endlich dieses Gewitter gekommen. Diese Schwüle war ja nicht zum Aushalten. Ich habe noch etwas mit dem Rezept experimentiert. Das hier ist das Originalrezept deiner Grossmutter. Und das da ist meine kreative Variante. Die musst du unbedingt auch ausprobieren. Ich habe dem Grundrezept noch feingemahlene Kokosnüsse beigefügt. Ich bin gespannt, wie er dir schmeckt.» Sie drängt Doro gleich ein Stück auf mit dem dringlichen Wunsch es gleich zu essen. «Mmmh, ja, das ist ja herrlich. Ein ganz anderes Gefühl im Mund mit der trockenen Kokosnuss, fast noch sandiger und echt intensiv im Geschmack. Ich habe Kokosnuss sehr gerne. Gratuliere. Aber du hast noch nie was gebacken, das mir nicht schmeckte.»

«Du bist so lieb. Danke! Wie geht es dir, meine Liebe?»

«Ach weiss du, mir geht …»

«Sag nichts,» unterbricht sie Olivia, die sich gerade ein grosses Stück Sandcake in den Mund gesteckt hat, sodass Doro aufpassen muss, die mampfenden Aussagen von Olivia zu verstehen. Also, du sollst nichts sagen. So kommst du ja gar nicht zum Essen. Wie bin ich doch unhöflich, dich zum Reden aufzufordern, wenn du doch deinen Lieblingskuchen essen kannst. Entschuldige! Hast du heute das Grenchner Tagblatt gelesen? Man sollte einfach nicht mehr Zeitung lesen. Es steht ja nur Schlechtes drin. Aber eben: Only bad news is good news, wie man bei den Journalisten zu sagen pflegt. So eine Dummheit. Es täte den Menschen besser, wenn man Gutes lesen könnte. Diese negativen Berichte animieren doch nur dazu selber Schlechtes zu tun. Auf der anderen Seite muss ich sagen, dass ich froh bin, wenn Ungerechtigkeiten und Schweinereien aufgedeckt werden. Hast du mitbekommen, dass diese Frau Monique Garcia tot ist.

---ENDE DER LESEPROBE---