Schattenheimet - Iris Minder - E-Book

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Iris Minder

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Beschreibung

An einem kalten Dezembertag beobachtet eine Spaziergängerin bei der Ruine Witeli im Grenchner Wald Eigenartiges und Beängstigendes. Doro Schenker und Roland Rothenbühler – zwei Medienprofis – machen sich auf den Weg dorthin. Beim Witeli angekommen verschwindet Roland auf unerklärliche Weise. Zur gleichen Zeit sichtet die Stadtarchivarin Andrea Erismann die zweihundert Jahre alte Chronik der alteingesessen Familie Grenchner Familie Güggi. Dabei wird sie plötzlich durch unheimliche Vorkommnisse gestört. Als in der Nähe vom Witeli ihre Tochter Stefanie verschwindet, zweifelt Andrea an ihrem Verstand.

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Iris Minder

 

SCHATTENHEIMET

 

 

Für meine Mutter

3. Dezember 1815

 

Das hat er nicht gewollt. Das nicht. Aber die Dinge haben ihren Lauf genommen, haben sich selbständig gemacht. Ein kleiner Stoss und die Lawine ist ins Rollen gekommen, zuerst ganz langsam, dann immer schneller und vernichtender. Vielleicht hätte er sie am Anfang noch stoppen können?

 

Er schaut sich im Spiegel an, zwirbelt seinen Schnauz und reisst sich ein langes Haar aus der Nase. Nein, er hätte es nicht mehr stoppen können. Einmal vom Boden losgelöst, einmal ins Rutschen gekommen, ist eine Lawine nicht mehr zum Stillstand zu bringen. Das Schicksal nimmt seinen Lauf. Er schürzt die Lippen und schaut sich seine Zähne an. Da und dort etwas Fäulnis und das Weisse ist mit den Jahren auch verschwunden. Aber warum sollte das Alter ausgerechnet vor ihm Halt machen.

 

Das erste Mal ist das schwierigste. Aber wenn man sich einmal überwunden, diese erste Schwelle überschritten hat, dieser Damm durchbrochen ist, dann gibt es kein Halten mehr, und die anderen Male sind nur noch Routine. Schliesslich geht es um eine höhere Sache. Er nimmt seinen Hut und seinen Stock, grinst sich im Spiegel nochmals an und die Narbe auf seiner Wange verzerrt sich bizarr. Er geht in den Nieselregen hinaus. Wie fast immer im Dezember ist es grau. Eine dicke Hochnebeldecke liegt über der ganzen Gegend. Meist legt sie sich von November bis März wie ein Sargdeckel über das kleine Bauerndorf Grenchen am Südfuss des Jura.

 

Jacob Güggi verlässt sein Haus, schliesst es sorgfältig ab und geht auf die Strasse. Diese ist matschig und schlammig. Der Schnee lässt diesen Winter auf sich warten. Güggi widert dieser Schmutz an. Deshalb hat er sich Schuhe aus Paris besorgt. Die hohen Sohlen ermöglichen es ihm, durch den Dreck zu gehen, ohne seine Hosen schmutzig zu machen. Es ist nicht so, dass man hier Zustände hat wie in den grossen Städten, wo die Abwässer der Häuser in die Strassenrinnen geschüttet werden. Güggi verkrampft sich, wenn er daran denkt, wie man dort buchstäblich im Scheissdreck promenieren muss. Ihm ist zwar klar, dass man in den letzten Jahrzehnten mehr Wert auf Säuberung gelegt hat, aber die Vorstellung, dass da vor noch nicht langer Zeit mal Kot und andere Ausscheidungen auf der Strasse lagen, bereiten ihm Brechreiz. In einer Stadt zu leben, wäre für ihn undenkbar. Hier hat er Natur, frische Luft. Gut, der Gestank des Viehs ist ekelerregend. Aber man kann ja dieses Bauerngesindel mit seinem Getier meiden. Güggi stelzt Richtung Berg über die Müren hinaus. Er kann mit sich zufrieden sein, er hat das Dorf gesäubert. Er hat es auf jeden Fall versucht. Die Lawine hat er ins Rollen gebracht. Dass sie dann einen anderen Weg genommen hat, als er vorgesehen hat, das ist Schicksal. Sehr ärgerlich. Es macht ihn äusserst ungehalten, wenn sich die Dinge nicht wie geplant entwickeln.

 

Güggi erreicht den Wald. Entgegen seiner Gewohnheit geht er ziellos weiter bergauf. Da und dort sieht er ein paar Kinder, die, ihre Wägelchen hinter sich herziehend, Holz auflesen und sammeln. Es ist harte Arbeit, da die Waldböden bereits seit Herbst sauber geputzt sind. Typisch für diese Taglöhner, sich nicht zeitig für den Winter vorzusehen. Und jetzt diese ausgemergelten, schmutzigen und stinkenden Kinder. Widerlich.

Güggi erstarrt. Er wittert Gefahr. Er schaut hoch. Neben einer grossen Rotbuche bei der Witeli-Lichtung steht eine schwarze Gestalt. Güggi erkennt sie und bleibt ruhig. Dies ist sein Tod. Er lächelt gequält. Ausgerechnet am ersten Adventssonntag und hier im Dreck wird er liegen. Das ist das Einzige, was ihm nicht behagt. Alles andere ist immer voraussehbar gewesen. Die Lawine kommt endgültig zum Stehen. Jacob Güggi wird ihr letztes Opfer sein. Oder?

3. Dezember 2015 11.00 bis 13.30 Uhr

 

Grauer Dunst bedeckt den Himmel und in der Ebene über dem Fluss liegt dicker Bodennebel. Feiner Rieselregen dringt durch die Kleider und lässt einen frösteln. Es ist viel zu warm für die Jahreszeit und der Schnee lässt auf sich warten.

 

Sabrina Gosteli beschliesst aber am Nachmittag trotz der ungemütlichen Witterung mit ihrer zweiten Klasse auf eine Wanderung in den Grenchner Wald zu gehen, um für die Adventsdekoration Tannenzweige, Zapfen und die grünen stacheligen Äste der Stechpalme mit den schönen roten Beeren zu sammeln. Sie gibt den Zweitklässlern am Morgen einen kleinen Brief für die Eltern mit nachhause, in dem sie diese bittet, ihren Kindern wasserfeste Schuhe und einen guten Regenschutz für das kleine Waldabenteuer anzuziehen. Sie schreibt bewusst von einem Abenteuer, denn die Kinder erwartet im Wald, drei Tage vor dem 6. Dezember, eine kleine Überraschung. Weiter informiert sie die Eltern, dass sie ihre Kinder gegen 16.30 Uhr beim Schulhaus I abholen sollen. Sie will nicht, dass diese in der Dunkelheit alleine nachhause gehen müssen.

 

Im Stadtarchiv sitzt Andrea Erismann vor ihrem PC und arbeitet an der Registrierung des Archivs der Familie Güggi, das kürzlich als Vergabe eingegangen ist. Die Familiengeschichte reicht bis ins 13. Jahrhundert zurück. Die Arbeit ist sehr aufwendig. Es gilt einen Laufmeter Akten, Dokumente, Bücher, Bilder und Fotografien in alten, leicht muffigen Kisten und Schachteln zu durchforsten, zu ordnen und zu registrieren. Andrea arbeitet sehr exakt. Ihren Beruf als historische Archivarin übt sie mit Leidenschaft aus. Sie ist Mutter von drei Mädchen. Die Zwillinge Lena und Laura sind fünf Jahre alt und Stefanie geht in die zweite Klasse zu Sabrina Gosteli. Andrea lächelt die Fotografie mit ihrer Familie an und schaut zum Archivfenster hinaus. Weit sieht sie nicht, denn das Archiv befindet ich im Keller des Schulhauses II. So sieht sie nur bis zur Mauer der Aussentreppe.

 

Diese alten Akten faszinieren, packen sie und lassen sie nicht mehr los. Sie bergen irgendein Geheimnis. Andrea ist eine nüchterne, realistisch denkende Frau. Trotzdem kann sie sich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Kisten etwas Düsteres ja fast Teuflisches ausstrahlen. Sie lächelt über sich selber. Teuflische Akten? Sie schüttelt den Kopf und streckt sich. Zum Glück ist bald Mittag und sie kann auf dem Nachhauseweg ein wenig frische Luft tanken.

 

Aber diese Akten? Eine besonders alte Kiste mit Stockflecken erregt ihr Interesse. Erstaunt schaut sie hin. Eine Sinnestäuschung? Das kann nicht sein. Die Unterlagen sind alle trocken. Doch unter dem Pult, auf dem diese uralte Kiste steht, findet Andrea einen feuchten Fleck mit verrotteten Buchenblättern. Sie nimmt einen fauligen und schimmeligen Geruch wahr. Andrea holt einen Lappen und putzt alles weg. Der Geruch ist grauenhaft. Sie legt das feuchte Tuch draussen auf die Treppe. Sie will es am Mittag dann in den grauen Abfall-Containern vor dem Schulhaus entsorgen.

 

Wieder an ihrem Schreibtisch schaut sie zum einzigen Fenster des Archivs um zu überprüfen, ob es offen ist und deshalb dieser feuchte Dreck vielleicht unter den Tisch geweht wurde. Aber das Fenster ist zu. Auch die Decke weist keinerlei Feuchtigkeit auf. Nachdem Andrea alles überprüft hat, kontrolliert sie den Boden. Vielleicht kann dort Feuchtigkeit durch den Betonboden dringen. Da ist jedoch alles trocken und dicht. Sie findet keine Risse.

 

Mit einem Achselzucken wendet sie sich wieder der Kiste zu und legt Dokument um Dokument auf den Tisch. Alles trocken. Je tiefer sie jedoch greift, umso intensiver wird dieser Geruch von Match und Fäulnis. Ganz am Grund der Schachtel findet sie ein längliches Bündel. Etwas ist in fleckige Tücher eingepackt. Andrea nimmt das Paket sorgfältig heraus und riecht daran. Es ist trocken und riecht leicht staubig, wie es alte Dinge so tun. Aber es hat nichts von diesem bestialischen Gestank. Sie wickelt das Bündel aus und findet einen zweischneidigen Dolch, dessen Griff und Parier-Stange mit Edelsteinen verziert ist. Am Knauf erkennt man ein Wappen. Ob es das Wappen der Familie Güggi ist? Andrea beschliesst, bei der Bürgergemeinde nachzufragen. Tom Wassmer, der Verwalter, ist immer sehr hilfreich und sofort bereit zu helfen und Auskunft zu erteilen. Andrea wählt die Nummer.

 

«Bürgergemeinde Grenchen. Wassmer.»

 

«Hallo, Tom. Hier ist Andrea. Andrea Erismann. Wie geht es dir?»

 

«Sali, Andrea. Bei mir wie immer alles bestens. Bei dir hoffentlich auch.»

 

«Ja, alles gut. Du, ich habe da einen Nachlass der Familie Güggi erhalten. Neben einer Menge Papieren habe ich auch einen Dolch entdeckt. Er scheint mir, was die Ausstattung betrifft, wertvoll zu sein. Oben am Knauf ist ein Wappen aus Email eingewirkt. Jetzt weiss ich nicht, ob es das Wappen der Güggis ist. Vielleicht kannst du mir helfen. Ihr habt ja alle Bürgerwappen im Ratssaal an den Wänden abgebildet.»

 

«Mache ich gerne. Du kannst es mir beschreiben. Allerdings weiss ich, dass nicht alle Güggis das gleiche Wappen haben. Ich kenne halt nur das, welches uns bekannt gewesen ist. Ich gehe gleich in den Ratssaal. So, jetzt kannst du es mir beschreiben.»

 

«Es ist sehr einfach. Auf einem leuchtend roten Hintergrund steht eine Sanduhr. Das Glas der Sanduhr ist weiss und man sieht nicht, wo der Sand ist. Das Uhrglas wird rundherum von einem hölzernen Gestell ocker- oder gelbfarben gehalten …»

 

«.. das ist das Güggiwappen, das wir bei uns haben», unterbricht sie Tom.

 

«Das passt. Grossartig. Ich danke dir herzlich für die Auskunft. Einmal mehr hast du mir geholfen.»

 

«Bitte, das ist doch gern geschehen. Macht ja auch mir Freude, wenn ich mal etwas anderes als Verwaltungsarbeiten tun darf. Übrigens, die Güggis sind das zweitälteste Grenchner Geschlecht. Ein paar wenige Jahre älter sind die Rüeflis», ergänzt er.

 

«Aha, so nebenbei, weiss man eigentlich woher der Name Güggi kommt?»

 

«Da kann ich dir nur sagen, was ich mal im Schweizerischen Idiotikon nachgeschlagen habe. Da steht, wenn ich mich richtig erinnere: Dass es die Gestalt ist, die entsteht, wenn einer dem andern auf der Schulter sitzt. Weiter kann es bedeuten: Schulgefängnis, Vogelkäfig, Guckloch. «Güeggi» kann aber auch einen unbeholfenen Menschen bezeichnen oder wird verächtlich für alte Menschen gebraucht. Wie es genau zum Geschlechtsnamen gekommen ist, weiss ich nicht so genau. Ich könnte mir gut vorstellen, dass es da mal einen unbeholfenen, linkischen Menschen gegeben hat, dem man diesen Übernamen gegeben hat. Viele Geschlechtsnamen sind ja durch Beinamen entstanden. Ah, da kommt mir noch in den Sinn, man hat auch einen Schreihals Güggi genannt. Oder eine zähe Ader im Kochfleisch. Oder einen schlechten Trompeter oder eine Anschwellung im Gesicht…»

 

Andrea unterbricht ihn lachend: «Ist gut, ist gut. Mir schwirrt der Kopf. Du bist ja ein wandelndes Lexikon.»

 

«Das ist zu viel der Ehre … ich habe nur schnell das digitale Idiotikon auf meinem Rechner aufgerufen. Ich lese nur ab. Und da sehe ich noch, dass Güggerei schlechte Musik ist. Vielleicht kommt daher der Ausdruck Guggenmusik für unsere Fasnachtsmusikgruppen. Wer weiss? So, jetzt überlasse ich dich wieder deinen Akten und ich gehe hinter die Verwaltungsrechnung. Mach’s gut.»

 

«Du auch, und ganz herzlichen Dank.»

 

Sorgfältig legt Andrea den Dolch auf die Tücher. Nachdenklich betrachtet sie das Wappen nochmals. Eine Sanduhr. Die hat nichts mit den erwähnten Möglichkeiten für die Herkunft des Namens zu tun. Eine Sanduhr? Was symbolisiert eigentlich die Sanduhr? Die Zeit, die verstreicht, unermüdlich. Das Symbol für den Tod? Was kann diese Waffe wohl alles erzählen, denkt sie. Ob sie nur zur Zierde oder als Statussymbol gedient hat? Ob sie zum Töten gebraucht worden ist? Bei diesem Gedanken bekommt sie Hühnerhaut und schaudert.

 

Andrea wickelt den Dolch schnell wieder behutsam und akkurat in die alten Tücher ein und legt dann das Bündel zurück in die Schachtel, nimmt aber vorher noch das letzte Dokument heraus. Es ist in Leder gebunden, fleckig, teilweise morsch und brüchig. Es ist vermutlich einmal rot gewesen. Jetzt ist es eher braun. Wie gestocktes Blut, denkt sie. Andrea zieht sich weisse Schutzhandschuhe aus Baumwolle an und nimmt dieses geheimnisvolle Buch in die Hand. Sorgfältig öffnet sie den Deckel. Lose Seiten liegen darin. Ungewöhnlich, denkt sie. Auf der ersten brüchigen Seite steht in akkurater Schrift: «De vita operibusque viri honorabilis et illustris Thomaso Güggi». Kaum hat sie den Titel gelesen, stellen sich ihr alle Haare zu Berge und ihr Herz beginnt heftig zu pochen. Abrupt klappt sie den Deckel wieder zu. Aber der Gestank wird penetranter. Ihre Augen beginnen zu tränen. Der Mief bedrängt sie und sie hat das Gefühl, dass er durch alle Poren in ihren Körper dringt. Andrea rennt zum Fenster, reisst es auf und atmet tief durch. Sie wagt jedoch nicht dem Archiv den Rücken zuzudrehen. Etwas Bedrohliches hat sich breitgemacht. Es fühlt sich an, wie wenn der Archivraum mit einem dunklen, schauerlichen Geheimnis gefüllt ist. Haben sich unruhige Geister aus der Güggi-Geschichte befreit und bedrängen diese sie nun? Andrea atmet nochmals tief durch. Das kann alles nicht sein. Ich bin Wissenschaftlerin, mit beiden Beinen fest auf dem Boden, Mutter von drei Kindern. Ich lasse mich doch von solchen Hirngespinsten nicht verrückt machen. Sie schliesst energisch das Fenster und geht zurück an ihr Pult.

 

Dezidiert fährt Andrea ihren Computer herunter, zieht ihren Mantel an, nimmt den Schirm und will das Alarmsystem des Archivs aktivieren. Da entdeckt sie es. Am Boden unter dem Tisch, auf dem die alte Kiste steht, erneut ein feuchter Fleck mit morschen Buchenblättern.

 

Ich muss da raus. Das kann einfach nicht sein. Ich schaue einfach nicht hin, dann ist es nicht da. Ich habe vermutlich Fieber. Das muss es sein. Die Grippe. Fieberwahn. Beruhigt eine plausible Erklärung gefunden zu haben, schliesst sie die metallene Archivtüre. Sie freut sich jetzt nur noch darauf nachhause zu gehen, zu ihrem Mann Bruno, der als freischaffender EDV-Fachjournalist daheim arbeitet. Er ist zuständig fürs Kochen. Von der routinemässigen Alltagskocherei hält er nicht viel. Seine Kreationen sind kleine, kreative Überraschungen und darauf freut sich Andrea jetzt. Das ist etwas Körperliches, etwas Sinnliches und keine undefinierbare Spinnerei über teuflische, unheimliche Akten und feuchte, faulige Flecken.

 

Auf dem Weg nachhause holt sie ihre Zwillinge im Kindergarten ab. Diese heiteren Mädchen bringen sie endgültig in die Gegenwart, ins reale Leben zurück. Die meisten haben es schwer, die beiden Mädchen auseinanderzuhalten. Beide haben genau wie ihre Mutter wild gelocktes rotes Haar und eine Menge Sommersprossen. Freche Stupsnasen, grosse fast grüne Augen und herzförmige Lippen führen dazu, dass jeder sie gleich ins Herz schliessen muss. Ununterbrochen plappern die beiden und erzählen aufgeregt vom Samichlaus, der in drei Tagen in den Kindergarten kommen wird. Er sei überhaupt nicht böse, hätte Frau Esther gesagt. Sie müssten keine Angst haben, denn der Samichlaus sei ein guter Freund für die Kinder. Sie hätten ein Verschen auswendig gelernt. Sie hätten auch eine Zeichnung gemacht, mit einem Wald und dem Samichlaus darin. Ja, und noch eine zweite mit dem Nikolaus im Wald und Zwergen. Frau Esther habe viel Freude an den Zeichnungen gehabt. Nur die von Lena sei ein bisschen dunkel gewesen, fast ein wenig unheimlich und man hätte in den Bäumen und Büschen Gesichter ohne Augen gesehen. Aber Lena hätte sie dunkel machen müssen, weil ja schliesslich Nacht ist, wenn der Niklaus kommt und im Dunkeln sieht man die Augen nämlich nicht. Und die Tiere seien schliesslich im Wald in der Nacht wach. Und nur der Samichlaus könne sie sehen und sogar mit ihnen sprechen. Darum seien sie halt so dunkel, weil ja im Wald kein Licht sei. Andreas Gedanken schweifen ab. Wie ein Blitz sieht sie ein Bild vor sich. Dunkler Wald, feucht, faulig und eine dunkle Gestalt. Sie schüttelt den Kopf und hört dem freudigen Geplapper ihrer beiden Mädchen zu.

 

Die drei erreichen ihr Haus an der Allmendstrasse, schütteln die Schirme aus, ziehen die nassen Neoprenregenmäntel und Schuhe aus. Sie werfen alles auf den Schuhhaufen unter der Garderobe. Andrea seufzt. Sie schaffen es einfach nicht, die Garderobe ordentlich und aufgeräumt zu halten. Alles liegt wild durcheinander. Aber mit drei kleinen Kindern müsste man die meiste freie Zeit dazu nutzen, um Ordnung zu schaffen. Sie hängt wenigstens die Regenmäntel der Zwillinge auf und wirft schmunzelnd ihre eigenen Schuhe auf den Schuhberg. Ein herrlicher Duft und gemütliche Wärme umschliesst sie. Sie sind zuhause.

 

Andrea liebt ihr Haus, das sie erst vor drei Jahren von einem älteren Ehepaar gekauft haben. Die beiden sind in eine Seniorenwohnung beim Altersheim Kastels gezogen. Gebaut worden ist dieses gemütliche Zuhause in den 60er Jahren. Ausser dem Streichen der Wände und neuen Parkettböden – die vorhandenen Spannteppiche haben sie als unhygienisch empfunden – haben sie nur die grosse Wohnküche völlig neu eingerichtet. So ist diese das Zentrum des Familienlebens geworden. Im Parterre befindet sich eine lange Diele. Leider ist diese etwas dunkel. Der einzige Schwachpunkt. Von hier aus führen zwei Türen rechts in die Kinderzimmer. Links ist das Büro von Bruno und ein grosses Badezimmer mit Toilette. Die Küche befindet sich am Ende dieses Flurs rechts. Ganz hinten führt eine breite Treppe in den unteren Bereich, wo ein grosszügiges Wohn-Esszimmer mit einer breiten Fensterfront den Blick über die Stadt bis hin zu den Alpen öffnet. Eine grosse Terrasse befindet sich davor. Links vom Wohnzimmer ist das Elternschlafzimmer mit eigenem Badezimmer. Das ist mein Reich, meine Insel, sagt sich Andrea voller Freude und Stolz. Alles andere ist völlig unwichtig. Das hier, ihre Familie, ihr Heim sind das Einzige was wirklich zählt im Leben. Alle finsteren Gedanken sind für einen Moment wie verflogen.

 

«Papa, hallo, wir sind da ...»

 

«.. und haben Hunger.»

 

Bruno steht in der Küche und breitet die Arme aus, damit die Zwillinge hineinfliegen können.

 

«So ihr zwei habt mir noch für ein Festmahl gefehlt ... jetzt kommt ihr gleich in den Kochtopf. Das Wasser siedet bereits.»

 

Er beisst die Kleinen liebevoll in den Bauch und meint: «Mmmh ... das wird ein frischer und zarter Braten ...»

 

Die Mädchen kichern und glucksen. Sie winden sich aus den Armen ihres Vaters und rennen davon.

 

«Wir sind kein Braten! Wir sind kein Braten! Wir sind kein Braten», rufen sie und hüpfen durch die Wohnung.

 

Andrea küsst ihren Mann und versucht an ihm vorbei die Türe des Backofens zu öffnen, aus dem der verführerische Geruch kommt. Bruno schlägt ihr liebevoll auf die Finger. Er macht seine Menükreationen gerne zu einem Geheimnis und mag es nicht, wenn vorher spioniert wird.

 

«Nichts da! Es wird nicht geschnüffelt. Zuerst Hände waschen und dann an den Tisch.»

 

Lena und Laura kommen in die Küche gerannt und zeigen Bruno ihre noch feuchten Hände.

 

«Unsere Hände sind sauber. Riech mal daran. Lavendelseife von unseren Ferien in Südfrankreich», sagen beide synchron und halten Bruno ihre Hände vor die Nase.

 

«Mmmh … und wie sauber die riechen. Jetzt an den Tisch. Und still sitzen!»

 

Andrea schaut der Szene mit einem Lächeln zu. «Ist Stefanie noch nicht zuhause?»

 

«Doch. Sie liegt auf ihrem Bett und liest. Du kennst sie ja. Einmal ein Buch in der Hand, vergisst sie die Welt um sich. Dabei ist sie gerade mal in der zweiten Klasse und liest bereits wie eine Grosse.»

 

«In dieser Beziehung schlägt sie halt mir nach ... von dir hat sie ... was eigentlich», neckt Andrea ihren Mann und geht ins Bad, um sich zu erfrischen und die Hände zu waschen.

 

Als sie ihr Spiegelbild sieht, erschrickt sie. Ich sehe ja aus wie ein Totenschädel, eingefallene Wangen, bleich und schwarze Ringe unter den Augen. Zweifellos wird sie krank. Die Grippe. Sicher ist es das. Vielleicht sollte sie doch lieber zuhause im Bett bleiben. Aber dann stellt sie sich vor, wie Bruno sie dann umsorgen wird, wie er dann vielleicht etwas über ihre Wahnvorstellungen herausfindet. Ihm kann sie nichts verheimlichen. Er durchschaut sie immer, wenn sie was versucht zu verbergen. Sie hat schon mal so eine Phase gehabt, kurz nach der Geburt der Zwillinge. Da haben sich die Wände bewegt, haben sich drohend auf sie hinunter geneigt. Diffuse Ängste haben sie geplagt, rund um sie herum nur Bedrohliches. Sie hat keine Kraft mehr gehabt und hat sich sogar vor den Zwillingen gefürchtet. Schwangerschaftsdepression hat es geheissen. Zum Glück ist der ganze Spuk dann nach einem Monat vorbeigewesen. Das, was sie im Archiv erlebt hat, ist etwas anderes und hat nichts mit der hormonell begründeten psychischen Störung nach der Geburt der Zwillinge zu tun? Andrea hält den Kopf über das Lavabo und spritzt sich kaltes Wasser ins Gesicht, bis die Haut fast gefühllos ist. Erleichtert stellt sie fest, dass sie nun viel besser aussieht.

 

«Andrea … das Essen wird kalt! Holst du bitte auch Stefanie?», ruft Bruno leicht ungeduldig aus der Küche.

«Ich komme sofort!»

 

Andrea trocknet sich ab, zieht die Lippen nach und klopft dann an der Zimmertüre von Stefanie: «Wir essen. Kommst du bitte auch an den Tisch.»

 

«Ja ..., gleich. Ich muss nur noch ...», tönt es ein wenig brummig.

 

Andrea öffnet die Türe und schaut durch den Spalt. Da liegt ihre Älteste, mit dem Bauch auf ihrem rosaroten Bären liegend, die Beine in der Luft und liest in ihrem Buch. Das Zimmer ist aufgeräumt. Stefanie hat von ganz klein auf immer alles ordentlich weggeräumt. Bei ihr sind nie Kleider, Schuhe und Spielsachen wild durcheinander auf dem Boden gelegen. Ganz anders bei den Zwillingen. Da hat man manchmal Mühe überhaupt ins Zimmer zu kommen. Nach gemeinsamen Aufräumaktionen, die Bruno und Andrea mit den Zwillingen als Abenteuerspiel durchführen, geht es jeweils keine halbe Stunde und die beiden holen alle ihre Spielsachen hervor und verteilen sie auf dem Teppich. Eines hat Stefanie immer gewollt: das ganze Zimmer muss rosa sein. Alles. Von Vorhängen über Bettwäsche bis hin zum Teppich. Die Zwillinge hingegen wollen alles bunt. Am liebsten rot, gelb, blau, grün. Je bunter desto besser. Andrea geht zum Bett und küsst Stefanie auf die Füsse. Wie sie Bruno gleicht! Dunkle Haare, athletische Gestalt und kugelrunde hellbraune fast goldene Augen.

 

«Komm jetzt, das Buch läuft dir nicht davon. Papa hat gekocht und du weisst, dass er hässig wird, wenn wir nicht gleich zu Tisch kommen.»

 

«Ja, ich komme. Sicher. – Gleich.»

 

«Gut. Aber gleich heisst in höchstens einer Minute. Ist das klar?»

 

Endlich kehrt in diesem häuslichen Wirbel etwas Ruhe ein. Lena und Lisa sitzen schon am Tisch und rufen, mit den Gabeln den Rhythmus schlagend, Hunger, Hunger! Andrea setzt sich zu ihnen und hält ihre Hände fest.

 

«Fertig mit dem Hämmern. Benehmt euch.»

 

«Stefanie, essen!»

 

Bruno stellt die Schüsseln auf den Tisch. Es gibt Kartoffelauflauf mit Käse und Birnen, das Lieblingsessen der Kinder. Zur Vorspeise gibt es eine grosse Schüssel gemischten Salat aus Nüsseler, Brüsseler, Apfelstückchen und fein gehackten Eiern an einer Sauce mit einem guten Rapsöl, etwas Crème fraîche, Aceto Balsamico und sehr viel Schnittlauch.

 

«Stefanie, jetzt komm an den Tisch, sonst nehme ich dir dein Buch weg», ruft Bruno.

 

Stefanie, ihr Gesicht hinter den langen Haaren versteckt, kommt an den Tisch geschlichen. Andrea und Bruno schauen sich verstehend an.

«Ein trauriges Buch?», fragt Bruno.

 

Aus dem Haarvorhang heraus schnieft es.

 

Im Radio hört man die Piepstöne der Nachrichtensendung um 12.30 Uhr und Bruno schaltet mit dem Ferngerät etwas lauter. Wie immer die deprimierenden Nachrichten über Krieg, Flüchtlinge, Anschläge und den Gräuel im Nahen Osten.

 

«Eigentlich kann man dieselben Nachrichtentexte immer und immer wieder verwenden und das vermutlich seit Jahrhunderten. Der Inhalt ändert sich nie, nur die Namen und Orte», bemerkt Andrea, «ich mag gar nicht mehr hinhören.»

 

«Dies waren die Nachrichten von 12.30 Uhr. Und nun zum Wetter ...»

 

Bruno schaltet aus.

 

Andrea starrt vor sich hin. Diese unheimlichen und teuflischen Akten gehen ihr nicht aus dem Kopf. Das Gefühl von Gefahr wird sie einfach nicht mehr los.

 

«Wir gehen heute Nachmittag in den Wald. Frau Gosteli hat mir einen Brief mitgegeben. Ich will nicht mit. Du kannst mir ja eine Entschuldigung schreiben. Ich werde sicher gleich krank.»

 

«Stefanie, man spielt nicht krank. Und dein Buch kannst du auch nach der Schule noch fertiglesen. Es läuft dir nicht davon», ärgert sich Bruno.

 

«Es ist nicht wegen dem Buch. Ihr versteht mich nicht!», Stefanie rennt in ihr Zimmer und schlägt die Türe zu.

 

«Stefanie! Kommst du sofort zurück an den Tisch! Aber sofort!» Bruno will aufstehen und die Tochter zurückholen.

 

Andrea hält ihren Mann zurück und beschwichtigt ihn: «Lass mich machen.» Sie steht auf und klopft an Stefanies Türe.

 

«Darf ich reinkommen?»

 

Sie hört ein unverständliches Brummen, das sie als Zustimmung interpretiert. Stefanie liegt auf dem Bett, den Kopf ins Kissen gedrückt. Andrea wundert sich einmal mehr, wie ordentlich ihre Tochter ist. Ihr Zimmer ist immer aufgeräumt, die Bücher alle alphabetisch geordnet im Gestell. Das Pult leer, die Stifte ordentlich und gespitzt in den kleinen silbernen Behältern, die Spielsachen und das Bastelzeug akkurat eingeordnet. Von wem sie das wohl hat? Was hat sie selber als Kind immer für Kleinkrieg mit den Eltern gehabt, weil ihr Zimmer einem Chaos geglichen hat. Und jetzt hat sie einen Beruf, bei dem Ordnung und System das A und O sind. Und das Erstaunliche dabei ist, dass es ihr sogar Freude bereitet, diese Akten zu ordnen, einzureihen und zu bewerten. Und zuhause? Oh je, denkt sie, wenn da nicht Bruno wäre, der sich um den Haushalt kümmert, sie wäre völlig überfordert. Wie kommt es wohl, dass man am Arbeitsplatz derart penible Ordnung halten kann und im Privaten rundum ein Durcheinander veranstaltet? Es gibt Leute, die behaupten, dass dies auf ein Seelenchaos hinweise. Wenn sie an die Erscheinungen im Archiv denkt, könnte sie dies fast glauben. Wieder hat sie das Gefühl von Gefahr und es wird ihr bang und eng ums Herz.

«Stefanie. Was ist los mit dir? Warum magst du nicht in den Wald? Du liebst doch sonst Abenteuer?»

 

«Ich weiss nicht. Ich … ich …» Stefanie kann nicht weiterreden. Sie weint und wirft sich ihrer Mutter in die Arme.

 

«Ach, Liebes. Was ist nur los?» Andrea friert plötzlich. Sie hat das Gefühl beobachtet zu werden. Am Fenster gleitet ein Schatten vorbei. Die Haare stehen ihr zu Berge. Andrea steht auf, atmet durch. Ob ihre Tochter ihre diffusen Ängste spürt? Dieses unsinnige und völlig unrealistische Gefühl von Bedrohung?

 

«Mami, ich weiss nicht, was los ist. Aber ich will nicht in den Wald. Es ist so schnell dunkel dort und im Wald … Mami, bitte lach nicht über mich … im Wald gibt es dunkle Schatten … und die sind böse … die sind überall hinter jedem Strauch und Baum ... der Wald in der Nacht ist gar nicht gut … es lauert da etwas.»

 

Ich habe sie doch angsteckt. Schluss jetzt, Andrea. Du bist Wissenschaftlerin, stehst mit beiden Beinen am Boden der Tatsachen. Was für eine schlechte Mutter bist du doch, deine Tochter unbewusst mit deinen Ängsten anzustecken. Schluss jetzt damit.

 

«Stefanie. Schau mich an. Du bist nicht alleine mit dieser Angst vor dem Wald in der Nacht. Das ist ganz normal. Sogar Erwachsene würden nie alleine in der Dunkelheit in den Wald gehen. Aber, Liebes, es gibt keine solche unheimlichen Mächte da draussen. Diese Gedanken entstehen in deiner Fantasie oder in der Einbildung vieler Menschen. Aber die sind nur hier drin, im Kopf und haben nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Stell dir vor, wenn dem so wäre, wie könnten dann die Eichhörnchen, Häschen, Vögel und die kleinen Mäuschen im Wald leben? Die haben auch keine Angst. Weisst du, wenn du immer nur diese Hexen- und Zaubergeschichten liest, ist es klar, dass das Bilder in dir auslöst, die dich bedrängen. Vielleicht solltest du mal etwas anderes lesen. Lass dich von deinen Büchern nicht beeinflussen. Das sind alles erfundene Geschichten.»

 

«Ja, Mami, aber …»

 

«Und du gehst mit deiner Klasse in den Wald! Ihr seid ja eine ganze Klasse und Frau Gosteli ist dabei. Da kann dir nichts passieren. Gar nichts. Und jetzt komm wieder an den Tisch. Das feine Essen ist inzwischen sicher ganz kalt. Papa hat sich solche Mühe gegeben.»

 

Andrea küsst ihre Tochter und hält sie fest in den Armen. Wie klein sie ist. Wie hilflos. Und schon trägt sie so eine schwere Last mit diesen beängstigenden Bildern in sich. Dabei sollte ein Kind doch unbeschwert und unschuldig sein. Ist es möglich, dass sie meine irrealen und absonderlichen Sinnestäuschungen gespürt und übernommen hat? Diese Frage dreht sich in ihrem Kopf und kommt immer und immer wieder. Nein, das ist genauso unwirklich wie das Ganze. Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Vielleicht brauche ich Ferien, Abstand. Ja, das muss es sein. Es kann ja wirklich nicht gesund sein, sich tagaus tagein mit diesen alten Familiengeschichten, diesen verstaubten Akten auseinander zu setzen. Das ist genauso ungesund, wie die Zauberbücher, die Stefanie liest. Das ist die Lösung. Wir beiden sind ganz einfach unserer Fantasie zum Opfer gefallen.

 

Andrea nimmt Stefanie an der Hand und beide gehen wieder an den Familientisch. Bruno schaut fragend zu Andrea. Sie deutet ihm an, dass alles in Ordnung sei. Am Küchenfenster huscht ein dunkler Schatten vorbei. Sie bekommt eine Hühnerhaut. Aber die Zwillinge lenken sie gleich wieder ab und Andrea verdrängt, was sie da gesehen und gespürt hat.

 

«Mami, dürfen wir mit Stefanie in den Wald», fragt Lena.

 

«Nein, Liebes. Das ist ein Klassenausflug. Wenn ihr sieben seid, könnt ihr sicher auch auf solche Abenteuerausflüge.»

 

«Was hält ihr davon, wenn wir heute gemeinsam guetzlen? Ich habe den Mailänderliteig bereits vorbereitet. Ihr könnt mir beim Ausstechen helfen», schlägt Bruno vor.

 

«Au ja! Ich will aber die Herzli machen», ruft Lena.

 

«Nein, ich!!!», drängt sich Laura vor und stupst Lena an.

 

«Schluss jetzt, ihr zwei. Ich habe zwei Herzförmli. So kann jedes Herzli ausstechen», beschwichtigt sie Bruno.

 

«Aber ich will das grössere Herz», stichelt Laura.

 

«Dafür bekomme ich das schönere Herz», giftelt Lena.

 

«Wenn ihr zwei jetzt nicht Ruhe gibt, dann geht es ab ins Bett und ich guetzle alleine. Ihr habt die Wahl! So jetzt wird der Tisch abgeräumt. Stefanie putz dir die Zähne. Du musst dich anziehen!»

 

«Ich möchte lieber auch Guetzli backen. Ich will nicht in den Wald.» Andrea nimmt Stefanie an der Hand und führt sie ins Bad. Sie will nicht nochmals mit ihr über das Gleiche diskutieren.

 

Laura und Lena stellen, jetzt wieder ganz friedlich, scheppernd ihren Teller in die Abwaschmaschine. Sie sind immer ganz stolz darauf, schon helfen zu können. Stefanie geht ins Bad und schaut mit einem traurigen Blick zu ihrer Mutter auf.

 

Dieser Blick bohrt sich wie ein Eiszapfen in ihr Herz. Andrea hat das Gefühl zu erfrieren. Schaudernd windet sie ihre Strickjacke fester um sich und geht zurück in die Küche. Bruno schaut sie fragend an. Was ist nur mit Andrea los. Sie ist heute so still. Das ist sonst nicht ihre Art. Etwas muss sie bedrücken. Traurig, dass sie nicht mit mir darüber redet. Aber es ist halt so, wenn die Kinder immer um uns herum sind, ist es schwierig sich zu öffnen und Probleme anzusprechen. Wir müssen mal wieder etwas Zeit für uns nehmen. Er lächelt seine Frau an.

 

«Andrea, wir müssen uns wieder einmal Zeit für uns nehmen. Soll ich Tante Karin anrufen und sie fragen, ob sie heute Abend zum Hüten kommt? Wir könnten dann zusammen irgendwo was Feines essen gehen. Würde uns beiden guttun. Du kämst dann auch auf andere Gedanken.»

 

«Ich muss nicht auf andere Gedanken kommen. Den ganzen Tag bin ich auswärts und habe nichts von meiner Familie und dann will ich nicht auch noch am Abend ohne meine Kinder sein. Was fällt dir ein!»

 

Andrea steht wütend auf und rennt aus dem Zimmer. Ich habe keine Probleme. Was soll jetzt das. Spielen nun alle verrückt. Alles ist gut. Ich bin ganz ruhig. Es gibt keine Schatten. Es gibt keine Ängste. Und die Schachtel mit den Familienakten der Güggis hat nichts Teuflisches. Man soll mich einfach in Ruhe lassen. Andrea atmet schwer und versucht sich zu beruhigen.

 

In der Küche stehen die drei völlig erstarrt da. Weder Bruno noch die Zwillinge sind sich eine solche Reaktion von Andrea gewöhnt.

 

Lena: «Papa, hat Mami etwas?»

 

Laura: «Sie hat sicher Bauchweh!»

 

«Psst, ihr zwei … Ich glaube, Mama hat Sorgen im Archiv. Ich glaube, es ist besser, wenn wir nichts mehr sagen. Es kommt schon wieder gut.»

 

Bruno schickt die Zwillinge zum Zähneputzen und erlaubt ihnen, in ihrem Zimmer zu spielen. Im Bad nimmt er Andrea in die Arme.

 

«Du sprichst mit mir, wenn du mit etwas alleine nicht klarkommst, oder? Du weisst, ich bin immer für dich da, ganz gleich was es ist. In guten wie in schlechten Zeiten haben wir uns versprochen.»

 

«Ja … es ist nur … ich weiss nicht so recht … ich habe ein Familienarchiv zum Sichten ins Archiv bekommen. Irgendetwas …», Andrea kann den Satz nicht beenden. Mit einem zischenden Geräusch beginnen die Lampen zu flackern. Der Kühlschrank gibt ein Alarmsignal von sich, weil der Strom unterbrochen worden ist. Schon nach wenigen Sekunden ist der Spuk vorbei. Andreas Schrei bleibt im Raum stehen. Bruno schaut seine Frau mehr als besorgt an.

 

«Deine Nerven liegen ja völlig blank. Wie kann dich ein kurzer Stromausfall derart aus der Fassung bringen? Liebes, jetzt mache ich mir wirklich Sorgen um dich.»

 

Andrea, über sich selber erschrocken, fasst sich. Mit bemüht ruhiger Stimme antwortet sie: «Es ist alles ok. Ich habe vermutlich schlecht geschlafen. Weisst du, deine Idee, dass wir heute Abend zusammen ausgehen, finde ich jetzt doch gut. So kann ich den Archivstaub loswerden. Ist sicher nicht förderlich für mich, wenn ich kaum noch an die Luft komme. Alle ist gut. Danke, dass du dich um mich sorgst. Dann merke ich, dass du mich immer noch liebst.». Sie küsst ihren Mann und kuschelt sich an ihn.

 

«Ja. Gut. Dann heute Abend. Ich reserviere einen Tisch und rufe gleich Karin an.» Bruno hält Andreas Kopf und schaut ihr lächelnd in die Augen. «Alles gut?»

 

«Alles gut», bestätigt Andrea. Sie kämmt ihre wilden Haare und streicht die Lippen nach. Sie fühlt sich nie so ganz wohl, wenn Bruno sie so anschaut. Sie hat dann das Gefühl durchsichtig sein. In diesen Momenten versucht sie jeden Gedanken zu verdrängen, weil sie befürchtet er könne sie lesen.

 

«Stefanie! Wir müssen gehen! Du kommst sonst zu spät zu deinem Abenteuer», ruft Andrea, erleichtert, dass sie damit die Situation entspannen kann.

 

Stefanie kommt mit hängenden Schultern. Andrea hat das düstere Gefühl, dass ein dunkler Schatten ihre Tochter umhüllt. Betont heiter und locker geht sie auf Stefanie zu. Sie will jetzt einfach davon loskommen und dieses wirre Zeug im Kopf loswerden.

 

«Am besten ziehst du deine leuchtend gelbe Jacke an. Mit den roten Stiefeln zusammen wirst du ein fröhlicher Farbfleck in diesem grauen Wetter draussen sein. Und kein Geist wird es wagen sich dir zu nähern. Die haben nämlich bunte Sachen gar nicht gerne.»

 

Sie stellt sich vor ihre Tochter und freut sich über ihr kleines, buntes Mädchen. Für einen kurzen Moment sind alle düsteren Gedanken verschwunden. Sie zieht sich ebenfalls an und gibt ihrem Mann, der seine beiden Frauen stolz betrachtet, einen grossen Kuss und hält ihn lange in einer festen Umarmung. Die vertraute Wärme und sein Duft von würzigem Essen beruhigt sie und gibt ihr ein wohliges Gefühl. Alles ist gut. Alles Hirngespinste. Sie ruft den Zwillingen. Die jedoch schreien zurück, sie hätten keine Zeit und wünschen Mami einen schönen Nachmittag. Sie hebt die Schulter und meint, es sei schon gut.

 

«Lena, Laura … ihr kommt jetzt sofort her und sagt eurer Mutter adjö. Aber sofort!»

 

Man hört schnelle Schritte und die Köpfe der beiden erscheinen in der Türe. Laura linst links und Lena rechts hervor:

 

«Tschüss, Mami. Mach’s gut! Küsschen», und schon sind die beiden wieder verschwunden.

 

«Gib ihnen einen Kuss von mir», sagt sie lächelnd zu Bruno, dreht sich nochmals zu ihm um und umarmt ihn ganz fest.

 

«Mami, komm jetzt. Wir müssen gehen. Oder darf ich doch bitte zuhause bleiben», stürmt Stefanie.

 

«Geh jetzt mit Mami. Am Abend erzählst du dann von deinen spannenden Abenteuern. Ich freue mich schon darauf», damit schiebt er Stefanie zur Türe hinaus. Im Türrahmen schaut er mit einem breiten Schmunzeln seinen beiden Frauen nach, stolz darauf, ein so fabelhaftes «Harem» zu haben. Frauen sind wunderbare Wesen, manchmal ein bisschen rätselhaft und schwierig zu verstehen. Eigentlich bin ich ein glücklicher Mann mit meinen vier Frauen. Mit diesen Gedanken sieht er die beiden um die Ecke verschwinden. Sie schauen zurück und winken. Mit einem wohligen aber auch irritierten Gefühl schliesst er die Türe. Er will gleich Tante Karin anrufen. Da steht Laura schon vor ihm: «Rufst du Tante Karin an?»

 

«Ja. Sie soll euch ja heute Abend hüten. Das hast du doch gehört. Mami und ich wollen wieder einmal einen Abend zusammen ausgehen.»

 

«Das wissen wir. Sollen wir die Türe schliessen, damit du nicht gestört bist?»

 

In diesem Augenblick klingelt das Telefon.

 

«Erismann», erst jetzt erkennt er die Handynummer. «Ach, du bist es? Hast du etwas vergessen?»

 

Andrea antwortet am andern Ende: «Nein, nein … ich wollte dir nur sagen, dass ich kurz zu Karin gehen werde. Ich habe noch Zeit. Du brauchst also nichts zu organisieren. Einen dicken Schmutz euch dreien», und schon hat sie wieder eingehängt.

 

Bruno hält den Hörer noch in der Hand und starrt vor sich hin. Gut, dann soll es Andrea regeln. Sonst geht sie doch immer direkt und so schnell wie möglich ins Archiv.

 

«Kommt Tante Karin nicht?» quengelt Lena.

 

«Doch, natürlich. Mami geht nur selber vor der Arbeit zu ihr. Wollen wir nun zu unseren Weihnachtsguetzlis? Die Mailänderlis warten um gebacken zu werden!»

 

Die Zwillinge rennen jubelnd in die Küche. Laura schnappt sich die Herzförmli und das Wallholz aus der Schublade. Lena öffnet den Kühlschrank und nimmt den zu einer Kugel geformten Teig heraus und reisst die Alufolie auf.

 

Mailänderli sind ein klassisches Weihnachtsgebäck und das meistgebackene Guetzli in der Schweiz. Der Teig ist ganz einfach herzustellen: 250 gr. weiche Butter, 225 gr. Zucker, 1 Prise Salz miteinander verrühren, 2 Eier eines nach dem andern darunter rühren, Abgeriebenes einer Biozitrone, 500 gr. Mehl, alles gut verrühren und 2 Stunden kühl stellen. Teig auswallen und Herzli ausstechen. Mit einem Eigelb, das mit etwas Wasser verdünnt ist, bestreichen und 10 Minuten im auf 200 Grad vorgeheizten Ofen backen.

 

Nach einem kurzen Gerangel um die Herzausstechförmli sitzen die Zwillinge brav da und warten darauf, dass ihr Vater den Teig auswallt. Wobei sie sich nicht zurückhalten können und ein bisschen vom Teig stibitzen.

---ENDE DER LESEPROBE---