Grenchnertraum - Iris Minder - E-Book

Grenchnertraum E-Book

Iris Minder

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Beschreibung

Das Ermittlerpaar Hedy Steiner und Toni Morand wird in seinem dritten Fall bis an seine Grenzen gefordert und durchlebt eine emotionale Achterbahn. Träume zerplatzen, nicht nur für Frauen, die bei uns auf ein besseres Leben hoffen, auch für Steiner und Morand und ihr Team wird der verwickelte Fall zum Albtraum. In «Grenchnertraum» sehen sich Steiner und Morand mit einem Fall konfrontiert, der die dunklen Seiten der Gesellschaft ans Licht bringt. Eine Gruppe von Frauen, die in Grenchen auf ein neues Leben gehofft hatte, wird Opfer eines skrupellosen Menschenhändlerrings. Diese Frauen wurden mit falschen Versprechen gelockt und befinden sich nun in einer ausweglosen Lage, gefangen in einem Netz aus Gewalt und Ausbeutung. Während die Ermittler fieberhaft versuchen, die Hintermänner dieses perfiden Verbrechens aufzuspüren, geraten sie selbst in Gefahr. Bedrohungen und Einschüchterungen sind an der Tagesordnung, und die Täter schrecken vor nichts zurück, um ihre dunklen Machenschaften zu schützen. Steiner und Morand müssen nicht nur gegen die kriminellen Kräfte kämpfen, sondern auch gegen die eigenen Dämonen, die in ihnen aufsteigen. Der Fall nimmt eine persönliche Wendung, als das Team auf Verbindungen stößt, die bis in ihr eigenes Umfeld reichen. Vertrauen wird auf die Probe gestellt, und die Ermittler sehen sich gezwungen, schwierige Entscheidungen zu treffen. Die emotionale Belastung und die unbarmherzige Realität des Falls zerren an den Nerven aller Beteiligten.

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GRENCHNERTRAUM

Kriminalroman

 

Iris Minder

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Basrie

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

«Gewalt gegen Frauen ist keine Privatangelegenheit. Es ist eine gesellschaftliche Tragödie, die wir gemeinsam bekämpfen müssen.»

 

Ban Ki-moon, Generalsekretär der Vereinigten Nationen

 

 

 

«Menschen, die darauf bestehen, die Welt in WIR und SIE zu unterteilen, denken niemals daran, dass sie die SIE eines anderen sein könnten.»

 

Sir Ray Davies, Musiker, Komponist, Schriftsteller

 

Juli 2023Dunkle Wolken am Horizont

Grenchen ist wie ausgestorben. Die Zeit scheint still zu stehen. Eine Zäsur zwischen dem, was gewesen ist und dem, was kommen wird. Auf dem Marktplatz nehmen sich vereinzelte Menschen Zeit sich auszutauschen. Die Bewegungen sind langsam, ja fast träge. Angelehnt an den langgezogenen Brunnen vor der Drogerie Arnold sitzen auf den bunten, von der Stadt bereitgestellten Stühlen, ein paar wenige Randständige mit ihrem Bier. Vor dem Tea-Room «Bambi» ist nur ein Tisch besetzt und im Garten vom Restaurant «Passage» sind alle Plätze leer. Die Luft ist schwer, schwül. Die Stadt dampft. Ein Warten, Abwarten und Ausharren liegt in der Luft. Die Sommerferien sind erst in zwei Wochen zu Ende. Aber, wenn die Schwüle anhält, wird die Stadt kaum lebendiger werden. Man kann zwar langsam eine Erleichterung spüren. Nur, es braucht seine Zeit, bis der Organismus wieder in die Gänge kommt.

Jürg Junker, der Regionenchef der Kantonspolizei, steht in seinem Büro und schaut auf den nördlichen Teil des Marktplatzes hinunter auf den Sandplatz mit den schattenspendenden Bäumen. Er ist heute Tageschef und trägt deshalb Uniform. Allerdings wegen der Hitze nicht regelkonform. Die Hemdknöpfe sind fast bis zum Hosenbund offen. Er sehnt sich nach kühleren Temperaturen. In ein paar Wochen hat er endlich Ferien. Mit den beiden Hunden wird er mit seiner Frau zusammen lange Spaziergänge am Strand in Holland unternehmen.

Junker beobachtet die spielenden Kinder auf dem Sandplatz unter den schattenspendenden Bäumen. Kinder unterschiedlicher Hautfarbe und – so vermutet er – verschiedener Herkunft. So einfach ist es miteinander auszukommen.

Jürg Junker hebt den Blick. Die Billigkleider vor dem Bekleidungsgeschäft an der Ecke zur Rainstrasse hängen schlapp in den Ständern. Junker kommt es vor, wie ein Haufen Altkleider oder überdimensionale Putzlappen. Wie viel Leid wohl in all diesen Hosen, Blusen und Röcken steckt? Trauer und Verzweiflung der Näherinnen sollten eigentlich die Stoffe unlöschbar getränkt haben. Produzierter Abfall und Schund, hergestellt aus dem Elend heraus. Unmenschlichkeit und Ausnützung des Schwächeren gehören zur Menschheitsgeschichte, sinniert Junker mit einem traurigen Aufschnaufen.

Ja, die momentane Zeitphase ist nicht von schlechten Eltern. Krieg und Kriegsgeschrei, Drohungen, eine Gesellschaft, die sich aufzulösen scheint. Extreme Kräfte bekommen immer mehr Gehör. Die Menschen sind überfordert, ohnmächtig gegenüber dem Rasen der Zeit und dem Leistungsdruck, alles immer schneller, immer mehr und wer nicht mitzieht, fällt aus dem Hamsterrad raus. Die Sehnsucht nach einfachen Lösungen führt dazu, dass viele sich nach klaren Staatsführern sehnen, die Demokratie wird in Frage gestellt. Lieber eine Diktatur, damit man klare Linien bekommt, was man denken und leben soll. So folgen viele denen, die eine schnelle und simple Lösung aller komplexen Probleme versprechen, auch wenn alles offensichtlich gelogen ist. Jürg Junker schaut auf. Ja, die Zeit nach dem Herzinfarkt hat ihn nachdenklicher werden lassen.

Er ist jetzt seit fast einem Jahr wieder auf dem Posten. Von seinem Herzinfarkt hat er sich gut erholt. Es sei ein Schuss vor den Bug gewesen, meint er, wenn sich jemand nach seinem Befinden erkundigt. Rauchen und Fastfood seien kein Thema mehr für ihn, und er mache nun regelmässig Sport. Gut, einige würden darüber schmunzeln, was er als Sport bezeichnet. Aber diszipliniert geht er jeden Tag eine Stunde spazieren. Entweder in der Witi, an der Aare oder dann im wunderschönen Grenchner Wald. Das bedeutet nahezu hundert Prozent mehr Bewegung als vor seinem Infarkt. Dabei ist ihm zum ersten Mal bewusst geworden, was Grenchen alles an Kultur für Jung und Alt und an unglaublich vielen Freizeitaktivitäten bietet. Kaum einer versteht, warum sich Grenchen immer und immer wieder gegen seinen schlechten Ruf zu wehren hat. Dabei ist Grenchen von den drei Solothurner Städten diejenige, die von Landschaft, Natur, über Infrastruktur, Ausbildung, Arbeitsplätzen und allen nur erdenklichen Angeboten am meisten zu bieten hat. Ach herrje, denkt er, was für einen Wandel er doch in den Jahren als Chef in Grenchen erlebt hat. Er schmunzelt.

Junker empfand es damals als Affront, ja als Mobbing, als Degradierung, als Abschiebung, als man ihn vor fünf Jahren als Kommandanten des Regionenpostens nach Grenchen beorderte. Aber bereits nach einem Jahr revidierte er seine Meinung. Er, wie auch seine Frau, leben inzwischen in dieser Stadt, die einiges mehr zu bieten hat als nur alte, historische Mauern. Es ist schon so, Grenchen muss man erleben, die Atmosphäre spüren, den Menschen begegnen. Erst dann zeigt sich der Wert, die Qualität dieser Uhrenstadt. Junker muss schmunzeln. Ja, er fühlt sich als Grenchner und das mit Stolz. Was hat ihm da kürzlich eine gute Kollegin aus Luzern über ihre Einschätzung von Grenchen gemailt? Er holt sein Handy aus der Gesässtasche und scrollt durch seine dort gespeicherten E-Mails.

Er findet den gesuchten Text: «Ich vergleiche Grenchen immer mit einer Kartoffelpflanze - auf den ersten Blick, schlicht und unscheinbar, der wirkliche Schatz liegt unter der Erde und muss erst ausgegraben und ans Licht gebracht werden - die Kartoffelknolle hat jedoch ganze Völker vom Hungertod gerettet und wer sich Zeit nimmt für Grenchen, erhält wertvolle geistige Nahrung. Ich mag Grenchen sehr, mehr als Solothurn.» Genauso ist es, denkt er. Genauso. Grenchen nährt, wenn man offen dafür ist und genährt werden will. Mit einem bestätigenden Kopfnicken erinnert sich Junker daran, dass er wieder an die Arbeit gehen sollte.

Er zieht die blauen Lamellenstoren hoch, um die Sonne, die jetzt voll an die Fassade brennt, auszuschliessen. Es wird wenig nützen, gibt aber trotzdem ein Gefühl von Kühle. Was man sich alles einbilden kann und dann auch so empfindet, denkt er, und setzt sich an seinen Schreibtisch vor den Rechner. Eine dringend notwendige, aber auch heikle Aufgabe steht ihm bevor.

Als Regionenchef ist er für sein Korps verantwortlich. In letzter Zeit haben sich Fälle gehäuft, in denen die Einsatzkräfte wegen Gewaltdelikten ausrücken mussten. Und dabei handelte es sich vor allem um – wie man so schön sagt – Männer mit Migrationshintergrund. Junker weiss, dass es für einen Polizeibeamten oft sehr schwierig wird, nicht rassistisch zu denken. Immer wieder damit konfrontiert zu werden, kann einen Menschen prägen. Jürg Junker sieht seine Aufgabe auch darin, dem entgegenzuwirken.

Ja, es gibt sie, die rassistischen Vorgehen seitens der Polizei. Junker liest nochmals den Rechtsratgeber der eidgenössischen Kommission gegen Rassismus, EKR, betreffend Polizei und Rassismus. Das Gesetz ist da ganz klar: Einzig aufgrund der Hautfarbe jemanden ohne konkrete Verdachtsmomente zu kontrollieren, ist nicht legal, auch dann nicht, wenn gemäss Statistiken junge, dunkelhäutige Männer häufiger mit Drogenhandel zu tun haben und es in einem bekannten Hotspot für Drogen geschieht. Auch Unterlassungen können rassistischen Hintergrund haben, wie ein Beispiel in diesem Rechtsratgeber zeigt. Ein Kosovare will Anzeige erstatten, weil er wegen seiner Herkunft keinen Zugang zu einer Disco erhielt. Junker liest da: «Einerseits muss die Polizei dafür sorgen, dass die Straftat angezeigt und verfolgt wird, andererseits muss sie auch präventive Schutzmassnahmen einleiten.» Dies gilt auch für Rassendiskriminierung wie im Fall dieses Kosovaren. Auch rassistisch diskriminierende Äusserungen, Verleumdungen und Drohungen sind eine Persönlichkeitsverletzung, kann Junker dem «Rechtsratgeber rassistischer Diskriminierung» weiter entnehmen.

Dem Leiter des Regionenpostens West liegt es sehr am Herzen, dass seine Beamten diesbezüglich ein korrektes Verhalten an den Tag legen. Natürlich kann und will er persönliche Einstellungen und Meinungen nicht ändern. Aber in der Position als Polizeibeamter duldet er von seinem Team keine rassistischen oder ähnlich gelagerten Verhaltensweisen. Deshalb erachtet es Junker auch als wichtig, seinen Beamten entsprechende Weiterbildungen anzubieten. Gerade die Kommunikation mit Menschen aus ganz anderen Kulturkreisen birgt einige Fettnäpfchen. Die Beamten müssen verstehen, warum eine Frau schweigt und sich im Hintergrund aufhält und warum man sich an den Mann zu wenden hat. Auch wenn man es bei uns nicht mehr nachvollziehen kann, die Frauen aus diesen Ländern, beispielsweise dem Balkan, haben nichts zu sagen, sind im wahrsten Sinne des Wortes dem Manne untertan, ja haben sich zu unterwerfen. Bevor Jürg Junker jedoch an die Vorbereitung des Seminars gehen kann, muss er noch Routinearbeit erledigen: Rapporte lesen, kontrollieren und unterschreiben zum Beispiel, oder aber den hohen Stapel an interner Post anschauen und an die entsprechenden Abteilungen weiterzuleiten.

Wie sehr seine Leute und er selber bald an die Grenze zwischen persönlicher Betroffenheit, rassistischen Verurteilungen und ruhiger Besonnenheit stossen werden, kann Junker bei der Vorbereitung zu diesem Weiterbildungsseminar zum Thema interkulturelle Kommunikation nicht mal erahnen.

Während Jürg Junker den Weiterbildungskurs in die Wege leitet, ist bei Hedy Steiner und Toni Morand, beides Fahnder auf dem Grenchner Regionenposten der Kantonspolizei und seit ein paar Jahren ein Paar, wieder einmal Feuer im Dach. Man sagt ja, solange man noch streitet, lebt eine Beziehung. Aber Hedy will keinen Streit. Da ist ihr Harmoniebedürfnis viel zu stark in ihrem Wesen verankert. Aber Toni fordert sie diesbezüglich immer wieder heraus. Wie gerade eben.

«Du hättest mich wirklich zuerst fragen können, verdammt», regt sich Toni über alle Massen auf. Hedy Steiner steht einfach nur stumm da und schaut ihm direkt und seelenruhig in die Augen.

«Ich darf doch auch etwas dazu sagen. Schliesslich leben wir mehr oder weniger zusammen.»

Hedy bleibt immer noch ruhig und stumm.

«Verdammt, sag doch was!»

«Was soll ich dazu sagen, Toni? Was machst du für ein Drama um nichts? Was ist dir wirklich über die Leber gekrochen? Es kann ja nicht sein, dass du so ausrastest, nur weil ich mich für einen asymmetrischen Kurzhaarschnitt entschlossen habe. Das ist lächerlich.»

«Lächerlich! Das bin ich also für dich inzwischen. Lächerlich. Genau das brauche ich jetzt. Weisst du was: Lass mich einfach in Ruhe! Ich verschwinde. Rechne heute nicht mehr mit mir. Eigentlich nie mehr. Und noch was: Du nervst mit deiner Geduld, deiner Ruhe. Immer bist du die Liebe, Nette, Verständnisvolle und ich das Arschloch. Das hält doch kein Mensch aus.»

Während er mit viel Lärm und Fluchen seine Schuhe sucht, fällt alles über Hedy zusammen. Die alten Prägungen beginnen sich wieder zu bewegen, immer schneller und schmerzender. Alles schon gehabt in ihrem Leben mit Männern, mit Freundschaften und mit Toni. Mehrfach. Ja, jetzt ist es wieder einmal so weit. Dieses tiefsitzende Gefühl von «alles falsch machen», «es dem andern nicht recht machen», «nicht richtig zu sein», kommt ungefiltert wieder hoch. Diese ekelhaft grauschwarze, wabernde Suppe beginnt sich mehr und mehr auszubreiten und beengt ihr Herz, den Magen, die Lunge und beginnt ihre Kehle immer mehr zu verengen. Tränen steigen auf. Ich will das nicht mehr. Es ist nicht mein Problem. Es ist das Problem von Toni. Ich bin kein Opfer. Ich habe nichts falsch gemacht. Gar nichts. Ich bin richtig, so wie ich bin. Ich lasse mich nicht wieder in ein Loch ziehen, in dem ich mich selber schlecht mache und am schlimmsten, mich noch schuldig fühle, weil ich so bin wie ich bin. Nein. Jetzt ist Schluss.

Toni hat die Hand bereits an der Türklinke als Hedy allen Mut zusammen nimmt und ihn energisch zum Dableiben auffordert. «Halt, Toni. So nicht. So gehen wir nicht miteinander um. Dieses Thema haben wir immer und immer wieder besprochen. Ich bin nicht einfach nur die Liebe und Nette, auch wenn ich nicht gleich losdonnere und blitze. Wenn du ein Problem hast, dann lass es nicht an mir aus. Dann hör damit auf, mich schlecht zu machen. Und jetzt bleibst du hier. Es wird geredet. Verstanden!»

Dieser ungewohnt forsche Ton von Hedy lässt Toni erstaunt innehalten. Er dreht sich langsam mit einem mürrischen Blick um. Der harte Ausdruck in Hedys Gesicht wirbelt diese ganze innerliche Verhärtung und Abwehr in ihm auf. Er hat das Gefühl, dass alles weggespült wird. Der ganze Druck ist weg. Explosionsartig beginnt er laut zu lachen und kann kaum mehr damit aufhören. Hedy kann nicht anders als in dieses befreiende Lachen einzustimmen. Sie fallen sich in die Arme und halten sich fest. Nach langen Minuten löst sich Hedy von ihrem Toni.

«Ich will jetzt trotzdem wissen, was mit dir los ist. Was beschäftigt dich? Ich akzeptiere solche Ausbrüche von dir nicht mehr.»

Toni starrt lange vor sich hin und ringt mit sich. Schwäche einzugestehen oder über eigene Probleme zu reden, kann er einfach nicht. Zu gross ist da die Angst, dass man angegriffen werden kann, dass das Gegenüber diese Schwäche ausnutzen wird. Man wird denken, dass man seiner Aufgabe nicht mehr gewachsen ist. Man wird wegen einer kleinen Schwäche abgeurteilt, abgewertet und nicht mehr ernst genommen. Aber, wenn er nicht redet, dann ist die Beziehung zu Hedy bedroht. Er braucht diese Beziehung. Hedy bedeutet für ihn Stabilität, Wurzeln und Heimat. Toni liebt sie und sie hat es nicht verdient, dass er seine Launen an ihr auslässt und sich ihr nicht anvertraut. Deshalb springt er jetzt über seinen eigenen Schatten und beginnt loszuwerden, was sich in ihm aufgestaut hat.

«Ich halte es einfach nicht mehr aus.» Weil Hedy sich automatisch versteift, beschwichtigt er: «Keine Angst, es hat nichts mit unserer Beziehung oder dir zu tun. Dich halte ich länger je mehr aus. Du bist mein ruhender Pol. Ich weiss nicht, was ich ohne dich machen würde. Und das ist nicht nur eine Floskel. Vielleicht hätte ich mich schon lange erschossen … keine Angst … ich werde es nicht tun. Ich halte es einfach nicht mehr aus, tagtäglich mit immer nur Negativem konfrontiert zu werden. Ich halte es einfach nicht mehr aus, dauernd von der Boulevardpresse angegriffen zu werden. Ich halte diese dummen, idiotischen Kommentare in genau diesen Medien nicht mehr aus. Ich halte diese schwüle Hitze nicht mehr aus. Ich halte diese ganzen lügnerischen und narzisstisch gestörten Politiker nicht mehr aus, die nichts anderes tun, als die Werte einer Gesellschaft zu zerstören. Ich halte die Polarisierung der Gesellschaft nicht mehr aus. Ich halte dieses Elend, das die Menschen sich und der Welt und allen Lebewesen gegenüber antun, nicht mehr aus. Ich halte diese Aggressionen rundum nicht mehr aus. Ich halte einfach gerade alles, was so abläuft, nicht mehr aus. Mir ist schon bewusst, dass unsere Arbeit hier in unserem Umfeld, in Grenchen, zum allergrössten Teil geschätzt wird. Aber warum schreibt darüber keiner. Lies doch mal all diese Zeitungen und verfolge die anderen Medien: Es wird nur über Polizeigewalt berichtet. Immer nur das Negative. Wir werden dann gerufen, wenn es um Gewalt in jeder nur erdenklichen Form und um Tod geht. Und du weisst es selber, Hedy, sehr häufig sind es Migranten, mit denen wir es zu tun bekommen. Immer dieser innere Kampf nicht rassistisch zu werden. Ich kann gerade einfach nicht mehr. Ich bin nur noch müde und … wie soll ich sagen … traurig. »

Hedy bleibt stumm. Was soll sie antworten? Was sagen? Er hat ja in allem recht. Aber, um zu überleben, muss man das Desaster rundum verdrängen können. Nur gibt es manchmal Momente, wie gerade ihr Toni einen durchlebt, in denen diese dünne Haut zwischen Verdrängtem und dieser erdrückenden Realität Risse bekommt und all das Belastende einen übermächtig und mit voller Wucht in Besitz nimmt. Und in diesen Phasen will man nur noch sterben. Es wird alles zur drückenden, beklemmenden Belastung. Hedy kennt das nur zu gut. Manchmal braucht es nur einen winzigen, eigentlich unbedeutenden Auslöser. Ihre letzte solche Krise hatte Hedy vor einem Monat. Sie fand gerade kein Papiertaschentuch, als die Nase lief, und schon überrumpelte sie die ganze weggeschobene Scheisse rundum. Viel zu dünn ist die Schutzschicht zwischen der morastigen Masse von verdrängter Realität und einem positiven Lebensgefühl.

«Ich habe nichts dazu zu sagen, Toni. Du hast recht. Ich mag dir auch keinen Rat geben. Was wollen wir darüber diskutieren? Es ist so. Weisst du, es kommt mir manchmal vor, wie wenn die ganze Welt brennen würde. Im übertragenen Sinn, aber auch real. Die steigenden Temperaturen, der Angriffskrieg der Russen in der Ukraine, die vielen Einsätze der Feuerwehr bei Grossbränden, wenn Garagen brennen, Recyclinganlagen, wenn giftige Rauchwolken die Luft verpesten, die vielen Waldbrände und der immer stärker werdende Brand an Aggressionen, der sich in unserer Gesellschaft ausbreitet. Das sind meine Wahrnehmungen, wenn ich, wie du, müde bin und mit all dem konfrontiert werde. Das sind so die Momente, in denen meine Anpassungsfähigkeit, Resilienz, an ihre Grenzen kommt. Das sind dann die Momente, in denen ich mich den Problemen und Veränderungen gegenüber nicht mehr adäquat anpassen kann. Das sind Augenblicke der Schwäche, die wir aber durchaus haben dürfen. Auch starke Männer wie du!» Hedy lächelt ihn an und fährt weiter: «Wir können nur eines tun: Entweder man macht weiter und versucht das Gute zu sehen oder man hört auf. Aufhören ist für uns beide keine Option. Stell dir doch vor: Ich sitze im Sessel und stricke Socken oder kleine Püppchen und du bastelst mit Streichhölzern den Eiffelturm in Miniatur nach. Nichts gegen Stricken und Basteln, aber wir zwei?! Kannst du dir das bildlich vorstellen? Also, Toni: ‘Gring abe u vou seckle’!»

Beide schauen sich in die Augen und beginnen erneut zu lachen, laut, fast hysterisch, bis die Tränen kommen. Die Sportlerin Anita Weyermann hatte 1997 an der Weltmeisterschaft dieses geflügelte Wort geprägt, das nun den beiden hilft, aus diesem Gedankensumpf herauszukommen. Es kommt noch dazu, dass die von Hedy vorgeschlagenen Alternativen dermassen absurd anmuten, dass diese Bilder ebenfalls befreiendes Lachen provozieren.

Toni steht auf, hält Hedy die Hand hin und zieht sie hoch. «Wenn ich dich nicht hätte! Ich muss an die frische Luft. Gehen wir an der Aare spazieren. Ich lade dich anschliessend ins Grenchner ‘Fischerhaus’ zu Fisch und Salat ein.» Normalerweise gönnen sich die beiden eine Auszeit in der ‘Fischerstube’ in Selzach-Altreu. Aber die haben am Dienstag geschlossen. Im Übrigen müssen die beiden sich überlegen, im kommenden Jahr einen neuen Zufluchtsort zu suchen. Mit Entsetzen hatten sie zur Kenntnis nehmen müssen, dass Andrea Fischer, die Wirtin und herzliche Gastgeberin der Fischerstube, informiert, dass sie und ihr Mann Ende Oktober aufhören würden. Toni und Hedy haben vor allem die liebevolle Gastfreundschaft der Wirtin geschätzt. Es wird nicht mehr so sein wie vorher. Die heimelige Gaststätte war halt auch der Ort gewesen, an dem sich die beiden nach langen Krisen wieder gefunden hatten. Als Frau Fischer sie über den Weggang informiert hatte, brummte Toni: «Ich hoffe, das ist kein schlechtes Omen für unsere Beziehung.» Die beiden Frauen schauten ihn entgeistert an. Der sonst so sachliche und realistische Toni mit solch esoterisch angehauchten Gedanken? Er bemerkte die Konsternation und rechtfertigte sich: «Eh ja, ich sage ja nur. Ihr braucht gar nicht so dumm aus der Wäsche zu gucken. Das kann man schliesslich auch als eine Art Liebeserklärung oder so ansehen. Irgendwie.» Er wurde rot und verlegen. Frau Fischer rettete die für ihn so peinliche Situation und nahm die Bestellung auf, während Hedy ihm einfach die Hand aufs Knie legte.

Bevor sie jetzt das Haus verlassen, zieht sich Hedy kurz um. Mit weitem Flatterkleid, das sie im Sommer gerne zuhause trägt, kann sie nicht unter die Leute. Sie holt eine Caprihose aus dem Schrank. Diese klemmt jedoch gehörig in der Taille. Schon wieder zugenommen. Dieses elende Gewicht. Dauernd muss man sich einschränken, das nicht essen und jenes nicht, wegen der Befürchtung, davon zuzunehmen. Hedy ist frustriert. Sie behält die Hose aber trotzdem an und tröstet sich damit, dass der Körper bei dieser schwülen Hitze aufschwillt und es sich um keine Gewichtszunahme handelt. Sie entschliesst sich, darüber eine blaue Leinenbluse zu tragen, die lang genug ist, um den einschneidenden Hosenbund zu verdecken. Sie verlassen Hedys Wohnung an der Bucheggstrasse 47, spazieren diskutierend in der prallen Sonne, am zweitletzten Tag ihrer gemeinsamen Ferienwoche, an den Familiengärten vorbei über die Feldwege in Richtung Aare. Es wird für lange Zeit das letzte gemeinsame und ruhige Zusammensein des Fahnderpaares sein. Bald werden die Ereignisse, in die beide hineingerissen werden, sie in Gefahr bringen.

Erleichtert atmet Jürg Junker auf. Die interne Post, ein Stapel von fast zehn Zentimetern, ist erledigt, weitergeleitet und die notwendigen Aufträge sind vergeben. Heute sind zwei Vorführungen beim Betreibungsamt vorgenommen worden. Marc Messerli mit seiner Kollegin Laura Buser haben die säumigen Bürger abgeholt und aufs Betreibungsamt gebracht. Anschliessend hat sich Junker die Rapporte von letzter Nacht vorgenommen. Es gab mehrere Vorfälle: Nächtliche Ruhestörung wegen zu lauter Musik im Garten. Wegen lautstarken Streitigkeiten zwischen einem Mann und einer Frau in einer Wohnung an der Freiestrasse. Als die Beamten klingelten, öffnete der Mann und entschuldigte sich. Es sei alles gut. Sie hätten blöderweise den Fernseher mit einem Actionfilm viel zu laut aufgedreht. Der Mann rief dann seiner Frau in der Wohnung etwas auf Albanisch zu. Die Frau bestätigte kaum hörbar im Hintergrund: «Gut, gut, gut». Für die beiden Polizeibeamten war die Situation nicht wirklich geklärt. Aber sie konnten nichts Weiteres unternehmen oder gar die Wohnung betreten. Junker legt diesen letzten Rapport zu den andern. Da klingelt das Telefon auf seinem Pult.

«Es soll im Bereich des Findlingsgartens, am Garnbuchiweg, direkt hinter dem Tea-Room «Back-Caffee», eine tote Frau liegen. Wenn ich es richtig verstanden habe, halb im Bach und im Schilf, hinter der Informationstafel «Zeiten der Vereisung» mit Mammuts drauf. Eine Spaziergängerin hat die Meldung gemacht. Sie klang sehr verwirrt. Ich konnte sie kaum verstehen. Vielleicht ist es nur falscher Alarm.»

Junker nimmt sofort Kontakt zur Patrouille Marc Messerli und Laura Buser auf. Die beiden uniformierten Beamten fahren sofort zum angegebenen Ort. Sie stellen den angeschriebenen Wagen neben den Aussensitzplätzen des Tea-Rooms ab. Die beiden einzigen Gäste im Gastraum, ein pensioniertes Ehepaar, starren sofort hinaus und weisen aufgeregt mit dem Kopf in Richtung Findlingsgarten. Dort stehen einige Schaulustige händeringend und mit gezückten Handys neben der besagten Informationstafel und starren ins meterhohe, dichte Schilf, ins dünne Rinnsal des Moosbaches. Eine Frau steht mit vor Schreck geweiteten Augen und der Hand schützend vor dem Mund am Rand des Baches. Offensichtlich ist sie ausserstande wegzuschauen oder gar wegzugehen.

«Machen Sie bitte Platz. Und nehmen Sie sofort ihre Handys runter. Ich will kein einziges ihrer Filmchen irgendwo im Netz sehen, weder auf sozialen Medien noch auf den Seiten der Boulevardpresse. Verstanden! Und jetzt treten sie sofort zurück.» Messerli weist die Gaffer freundlich, aber sehr bestimmt zurecht. Sie ziehen sich zurück und bleiben rund um einen dort liegenden, vermodernden Baumstrunk, weiterhin aufgeregt diskutierend, stehen. Jeder weiss schon ganz genau, was passiert ist und warum und wer dahinter stecken könnte.

Während Messerli sich um die Neugierigen kümmert, geht seine Kollegin Laura Buser sofort hinunter zum Bach. Und dort sieht sie zu Füssen der erstarrten Frau eine leblose Person liegen, den Oberkörper im seichten Wasser und die Beine verdreht im Schilf. Sie bückt sich und versucht an der Halsschlagader den Puls zu fühlen, lässt es aber bleiben. Sie spürt bei der kurzen Berührung die Totenstarre. Dieser Frau kann niemand mehr helfen. Deprimiert gibt Buser dem Kollegen Messerli ein Zeichen. Er versteht sofort und macht bei Junker Meldung, dass hier tatsächlich eine Leiche liege.

Junker bietet nun die Kriminaltechniker Mohammed Sassi, der Anfang Woche von seinen Ferien in Tunesien zurückgekommen ist und Miroslav Svoboda, sowie den Rechtsmediziner Tinu Siegrist für die Vorortaufnahme auf. Als Tageschef, aber vor allem als neu ernannter Offizier, der gerade bei solchen Vorfällen vor Ort einen Augenschein der Situation machen muss, um dann die entsprechenden Massnahmen einzuleiten, macht sich Junker selber zurecht. Im Eiltempo knöpft er sein blaues Uniformhemd zu und versichert sich, dass seine Pistole, eine HK 30, im Halfter liegt. Junker will sich zuerst mal ein Bild vor Ort machen, bevor er dann die Staatsanwaltschaft informiert. Er versucht, bevor er sein Büro im dritten Stock des Postens verlässt, noch Morand oder Steiner zu erreichen. Aber bei beiden bekommt er keine Verbindung. Die haben zwar noch zwei Tage oder so Ferien, hatten sich aber bereit erklärt, im dringenden Fall erreichbar zu sein. Ein Kollege der Fahndung West ist wegen eines Todesfalls in seiner Familie ausgefallen. Junker flucht. Mit dem Zivilfahrzeug erreicht er nach zehn Minuten den Fundort der Leiche.

Messerli und Buser haben den Bereich bereits mit dem Flatterband abgesperrt, ein rot-weisses Band aus Plastik, auf dem der Schriftzug Polizei steht. Er nimmt wahr, wie Messerli mit den Zuschauern spricht und sie davon abhält zu filmen oder noch näher zu kommen. Diese Gaffer sind ein Seuche, denkt Junker. Wir könnten viel Zeit und Ärger sparen, wenn wir uns an einem Tatort nicht noch um diese Bande kümmern müssten. Er sieht, dass Buser auf einem Bänkli vor einem Findling sitzt und eine zitternde Frau zu trösten versucht. Laura Buser gibt ihm mit einer kleinen Bewegung des Kopfes zu verstehen, wo die getötete Person liegt. Er nickt kurz und geht die kleine Böschung hinunter. Er zieht sich Einweghandschuhe über. Bei der toten Frau kniet er nieder … doch in dem gleichen Augenblick wird er angeschrien: «Willst du wohl weg vom Tatort gehen! Du kontaminierst uns ja alles. Wie oft müssen wir das noch sagen», donnert Miroslav Svoboda. Junker schnellt pikiert und verärgert hoch. Eingepackt in ihre weissen Schutzgewänder und den weissen Schuhüberzügen scheuchen ihn Sassi und Svoboda weg. Ihre Blicke erfassen in Sekundenschnelle die Umgebung rund um den Fundort. Sie untersuchen kurz die Leiche. Es handelt sich um eine Frau, ca. 35jährig, dunkelhäutig.

«Könnt ihr etwas zur Identität dieser Frau sagen», erkundigt sich Junker bei den beiden Kriminaltechnikern. «Ihr habt mich ja weggejagt.»

«Zu Recht. Zu deiner Frage: Nein. Kein Ausweis, kein Handy. Aber … ach, lassen wir das. Wir brauchen die Rechtsmedizin und den Staatsanwalt.» Sassi schaut Junker fragend an.

«Der Rechtsmediziner sollte eigentlich schon lange da sein.»

«Auf niemanden ist Verlass. Der müsste doch als erster vor Ort sein. Als einer der ersten, wenigstens.»

«Schlecht gelaunt, Mohammed?» Miroslav ist erstaunt, dass sein sonst so ruhiger und besonnener Chef sich so gehässig aufführt.

«Sorry. Ja. Ich glaube, ich kenne die Frau. Das ist es, was mich erschüttert.»

Junker, der auf dem Weg zum Bänkli ist, wo Kollegin Buser die aufgewühlte Frau zu beruhigen versucht, wirbelt herum. «Du kennst sie?»

«Ja. Nicht namentlich. Aber sie ist eine Freundin meiner Frau. Sie engagieren sich gemeinsam für Frauen mit Migrationshintergrund. Sie zeigen ihnen ihre Rechte auf, geben ihnen Mut und Selbstvertrauen, wenn sie ihren Ehemännern ausgeliefert sind. Und ähnliches. Eine sehr engagierte und taffe Frau, die kein Blatt vor den Mund nahm. Der Teufel soll mich holen, wenn das nicht ein rassistisch motivierter Mord ist. Und Mord war es. So brutal wie sie geprügelt und getreten wurde! Wie mir scheint, hat man sie erdrosselt. Aber das soll sich der Rechtsmediziner genauer anschauen. Ah, da kommt der Herr Doktor, Tinu, endlich.»

Gerade parkiert der Rechtsmediziner Siegrist direkt hinter dem angeschriebenen Polizeiauto. Er zieht ruhig seinen Schutzanzug an und holt die Instrumententasche aus dem Kofferraum.

Sassi geht das alles viel zu langsam: «Wie ein Berner, eine Schlafmütze, wach auf, Tinu!»

In einem breiten Walliserdeutsch kontert Tinu Siegrist: «Eine tote Person läuft mir nicht weg. Vorbereitung ist alles. Sonst reklamiert ihr wieder, weil ich den Fundort oder Tatort, wie auch immer, verschmutze. Also, alles braucht seine Zeit.» Mit diesen Worten überquert er den kleinen Holzsteg und ist kurz darauf bei der toten Frau. Respektvoll und ruhig untersucht er den Leichnam.

Svoboda sammelt in der Zwischenzeit allerhand Gegenstände in der nächsten Umgebung der toten Frau ein. Zigarettenstummel, ein Papiertaschentuch, ein gebrauchtes Kondom und eine leere Aludose eines dieser flügelverleihenden Getränke. Das sind mal die offensichtlichen Fundgegenstände. Sobald der Leichnam vom Bestatter abgeholt und nach Bern in die Gerichtsmedizin gebracht worden ist, werden sie minutiös noch nach den kleinsten Spuren suchen müssen. Eine äusserst pingelige und zeitaufwendige Arbeit. Die allerkleinste Spur kann jedoch ausschlaggebend sein, um einen Täter zu identifizieren. Es ist nahezu unmöglich, keine Spuren zu hinterlassen und wenn es nur eine kleine Hautschuppe ist oder ein winziges Härchen. Allerdings ist dieser Fundort mit all dem dichten und meterhohen Schilf, dem Nass des Bordes und des Moosbaches nicht gerade ideal, um wirklich etwas Relevantes zu finden. Eines ist sich jedoch Miroslav sicher: Das ist nicht der Tatort. Wenn sie wirklich stranguliert wurde, dann hätte man Abwehrspuren gefunden. Die Frau hätte sich gewehrt, mit Händen und Beinen um sich geschlagen und getreten. Da würde man im Boden eindeutige Abdrücke finden. Ausser, wenn die Frau betäubt gewesen wäre, was sich sicher bei der Obduktion zeigen wird. Aber, so überlegt Miroslav weiter, es hätte eindeutig mehr Fussspuren des Täters oder der Täterin. Gerade neben der Leiche müssten tiefere Abdrücke sein, wenn man die arme Frau hier erwürgt hätte. Nein, sie muss hier abgelegt und anderswo getötet worden sein.

Miroslav seufzt. Immer diese Gewalttaten. An Frauen! An Menschen mit sogenannt fremder Herkunft. Miroslav kann selber ein Lied davon singen. Seine im Prager Frühling politisch engagierten Grosseltern konnten mit seinem Vater vor der brutalen Unterdrückung durch die Russen in die Schweiz fliehen. Sie mussten um ihr Leben fürchten. Ja und er, der Enkel, war vielen fremdenfeindlichen Angriffen in der Schule ausgesetzt. Man beschimpfte ihn wegen seines östlichen Namens als Albanersau und noch mit anderen schlimmen Ausdrücken. Miroslav blieb immer ruhig, liess sich nicht provozieren oder zu einer Schlägerei hinreissen. Er erklärte den Schulkollegen seine Geschichte. Einige verstanden, andere liessen sich nicht überzeugen, liessen ihn aber mit der Zeit in Ruhe. Er war langweilig, weil er keine Angriffsfläche bot und sie einfach links liegen liess. So wurde er weder zum Opfer noch zu einem Täter.

Während sich Svoboda um die Spurenarbeit kümmert und dabei seinen Gedanken nachhängt, nimmt Junker den Kollegen Sassi zur Seite. Unter vier Augen stellt er ihn zur Rede: «Dich berührt es sehr. Der Tod dieser Frau.»

«Ja. Natürlich. Wie schon erwähnt, kann ich mich an keine Details erinnern. Ich weiss nur, dass sich diese Frau sehr engagiert hat. Ich glaube mich zu erinnern, dass es kürzlich eine Auseinandersetzung mit einem Ehemann aus dem Balkan gegeben hat. Meine Frau hat etwas angedeutet. Ich erreiche sie leider nicht. Aber, sobald ich Näheres in Erfahrung bringen kann, werde ich euch natürlich informieren.»

«Gut, Mohammed. Ich nehme an, dass du bei der Toten keine Ausweise, kein Handy oder sonst etwas gefunden hast, das zu ihrer Identifikation beitragen könnte. Richtig?»

«Genauso ist es», bestätigt Sassi.

Endlich ist auch der Staatsanwalt Beat Gosteli eingetroffen und gesellt sich zu Junker und Sassi. Die beiden schildern ihm die Situation. Gosteli steht bei der Informationstafel und schaut betroffen auf die tote Frau, die von Tinu Siegrist respektvoll einer ersten Untersuchung unterzogen wird. Gosteli wird sich nie an diesen Anblick gewöhnen können. Nie. Traurig blickt er Junker an. «Warum tun wir Menschen uns das immer wieder an?»

Tinu Siegrist, der Rechtsmediziner, packt seine Equipments zusammen und gesellt sich zu Gosteli und Junker. Er scheint mit der äusseren Untersuchung fertig zu sein. Er hat Svoboda noch angewiesen, eine fotografische Dokumentation durchzuführen und ihm per Mail zukommen zu lassen.

Junker streckt Tinu Siegristdie Hand entgegen und stellt sich vor. «Wir hatten noch nie miteinander zu tun, Herr Siegrist. Freut mich. Jürg Junker, Pikettoffizier, Grenchen. Den Staatsanwalt, Beat Gosteli, muss ich Ihnen sicher nicht mehr vorstellen. Was können Sie uns über die Frau sagen?»

«Beat! Wäre schön, wenn wir uns mal unter angenehmeren Umständen treffen würden. Freut mich, Herr Junker. Viel von Ihnen gehört. Also: Den Todeszeitpunkt zu bestimmen, ist recht schwierig. Die grosse Hitze, die Feuchtigkeit rundum beschleunigen den Vorgang der Verwesung. Deshalb kann ich bereits einen Hauch von diesem unverkennbaren Geruch wahrnehmen. Die Totenstarre ist allerdings ausgeprägt. Ich würde sagen, sie verstarb heute Nacht zwischen zwei und vier Uhr. Wie immer: Genaueres nach der Obduktion in der Gerichtsmedizin in Bern. Ich nehme an, Beat, dass du eine Obduktion anordnen wirst. Habt ihr den Bestatter zur Überführung schon aufgeboten?» Junker dankt dem Rechtsmediziner für die Information. Der Bestatter sei aufgeboten worden.

Junker hält ihn zurück: «Ah, noch was, können Sie schon etwas über die Todesursache sagen. Gewaltsamer Tod? Unfall? Ist die Frau vergewaltigt worden?»

«Ich gehe von einem Gewaltverbrechen aus. Sie weist Spuren einer Strangulation auf: Drosselmarke am Hals und Stauungsblutungen an der Mundschleimhaut und den Augen. Das alles weist auf eine Strangulation mit einem dünnen Gegenstand hin. Ob das todesursächlich war, wird sich bei der Obduktion zeigen. Im Brustbereich weist sie mehrere tiefe Stichwunden auf. Auf der Stirn wurde eine Art Kreuz eingeritzt. Betreffend Vergewaltigung: Ich glaube nicht, kann es aber nicht mit Bestimmtheit sagen. Die Jeans scheinen unberührt. Aber ich kann nicht sagen, ob man sie post mortem wieder angezogen hat. Ich kann hier nur einen ersten Augenschein nehmen. Sie müssen die forensische Untersuchung von Bern abwarten. Kann ich dann gehen? Ich muss!»

Beat Gosteli hat inzwischen die entsprechenden Papiere für die Anordnung der Obduktion im rechtsmedizinischen Institut in Bern ausgefüllt. Anschliessend unterhält er sich noch mit Sassi und Svoboda. Mit einem kurzen Kopfnicken zu Junker verabschiedet er sich.

Junker hebt die Hand zum Abschied und wendet sich an Messerli, der noch immer bemüht ist, die neugierige Gruppe zurückzuhalten und in stoischer Ruhe diese davon abhält, Fotos und Videos zu machen: «Marc, versuchst du bitte noch Hedy und Toni zu erreichen? Ich habe es schon mehrmals versucht, aber vergebens. Hat von diesen Zuschauern jemand was gesehen, was uns helfen könnte?»

«Nein. Scheinbar kamen alle erst neugierig herbeigerannt, als sie unsere Zeugin haben schreien hören. Ein Herr, ich habe seine Personalien aufgenommen, meinte nur, einer sei vor ihm gerannt, hätte die Frau gesehen und gemeint: ‘Eine Schwarze. Nicht schade!’ Dann sei er davonmarschiert. Er beschrieb ihn als Mitte sechzig, schütteres graues Haar, hager, Zigarette im Mundwinkel und mit leichtem Alkoholgeruch. Mehr konnte ich nicht in Erfahrung bringen.»

«Gut, danke Marc. Ich nehme an, dass du die Personalien von allen diesen Leuten hier aufgenommen hast.» Messerli nickt und Junker wendet sich an die Gaffer: «Und euch bitte ich jetzt zu gehen. Es gibt nichts mehr zu sehen. Befolgen Sie bitte die Anweisungen der Beamten. Danke!»

Junker will sich jetzt endlich an seine Kollegin Laura Buser wenden, die sich nach wie vor um die schockierte Zeugin kümmert. Er nähert sich den beiden Frauen auf dem Bänkli und fragt: «Darf ich mich setzen?»

Mit einem stummen Kopfnicken machen sie ihm Platz. «Können Sie mir erzählen, was sie erlebt haben?»

Die ältere Dame beginnt fast atemlos und wirr zu reden: «Das habe ich doch schon Frau Buser gesagt. Sie hat alles aufgeschrieben. Es war so grauenhaft wie sie dort lag. Ich wollte doch nur den Text über die Mammuts lesen. Wussten Sie, dass es hier Mammuts gab, auch Wollnashörner, Steppenelefanten … Hier bei uns. Ist das nicht spannend? Ja, und dann schaute ich auf … und dann diese Frau! Hätte ich doch nicht aufgeschaut! Aber dann wüssten Sie es nicht und könnten diese Verbrecher nicht suchen. Aber mir wären die Urtiere lieber gewesen. Stellen Sie sich doch vor: Vor einer Million Jahre gab es hier Steppennashörner. Ist das nicht spannend! Viel kann ich wirklich nicht sagen. Muss ich es nochmals erzählen? Ich bin müde und möchte jetzt nur noch nachhause.»

Junker schaut Laura an. Diese nickt. «Gut, Frau …?»

«Mäder», informiert Laura ihren Chef.

«Gut, Frau Mäder. Wir haben ja ihre Personalien. Danke, dass Sie das alles auf sich genommen und gewartet haben. Und danke, dass Sie uns informiert haben. Wir werden – wenn es Ihnen besser geht – wieder auf Sie zukommen. Ihre Aussage ist wichtig. Frau Buser wird sich morgen mit Ihnen in Verbindung setzen. Sollen wir Sie nachhause bringen?»

«Nein, das ist nicht nötig. Bewegung tut mir gut. Das brauche ich jetzt. Ich habe ja nicht weit bis zum Römerbrunnenweg. Mein Gott, die arme Frau. Wer tut denn sowas? Man muss langsam dauernd Angst haben in der heutigen Zeit. Als ich jung war, konnte man sogar die Haustüre offen lassen. Da passierte nie etwas. Und heute: Überall nur noch Verbrechen. Mord und Totschlag.»

«Ich verstehe Sie. Man liest halt sehr viel und sehr schnell nur die schlimmen Sachen, die passieren. Da bekommt man schon den Eindruck, dass alles schlecht ist. Ja, die Zeiten haben sich seit ihrer Kindheit geändert. Sie dürfen aber trotzdem getrost sein. Statistisch gesehen ist Grenchen eine recht sichere Stadt.»

Frau Mäder nickt und lächelt. «Ja, dann danke ich mal, Herr Polizeidirektor. Wenn Sie das sagen, dann muss es stimmen! Ade!»

Sie nimmt ihre beiden Walkingstöcke und stapft in Richtung Zivilschutzanlage Eichholz und dort über den Hügel, den ehemaligen Freilichtspielplatz, nachhause an den Römerbrunnenweg.

Während am Moosbach reges Hin und Her von Fachleuten herrscht, spazieren die beiden Fahnder Toni Morand und Hedy Steiner gemütlich über die Witi in Richtung Stadt. Sie haben zwar einen Polizeieinsatz im Süden der Stadt wahrgenommen. Sie sind aber überein gekommen, dass sie jetzt frei haben und ihre Freizeit einmal nicht hergeben wollen. Spontan beschliessen sie, durch die Wege der Familiengärten zu schlendern. Die Gemeindeversammlung Grenchen hatte 1976 beschlossen, diese Gärten zu realisieren. Eingeweiht wurden sie dann 1979. Daneben befindet sich seit 1986 die Kleintieranlage des Ornithologischen Vereins Grenchen. So besitzt Grenchen sozusagen in der Stadt selber eine kleine Oase. Es ist immer spannend, die verschiedenen Gärten, deren Ausschmückungen, die Blumen und das vielfältige Gemüse zu betrachten.

«Ich habe gelesen, dass der Pächter des Restaurants der Familiengärten auf Ende Jahr gekündigt hat. Scheinbar sind die Preise für Strom und Getränke dermassen gestiegen, dass es nicht mehr tragbar ist.»

«Man hört immer mehr von Schliessungen von Restaurants wegen der horrenden Strompreise. Eine traurige Entwicklung. Oh, schau mal Toni, dort die vielen Gartenzwerge. Süss. Aber nicht so mein Fall.»

«Das meinst du aber nicht ernst?» Toni schaut seine Freundin entgeistert an.

«Irgendwie schon. Es wäre nichts für mich. Aber es ist doch schön, gibt es Menschen, denen das gefällt, die das pflegen. Kleine, heile Welten. Weisst du was? Wir könnten uns doch auch so einen gemütlichen Ort, so eine heile Welt gönnen. So ein winziges Häuschen, mit Gemüse und einer kleinen Pergola mit Sitzmöbeln. Das wäre doch so ein Ort, wo wir weg von allem Mist sein könnten», träumt Hedy.

«Ach herrje, hör auf. Nicht mit mir. Und du weisst genau, dass du dich da nicht wohl fühlen würdest, genauso wie ich.» Toni ist entsetzt und gleichzeitig amüsiert, dass seine Freundin überhaupt auf eine solche Idee kommt.

Hedy löst ihren Blick von einem dieser schmucken Häuschen. «Ich weiss. Aber es ist manchmal so eine Sehnsucht in mir nach … ich weiss nicht genau was … nach heiler, geordneter Welt, wo man auf kariertem Tischtuch Milchkaffee trinkt und eine deftige «Ankerösti» isst. Eine Sehnsucht nach so etwas Bodenständigem, Sicherem, Verwurzeltem. Nur, wenn ich es dann hätte, würde ich mich vielleicht langweilen. Vielleicht könnte es ein Option werden, wenn ich älter bin. Ich meine wirklich alt bin.»

«Du bist manchmal ein verrücktes Huhn. Ich lade dich im Tea-Room vorne zu Milchkaffee und Torte statt Rösti ein. Einverstanden?» Hedy nickt freudig und nimmt Tonis Hand. Sie spazieren an einem Gedenkstein vorbei. Toni nähert sich dem Findling. Toni liest Hedy, die auf dem Weg geblieben ist, laut vor: «Vaterhaus der 3 Brüder R. Schild, Urs Schild, Nationalrat, Gründer der Eterna. Josef Schild, Grossherz. Sachs. Kammersänger. Adolf Schild, Gründer der Assa,» Er ergänzt: «Und da stehen noch ein paar Jahrzahlen. Ältestes Datum ist 1841 und jüngstes 1915.» Er geht zu Hedy zurück und nimmt ihre Hand. «Das war doch die ‘Garnbuchi’, oder? Da war doch das allererste Grenchner Uhrenatelier?» Hedy meint, dass sie es nicht wisse, es könne aber durchaus sein. Sie wirkt abwesend. Die beiden überqueren Hand in Hand die kleine Holzbrücke.

Aber dann bleibt Hedy plötzlich stehen. «Ich habe ein ungutes Bauchgefühl. Spürst du es nicht? Etwas liegt in der Luft. Etwas lässt mir keine Ruhe. Dieser Einsatz, den wir vorhin hörten, war nicht nur eine Bagatelle, Toni.»

Die beiden bleiben stehen. Toni betrachtet Hedy ernsthaft. Er kennt sie gut genug, um zu wissen, dass sie mit ihrem Bauchgefühl oft richtig liegt. «Brechen wir die Freizeit ab! Trotzdem muss ich was trinken. Wir können ja dann im Tea-Room die Handys wieder auf Empfang stellen und nachfragen. Was meinst du?»

Hedy ist einverstanden, drängt aber, das gemütliche Schlendern hinter sich zu lassen und mit etwas mehr Tempo in Richtung des Tea-Rooms an der Archstrasse zu eilen. Eine grosse Unruhe lässt sie vorwärtshetzen.

«Die haben ihre Handys ausgeschaltet», meldet Marc Messerli, nachdem er Steiner und Morand mehrfach versucht hat telefonisch zu erreichen. Dann pfeift er laut und stellt überrascht und ungläubig fest: «Das glaube ich jetzt nicht! Wenn man vom Teufel spricht …». Er zeigt in Richtung Fussweg beim Schrebergartenareal. Und wirklich, mit ausholenden Schritten kommen die beiden Fahnder in Richtung des Tea-Rooms. Toni stupft Hedy an und beide schauen in Richtung des Fundortes. Sie drehen sofort um und kommen zielstrebig auf Marc Messerli zu.

«Wir waren an der Aare, im Fischerhaus und wollten gerade im Tea-Room etwas schnausen. Was ist passiert?» Toni schaut in die Runde.

«Oh, Hedy, eine neue Frisur? Steht dir gut. Asymmetrisch passt zu dir», stellt Junker fest. Toni stösst seine Freundin mit dem Ellbogen an und grinst. Marc rümpft die Nase: «Du hast mir vorher besser gefallen mit den halblangen Haaren. Aber mir muss es ja nicht gefallen.»

Hedy antwortet sofort mit einem vielsagenden Blick zu Toni. «Genau. Wir sind nicht hier, um über meine Frisur zu diskutieren, oder? Was haben wir, Marc?»

«Einen Leichenfund. Eine schwarze Frau. Jung. Kein schöner Anblick. Dort!» Messerli zeigt in Richtung Moosbach und dem Fundort. Svoboda und Sassi sind dabei, dem Bestatter zu helfen, die tote Frau in den Leichensack zu legen und dann auf der Trage in den Leichenwagen zu heben.

Hedy ruft: «Einen Moment. Ich möchte die Frau noch kurz sehen.» Die Männer halten inne und öffnen den Reissverschluss. «Weiss man, wer die Tote ist?»

Sassi verneint. «Wir haben nichts, gar nichts gefunden, was irgendwie auf ihre Identität hinweisen könnte.» Er schaut Hedy an: «Oh, neue Frisur?» Und fährt dann gleich fort: «Allerdings kommt sie mir persönlich bekannt vor. Wie ich schon Jürg Junker erzählt habe, ist sie eine gute Kollegin meiner Frau. Sobald ich meine Yasmina erreiche, werde ich euch umgehend informieren.»

«Dann geben sicher auch die Spuren noch nichts her, denke ich?» Auch diese Frage verneint Sassi.

Hedy betrachtet die Tote, und es bricht ihr fast das Herz. Was für eine schöne, attraktive Frau das gewesen sein muss. Und jetzt, ein grauenhaft zugerichteter toter Körper. Die blutunterlaufenen, gebrochenen Augen scheinen Hedy um Hilfe anzubetteln. Was ist ihr zugestossen? Was musste sie erleiden? Was für eine unbändige Wut muss den Täter zu dieser Tat getrieben haben! Beziehungsdelikt? Sexualtäter? Rassistischer Hintergrund? Was bedeutet das Kreuz auf der Stirne? Hedy ahnt, dass dieser Fall, dieser Mord, sie noch sehr belasten wird. Wie recht sie bekommen soll!

Toni lässt sich währenddessen von seinem Vorgesetzten Jürg Junker über die Sachlage informieren. Junker wird jetzt - wie üblich bei Tötungsdelikten - die Staatsanwaltschaft informieren. Beat Gosteli, mit dem sie eng und hervorragend zusammengearbeitet hatten, als es um die Mordserie durch die damalige Staatsanwältin Yaël Bruder ging, wird mit ihnen erneut zusammenarbeiten. Beat Gosteli ist eine integre Persönlichkeit. Seine unaufgeregte, pragmatische Art wird von den Grenchner Fahndern sehr geschätzt.

Da sie im Moment vor Ort nicht mehr viel tun können, beschliessen sie, sich in einer Stunde auf dem Posten zu einem ersten Rapport zu treffen. Gosteli hat zugesagt, pünktlich bei dieser ersten Besprechung dabei zu sein.

Während sich die Polizei um die ermordete Frau kümmert, macht sich Jeta Isufi mit ihren Kindern bereit für einen Ausflug. Nur noch ein paar letzte Tage Sommerferien. Jeta Isufi, alleinerziehende Mutter, der Vater hat sich aus dem Staub gemacht, hat deshalb für eine Woche einen Teil ihrer Überstunden eingezogen. Sie will sich voll und ganz ihren beiden Kindern widmen. Nach dem Besuch des Basler Zoos vor zwei Tagen ist für heute ein Ausflug mit dem Schiff angesagt. Mit der «Siesta», einem Aareschiff, das eigentlich auf Wunsch der Grenchner «Grenchen» hätte heissen sollen, wollen die drei nach Büren a.A. fahren und von dort gemütlich der Aare entlang wieder zurück nach Grenchen spazieren. Sophie, das vierzehnjährige Mädchen, zickt zwar den ganzen Morgen herum. Es sei ätzend mit dem kleinen Bruder Laurent und mit der doofen Mama an dieser langweiligen Aare entlang zu stiefeln. Das sei so was von cringe. Mit Papa sei es geiler. Bei dem sei schliesslich immer Action. Die «doofe» Mutter aber bleibt ruhig und lässt sich von der pubertierenden Tochter nicht provozieren. Dies, obwohl sie sich manchmal wünscht, dass ihre Älteste ihrem Namen «Sophie», die Weise, etwas mehr entsprechen würde. Dumm ist Sophie wirklich nicht, eine der Besten in der Schule. Aber eben … Jeta ist auch heute wieder überrascht, wie schnell und heftig Kinder sich von den Eltern zu lösen beginnen. Und dann diese Jugendsprache.

Als sie zum ersten Mal den Ausdruck cringe hörte, hatte sie heimlich bei einer Nachbarin, einer Primarlehrerin, nachgefragt. Sie wollte sich vor ihrer Tochter keine Blösse geben. Peinlich bedeutet es, fremdschämen. Ja, die Eltern werden halt für die heranwachsenden Kinder langsam peinlich. Jeta erinnert sich mit Beklemmung an ihre Jugendzeit. Sie erlebte eine ganz andere Loslösung vom Elternhaus, respektive vom Vater. Es war ein Kampf um gleiche Rechte wie ihre Brüder. Ein Kampf darum, ebenfalls eine gute Bildung zu bekommen. Ins Gymnasium gehen zu dürfen. Sie hatte sich durchgesetzt. Aber dann kam der Krieg. Die Serben hatten einen brutalen Krieg gegen ihre Heimat, den Kosovo, begonnen. Jeta kämpfte gemeinsam mit vielen Gleichgesinnten mit legalen Mitteln wie Demonstrationen und dem Verteilen von Flugblättern für die Rechte ihrer Landsleute. Dann kam sie auf die Todesliste, als Feindin des Staates. Tauchte ab in den Untergrund, versteckte sich wochenlang in der Winterkälte in Wäldern und konnte schliesslich in die Schweiz fliehen. Jeta seufzt. Was war das für eine schlimme, furchtbare, traumatisierende Zeit! Sie ist froh und dankbar, dass ihre Tochter ganz normal sich ablösen kann, behütet zu einer erwachsenen Frau heranwachsen darf. Und da nimmt es Jeta gerne in Kauf, dass Sophie zickt und sich für sie fremdschämt.

Nachdem die kleinen Machtkämpfe verzogen sind, fahren die drei mit den Velos zur Schiffsstation in der Nähe des Kanuclubs. Beim Parkplatz haben sich die Bäume vom Brand eines Wohnmobils im Frühsommer noch immer nicht richtig erholt, was sofort die Aufmerksamkeit von ihre Sohn, Laurent, der aber unbedingt Loro genannt werden will, erregt. Interessiert betrachtet er die unter den Büschen liegenden geschmolzenen Plastikteile der ehemaligen Einrichtung des Mobil-Homes.

Er nimmt eines in die Hand: «Mama, was war das wohl? Schau mal!»

«Loro, lass das. Du bekommst vom Russ ganz schwarze Finger!» Er wirft das Ding weg und zeigt mit einem verlegenen Grinsen seiner Mutter die Hände.

«Die kannst du selber putzen. Wir müssen los. Ich höre die ‘Siesta’ kommen.»

Auf dem Schiff rennen die Geschwister so schnell sie können zum Bug und schreien: «Titanic!» Dann stellen sie sich so hin, wie es im Film Jack und Rose gemacht haben. Nur dass Sophie wegen des Grössenunterschieds Jack darstellt und Loro Rose mimen muss. «Wir gehen unter! Ein Eisberg hat die Titanic zerrissen», ruft Sophie alias Jack in den Fahrtwind. Loro doppelt pathetisch nach: «Wir werden sterben. Unsere Liebe wird aber den Tod überdauern!» Jeta lächelt. Kinder sind ein Segen, auch wenn man sie manchmal … weiss Gott was … könnte.

Rundum glücklich schaut Jeta ins bewegte Wasser, schaut den Wellen nach, die sich gegen das Ufer hin ausdehnen. So könnte jeder Tag sein, denkt Jeta. Sie bemerkt jedoch nicht, dass sie beobachtet wird. Mit hasserfüllten Augen.

Heute genau vor einem Jahr und exakt zur gleichen Zeit, in der Jeta mit ihren Kindern den Schiffsauflug nach Büren geniesst, schaute die 21jährige Besa Lusha im kosovarischen Dorf Dardhishte mit gemischten Gefühlen der ersten Begegnung mit ihrem künftigen Ehemann entgegen. Sie kennt nur seinen Namen, Fatmir Shala. Ihr Vater war mit ihm, als er ihm zufällig in der nahegelegenen Stadt Prizren begegnet war, sofort einig geworden und hatte die Ehe mit Besa beschlossen.

Fatmir Shala sass an einem der wackeligen Tische draussen vor der Bar «Aca» vor einem Espresso neben Besas Vater. Die beiden Männer kamen ins Gespräch und Fatmir erzählte, dass er seit nunmehr dreissig Jahren in der Schweiz, in der Stadt Grenchen lebe und sich eine neue Frau suchen würde. Am liebsten eine junge, die man noch formen könne. Seine erste wäre vor kurzem bei einem unglücklichen Sturz vom Balkon verstorben. Mehr weiss die junge Frau von ihrem künftigen Ehemann nicht.

Als der Vater von Prizren zurückkam, meinte er nur zu ihr: «Du wirst heiraten. Ich habe dir einen Mann ausgesucht. Er wird uns in zwei Tagen besuchen. Er ist ein wohlhabender Mann und wird für dich sorgen können. In der Schweiz, in der Stadt Grenchen.»

Besa erschrak. Was soll sie mit einem fremden Mann? Dabei gefällt ihr doch Besim. Sie trafen sich regelmässig und heimlich im kleinen Wäldchen nahe dem Dorf. Besim hatte ihr doch versprochen, in den nächsten Tagen zu ihrem Vater zu kommen, um ihn um ihre Hand zu bitten.

«Aber Vater … ich …», wagte sie leise einzuwenden. Aber sie konnte nicht weiterreden, schon schlug sie der Vater mit voller Wucht. Die flache Hand knallte auf ihr linkes Ohr. «Was fällt dir ein, mir zu widersprechen! Du undankbarer Nichtsnutz!» Seine Frau herrschte er an: «Das hat man nun davon, eine Frau zu haben, die nicht mal einen Sohn gebären kann. Lauter nutzlose Frauen. Du hättest sie wenigstens richtig erziehen können.

---ENDE DER LESEPROBE---