Grenz-Galopp - Claudia Johannsen - E-Book

Grenz-Galopp E-Book

Claudia Johannsen

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Beschreibung

Sommer 1983, als plötzlich aus einer spontanen Idee ein kühnes Abenteuer wird. Baustellenleiter Ewald Wolf ist für seinen deutschen Arbeitgeber seit Jahren in Bagdad tätig. Mit dabei: seine Frau Ilse und die 13-jährige Tochter Claudia. Ihre im Irak entflammte Leidenschaft: Reiten auf edlen Araber-Hengsten. Und genau diese prächtigen Tiere wollen Vater und Tochter nach Ende seines beruflichen Aufenthalts nicht im Land von Diktator Saddam Hussein zurücklassen. Einzige Möglichkeit: Mit den Pferden aus dem Orient ins westliche Abendland, zurück nach Deutschland, reiten. Das Vorhaben nimmt auf einmal eine ungebremste Eigendynamik auf. Und tatsächlich starten Tochter und Vater schließlich eine bis dahin noch nie da gewesene, waghalsige Reit-Expedition. Zusammen mit vier Pferden machen die beiden sich furchtlos auf den Weg. Mitten durch kriegerische Gebiete, unerträgliche Hitze, durch unwegsames Gelände und durch frühere Staaten hinter dem "Eisernen Vorhang". Wird das mutige Reiter-Duo es mit seinen vier Pferden tatsächlich bis ins heimische Rust schaffen? Ein wahres Abenteuer von unbeschreiblicher Dramatik, dass von großartigen Menschen mit unglaublicher Hilfsbereitschaft erzählt, von Mut und eisernem Durchhaltewillen. Denn mit jedem geschafften Kilometer mehr wird Claudia und Ewald Wolf bewusst: der größte Gegner sitzt in den Behörden der Länder, durch die ihr Weg führt, und heißt "Bürokratie". Erzählt nach einer wahren Begebenheit, aufgeschrieben nach vielen Stunden Interviews mit den damaligen Protagonisten.

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Ein wahres Abenteuer geprägt von eisernem Willen ohne Limit, Mut zum Tun und schockierendem Behörden-Irrsinn

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1966

1976

September 1976

1980

Juli 1980

September 1980

1981

1982

1983

Juli 1983

TÜRKEI

Richtung Griechenland

Bulgarien

Jugoslawien

Deutsch-österreichisches Drama

Frankreich

Die Rückkehr

Rust – und kein Ende

Vorwort

Manchmal braucht es nur eine spontane, vor allem unausgereifte Idee und schon hat man den Bereich des scheinbar Unmöglichen erreicht. Unmöglich? Wer sagt denn, was das ist? Wo ist die Definition dafür, was unmöglich ist und was unmöglich scheint? Kennt man doch den beinahe schon berüchtigten Satz: „Alle sagten, dass es nicht geht ..., bis jemand kam, der es einfach machte!“

Was man träumt, kann man auch real werden lassen – das wussten schon innovative Macher wie einst das amerikanische Kreativ-Genie Walt Disney. Gleiches bewies sogar noch weit vor ihm der Auto-Tycoon Henry Ford und in jüngsten Zeiten Visionäre wie Apple- und Smartphone-Erfinder Steve Jobs oder „Mr. Tesla“ Elon Musk. Alles gestandene Männer, Macher, innovative Unternehmer. Doch manchmal genügt es ebenso, wenn eine Jugendliche ihr ganzes Herz öffnet, ihre Leidenschaft und Hingabe ohne groß zu überlegen in Worte kleidet und eine starke Emotion gepaart mit Wille, Herzblut, Engagement und tiefer Überzeugung kundtut. Genau so jemand ist Claudia Johannsen, geborene Wolf. Eine Jugendliche aus dem beschaulichen „Ländle“. Aufgewachsen in der wohlbehüteten Idylle von Baden-Württemberg. Dem südwestlichen Teil der Bundesrepublik. Dort, wo Schwaben, Badener und eben Württemberger durchschnittlich mehr Sonnenstunden genießen als der Rest der Republik. Wo es eher ruhig, beschaulich zugeht. Wo eine faszinierend schöne Natur das freie Ambiente prägt. Wo man angeblich mit Wohlgemut und Freude am Tun arbeitet, um sich eine sichere, solide Existenz aufzubauen. „Schaffe, schaffe, Häusle baue“ lautet das Lebensmotto dort – von der Landeshauptstadt Stuttgart bis zum malerischen Schwarzwald, von den Universitätsstädten Karlsruhe und Freiburg bis zur deutschen Seite des Bodensees. Genau das war die Heimat von Claudia Johannsen – damals in den siebziger und achtziger Jahren. Eine ganz besondere Epoche Deutschlands. Eine irgendwie gesunde Mischung aus gemütlich-spießigem Muff und latent revolutionärer Aufbruchstimmung. Beschaulich, friedlich und dennoch lag eine positive Lust, eine Art Mut und Drang hin zu neuen Ufern in der Luft des Landes.

Deutschland, damals noch ein durch den sogenannten „Eisernen Vorhang“ geteiltes Land. Die Bundesrepublik eingegliedert in die westliche, demokratisch geprägte Staatengemeinschaft. Die östliche „DDR“ hingegen Teil des streng kommunistischen Ostblocks und höriger Satellitenstaat der mächtigen Sowjetunion. Ein Kampf der Systeme, wo gerade die deutsche Jugend mehr und mehr Lust auf Leben bekommt. Farbe statt grauer Tristesse regiert die Welt der Mode. Bundfaltenhosen und kurze Röcke sind ebenso hipp wie Stirnbänder in Neonfarben, wuchtige Schulterpolster in Jacken, Sakkos und Mänteln – auch bei noch so zierlichen Geschöpfen. Man trägt Poloshirts, eher wuschelig-toupierte Haarprachten. Beruflicher Erfolg, gepaart mit gutem Einkommen, Karriere und Freude an materiellem Besitz sind weitreichend verankertes Gedankengut. Nur die Punks wollen da nicht so recht mitspielen und stehen eher genau für das Gegenteil. Aber dominierender Mainstream ist die Freude am Leben. Auch bei Claudia Johannsen – blonde, leicht gelockte Jugendfrisur, dazu Jeans, Turnschuhe, T-Shirt, viel Tierliebe, Freude am Sport, ein großer Freundeskreis und dazu ein unaufgeregtes Leben im typisch deutschen Mittelstand. Das nette Familienhäuschen in Rust ist Zeuge dafür. Zwei ältere Schwestern, dazu noch einen älteren Bruder, bodenständige, verantwortungsbewusste Eltern, ausreichend Freiheit und Freizeit und als Krönung gute schulische Leistungen. Das alles in Summe dokumentiert eine gewisse Unaufgeregtheit, eine eher wohlige Normalität und dennoch auch vielleicht einen latent inneren Wunsch nach Neuem, nach etwas Abwechslung, nach einem kleinen Kick. Kein lautes Drängen, kein Fordern, wahrscheinlich nur ein noch schlafender, stiller Appetit auf das berühmte „kleine bisschen Mehr“. Die wohldosierte Prise Aufregung, die in einem jungen Leben zur Würze werden kann. Ein i-Tüpfelchen, das bekannte, fein dekorierende Sahnehäubchen auf der ansonsten perfekten Torte.

Nicht portioniert, sondern in voller positiver Wucht sollte diese Neigung schneller als vielleicht gedacht Realität werden. Es ruft ein Abenteuer, ein unglaubliches. Und dazu eins, das mit einem noch viel größeren Abenteuer abgeschlossen werden soll. Eine lebensprägende Epoche. Ein Aufbruch zu neuen Ufern. Geboren aus der besagten spontanen Idee, die andere nur mit einem Wort aburteilen würden: Unmöglich! Aber wie gesagt: Es klang nur unmöglich, weil mit Claudia Johannsen und ihrem Vater Ewald zwei Menschen kamen, die es einfach machten. Spontan, mutig und mit eisernem Willen. Vielleicht auch mit einer Portion Naivität – zum Glück! Denn andernfalls hätte die scheinbare Vernunft, das Abwägen von Vor- und Nachteilen, den lauten Unkenrufen, dass diese Idee angeblich unmöglich wäre, gesiegt. Aber dazu ließen es beide nicht kommen. Denn sie machten, was sie dachten. Das Ergebnis war ein Abenteuer, dessen Zauber bis heute an Wirkung nichts verloren hat.

„Das ist primär der Grund, warum ich mich entschieden habe, diese eben für viele so unglaubliche Story heute noch einmal zu erzählen. 40 Jahre ist es jetzt her. Und damals rannte uns die Presse von Funk, Fernsehen, Kino und Zeitung regelrecht die Haustür ein. Aber wir lehnten ab. Wollten keine große Publicity, wenngleich hier und da immer wieder ausführlich über uns berichtet wurde. Aber immer wieder werde ich mit gefühlter Regelmäßigkeit auf dieses, mein Leben prägendes, Erlebnis angesprochen. Nicht nur von Gleichaltrigen, von Freunden, Bekannten, sondern ebenso immer wieder von Kindern, von Jugendlichen. Von jungen Menschen, die in der heute so globalisierten, aber ebenso komplexen und hektischen Welt beinahe ungläubig staunen, wenn ich auf ihr Bitten hin wieder und wieder die Geschichte erzähle, die ich mit meinen Eltern und allen voran mit meinem Vater zusammen erleben durfte!“, erzählt Claudia Johannsen, verheiratet und heute selbst Mutter zweier Töchter.

Es ist eine Geschichte, wie sie nur das wahre Leben erzählen kann. Eine, die man sich nicht mal eben ausdenken kann. Und eine, der ein Esprit der orientalischen Märchen-Erzählungen aus 1001 Nacht anhaftet. Geprägt von Liebe zu ganz besonderen Tieren, von überwältigender Hilfsbereitschaft fremder Menschen und Völker. Sie erzählt vom Charme fremder Kulturen, von deren aufregender, pulsierender Exotik, von Impressionen aus einer anderen Welt. Aber leider auch von „wiehernden Amts-Schimmeln“, Behörden-Irrsinn, Beamten-Starrsinn, nahezu unfassbarer Bürokratie, die fast schon ins Groteske mündet. Die sogar um ein Haar tödliche Folgen hatte und wo dennoch immer wieder, oftmals wie aus dem Nichts und unvermutet, sich irgendein bis dato fremder Mensch als „Retter in der Not des Wahnsinns“ bewies. Mal ist es ein Lastwagenfahrer, mal ein Tierarzt, mal ein Zöllner, mal ein Beamter oder eine Laborärztin. Immer wieder tritt in einer noch so vertrackten Situation überraschend jemand in Erscheinung mit einem Funken Vernunft, Verstand und Einsehen. Diese Geschichte beginnt im beschaulichen Rust bei Freiburg – und endet dort auch. Aber ihr aufregender, schillernder Weg führt dabei über Österreich, das damalige Jugoslawien, Bulgarien, Griechenland, Türkei, Kurdistan und den Irak. Damals, vor 40 Jahren, als dieses Land noch keine traurige Trümmerwüste war, sondern eine blühende, aufstrebende Nation. Islamisch geprägt und mit einem skrupellosen, brutalen Diktator an der Macht. Zu dieser Zeit gefangen in einem Krieg mit dem Erzfeind Iran. Dem ebenso menschenverachtenden Ayatollah-Regime. Hier die Sunniten, dort die Schiiten. Alles Moslems, aber beide Glaubensrichtungen bis in die Grundfesten verfeindet. Jedoch ist das nur die eine Seite der Medaille. Denn andererseits ist das Zweistromland Irak, das zwischen dem Tigris und dem Euphrat liegt, ein Land mit lebensfrohen und lebenshungrigen Einwohnern, im ständigen Kampf mit manchmal bis zu 50° Grad erbarmungsloser Hitze, mit viel gnadenloser Sandwüste um die Städte herum. Und mit einer schillernden Metropole, die über die Jahrtausende bereits für ihre Schönheit bekannt war, für buntes Treiben, für Urbanität, für pulsierendes Leben – das nahezu märchenhafte Bagdad.

Und mittendrin die damals 13-Jährige Claudia mit Vater Ewald und Mutter Ilse. Umgezogen von Rust in den Irak. Der Job des Vaters machte es möglich. Sie haben über die Jahre hinweg die arabische Kultur kennen- und ebenso lieben gelernt. Die Herzlichkeit der Menschen, die hohe Bedeutung von Familie, Gastfreundschaft, gegenseitigen Respekt und Ehrerbietung. Dazu die überall spürbare Hilfsbereitschaft und ebenso die Kunst, aus jeglichen Situationen stets das Beste machen zu wollen. Sie fühlen sich wohl hier, willkommen, angekommen, angenommen. Das Leben ist gut zu ihnen, beschenkt sie mit vielen Annehmlichkeiten, einzigartigen Impressionen und unvergesslichen Begegnungen. Und dennoch ist es irgendwann an der Zeit zurückzukehren. Zurück aus der gefühlt unendlichen Weite des damaligen Orients in die enge, traute Heimat. Nach Deutschland, dort wo alles geregelt, genormt und bis ins kleinste Detail reglementiert ist. Gefühlt von einer laissez-fairen Freiheit in die sichere, bourgeoise, bürgerliche deutsche Enge nach Rust. Genau in diesem Moment hat die junge Claudia eine schier unglaubliche Idee. Eine, die auf den ersten Blick scheinbar unmöglich in der Durchführung ist und bei fast allen anderen nur ungläubiges Kopfschütteln auslöst.

„Doch eben genau diese Geschichte will ich hier erzählen. Sie ist wahr. Ich war dabei – und mein großartiger Vater auch. Wir sind Zeitzeugen und zugleich die im Mittelpunkt stehenden Protagonisten rund um ein Abenteuer, das damals schon sehr außergewöhnlich war. Ja, für viele eben ein unmögliches Unterfangen. Vielleicht wäre es das heute trotz des vielen Fortschritts, den technischen Möglichkeiten und einer noch viel engeren Welt erst recht. Aber damals haben wir es getan, einfach getan... Und ich werde es niemals vergessen!“ freut sich heute Claudia Johannsen.

Was sie und ihr Vater getan haben? Genau das ist das große Abenteuer, der ebenso faszinierende wie emotional fesselnde „Grenz-Galopp“, das jetzt auf den folgenden Seiten beginnt…

1966

Das Telefon klingelte. „Ich brauche dringend deine Hilfe! Du hast es mir versprochen, dass du mich im Notfall nicht hängen lässt. Kann ich auf dich zählen?“ Ewald Wolf schloss die Augen. Es war passiert. Das, was er hoffte, zu vermeiden. Der Augenblick, den er innerlich befürchtet hatte und bei dem er still betete, dass er niemals eintreten würde, war nun doch bittere Realität geworden. Ein leichtsinnig gegebenes Versprechen wurde eingefordert. Von einem Freund. Seinem Freund. Versprochen ist versprochen und wird auch nicht gebrochen. Eine Kinderregel! Aber eine mit Bestand und Gültigkeit. Für einen Mann wie ihn, für den Werte und Prinzipien zählen, stand daher außer Frage, was ein einmal abgegebenes Versprechen mit all seinen Konsequenzen bedeutet: Wort halten! Das gehört sich so! Denn auf den gelernten Maurer war und ist Verlass – immer und überall.

„Tag und Nacht war ich damals für die Firma im Einsatz. Ein Unternehmen direkt in Rust. Als ich dort anfing, waren es acht Leute in der Belegschaft, aber als ich Jahre später aufhörte, waren es immerhin 120 Menschen, für die ich im Endeffekt die komplette Verantwortung hatte. Ein gewaltiger Unterschied und für mich eine echte Belastung dazu. Eine, die ich mir niemals zuvor vorgestellt hatte. Chef des Ganzen war mein besagter Freund, der um Hilfe bittende Anrufer. Und Freunde lässt man nicht im Stich. Erst recht nicht, wenn man ihnen das Versprechen gegeben hat, im Falle eines Falles für sie da zu sein. Damals war ich 22 Jahre jung. In diesem Alter macht man sich nicht wirklich über alles Gedanken. Erst recht nicht darüber, ein Versprechen zu geben!“

Wie er im Telefongespräch erfuhr, war die Hoch- und Tiefbau-Firma des Freundes aus alten Tagen in Schieflage geraten. Es mangelte vor allem an Expertise, an Führung und an Engagement auf den Baustellen. „Du hast mir mal versprochen, wenn ich dich irgendwann mal brauche, oder wenn es mir schlecht geht, zu helfen!“, tönte es blechern und ebenso flehentlich aus der Lautsprechermuschel des Telefons. Verdammt! Bis eben noch war alles bestens und geordnet im Leben des Maurers. Doch nur Sekunden später stand seine Welt Kopf. Nämlich eben dann, wenn man sich selbst treu bleibt und zu seinem einst gegebenen Wort steht. „Ich wollte nicht wortbrüchig werden. Das war überhaupt keine Option für mich. Aber dennoch saß ich tief in einer inneren Zwickmühle. Ich hatte einen guten Job. Zudem lebte ich mit meiner Frau Ilse am südöstlichen Rand des Schwarzwaldes. Einfach ausgedrückt: Es lief. Wir waren zufrieden. Und das alles aufgeben, für ein früher einmal leichtfertig gegebenes Versprechen? Das war gar nicht so einfach, wie es sich vielleicht auf den ersten Blick anhört!“

Keine Frage, dem jungen Handwerker ging es gut. Seine Arbeit erfüllte ihn. Die Perspektiven waren überaus positiv. Zusammen mit seiner Ehefrau führte er ein zufriedenstellendes Leben. Warum an diesem Zustand rütteln? Warum etwas verändern, wenn es an sich überhaupt nicht notwendig ist? Dafür gab es eigentlich gar keinen Grund. Wenn da nicht dieses Versprechen gewesen wäre. Was für eine Krux. „Du musst ihm offen sagen, dass du hier nicht einfach kündigen und alles nur für ihn hinwerfen kannst. Bitte denk doch auch ein bisschen an uns und an unsere Zukunft. Wir haben es doch gut, fühlen uns hier wohl, wir sind glücklich. Und das alles willst du aufs Spiel setzen für ein früher einmal gegebenes Versprechen?“, mahnte Ehefrau Ilse ihren Mann. Und so Unrecht hatte sie mit ihren Worten nicht. Das wusste er genau. Kein Wunder, dass er mit sich rang. Eine Entscheidung musste getroffen werden – so oder so. Besser früher als später. Denn die Zeit spielte nicht für ihn und ebenso nicht für seinen Freund, dem das „Existenzwasser“ bedrohlich bis zum Hals hochstieg. Und der junge Maurer entschied sich – für seinen Freund und für sein gegebenes Wort. Damit ebenso für seine Selbstachtung, indem er Wort hielt.

„Ich hätte mich wahrscheinlich selbst nicht mehr im Spiegel anschauen können, wenn ich meinen Freund im Stich gelassen hätte. Wortbrüchig werden und ein Versprechen nicht einhalten? Nein, so bin ich nicht. Dafür kenne ich mich zu gut – und meine Frau wusste das eigentlich auch. Ich bin eine ehrliche Haut und eine verlässliche dazu. Ein Mann, ein Wort. So läuft das bei mir. Vielleicht ist das für viele nicht mehr zeitgemäß, aber für mich schon. Heute genauso wie damals. Es sind Werte, die den Charakter und das Wesen einer Person bestimmen. Davon bin ich überzeugt!“

Eine Überzeugung, die den engagierten Handwerker somit mitten rein ins beschauliche Rust führte, um die Baufirma seines Freundes mit seinem Können, Engagement, seinen Führungs- und Organisations-Qualitäten in die Erfolgsspur zu bringen. Und das eben in Rust, ein damals noch eher verschlafenes Örtchen direkt an der Grenze zum französischen Elsass, nördlich von Freiburg im Breisgau gelegen.

„Heute kann ich sagen, dass wir den Ort Rust und seinen Ruf maßgeblich mitgeprägt haben. Denn wir haben den berühmten Europapark federführend mit der Firma meines Freundes gebaut. Ein riesiges Auftragsvolumen, das wirtschaftlich überaus attraktiv war, das man aber auch verantwortungsbewusst stemmen musste. Vom Know-how bis zur Manpower, von der Planung und der Logistik bis zur qualitativ hochwertigen Umsetzung. Alles Punkte, bei denen in der damals noch kleinen Acht-Mann-Baufirma das große Nervenflattern herrschte. Denn was nützt der beste und potenteste Auftrag, wenn es an der Umsetzung und Realisierung am Ende scheitert? Nichts! Genau in diese Lücken stieß ich vor, brachte mich mit all meiner Kraft ein, engagierte mich und scheute auch die dafür nötige Verantwortung nicht. Zurückblickend war es eine ebenso herausfordernde wie auch großartige Aufgabe. Nur machte ich mich selbst aufgrund meines enormen Einsatzes zunehmend unverzichtbar, ohne das vorsätzlich zu wollen. Und das war ein großer Fehler. Ja, es lief, ich hatte von Beginn an alles im Griff, aber im gleichen Maße hing wiederum auch alles an mir. Die Baustelle, die perfekte Umsetzung, das Einhalten der Planung, des Budgets, die kleinen und großen Sorgen der Mitarbeiter – für alles war ich mehr und mehr verantwortlich. Für absolut alles. Das war ein enormer Druck, der auf mir lastete. So gewaltig, dass ich es kaum beschreiben kann. Ich ging mit den Aufgaben ins Bett und stand mit ihnen am nächsten Morgen wieder auf. Privatleben? Das war schon lange kein Thema mehr. Ich gehörte über die kommenden Jahre geistig quasi schon zum Inventar der Firma und körperlich der Baustelle. Wahnsinn! Nichts gegen Verantwortung. Aber das hier, das ging weit über das übliche und normale Maß hinaus!“

Keine Zeit zum Luftholen. Urlaub? Gar nicht dran zu denken. Nicht nur wegen der vielen Arbeit und anstehenden Aufgaben auf der Baustelle, sondern auch aufgrund der wachsenden Verantwortung für die Bauprojekte und deren Durchführung. Jede anstehende Entscheidung, jede Antwort auf eine noch so scheinbar simple Frage, jede Planung und jede weitere angedachte Maßnahme – nichts ging scheinbar ohne ihn. Das sogenannte Mädchen für alles. Der Mann für alle Fälle. Für so manchen vielleicht sogar ein gutes Gefühl von Wertschätzung. Eines von Unersetzbarkeit. Für den Maurer, der gewissermaßen ungewollt schleichend immer mehr die Rolle des Geschäftsführers, des Managers und Baustellenleiters übernommen hatte, aber vielmehr eine zur Belastung werdende Bürde. „Mir wurde mit der Zeit immer stärker bewusst, dass das komplette Wohlergehen des Unternehmens und damit auch der gewachsenen Zahl an Mitarbeitern von mir allein abhängig war. Im Falle einer Krankheit wäre das dem Untergang der Firma gleichgekommen. Den Beweis dieser These lieferte mir mein Freund, der immerhin ja auch mein Chef als Firmeninhaber war, selbst. Es war in gewisser Art eine regelrechte Bankrotterklärung seiner eigenen Firmenführung und seiner kaum bis gar nicht vorhandenen Führungsqualitäten!“

Um dies eindeutig zu erkennen, brauchte es lediglich zwei Tage in den Schweizer Bergen. Die große Ausnahme. Einmal kurz durchatmen, für einen Moment den Kopf frei bekommen, klare Gedanken fassen und nur ein kleines bisschen Energie tanken – das Ehepaar Wolf gönnte sich tatsächlich eine knapp zweitägige Auszeit beim Skifahren. Zwei Tage! Mehr nicht! Unbeschwert die Hänge hinabwedeln, hier und da mal einen Einkehrschwung machen und kurzzeitig am Genuss des Lebens anklopfen. Fast zu schön, um wahr zu sein. Umso beklemmender die Erkenntnis danach: Hatte der labile Firmenchef für diese beiden Tage doch tatsächlich die Mitarbeiter in eine Art Zwangsurlaub geschickt. Frei nach dem Motto: Wenn Ewald nicht da ist, wird hier nicht gearbeitet, denn ohne ihn geht es nicht!

Was zu viel war, war zu viel. Schlussstrich! Diese Verantwortung wollte er nicht mehr übernehmen. Diesem Druck konnte er einfach nicht mehr standhalten – und wollte es auch nicht mehr. Eine mentale Last, die den Maurer beinahe zu erdrücken schien. Und somit tat er, was er tun musste und eigentlich schon längst hätte tun müssen: Kündigen! Mit sofortiger Wirkung. Nicht morgen, nicht nachher – nein, sofort.

1976

Frei, endlich frei! Tief durchatmen! Die neu erlangte und innerlich erkämpfte Freiheit genießen. Keinen Druck mehr verspüren, keine Fragen von Mitarbeitern beantworten müssen, keinen Zeitdruck, keine Verantwortung für manchmal nur schwer beeinflussbare Umstände übernehmen. „Du lachst ja endlich wieder! Auf deinem Gesicht spiegelt sich ein ganz anderer Mensch, als es gestern noch der Fall war!“, strahlte ihm seine Ilse entgegen und tätschelte ihm zärtlich die Wangen. Wie recht sie hatte. In der Tat fühlte er sich wie ausgewechselt. Befreit von einer unnötigen und viel zu großen Last, die er eigentlich von Anfang an niemals auf seinen Schultern spüren und schleppen konnte – und wollte. Er hatte in der letzten, in der allerletzten Sekunde die Reißleine gezogen, um seinen persönlichen Rettungsfallschirm zu öffnen.

Aber raus aus dem Job war nur die eine Seite der Lösungsmedaille. Es war nur die sprichwörtlich „halbe Miete“. Frei sein, sich befreit fühlen und zugleich erlöst vom extrem belastenden Druck war gut, wichtig und für ihn überaus notwendig. Aber von Luft und Liebe ließ es sich andererseits nicht wirklich leben. Auch damals nicht. Hatte man sich doch über die Jahre und Monate hinweg einen bescheidenen, aber ebenso angenehmen Lebensstandard aufgebaut. Und der wollte erhalten bleiben. Also war klar, was umgehend als nächstes für den engagierten Handwerker auf der To-do-Liste stand: Jobsuche und sich neu bewerben!

Und genau das tat er. Er studierte die Anzeigenseiten in den Zeitungen und diversen Lokalblättern. Aber was genau suchte er? Ein simpler Tausch Job gegen Job? Wäre es mit einem bloßen Wechsel von der einen Baustelle auf eine andere getan? „Für mich stand zu diesem Zeitpunkt fest: Es muss mehr sein! Ich muss raus, Abstand von diesem vergangenen Wahnsinn gewinnen, der mich irgendwie einfach nicht losließ. Alles hinter mir lassen, um den Kopf definitiv wieder frei zu bekommen. Als mir das wirklich bewusst wurde und mir klar war, wie hart, final und entscheidend mein Schnitt hin zu einem nächsten Schritt sein muss, da wusste ich auch, was ich zu tun hatte und wonach ich suchen musste. Nicht nur nach einem neuen, einem anderen Job. Nein, ich wollte ins Ausland wechseln. Ich musste! Nur so konnte ich ausreichend Abstand gewinnen – mental sowie geografisch. Endlich den Ballast der letzten Jahre komplett abschütteln, spürbar frei sein und komplett raus aus der Einflusszone meines letzten Arbeitgebers kommen. Vielleicht war es auch ein Stück weit Selbstschutz, um gar nicht wieder in die Versuchung zu geraten, doch wieder umzufallen und dem Verlangen und Bitten meines Freundes nachzugeben, zurückzukommen. Denn ich wusste doch tief in meinem Inneren ganz genau, dass er es ohne mich eigentlich kaum schaffen würde, sein Unternehmen erfolgreich weiterzuführen. Sein nächster Anruf war daher wohl nur eine Frage der Zeit!“, erinnert sich Ewald Wolf.

Mit der Zeitung auf den Knien wanderte sein Zeigefinger schon kurze Zeit später die Spalten der Stellenanzeigen entlang. Von oben nach unten. Plötzlich Stopp! Was er da las, löste in ihm umgehend eine spontane Reaktion aus. Hatte er gerade richtig gelesen? Noch einmal fokussierte er diese eine bestimmte Anzeige. Das war es! Genau danach hatte er doch gesucht, oder? Das Bauunternehmen Ludwig Fischer in Offenburg suchte zum schnellstmöglichen Zeitpunkt Mitarbeiter für eine Großbaustelle in Bagdad! Wo bitte? In Bagdad? Viel weiter weg ging es ja kaum noch – und damit weit genug, um die nagenden Impressionen der letzten Arbeitsjahre abschließend und endgültig hinter sich zu lassen. Vom Breisgau in den Irak – das waren rund viereinhalbtausend Kilometer Luftlinie Entfernung. Dazu ein kompletter Kulturwechsel, ein absoluter Klimawechsel, eine andere Zeitzone oder kurzum: Damit hätte er endgültig einen vollständigen Lebenswandel vollzogen. Das war kein filigraner Schnitt in der Biografie, das war ein gefühlt brachialer Axthieb mit einem schweren Fallbeil. Oder aus einem anderen Blickwinkel betrachtet: Es war seine große Chance, auf die er gewartet und gehofft hatte.

Mit dem Segen seiner Frau in der Tasche kontaktierte er erwartungsvoll und hoffnungsfroh die Firma Fischer. Kein Brief, keine langen Anschreiben, kein nüchterner Lebenslauf oder ein paar Zeugnisse. Nein, vielmehr ein unkomplizierter Anruf aus einer Telefonzelle. Diesen Job wollte er haben. Am liebsten sofort – mit Zusage! Zumal laut Inserat „normale Handwerker“ gesucht wurden. Leute, die anpacken konnten und ihr Metier verstehen. Menschen, wie er einer war. Maurer mit Leib und Seele. Keine menschlichen Rechenschieber, keine Theoretiker und keine nebenberuflichen Manager. Dieses Unternehmen war auf der Suche nach Machern und nach Könnern. Hier war er richtig. Das wusste er vor seinem Anruf – und danach erst recht. Denn er brauchte nur kurz seine bisherige Expertise, all seine gemeisterten Aufgaben, Erfolge und zusätzlich seine nachweislichen handwerklichen Fähigkeiten darzustellen, da hörte er von der anderen Seite der Leitung nur noch: „Kommen Sie bitte so schnell wie möglich zu uns ins Büro, damit wir uns kennenlernen und alles weitere besprechen können!“

Das folgende Vorstellungsgespräch war an Kürze, Einfachheit und gegenseitiger Wertschätzung kaum noch zu überbieten. Und selbst seine Lohnforderungen wurden ohne Murren, ohne auch nur einen Ansatz an Verhandlungen ad hoc akzeptiert und erfüllt. Am 1. März des Jahres 1976 sollte es dann unverzüglich losgehen. Sollte… denn wie so oft kommt es erstens anders und zweitens, als man denkt. So auch in diesem Fall. Denn was er nicht wusste: Zeitgleich hatte sein Ex-Arbeitgeber den Auftragszuschlag für ein gewaltiges Bauvorhaben bekommen: Den Bau eines Einkaufszentrums in Baden-Baden. Das Auftragsvolumen wäre für jedes Bauunternehmen ein wirtschaftlicher Leckerbissen gewesen. Na und? Das sollte doch für ihn nicht mehr weiter von Belang sein. Oder doch? Nein, es war Schnee von gestern! Thema erledigt! Haken dran! So einfach aber war es dann doch nicht. Vor allem, wenn dieser Mensch Ewald Wolf heißt, ein Gewissen hat und eine von Anstand und Fairness geprägte Person ist. Oder einfach nur: ein prinzipientreuer Mensch! Denn dieses Angebot war noch von ihm selbst kalkuliert und bis auf die letzte Kommastelle geplant worden. Damals, als er noch seinen Ex-Laden führte und managte. Wohl auch deshalb machte der Bauherr einen alles entscheidenden Zusatz, indem er eine Bedingung an die Vergabe des Auftrags knüpfte, die für ihn nicht verhandelbar war: Ewald Wolf muss zurückkommen und die Baustelle führen und das gesamte Projekt leiten! Andernfalls bekommt den Auftrag eine andere Baufirma!

Verdammt! Da war sie wieder – die Zwickmühle. Was konnte er tun? Sollte er wirklich dafür sorgen, dass die Firma seines Freundes und Ex-Chefs dem Untergang geweiht war? Sollte er dafür verantwortlich sein, dass dieser lukrative Auftrag nicht an sein Ex-Unternehmen vergeben werden sollte? Konnte er mit der Verantwortung leben, dass damit so viele gute Mitarbeiter vielleicht ihren Job verlieren würden? Nur, weil er dieses eine Mal ausschließlich an sich dachte? Konnte er das wirklich mit seinem Gewissen vereinbaren? Nein, genau das konnte er nicht. Und schon ließ er sich kurze Zeit wieder breitschlagen. Verärgert über seine eigene Gutmütigkeit sagte er die zugesagte Stelle in Bagdad ab und nahm seine alte Tätigkeit im alten Unternehmen wieder auf. Genau die, die er so sehnlichst hatte loswerden wollen. Kaum hatte er den eigenen Kopf aus der Schlinge gezogen, steckte er ihn freiwillig wieder rein. Wenngleich nur für eine befristete Zeit, da der Auftrag nur bis zum September des besagten Jahres lief. Im Gegenzug sagte ihm die Baufirma Fischer in Offenburg wiederum zu, ihn spätestens dann einzustellen und ihn wie geplant in den Irak zu entsenden. Als Maurer – nicht als Bauleiter, also genau das, was er sich ursprünglich erwünscht und erträumt hatte. Gute Aussichten. Vor allem mit der Gewissheit, im Irak nicht wieder den Ballast der kompletten Verantwortung mit sich tragen zu müssen. „Nur weil ich wusste, dass der Job in Baden-Baden zeitlich befristet war und ich zu die Zusage bei Fischer hatte, danach sofort bei denen arbeiten zu können, ließ mich durchhalten. Ich wusste, dass ich dann endlich frei sein würde, dafür aber mit ganzer Kraft und meiner Hände Arbeit meine Aufgaben erledigen könnte. Keine Gedanken mehr daran verschwenden, worauf man morgen achten muss und was zu berücksichtigen ist. Kein nerviges Hin und Her, keine unerwarteten Herausforderungen und keine Problemlöserei für andere mehr. Nein, das sollten endlich einmal andere erledigen. Aber ich nicht mehr …!“

September 1976

Neustart! Genau das war es, was er sich vom Irak versprach und was er sich erhoffte, als er Anfang September auf gepackten Koffern saß und in sein persönliches Abenteuer startete. Doch nicht Bagdad sollte das Ziel sein, sondern eine Großbaustelle am Rand der irakischen Wüste. Hier sollte eine riesige Textilfabrikhalle für über 1.500 modernste Webstuhlmaschinen entstehen. Kein Wunder, dass der badische Maurer seiner neuen Aufgabe und beruflichen Herausforderung regelrecht erwartungsfroh entgegenfieberte. Doch sein berufliches Seelenheil war parallel ebenso eng verbunden mit der neuen Situation seiner Familie. Frau Ilse und vier Kinder, die ab sofort ohne Vater den Alltag zu Hause bewerkstelligen mussten. Denn Familienzuzug in den Irak war nicht vorgesehen. Wie auch? Deutsches Familienleben mitten in der Wüste? In einem Camp? Schule und Unterricht unterm Beduinenzelt? Alles in allem waren das kaum vorstellbare Perspektiven. Die Konsequenz war so logisch wie ernüchternd: Frau und Kinder mussten in der Schwarzwald-Heimat bleiben, während der Vater und Ehemann im fernen Irak anpackte und das nötige Geld zum Leben verdiente.

„Ich habe mich meinem Schicksal gefügt!“, bekennt Ilse Wolf mit belegter Stimme. „Aber leicht war es gewiss nicht. Ganz im Gegenteil. Der Mann ist fort und plötzlich kommen neue Herausforderungen auf einen zu. Ich musste mein Leben neu ordnen und sortieren. Mit vier Kindern war das alles andere als einfach. Das war Familienmanagement auf höchstem Niveau. Zusätzlich musste ich noch eine arbeitsgerichtliche Auseinandersetzung für meinen Mann gegen seinen alten Arbeitgeber führen, bei der es um zwei Jahre nicht vergüteten Urlaub ging. Ein beträchtlicher Batzen Geld, aber gegen den versierten Vertreter des Beklagten hatte ich keine Chance. Eine Niederlage, die mich schon wegen der Ungerechtigkeit in vielerlei Hinsicht betrübt hat. Aber das Schlimmste war der Abschied am Flughafen. Dieser Schmerz mit der Gewissheit, dass die Familie fortan getrennt sein würde. Er tausende Kilometer weit weg mitten in der Wüste und ich hier allein mit den Kindern. Das waren die schwersten Stunden meines Lebens, als er mich beim Abschied mit stockender Stimme erst in den Arm nahm und mich dann scheinbar fortschickte. ,Geh’ zu den Kindern. Sag’ ihnen, dass ich sie liebe – und dich sowieso. Aber geh’ jetzt …!’ sagte er mit leise bebender Stimme. Ein letzter sanfter Kuss. Und ich wandte mich um, ging und fuhr wenig später mit den Kindern im Auto zurück nach Hause, mitten hinein in eine bedrückende Ungewissheit. Auf mich wartete von einer Sekunde auf die nächste ein neues, ein unbekanntes Leben – ohne meinen Mann, aber dafür mit vielen neuen Herausforderungen!“, schildert Ilse Wolf ihre damals ach so schwere Situation.

Und ihr Ehemann? Der landete gut vier Stunden später bei gefühlt 50° C heißen Grad Außentemperatur in einer für ihn gewissermaßen neuen Welt. Eine für ihn ungewohnte wie auch unerträgliche Gluthitze, die umgehend in ihm Zweifel wachsen ließ, ob es wohl die richtige Entscheidung war, in den Irak zu gehen. „Salam aleikum“ im wundersamen Morgenland. Im ebenso rauen, verwegenen, manchmal sogar für europäisches Empfinden martialischen Orient, der aber ebenso zart, duftend, aromatisch, unzähmbar und würzig, exotisch und zugleich emotional, pulsierend, trickreich verführerisch, prickelnd und auf seine Art hinreißend sein kann. Doch lange Zeit zum Überlegen oder gar Einleben gab es nicht. Frisch gelandet ging es weiter vom Saddam International Airport () in Bagdad aus rund 200 Kilometer südlich mitten rein in ein erbarmungslos ödes Wüstengebiet Richtung Diwaniyya.

„Per Taxi fuhren wir weiter zum Camp auf dem Baustellengelände. Die Sonne brannte erbarmungslos vom wolkenlosen Himmel herab. Es war, als ob wir durch den Glutofen der Hölle fuhren. Und auch als wir nach wenigen Stunden Fahrt endlich ankamen, schwand die Hoffnung auf Abkühlung umgehend. Unsere Unterkünfte waren Container, in denen Etagenbetten aufgestellt waren. Dazu ein metallischer Blechspind als Schrank – Komfort lässt sich wahrlich anders beschreiben. Denn auch im Container herrschte eine unsägliche Hitze, dass einem der Schweiß in den Ohren stand. Es war kaum auszuhalten. An Schlaf war daher kaum zu denken. So döste ich mehr oder weniger vor mich hin, dachte an zu Hause, an Ilse und an die Kinder und fragte mich, was der nächste Tag wohl bringen würde!“

Der nächste Tag. Etwa 300 Männer machten sich am frühen Morgen bereit, um ihre Aufträge in Empfang zu nehmen. Ewald Wolf war einer von ihnen. Eine stille und ebenso aufgeregte Erwartung unter der frühen Morgensonne des Iraks ließ ihn gespannt warten. Jeder erhielt seine Order. Die Männer neben ihm, hinter und vor ihm. Komisch, nur er nicht! Ein Auftrag für ihn? Fehlanzeige! Die verrücktesten Gedanken schossen ihm durch den Kopf. „Was hat das zu bedeuten? Was wird das hier? Haben die mich in der Wüste vergessen?“ Fragen über Fragen türmten sich zu einem immer größer werdenden Fragezeichen auf. Bis er tatsächlich, wie in einer Szene aus einem Hollywood-Film, allein auf dem Platz stand – ohne Auftrag, ohne Order, ohne Bestimmung, ohne Ansage – aber mit klopfendem Herzen. Was in Gottes Namen war hier los? Was ging hier vor? Was wurde hier gespielt? Als plötzlich der Baustellenleiter Franz auf den sich einsam vorkommenden Maurer zuging.

„Und, was machen wir mit dir, einsamen Wolf?“

„Ich brauche nur eine Kelle und einen Bleistift – mehr benötige ich nicht. Dann könnte ich schon loslegen!“

„Aha! Gut zu wissen. Aber hast du denn auch schon mal ein paar Maurer beaufsichtigt? Traust du dir das auch zu?“

Der vor Know-how strotzende, mit viel Erfahrung ausgestattete Ex-Baufirmen-Pseudo-Manager, Problemlöser, Baustellenleiter und gelernte Maurer musste sich sein Lachen regelrecht verkneifen. Was war denn das für eine Frage? Witzelte der Typ gerade rum? Wusste der nicht, auf was für einen großen Erfahrungsschatz er über die letzten Jahre hinweg schauen konnte? Hatte dieser Baustellenleiter etwa nicht die Personalunterlagen studiert?

„Natürlich kann ich das! Sowas habe ich jahrelang gemacht!“, entgegnete Wolf leicht pikiert.

„Prima! Ab sofort übernimmst du die für uns tätigen Global Companies. Das sind insgesamt drei irakische und damit inländische Unternehmen, die für das Mauerwerk und die Putzarbeiten zuständig sind!“