Grenzerfahrung Grönland - Birgit Lutz - E-Book

Grenzerfahrung Grönland E-Book

Birgit Lutz

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Beschreibung

Eine Expedition, die als Abenteuer beginnt und fast in einer Katastrophe endet ...

Birgit Lutz entführt uns in ein faszinierendes Land von bizarrer Schönheit, wo die Gesetze der zivilisierten Welt außer Kraft gesetzt sind, und nimmt uns mit auf eine spannende Reise.
Im April 2013 macht sich Lutz gemeinsam mit zwei Männern auf den Weg. Die Journalistin der Süddeutschen Zeitung überquert Grönland, die größte Insel der Welt, auf Skiern. Von Kangerlussuaq im Westen bis Isortoq im Osten. Lutz hat Expeditionserfahrung, ging bereits von einer russischen Eisstation zum Nordpol. Die Kälte, die Anstrengung, die Euphorie, das Glück kennt sie, wie auch die Gefahren. Doch auf das, was dann kommt, kann man sich nicht vorbereiten: Von Anfang an stimmt die Chemie der Gruppe nicht. Eine seltsame Dynamik und die Unerbittlichkeit des grönländischen Eises lässt die Stimmung zwischen den Teilnehmern immer extremer werden. Lutz plagen Selbstzweifel, sie steht kurz vor dem Zusammenbruch. Das Ziel ist noch weit, doch dann kommt unverhoffte Rettung ...

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Seitenzahl: 438

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Birgit Lutz

Grenzerfahrung Grönland

Mein Expeditionsthriller

1. Auflage

Copyright © 2014 by btb Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Vorsatzkarte: Peter Palm

Nachsatzkarte: Astrid Fischer-Leitl

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-12491-5www.btb-verlag.de

Inhalt

Eiszeit

See you on the other side!

Don’t make a mess

Nur ein Schlitten

Wir sind dann mal weg

Die Eiskante

Warum mache ich das?

Auf dem Eis

Das erste Camp

Was wir essen

Unser Weg

Der Hubschrauber

Tiefe Gräben

Lieder im Kopf

Camp, abends

Zäh und immer zäher

Tandem

Der Bruch

Bessere Tage

DYE-2

Zurück in der Hölle

Camp, morgens

Der Tupilak

Die Monster des Inlandeises

Warum mache ich das?

Die Polizei

Drei Dinge, auf die wir uns freuen

Die Einsamkeit

Zweieinhalb Kilometer

Freunde

Freude

Hannes!

Die Eishörnchen

Die ersten Berge

Die Hütte

Zalo

ANHANG

Glossar

Meine Packliste für Grönland

Ein paar Anmerkungen zur Packliste

Verlauf der Grönland-Durchquerung vom 7. Mai bis 3. Juni 2013

Literaturhinweise und Bücher, aus denen ich zitiert habe

Danke

BILDTEIL

»Nun sollten wir wieder zu Menschen und Luxus zurückkehren. Hier verbrachten wir den letzten dieser wundervollen Abende unter freiem Himmel. Als wir dort unter den Sternen auf der Felseninsel saßen, empfanden wir die Stunden wie einen Abschied von der Natur und von diesem Leben, an das wir uns so sehr gewöhnt hatten. Unsere Reise neigte sich dem Ende zu; manches Missgeschick und unerwartetes Hindernis hatten uns den Weg versperrt, waren aber glücklich überwunden worden … Oft hatten wir uns bis zur Erschöpfung schinden müssen, aber nun war die Tat vollbracht. Seltsamerweise hatten wir gar keine Eile mehr, ans Ziel zu kommen. Wie so oft verleiht wohl nicht der Erfolg dem Leben seinen größten Wert, sondern der Kampf an sich für ein bestimmtes Ziel.«

Fridtjof NansenAuf Skiern durch Grönland

Für alle, die verstehen, warum.

Eiszeit

20. Mai 2013, Tag 15

Distanz: 22,3 km, Gesamtstrecke: 251,7 km,

Höhe: 2325 m,

noch vor uns: 308,4 km

The weather will improve. It always does.Just wait patiently.Sprichwort der Inuit

Geduld. Wie viel Geduld muss man haben auf diesem verdammten Eis, das nicht endet, in dem wir gefangen, eingeschlossen sind, nicht vorankommen, Eis, Eis, Eis. Nichts als Weiß, ich halte es nicht mehr aus. Ich will es nicht mehr sehen, ich will endlich nicht mehr sehen, dass ich nichts sehe. Herr, lass einen Sturm kommen. Lass es neblig werden, verbirg diese Welt vor mir, ich will sie nicht mehr sehen, ich will nicht sehen, wo ich bin!

Fange ich wirklich an zu beten?

Weiter, weiter, Schritt, Stock, Schritt, Stock. Atem ein, Atem aus. Ein Meter. Noch ein Meter. Noch ein Meter. Du. Bleibst. Nicht. Stehen. Die Sonne lacht. Wer hat sich das ausgedacht? Die Sonne lacht nicht. Sie knallt. Sie prallt. Sie schleudert ihre Strahlen auf uns, verachtend, vernichtend. Sie ist mir zu hell. Sie ist hämisch. Sie triumphiert. Schau, sagt sie, schau dir an, wo du bist, du kleiner Inuk, du kleines, unwichtiges, ohnmächtiges Menschlein, da stehst du nun und heulst. Im großen Eis. Schau es dir an, das Eis! Schau es an! Stunde um Stunde um Stunde zeig ich es dir, ich gehe nicht weg, ich bleibe hier! Du sollst sehen, wo du bist, wo deine Hybris, dein Stolz, deine lächerliche Abenteuerlust dich hingebracht haben. Wo du dachtest, du seiest zuhause. Hier bist du also zuhause? Warum heulst du dann? Komm, sag es mir, weinender Wicht!

Ich heule nicht!

Ich beiße die Zähne zusammen.

Verdammte Sonne. Du verdammte, verhasste, zerstörende Sonne. Hau doch endlich ab! Hau ab und lass mich, lass uns in Frieden! Wir brauchen dich nicht. Wir finden den Weg auch ohne dich. Auch deine Wärme brauchen wir nicht, wir sind warm genug, und am allerwenigsten brauchen wir dein Licht. Das Licht, das uns immer nur das Gleiche zeigt, das Immergleiche, das Immerimmerimmergleiche, Weiß, dieses Weiß, es bohrt sich in die Augen und ins Herz, es füllt das Hirn mit dieser einen Farbe aus, als würde sich ein zäher Kleber ausbreiten im Kopf, lass es doch endlich einmal verschwinden! Geh weg, geh unter! Wir wollen dich nicht. Ich will, dass es dunkel ist!

Doch ich kann dich aussperren, ich kann meine eigene Nacht machen. Dunkel. Nacht. Wie sehne ich mich nach einer Nacht! Ich schließe die Augen. Einen Schritt, zwei Schritte. Dann strauchele ich und muss mich mit dem Stock stützen. Augen wieder auf.

Die Sonne kreischt.

Schrill. Sie schreit vor Häme, da bist du ja wieder, Menschlein, Wicht, du kleiner, armer Tropf! Und er ist immer noch da, immer noch da, schau ihn dir an, den Horizont! Dem du nachläufst wie ein Äffchen. Du erreichst ihn nicht! Nie wirst du ihn erreichen, schau ihn dir an. Mit jedem Schritt, den du machst, rückt er einen Schritt weiter weg. Du kriegst ihn nicht! Das ist das Gesetz, das Gesetz des Weißes. Das hast du nicht gewusst? Das hast du nicht bedacht? Dann bist du ein dummes, dummes Menschlein.

Im Weiß, weit entfernt, ein roter Punkt, so groß wie eine Stecknadel. Thomas.

Ich will diese Stimme nicht mehr hören, halt den Mund, du verdammte Sonne! Halt endlich den Mund!

Da schweigt die Sonne beleidigt.

Doch nicht für lang. Leise fängt sie wieder an zu reden, nicht mehr hämisch, nicht mehr schreiend. Bohrend. Hinterrücks. Alle Zweifel, die es gibt, die ich an mir habe, fädelt sie an einer langen, leichten Schnur auf und wedelt damit vor mir herum; im grenzenlos scheinenden Weiß lässt sie dieses Band endloser Zerfleischungen perfide vor mir herflattern und senkt ihre kreischende Stimme zu einem gemeinen, fiesen Flüstern.

Dir fehlt alles. Du hast nichts, gar nichts von alldem, was man braucht, um durch das Weiß zu gehen, nackt stehst du da, hilfloser als ein Robbenjunges. Siehst du nicht, dass du ein Nichts bist? Was nützt er dir nun, der ganze Tand, den du mit dir schleppst, wenn dir doch das Wichtigste fehlt, kleines Menschlein, wenn du doch noch nicht einmal den Anblick aushältst, den Anblick dessen, was dich umgibt?

Was ist das Wichtigste? Was ist das, was mir fehlt, was muss ich haben, hier?

Geduld, kleines Menschlein. Geduld.

Bitte, sag es mir doch!

Dummes Inuk! Nicht einmal, wenn ich es dir sage, hörst du zu, hast es zu eilig, willst nur weiter. Willst nur ein weiteres Werkzeug von mir, irgendetwas, das du auf deinen Schlitten legen und hinter dir herziehen kannst, und alles ist gut? Du Närrin!

Ich werde verrückt. Ich starre auf meine Skispitzen, die sich abwechselnd nach vorne schieben, links, rechts, links, rechts, eigentlich sind es doch große Schritte, und ich denke, ich werde jetzt – hier – auf – diesem – Eis – verrückt, jetzt hakt mein Hirn aus. Ich kann mein Hirn fühlen, auf einmal, und es ist, als würden seine Ränder in Flammen stehen.

Wer ist das, mit dem ich da rede? Es ist, als würde ich kurz auftauchen aus einem Eisschlamm. Mein Inneres ist auf einmal zweigeteilt, da bin ich, und da ist noch etwas andres, da ist ein andres Ich, das sich mit der Sonne unterhält? Kurz staune ich darüber, doch dann sinke ich wieder hinab, irgendetwas zieht mich hinein in das Innere meines Kopfes, in dem diese Stimme spricht, und ich höre wieder auf zu fürchten, wahnsinnig zu werden, denn wer schon irre ist, der fürchtet es nicht mehr.

Schweigen.

Meine Gedanken werden jetzt geordneter. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob es die Sonne ist, die da zu mir spricht, oder ob ich anfange, mit mir selbst zu reden.

Du hast das Eis nicht verstanden, seine Größe nicht begriffen. Schau es dir doch an! Schau dir an, was ich seit Tagen versuche, dir zu verstehen zu geben, mit meinem Licht, mit dem Tag, den ich nicht enden lasse. Du starrst auf den Horizont und begreifst nicht, was das Eis dir sagen will, du armseliges Menschlein. Dass es Geduld ist, die dir fehlt. Nicht jene Geduld, die dich deine künstliche Welt lehrt. Sondern die Geduld, die dich diese Welt hier lehrt. Die Welt ohne Menschen. Wie kannst du mit deinen Maßstäben hierherkommen? Die Natur, das Eis, ist so viel älter, so viel größer als alles in deiner Welt. Alles unterliegt hier anderen Maßstäben, anderen Gesetzen. Wie kannst du glauben, du könntest hier überleben, einfach so?

Warum sollte ich nicht, frage ich? Warum? Ich hab doch so viel gelesen!

Gelesen! Das Wort wird mir zurückgeschleudert. Die Gesetze, die hier gelten, kannst du dir nicht erlesen. Lesen gehört zu deiner Welt. Zu dieser gehört nur erleben. Du musst erleben, dass die Zeit hier langsamer vergeht, und das darf dich nicht ängstigen, weil auch deine Zeit langsamer vergeht. Du musst ruhig werden. Du musst akzeptieren, dass du die Größe des Eises nicht erfassen kannst und auch nicht sein Alter, denn das ist mit Menschenzeit nicht zu messen. Hier ist Eiszeit.

Eiszeit.

Wie viele Schritte sage ich dieses Wort vor mir her, Eis – Zeit –Eis – Zeit – Eis – Zeit. Rechter Fuß Eis. Linker Fuß Zeit. Hundert. Tausend. Eis – Zeit.

Einmal wurde ein Inuitboot von Nuuk zum Ameralikfjord geschickt, Fridtjof Nansen hat diese Geschichte aufgeschrieben. Gras sollte geholt werden, für die Ziegen des dänischen Vorstehers. Das Boot blieb lange aus. So lange, dass man schon dachte, den Inuit sei etwas zugestoßen. Tage, Wochen. Als das Boot endlich zurückkam, waren aber alle wohlbehalten. Auch das gewünschte Gras war an Bord. Warum sie so lange fortgeblieben waren, fragte sie der Vorsteher. Da erzählten die Inuit, dass das Gras noch ganz kurz war, als sie im Ameralikfjord angekommen waren. Also hätten sie gewartet, bis es lang genug gewachsen war. Nansen beendet die Geschichte mit den Worten: Es ist ein geduldiges Volk.

An diese Geschichte erinnere ich mich jetzt.

Ist es das, was du meinst?, frage ich. Muss ich diese Geduld erlangen? Muss ich alles hinter mir lassen, alle Maßstäbe, alle Regeln, alle Rahmen meiner Welt? Muss ich nur noch sehen, was ich sehe, und lernen, das zu akzeptieren? So, wie die Inuit nicht aufbrechen und an anderer Stelle nach Gras suchen. Nicht zurückfahren und viele andere Dinge erledigen in der Zwischenzeit? So, wie wir es selbstverständlich tun würden. Wer hat sich je hingesetzt, um dem Gras beim Wachsen zuzusehen? Muss ich heraustreten aus meiner Welt und ihrer Zeit, ihrer Geschwindigkeit?

War es tatsächlich vermessen zu denken, man könne hierherreisen, am nächsten Tag losgehen, mit Zeitdruck voranziehen? Schon auf dem Eis zu stehen, wenn die Seele noch nicht einmal in Kangerlussuaq angekommen war? Hat hier schon die Hybris begonnen, eine Expedition über jahrtausendealtes Eis mit moderner Zeitrechnung zu planen? War hier nicht etwas ganz anderes nötig? War das nicht unglaublich respektlos gewesen?

Nansen, Rasmussen, Amundsen. Bevor sie sich aufs Eis wagten, lebten sie lange mit den Inuit. Monate, Jahre. Lernten von ihnen. Vielleicht lernten sie von ihnen, und das begreife ich in diesem Moment, nicht nur die Techniken, sie lernten nicht nur, wie sie Robben jagen, Zelte bauen und heizen oder Schlitten ziehen mussten. Und deshalb reicht es auch nicht, einfach ihre Bücher zu lesen, in einem Bruchteil der Zeit, in der sie geschrieben wurden, in einem Bruchteil der Zeit, in der das Niedergeschriebene erlebt und gesammelt wurde. Wir denken, wir wüssten dadurch das Gleiche. Und seien sogar noch besser vorbereitet, ist doch unsere Ausrüstung viel moderner. Das sind wir nicht.

Wir haben nicht alles, was wir brauchen. Das Wichtigste kann man nicht auf einen Schlitten laden, man kann es nicht kaufen oder basteln. Es ist eine ganz andere Begegnung mit der Welt, als die, die wir erlernt haben, als die, die wir gewohnt sind. Es ist eine andere Zeitrechnung. Eine andere Geduld. Eine Ergebenheit in die Gegebenheiten der Natur, die wir nicht mehr kennen, wir, die wir uns die Natur ständig zurechtbiegen, Untertan machen wollen. Wenn ein Inuit auf Robbenjagd geht, stellt er sich an ein Agloo, das Atemloch, in dem die Robbe irgendwann wieder auftauchen muss, um Luft zu holen. Er stellt sich auf ein Stück Karibufell, damit auch wirklich kein Geräusch seiner Füße durch das Eis nach unten dringt und das nahende Tier warnen könnte. Dann beugt er seinen Oberkörper über das Loch und hält seinen Speer bereit. In dieser Stellung kann ein Inuit stundenlang, ja einen ganzen Tag und mehrere Tage hintereinander verharren. Denn er weiß: Irgendwann kommt sie, die Robbe. Und wenn er sie dann, nach Stunden des Ausharrens in dieser einen Position, verfehlt – dann versucht er es einfach weiter.

Wenn du so geduldig sein kannst, dass du stundenlang regungslos auf das Auftauchen einer Robbe und wochenlang auf wachsendes Gras warten kannst, sagt die Stimme, dann macht dir auch die Sonne nichts mehr aus, die dir immer nur das Gleiche zeigt. Denn dann hast du gelernt, dass es irgendwann auch wieder anders sein wird. Irgendwann wird eine Änderung eintreten. Weil es immer so ist.

Du wirst außerdem gelernt haben, dass den Zeitpunkt dafür nicht du bestimmen kannst. Du kannst es nicht ändern. So, wie du den Weg, den das Eis die Berge hinab nimmt, nicht ändern kannst, liegt es nicht in deiner Hand, was auf dieser Welt passiert, du kannst nicht beeinflussen, wann die Krabbentaucher zurückkehren oder die Wale. Du kannst nur auf sie warten, und sie dann jagen, wenn sie da sind. Das Einzige, was du bestimmen kannst, ist, wie du selbst die Welt siehst.

Das heißt, ich kann nichts tun, nichts ändern, es ist vollkommen gleich, was ich tue?, frage ich. Dann kann ich mich doch ebenso hinsetzen und gleich aufgeben.

Du hast noch einen weiten Weg vor dir, sagt die Stimme. Aber wenn du all das verstanden hast, wirst du dich selbst nicht mehr als machtlos empfinden. Denn du wirst dich als den Teil des großen Ganzen erkennen, der du bist. Und vor allem wirst du warten können.

See you on the other side!

6. Mai 2013

Kangerlussuaq

Ankunft in Westgrönland

Respect elders.They may add more years to your life.Sprichwort der Inuit

Hej, my friend! Die Stimme kenne ich. Ich drehe mich um, und vor mir steht Bengt. Bengt, mein norwegischer Freund und Polfahrer, ein wilder Kerl, mit dem ich 2011 am Nordpol war.

Hannes und ich sind soeben aus dem Flugzeug gestiegen, das uns von Kopenhagen nach Kangerlussuaq gebracht hat, wo Thomas schon auf uns gewartet hat. Es herrscht ein irres Gewusel in der Ankunftshalle; Menschen mit riesigen Pelzkragenkapuzen wuchten noch größere Expeditionstaschen und Skisäcke durch die Gegend, und mitten in diesem Gewirr steht nun also Bengt.

Bengt!, rufe ich überrascht, und es folgt eine Polarfreunde-Umarmung, viel Rückenklopfen, viel Freuen.

So schön, dich zu sehen, sage ich zu ihm, und ziehe ihn zu meinem Team, zu Hannes und Thomas, um ihn vorzustellen. Sie wissen, wer Bengt ist. Er hat uns bei der Vorbereitung wichtige Hilfen gegeben, sein Name ist oft gefallen. Wir wussten, dass wir Bengt in Kangerlussuaq treffen würden, denn er führt eine kommerzielle Expedition quer über Grönland. Dass wir ihn schon am Flughafen treffen, ist eine schöne Überraschung. Er wird zwei Tage nach uns starten, fünf Kunden haben seine Tour gebucht.

Die Hände in den Taschen seiner Kapuzenjacke steht er wie eine Insel der Ruhe in dem Gewusel um uns herum. Bengt ist einer jener Menschen, die weithin ausstrahlen, wie sehr sie in sich ruhen. Ich habe ihn 2011 in Spitzbergen kennen gelernt, bei meiner zweiten Nordpoltour mit meinem Polarfreund Thomy, dem Schweizer Abenteurer und Polfahrer Thomas Ulrich. Bengt sollte auf dieser Tour den gefrorenen arktischen Ozean kennen lernen, um künftig selbst Touren zum Nordpol zu führen. Es wurde eine großartige Tour, kalt, aber sonnig, und vor allem: mit einer Superstimmung. Wenn man mit Bengt und Thomy gleichzeitig unterwegs ist, trainiert man neben allem anderen vor allem die Lachmuskeln. Es war eine Freude, zusammen unterwegs zu sein.

Dabei sind beide, Bengt und Thomy, sehr ernsthafte Polfahrer. Auf Skiern hat Bengt die Nordwestpassage durchquert, dreieinhalb Monate lang und 2500 Kilometer weit, ist auf 1900 Kilometern durch Alaska marschiert und über 1120 Kilometer zum Südpol. Grönland quert er als Guide nun zum vierten Mal. Viele, viele Tage seines Lebens hat er auf dem Eis verbracht. Er hat mir viel geholfen bei der Vorbereitung, hunderte Fragen beantwortet, mir Tipps gegeben, Innenschuhe für meine Expeditionsstiefel geschickt und vieles mehr.

Und obwohl wir unsere Grönland-Termine nie verabredet haben, treffen wir nun schon am Flughafen aufeinander und werden am Ende in Isortoq auch im selben Hubschrauber sitzen.

Wir verabreden uns zum Abendessen, dann geht Bengt Einkäufe für seine Gruppe erledigen, und wir schleppen unser Gepäck in die Polar Lodge neben dem Flughafen.

Und so sitzen wir am Abend schließlich zu später, aber polartäglich heller Stunde gemeinsam bei Moschusochsengeschnetzeltem mit Kartoffeln.

Habt ihr doppelte Zeltstangen dabei?, fragt Bengt.

Nein, sagen wir, haben wir nicht.

Mist, sagt er, das habe ich ganz vergessen, dir zu sagen. Wegen des starken Windes ist es hier nicht schlecht, doppelte Zeltstangen zu verwenden. Er überlegt kurz.

Ich glaube, ich habe noch eine übrig, sagt er dann. Die kann ich euch morgen vorbeibringen, dann könnt ihr wenigstens die mittlere Stange doppelt nehmen.

Wieder einmal, einfach so, Hilfe, Unterstützung. Das ist es, was ich an meinen Polarkumpanen so mag. Wenn sie helfen können, helfen sie. Das lernt man wohl, wenn man so oft so weit draußen unterwegs ist: dass alles einfacher ist, wenn man sich gegenseitig hilft. Gäbe es doch mehr Menschen in der Welt, die so sind.

Es ist schön zu wissen, dass Bengt hinter uns sein wird, auf diesem weiten Weg. 560 Kilometer haben wir vor uns, auf unserer Überquerung der größten Insel der Welt. Der Anfang wird dabei am härtesten sein. Weil wir einerseits über den Gletscher bergauf gehen und andererseits unsere Schlitten dann noch am schwersten sein werden. Weil noch das ganze Essen darin sein wird, mehr als 30 Kilo pro Person. Nach einigen Tagen wird die Steigung abnehmen, die letzten Berge verschwunden sein – dann sind wir auf der Eiskappe und haben nichts anderes zu tun, als zu gehen. In einer deutlich weniger spürbaren Steigung als am Anfang bis hinauf auf 2500 Meter Höhe. Und dann geht es wieder hinunter, an die Ostküste nach Isortoq.

Von Bengt haben wir noch etwas anderes, sehr Wertvolles bekommen: die GPS-Wegpunkte seiner letzten Querung durch den Gletscher. Denn natürlich gibt es dort, wo wir hingehen, keinen Weg, keine Straße, es gibt nicht einmal Berge oder landschaftliche Ausformungen, an denen man sich orientieren könnte. Es gibt nur Eis. Bengt hat auf seinen Grönlandtouren in seinem GPS-Gerät immer wieder diese Wegpunkte gesetzt. Das sind schlicht Markierungen einer Strecke; das Gerät speichert Koordinaten und Höhe, und man kann den jeweiligen Punkten auch Namen geben. Bengt hat uns seine aufgezeichnete Route gegeben, und wir haben sie uns zuhause schon auf unsere Geräte geladen.

Das ist ein ziemlich guter Weg, sagt Bengt jetzt über die Punkte. Bei jeder Querung habe ich ihn noch mal ein bisschen verfeinert. Wenn ihr euch vor allem am Anfang an den Markierungen orientiert, dann kommt ihr gut voran.

Anfangs hat mich das skeptisch gestimmt, Wegpunkten in einem Gletscher zu folgen. Aber die Gletscher hier bewegen sich sehr langsam. Das ist nicht überall so in Grönland, aber hier kann man diese Wegpunkte wahrscheinlich mehrere Jahre verwenden, so langsam gehen die Veränderungen voran – abgesehen von der Schmelze. Diese Wegpunkte sind Gold wert, denn natürlich gibt es bessere und schlechtere Routen über das Eis bergauf. Es gibt auch Stellen, Schmelzwasserschluchten, an denen überhaupt kein Weiterkommen möglich wäre, oder Regionen, in denen der Gletscher sehr steil wird. Durch die Punkte haben wir mehr Sicherheit, einen möglichst kräftesparenden Weg zu finden.

Super, dass wir die Punkte haben, sagt Hannes zu Bengt. Und zeigt ihm die Koordinaten, die wir von Robert Peroni bekommen haben, einem in Grönland lebenden Südtiroler. Robert Peroni hat Grönland 1983 als Erster auf dem längsten Weg durchquert, zusammen mit Wolfgang Thomaseth und Pepi Schrott. 1400 Kilometer in 88 Tagen, ohne Unterstützung. Eine unvorstellbare Leistung. Heute betreibt er in Tassilaq das Red House, eine Unterkunft für Touristen, in der er vorwiegend Inuit beschäftigt. Hannes hat Peroni vor unserer Abreise mehrmals angeschrieben, und er hat uns bereitwillig sehr viele Informationen geschickt, unter anderem eben auch die Koordinaten dieses Abstiegspunkts.

Von dort wollen wir nach Isortoq abfahren, sagt Hannes zu Bengt und deutet auf den Punkt an der Ostküste. Bengt schaut sich die Koordinaten auf der Karte an, befindet unseren Plan für gut.

Am wichtigsten ist, sagt Bengt, dass ihr euch am Anfang nicht nervös machen lasst. Ihr müsst langsam gehen, eure Kräfte gut einteilen. Kümmert euch nicht darum, dass ihr nur sehr kleine Distanzen schafft, das ist normal. Das wird später alles anders.

Wir nicken.

In den ersten Tagen könnt ihr euch so verausgaben, fährt er fort, dass ihr es dann gar nicht mehr weiter schafft. Glaubt mir, man kann sich völlig zerstören auf diesem Eis. Das passiert jedes Jahr mindestens einer Gruppe. Weil sie zu schnell gehen. Nervös werden.

Wie weit kommst du im Eisbruch pro Tag, frage ich Bengt.

Das kann man schwer sagen, antwortet er. Aber am Anfang nicht weiter als ein paar Kilometer. Erst wenn es abflacht und man nicht mehr so viel nach dem Weg suchen muss, wird es deutlich mehr.

Wie lange brauchst du normalerweise bis zur DYE-2, frage ich weiter. Die DYE-2 ist im Grunde der einzige Fixpunkt auf dem Weg, eine verlassene Radarstation des US-Militärs, 180 Kilometer von der Westküste entfernt.

Elf oder zwölf Tage, sagt Bengt, je nach Schnee. Aber wenn es einen richtigen Sturm gibt, können es auch dreizehn werden. Das darf einen nicht kümmern. Ihr habt ja genügend zu essen dabei, oder?

Für 27 Tage, sage ich.

Das ist gut, sagt er. 27 Rationen kannst du locker auf 30 strecken, wenn es am Ende doch länger dauert. Du isst ja nicht immer alles auf.

Der Abend endet früh, wir sind alle müde – und morgen schon werden Thomas, Hannes und ich auf dem Eis sein. Besser, wir versuchen, noch so viel Schlaf wie möglich zu bekommen.

Am nächsten Vormittag gehen Hannes, Thomas und ich in den Supermarkt von Kangerlussuaq, um ein paar letzte Sachen einzukaufen. Und auch einfach, um zu sehen, was es in einem grönländischen Supermarkt so gibt. Es gibt ein bisschen alles und ein bisschen nichts, viele Konserven und wenig Frisches, eine Unmenge Süßigkeiten, daneben Gummistiefel und Harpunen. Der Markt ist gleichzeitig die Apotheke, hinter der Kasse stapeln sich die Medikamente. Am größten ist kurioserweise das Sortiment an Rauchentwöhnungsmitteln. Nicht Sonnencreme oder Mittel gegen Erfrierungen. Sondern eine komplette Regalreihe, gefüllt mit Nikotinpflastern und -kaugummis und dergleichen. Wir kaufen ein paar Energieriegel.

Als wir zurück zur Polar Lodge laufen, sage ich, hoffentlich haben wir Bengt jetzt nicht verpasst. Der wollte ja noch kommen. Und schaue auf meine Uhr. Und da kommt von Thomas einer der ersten Sätze, die mich stutzen lassen; er sagt, ja, hat er gesagt. Für mich steht dadurch in Klammern dahinter: Und das will ja nichts heißen. Aber bevor ich noch etwas darauf antworten kann, sind wir an der Polar Lodge angekommen, und neben unseren dort aufgestapelten Schlitten steht: Bengt. Die Zeltstange in der Hand. Natürlich, denke ich mir. Wenn er sagt, er kommt, kommt er auch.

Hier, sagt er, wenigstens eine habt ihr jetzt doppelt. Und drückt mir die Stange in die Hand.

Der Wind zerrt an uns. Dann müssen wir jetzt wohl Auf Wiedersehen sagen, sagt er.

Ja, müssen wir wohl, sage ich.

Vergesst nicht, sagt Bengt, ihr dürft nicht zu schnell gehen. Lasst euch nicht nervös machen.

Er klopft Hannes und Thomas auf die Schultern.

Und urplötzlich muss ich fast mit den Tränen kämpfen. Auf einmal merke ich, wie sehr mir Bengt fehlen wird. Bengt ist wie ein Bindeglied zu den Expeditionen, die ich schon gemacht habe, eine Verbindung zu Thomy nach Spitzbergen, nach Russland, zu allem, was ich bisher im Eis kenne. Diese Verbindung kappe ich jetzt; und damit ist alles anders. Ich gehe nun mit neuen Partnern, die ich weniger kenne, in einem Land, in dem ich noch nie gewesen bin. Bin allein verantwortlich. Ohne einen Guide. In diesem Moment fühlt sich das überhaupt nicht gut an.

It’s good to know you behind us, sage ich zu Bengt, es ist gut zu wissen, dass du hinter uns sein wirst.

Es ist gut, euch vor uns zu wissen, sagt Bengt. Du kannst in Isortoq schon mal das Bier kalt stellen!

Da muss ich lachen, aber es ist nur ein halbes Lachen. Hoffentlich kommen wir dort an, denke ich mir. Thomas, Hannes und ich. Hannes kenne ich aus Spitzbergen, ich habe ihn 2010 dort getroffen, 2010 im April – dem Monat, in dem der isländische Vulkan Eyafjallajökull ausbrach. Just an dem Tag, als ich von meiner ersten Skitour zum Nordpol nach Spitzbergen zurückkehrte. Hannes und ich saßen also in Spitzbergen fest, so wie in diesen Tagen sehr viele Menschen irgendwo festsaßen. Als nach ein paar Tagen ein erstes Flugzeug abheben sollte, sagte die Flughafenmitarbeiterin zu uns: Wir wissen aber nicht, wohin. Also verzichteten wir lieber.

Als wir schließlich nach Tromsö fliegen konnten, ging es von dort wieder nicht weiter, und Hannes und ich stiegen um auf die Nordlys, ein Hurtigruten-Schiff. Fuhren damit langsam Richtung Süden. Schauten auf die Küste. Die beste aller Möglichkeiten, in dem Chaos dieser Tage zu reisen. Acht Tage später als geplant kamen wir nach Deutschland zurück. Auf diesem Schiff war der erste Plan entstanden. An der Reling der Nordlys stehend sagte ich zu Hannes: Was hältst du eigentlich von Grönland?

Grönland, antwortete er damals, Grönland ist groß.

Und jetzt waren wir hier.

Thomas war erst viel später zu uns gestoßen. Ich hatte irgendwann in einem Radiointerview gesagt, dass ich Grönland durchqueren wollte. Thomas schrieb mir darauf, ob er mitkommen könnte. Wir trafen uns also, erzählten uns vom Eis, unseren Touren, schauten Bilder an, die Stunden flogen nur so dahin. Dann trafen wir uns mehrmals zu dritt, und dann beschlossen wir: Wir machen das.

In der Folge aber verliefen unsere Vorbereitungen nicht so, wie es gut gewesen wäre. Wir hatten alle drei zu viel zu tun, unsere Terminpläne unter einen Hut zu bringen war schier unmöglich. Thomas erledigte die ganzen bürokratischen Schritte mit den grönländischen Behörden, hätte er das nicht getan, wären wir wahrscheinlich erst ein Jahr später aufgebrochen, weil ich einfach keine Zeit dafür fand. Was aber der größte Mangel an unserer Vorbereitung war, den ich aber immer zu verdrängen versuchte: Wir hatten kein einziges Mal gemeinsam etwas unternommen, keine einzige Skitour. Ein einziger, fest geplanter Termin, auf den wir uns hatten einigen können, war wegen mir geplatzt, weil ich es nicht geschafft hatte.

Unsere Ausgangssituation ist also nicht die beste. Wir sind ein Dreierteam, was generell kritisch ist. Und wir sind eigentlich noch gar kein Team. All diese Faktoren führen jetzt, wo ich mich von Bengt verabschieden muss, von Bengt, von dem ich weiß, dass wir uns blind im Schneesturm verstehen, dazu, dass es mir die Kehle zuschnürt.

Bengt umarmt mich fest.

It’s a long way, sagt er. Promise, you don’t destroy yourself in the beginning! Mach dich nicht kaputt am Anfang!

Promised, sage ich.

Er klopft ein letztes Mal auf meine Schulter, dann geht er sein Team vom Flughafen abholen. Nach ein paar Metern dreht er sich noch einmal um und ruft: See you on the other side!

Don’t make a mess

7. Mai 2013

Kangerlussuaq, Westgrönland

Vor dem Start

Perhaps they are not stars, but openings in the sky where the love of our lost ones pours through to let us know they are happy.Sprichwort der Inuit

Der Inuit fasst nach meinem Arm, aber er sieht mir nicht in die Augen. Er ist ein paar Zentimeter kleiner als ich. Riecht nach Alkohol. Er schaut irgendwohin in diesem Flur, in dem es nichts zu sehen gibt.

Don’t make a mess, sagt er.

Er sagt es ruhig, langsam, mit viel Nachdruck. Er sagt es, nachdem er die Essensbeutel angeschaut hat, die sauber aufgereiht in der Polar Lodge in Kangerlussuaq auf dem Boden liegen und die ich gerade befülle. 28 Stück, einer für jeden Tag. Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Ich weiß nicht, was er meint.

You go over the icecap, stellt er mehr fest, als er fragt.

Ja, sage ich. Morgen.

Was ist das für ein Essen, fragt er weiter, und ich sage ihm, es sei gutes Expeditionsessen, ein Kilo etwa für jeden Tag, 5000 Kalorien, alles gut.

Mehr Kohlenhydrate, fügt Thomas noch hinzu, der mit im Flur steht, aber unsere Antworten scheinen den Inuit nicht weiter zu interessieren. Er will etwas loswerden.

Wo kommt ihr her, fragt er.

Aus Deutschland, sage ich. Und du?

Nuuk.

Noch immer hält er meinen Arm fest. Ich fühle mich langsam unbehaglich.

Das Eis ist groß, sagt er. Sehr groß.

Das wissen wir, sage ich. Mach dir keine Sorgen.

Zu jenem Zeitpunkt weiß ich noch nicht, dass ich nicht einmal den Hauch einer Ahnung habe, wie groß und mächtig das Eis wirklich ist. Anders als ich, anders als wir, weiß dieser Mann um unsere Ahnungslosigkeit. Weil die, die da aus dem Süden kommen, das große Eis zu queren, immer ahnungslos sind. Weil es immer schon so war mit diesen frohen Helden mit ihren vielen Gerätschaften, die des Eises wegen auf die Insel kamen – dabei kannten sie das Eis doch gar nicht. Und sie gaben sich auch keine Mühe, es kennen zu lernen, bevor sie es forsch betraten. Das Eis mochte das nicht.

Der Inuit drückt meinen Arm noch fester und wiederholt:

Don’t make a mess.

Ich bewege mich nicht.

Like the Brits, fügt er hinzu.

Mir stellen sich alle Haare im Nacken auf. Der Mann wankt, dann nickt er ruckartig. Als habe er kurz über seinen Satz nachgedacht und ihn nachträglich noch immer für gut befunden. Dann fällt seine Hand erschlaffend von meinem Arm. Unsicheren Schritts geht er an meinen Essensbeuteln vorbei zu seiner Zimmertür. Er braucht lange, bis sein Schlüssel sich im Schloss bewegt, dann verschwindet er in dem Zimmer. Durch die Tür kann ich hören, wie er auf sein Bett fällt. Dann ist es still. Am nächsten Morgen, wenn die Zimmermädchen kommen, wird es lange dauern, bis er wach ist, und dann werden sie viele leere Flaschen aus seinem Zimmer in den Müll werfen.

Ich stehe regungslos da, in der Hand einen Essensbeutel. Like the Brits. Es ist, als greife eine kalte Hand nach meinem Herzen. Ich weiß jetzt, wovon der Inuit gesprochen hat. Von einer Expedition, die nur zehn Tage vor uns gestartet war. Und bereits zu Ende ist.

Am 25. April 2013 waren drei Briten aufgebrochen zu einer Grönland-Durchquerung von Osten nach Westen, also in der entgegengesetzten Richtung zu uns. Drei junge Männer.

Einer von ihnen hatte einen sehr besonderen Grund, diese Expedition anzutreten, obwohl er noch nie eine derartige Unternehmung gemacht hatte. Er hatte keine Erfahrung im Eis. Aber Philip Goodeve-Docker, 31 Jahre alt, hatte nach dem Tod seines Großvaters im April 2011 ein Foto geerbt. Das Foto eines Gletschers in der Antarktis. Dieser Gletscher, der Gordon-Gletscher, war nach seinem Großvater benannt worden, nach Patrick Pirie-Gordon. Pirie-Gordon war ein hochdekorierter schottischer Adliger, der sich auf vielfältige Weise für wohltätige Zwecke engagiert hatte. Außerdem war er einst der Vizepräsident der ehrwürdigen Royal Geographic Society und zudem ein großzügiger finanzieller Unterstützer von Expeditionen in die Arktis und Antarktis.

Pirie-Gordon also war für seinen Enkel ein Held. Und wie es scheint, wuchs für den 31-Jährigen die Bedeutung des polaren Engagements seines Großvaters nach dessen Tod immer mehr. Er rahmte das Bild ein, hängte es in seiner Wohnung auf. Jeder, der ihn besuchen kam, musste sich das Bild ansehen und die Geschichte seines Großvaters anhören. Und irgendwann wollte es ein Zufall, dass ihn ein Freund fragte, was er davon halten würde, Grönland zu durchqueren. Grönland.

Und Goodeve-Docker sagte Ja; er sagte Ja, weil er irgendetwas tun wollte, was irgendwie mit seinem Großvater zu tun hatte. Und damit die Verbindung noch enger werden würde, beschloss er, mit seiner Expedition Spenden für eines der Institute zu sammeln, die schon sein Großvater unterstützt hatte: das Queen’s Nursing Institute.

Die Dreiergruppe begann ihren Aufstieg auf die grönländische Eiskappe am 26. April. Sie stiegen durch das trichterförmige Gebiet oberhalb von Isortoq auf, in dem es immer wieder zu Piteraqs kommt, den heimtückischen Fallwinden, mit denen die kalte Luft auf dem Inlandeis hinunter Richtung Küste donnert. Piteraqs können alles niederwalzen; sie sind gefährlich und zerstörerisch. Am 27. April geriet die Gruppe in einen solchen Piteraq. Ihr Zelt wurde fortgeweht. Sie setzten einen Notruf ab, aber wegen des anhaltenden Sturms konnte ihnen niemand zu Hilfe kommen. Erst am nächsten Tag erreichte eine Rettungsmannschaft die drei Männer. Da war Philip Goodeve-Docker bereits tot; seine Teamkameraden hatten schwere Erfrierungen. Irgendwann in der Nacht sei Philip gestorben, sagten sie.

In Grönland und in der ganzen Expeditionsszene hat dieser Vorfall immense Bestürzung verursacht. Dass Teams vom Eis geholt werden müssen, kommt jedes Jahr vor. Dass dabei jemand stirbt, nicht. Es ist eine jener brutalen Erinnerungen daran, dass es nicht nur Spaß ist, was wir tun.

In einer Gedenkschrift für Philip schreibt sein Bruder, die Expedition hätte seinem Bruder viel mehr bedeutet als nur das verrückte Abenteuer, als das er es auf seiner Internetseite beschrieb. Es sei seine Art gewesen, seinen Großvater ein letztes Mal zu ehren.

An dem Tag, an dem unsere Zeltstangen im Wind brechen werden, wird Philip Goodeve-Docker in der Nähe von London begraben.

Nur ein Schlitten

Februar 2013

Huberspitz-Ostwand, Rosenheim, Schliersee

Drei Monate vor dem Aufbruch

If you wear the same clothes that you use in townto go hunting, they will be very coldSprichwort der Inuit

Hanna schreit, Birgit, hopp jetzt, Schuss! Pizzastück!

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