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Seit 16 Jahren bereist Birgit Lutz Spitzbergen. Als Expeditionsleiterin bringt sie Besuchern die Geschichte, extreme Landschaft und vielfältige Tierwelt der Insel nahe und bindet ihre Gäste in ein von ihr initiiertes Forschungsprojekt ein. Als Mensch lässt sie sich wieder und wieder verzaubern: vom bläulichen Licht, das zu Beginn des Polarsommers das Eis erhellt, von lachenden Krabbentauchern und übermütigen Schlittenhunden und von den Begegnungen mit der internationalen Community in Longyearbyen, wo man wegen der allgegenwärtigen Eisbären selten ohne Gewehr aus dem Haus geht, Türen und Autos jedoch unabgeschlossen lässt. Durch ihren klugen und zärtlichen Blick auf ihre zweite Heimat weit nördlich des Polarkreises infiziert Birgit Lutz uns mit ihrem Arktisfieber.
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Seitenzahl: 263
Birgit Lutz
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© 2024 by mareverlag, Hamburg
Covergestaltung Nadja Zobel, Petra Koßmann / mareverlag
Coverabbildung Var-Var / shutterstock.com
Karten Peter Palm, Berlin
Datenkonvertierung E-Book Bookwire
ISBN E-Book: 978-3-86648-842-7
ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-686-7
www.mare.de
Dies ist meine Liebeserklärung an eine Inselwelt,
die so, wie sie war, nicht mehr sein wird.
Doch Spitzbergen hat mir so viel Wunderbares
geschenkt, dass ich auf ewig dankbar sein werde,
dass ich all das erleben durfte.
Der Spitzbergenvertrag
Reise ins Licht
Tausend Inseln, hundert Wale und ein Bär
Wenig Reize und viel Stille
Trapperin auf Zeit
Die Rückkehr der Krabbentaucher
Die weiße Insel
Wünsche an das Eis
Was ist eigentlich die Arktis?
Pyramiden: der seelenvolle Geisterort
Die Stadt der Walfänger
Im Liefdefjord
Von Trapperinnen und Trappern
Wie Spitzbergen zu Svalbard wird
Das Plastikmonster
Das Drama um Amundsen und Nobile
Die Nakenbadeklubbs
Traurige Reste
Licht und Dunkel
Der Heleysund
Der große Wandel
Die Vielfliegerin
Wie der Hornsund zum Sund wird
Ein Malbuch, ein Rentier und ein Fehler
Reisen und Menschen aller Art
Quellen
Über das Buch
Der Spitzbergenvertrag
Abgeschlossen in Paris am 9. Februar 1920
Art. 1
Die hohen vertragschließenden Teile sind miteinander darüber einig, unter den im vorliegenden Vertrage festgesetzten Bedingungen Norwegens volle und uneingeschränkte Staatshoheit über die Spitzbergengruppe anzuerkennen, die mit Einschluss von Björnöen oder Bären-Eiland alle Inseln zwischen dem 10. und 35. Längengrad östlich von Greenwich und zwischen dem 74. und 81. nördlichen Breitengrad umfasst, insbesondere Westspitzbergen, das Nordostland, Barents-öy, Egde-öy, die Wiche-Inseln, die Hoffnungs-Insel oder Hopen-Eiland und das Prinz-Karl-Land sowie alle dazugehörenden Inseln, Inselchen und Schären.
Art. 3
Die Staatsangehörigen aller hohen vertragschließenden Teile haben in den Gewässern, Fjorden und Häfen der im Artikel 1 genannten Gebiete gleiches Recht auf Zugang und Aufenthalt zu jedem beliebigen Zwecke. Sie können sich daselbst, sofern sie sich nach den örtlichen Gesetzen und Vorschriften richten, ungehindert und bei völliger Gleichberechtigung in der Schifffahrt, in der Industrie, im Bergbau und Handel betätigen.
Mit derselben Gleichberechtigung steht ihnen zu Lande wie auch in den Hoheitsgewässern die Ausübung und der Betrieb jedes Schifffahrts-, Industrie-, Bergwerks- und Handelsunternehmens frei, ohne dass in irgendeiner Beziehung oder zugunsten irgendeines Unternehmens ein Monopol geschaffen werden darf.
Art. 9
Unter Vorbehalt der Rechte und Pflichten, die sich etwa aus Norwegens Beitritt zum Völkerbund ergeben, verpflichtet sich Norwegen, in den im Artikel 1 genannten Gebieten weder eine Flottenbasis zu errichten noch ihre Errichtung zuzulassen, und in den genannten Gebieten, die niemals zu Kriegszwecken benutzt werden dürfen, auch keine Befestigung anzulegen.
Mein Spitzbergen ist
unser aller Spitzbergen.
Aber ist ein Ort, an dem alle gleich sind
und die gleichen Rechte haben,
ein Ort ohne Militär, Konflikte und Krieg,
eine Utopie?
Ich schaute auf eine Welt, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Eisbedeckte Berge, Gipfel, die ganz anders geformt waren als die der Alpen. Kein Fels. Alles weiß. Gletscher, die sich die Hänge hinabschoben. Kein Baum, kein Haus, keine Straße, überhaupt keine Unterbrechung der Formen der Natur. Weite Ebenen dazwischen, die ich als zugefrorene Fjorde erkannte. Draußen vor der Küste Eisfelder, die von hier oben aussahen, als habe jemand Salzkristalle auf eine schwarze Marmorplatte gestreut. Ich staunte.
Das Flugzeug ruckelte und sank hinunter in diese seltsame Welt; polternd und schlingernd kam es unsanft vor dem Flughafengebäude Longyearbyens zum Stehen. Als ich auf die Gangway hinaustrat, zerschnitt mir die Kälte den Atem, meine Nasenflügel pappten zusammen, und ein harter Wind nahm schon mit seinem ersten Griff in wenigen Sekunden alle Wärme fort, die in meiner Kleidung gesteckt hatte. Hastig zog ich meine Jacke über und lernte als Allererstes: Anziehen lohnt sich auch für wenige Meter auf Spitzbergen, Ende März.
In der kleinen Flughafenhalle fand ich Victor schnell, der mich abholte. Victor war der Organisator der russischen Drifteisstation Barneo, die jedes Jahr im März und April im Arktischen Ozean aufgebaut wurde. Spitzbergen war also noch gar nicht mein nördlichstes Ziel, von hier aus sollte es noch weiter gehen.
In einem Auto, das den für alle Autos Spitzbergens charakteristischen Geruch nach nassem Hund verströmte, brachte er mich vom Flughafen zum Ort. Wir fuhren an einem wenig lauschigen Hafengebiet vorbei, industrielle Bauten reihten sich aneinander. Dann tauchte der schönere Teil des Orts auf, der sich in ein lang gezogenes, sanft ansteigendes Tal, das Longyeardalen, hineinduckt. Bunte Häuser dominierten damals – es war 2008 – noch das Bild, es gab nur wenige größere Gebäude: die Uni, das Krankenhaus, das Hotel. Heute ist das anders, Longyearbyen ist gewachsen und wächst immer weiter.
Im Hotel gab es ein riesiges Panoramafenster. Vor diesem aßen wir zu Abend, dann durfte ich das einmalige Spektakel erleben, das zu dieser Jahreszeit noch stattfindet: Alles wird blau.
Von der blauen Stunde haben wohl viele schon gehört. Doch hier bildete sich nun ein Licht, das anders war als alle Lichter der Welt. Die Luft war trocken und seltsam dünn in dieser Kälte, etwa minus 25 Grad waren es in diesen Tagen. Die Kälte, die der Luft alle Feuchtigkeit nahm, entfaltete in Kombination mit der durchgehend weißen Landschaft ohne jeden dunklen Bewuchs eine verzaubernde Wirkung. Mit jeder Minute wurde das Licht noch blauer, so schien es. Die Berge, der Schnee, die Luft, das Meer, alles wurde in so sattem Blau gemalt, dass man bald den Eindruck gewann, man könne diese Farbe anfassen, als seien wir nicht von Luft umgeben, sondern tatsächlich ins Blau eingetaucht. Etwas so Seltsames, so Faszinierendes, so absonderlich Wundervolles hatte ich noch nie gesehen. Ich erlebte in dieser ersten Nacht auf Spitzbergen, was mir dort noch so oft widerfahren sollte: Ich konnte einfach nicht schlafen gehen. Es wurde nicht dunkel, das Blau schien nur immer dicker zu werden. So saß ich da, trank einen Tee nach dem anderen, ging immer wieder hinaus. Mein Zimmer bezog ich spät. Ich lernte, dass man die Fenster hier gut schließen musste, weil sonst Schnee ins Zimmer wehte, und dass man die Verdunklung besser gut festmachte, damit man nicht durch die in den Schlaf blitzende Helligkeit geweckt wurde. Ich war so neugierig auf den nächsten Tag.
Diese erste Zeit auf Spitzbergen ist mit schuld daran, dass ich ihr so sehr verfallen bin, der weiten, wunderbaren Arktis, mit ihren noch viel wunderbareren Menschen. Mein allererster Kontakt mit der Eiswelt war eine Eisbrecherfahrt zum Nordpol; für mich war diese Erfahrung, als würde sich noch einmal eine ganz neue Welt innerhalb meiner bisherigen Welt öffnen. Ich hatte Meereis auf Fotos gesehen, Schollen auf Wasser. Nie hatte ich mir vorstellen können, wie das alles in echt aussah. Wie magisch es mich vor allem anzog. Buch um Buch der alten Entdecker verschlang ich und wollte immer mehr hinein ins Eis.
Durch viele glückliche Umstände konnte ich 2010 und 2011 gleich zweimal mit dem Schweizer Abenteurer Thomas Ulrich von der russischen Eisstation Barneo zum Nordpol marschieren, zwei Jahre später durchquerte ich selbstständig Grönland. Weil mich die Menschen dieser Insel so in ihren Bann zogen, kehrte ich für drei Monate dorthin zurück und ging mit ihnen fischen, Wale und Robben jagen und musste dabei viele innere Grenzen überwinden. Parallel zu alldem arbeitete ich immer häufiger auf Schiffen, die im Spitzbergen-Archipel, der russischen Arktis und Grönland unterwegs waren, erst als Guide, dann als Expeditionsleiterin. Immer mehr wuchs ich hinein in diese Welt, machte mich schließlich selbstständig mit meinen Büchern, Vorträgen und Reisen. Mit den Jahren veränderte sich auch der Fokus meines Tuns in der Arktis – musste ich sie am Anfang doch erst noch selbst entdecken und wollte sie auch sportlich erfahren, so ist mein Bestreben mittlerweile vor allem, das Meine zu tun, diesen wertvollen Lebensraum und überhaupt unsere ganze Welt schützen zu helfen. Mit meinem Plastikprojekt, von dem noch die Rede sein wird, mit vielen, vielen Schulbesuchen, mit vielen Ansätzen, Wissen zu vermitteln. Die Arktis ist ein bisschen meine Heimat geworden, oder, besser vielleicht, die Heimat meiner Arbeit, denn die Heimat meines Lebens ist dann doch in Bayern.
Longyearbyen war für mich dabei meistens Start- oder Endpunkt einer Schiffsreise, Ausgangspunkt zu den Nordpoltouren, nur selten war dieser Ort mein eigentliches Ziel. Und doch bin ich auch hier mit den Jahren auf eine Art heimisch geworden, was an den vielen schönen Erlebnissen liegt und wieder an den Menschen, mit denen ich dort Zeit verbringen durfte. Und überdies ist Longyearbyen ja nicht riesig, man kennt schnell alles und findet sich zurecht. Vielleicht ist es das, was ich an der Arktis überhaupt so schätze: Es ist alles auf seine Art recht übersichtlich.
Longyearbyen ist ein seltsamer Ort. Er liegt auf dem 78. Breitengrad, so weit im Norden wie kaum eine andere Siedlung der Welt. Der US-Amerikaner John Munro Longyear kam 1903 hierher und nahm nahe dem Adventfjord Proben, weil er sich lohnende Kohlevorkommen versprach – die er auch fand. Also kaufte er das Gelände und begann 1905 mit dem Kohleabbau; Grube um Grube entstand. Der Ort des Geschehens wurde zunächst »Longyear City« genannt, doch 1916 verkaufte John Longyear seinen Besitz an die norwegischen Bergbauer, und mit dem Spitzbergenvertrag schließlich wurde Longyear City 1926 zu Longyearbyen. Seitdem trägt es diesen wunderlich klingenden Namen. Dabei heißt »byen« auf Norwegisch schlicht »die Stadt« und Longyearbyen also ganz einfach weiterhin: Longyear-Stadt.
Bis in die Vierzigerjahre hinein wuchs Longyearbyen recht langsam; vor allem Minenarbeiter und Betriebe rund um den Kohleabbau kamen nach Spitzbergen. In den Achtzigerjahren lebten gerade einmal fünfhundert Menschen ganzjährig in der Siedlung. Das alte Longyearbyen allerdings wurde 1943 von den Deutschen weitgehend zerstört. Alte Fotos zeigen die Reste der einstigen Hauptstraße; aus Häusern waren Ruinen geworden. Das neue Longyearbyen wurde nach dem Krieg ein Stück weiter in der Talmitte aufgebaut. Vom einstigen Ort sieht man heute nur noch die hölzernen Pfähle aus dem Boden ragen, auf denen im Permafrost die Häuser errichtet werden. Krumm und schief stehen die Stämme in der Tundra, wie kleine Mahnmale. Auch nach dem Krieg blieb Longyearbyen vor allem eine Bergarbeitersiedlung; die meisten Einwohner waren Männer, die bei der Store Norske Spitsbergen Kulkompani arbeiteten, der norwegischen Kohle-Abbaufirma.
1975 schließlich wurde der Flughafen gebaut, und Spitzbergen rückte dadurch ein ganzes Stück näher ans Festland heran. Man musste keine tagelange Schiffsreise mehr unternehmen, um herzukommen, die im Winter ohnehin nicht möglich war. Nun konnte man fliegen. Mit den Flugzeugen kamen immer mehr Reisende, und heute ist die Struktur des Orts eine ganz andere als damals in der Bergarbeiterzeit.
Dass man es hier mit einem Minenort zu tun hat, spürt man dennoch an einigen Stellen. Da sind immer noch die Holzgestelle der Seilbahn, an denen einst die Loren voller Kohle zum Hafen ratterten. An den steilen Hängen der Tafelberge kleben die Eingänge der alten Minen über dem Ort, und in der Nähe des modernen Hauses des Sysselmesteren – die Verwaltung Spitzbergens – sieht es so aus, als stakse eine riesige Metallspinne den Hang entlang: Dort steht das skurrile, windschief anmutende Gebäude der Taubanesentralen, das tatsächlich an eine Spinne erinnert. Hier liefen einst die Lorenseilbahnen der einzelnen Minen zusammen, bevor sie weiter zum Hafen schaukelten. Und ein Kumpel flaniert auf ewig durch das Ortszentrum: Zwischen Supermarkt und Einkaufszentrum steht die lebensgroße Statue eines Bergarbeiters auf seinem Weg in die Mine. Fast immer hängen frische Blumen daran, auch wenn es kaum einen teureren Ort für frische Schnittblumen gibt als Spitzbergen.
Ein weiteres Relikt aus Bergbauzeiten: Die Menschen flitzen in den Häusern hier strumpfsockig durch die Gegend, weil man das in norwegischen Minenorten einfach so macht: Man zieht am Eingang die Schuhe aus, einst natürlich, um den Kohlestaub nicht in die Wohnungen zu tragen. Auch in den Museen, den Hotels und in der Uni wird das immer noch so praktiziert, selbst in manchen Geschäften. Das ist an einem Ort, der kaum einen neutralen Bodenzustand im Jahreslauf kennt, sondern entweder verschneit, vermatscht, verschlammt oder staubig ist, auch heute noch von Vorteil. Im Winter allerdings führt es zu der Kuriosität, dass man immer wieder einen Stromschlag bekommt, wenn man andere Menschen oder Gegenstände anfasst. Weil die Luft so trocken ist und man sich durch die Socken immer wieder statisch auf- und dann knallend entlädt. Man kann sich Longyearbyen im Winter also als einen dunklen Ort vorstellen, an dem es fortwährend an verschiedenen Stellen funkt und die Menschen zusammenzucken.
Longyearbyens Gesicht hat sich in den vergangenen Jahren stark gewandelt, mittlerweile leben mehr als zweitausend Menschen in dem windumwehten einstigen Außenposten; es gibt gleich mehrere Kindergärten und Schulen, immer mehr Hotels und mittlerweile auch viele große Wohnheime, um die wachsende Zahl an jungen Leuten unterzubringen, die sich diesen nördlichen Ort für ihr Studium ausgesucht haben. Am UNIS – The University Center in Svalbard – studieren etwa achthundert Arktisinteressierte Arktische Biologie, Geologie, Geophysik oder Technologie. Deren Spuren sieht man allerorten: Verlässt man Longyearbyen, findet man beinahe in alle Richtungen Forschungseinrichtungen, weiter im Adventdalen beispielsweise die Aurora-Forschungsstation. Auch andere Hightech ist auf Spitzbergen zu finden: Die riesige Antennenanlage SvalSat oben auf dem Platåberget steuert und überwacht Satelliten und transferiert Daten – ein Umstand, der dem kleinen Longyearbyen ein rasend schnelles Internet beschert, weil wegen dieser Transfers Glasfaserkabel zwischen der Insel und dem Festland gelegt wurden.
Wo früher also die schwarzverstaubten Kumpel das holzhäusige Straßenbild prägten, gibt es heute viele große Gebäude, zwischen denen vorwiegend junge, in bunte Outdoorkleidung gehüllte Menschen unterwegs sind. Das sind nicht nur die Studierenden, sondern auch Guides, die hier arbeiten, mit denen man Touren in die Umgebung unternehmen kann, zu Fuß, mit Schlittenhunden, auf Skiern oder Schneemobilen. Allein sollte man sich nicht hinauswagen aus dem Ort, das sagen einem auch all die rot-weißen Schilder an den Ausfallstraßen, die Vorfahrtsschilder für Eisbären. Die Bären sind überall, und sie sind zu achten. Ohne Warnpistolen und Gewehr ist hier niemand draußen unterwegs. Wer damit nicht umgehen kann, nicht weiß, wie sich Bären verhalten und wie man in dieser Gegend überhaupt am Leben bleibt, nimmt sich besser einen Guide.
Der Tourismus hat erst langsam, aber in den vergangenen Jahren immer schneller zugenommen. Früher, in der Zeit, bevor ich Spitzbergen kannte, kamen nur ganz besonders Interessierte so weit in den Norden, und ganz früher, im 19. Jahrhundert, Reisende, die sehr viel Geld hatten. Denn auch damals gab es schon Kreuzfahrten ins Eis.
Heute ist Spitzbergen ein bekanntes Arktisziel geworden, so bekannt, dass es Longyearbyen nicht anders geht als Dubrovnik: Es gibt Tage, da sind plötzlich dreimal so viele Menschen im Ort unterwegs wie gewöhnlich, dann, wenn Schiffe mit fünftausend Gästen anlegen. Diese großen Dampfer dürfen allerdings nur in Longyearbyen festmachen und nirgendwo anders Passagiere an Land bringen, sie dürfen auch nur in diesen einen Fjord einfahren. In Longyearbyen gehen die Gäste dann shoppen oder machen Ausflüge, im Sommer fahren sie mit kutschenartigen Gefährten mit Gummireifen, die aufgrund des fehlenden Schnees die Schlitten ersetzen und von Huskys gezogen werden. Die Menschen machen das Geschäft, die Hunde haben Bewegung. Wer aber an einer solchen Reise teilnimmt, die ihm vollmundig Spitzbergen anpreist, hat Spitzbergen nicht gesehen, bekommt nicht den Schimmer einer Ahnung, was die Inseln ausmacht. Diese Gäste tun mir leid.
2015 wurde erstmals mit dem Tourismus mehr Geld verdient als mit dem Bergbau. Mehr als tausend Gästebetten gibt es mittlerweile, in denen jährlich 60000-mal übernachtet wird. Wo früher am Morgen die Minenarbeiter mit Bussen zur Mine gebracht wurden, heulen heute im Lichtwinter die Schneemobile über die Ebene des Adventdalen. Für mich sind Schneemobile wie ein Sakrileg an der Landschaft; ich verstehe, dass sie ideal sind, um schnell voranzukommen, sie sind eben die Autos der Arktis. Dennoch verspüre ich einen unglaublichen Stress, wenn große Gruppen laut umherröhren; dieses Verkehrsmittel passt nicht in die verschneite, stille, starre Landschaft, in der ich nichts außer meinem Tinnitus höre. Und nun eben vor allem die Schneemobile. Ich mag sie nicht.
Longyearbyen wirkt heute nicht mehr wie ein kurioser Außenposten, sondern wie einer jener nordnorwegischen Orte, an denen es zwar einige schöne Holzhäuser gibt, ansonsten aber die harte Funktionalität überwiegt, mit massiver Ausrüstung und Bauten, die das Leben in dieser harschen Umgebung sichern sollen. Riesige Hallen stehen hier herum, große Baugeräte, Stahlcontainer, alles robust, alles kräftig. Die Schönheit Longyearbyens erschließt sich seinen Gästen so nicht gleich. Die eigentliche Schönheit und Besonderheit dieses Orts sind woanders zu finden. Nämlich in den Menschen selbst, die die dunklen Winter hier zusammen verbringen und eine geradezu liebevolle Gemeinschaft bilden, die in den jüngsten Jahren mit Lawinen und allerlei anderer Unbill zu kämpfen hat. Aus den Reihen der hier Wohnenden hat sich eine kompetente Erste-Hilfe-Truppe gebildet, die in Notfällen parat steht. Man kann sich hier nicht nur auf abrufbare Strukturen verlassen; man muss selbst Strukturen bilden und erhalten helfen, auch das verbindet.
Die Türen aller Häuser waren bisher nicht verschlossen, nicht nur, um stets Zuflucht vor auftauchenden Bären zu bieten, sondern auch, weil es niemanden gab, vor dem man Türen verschließen musste. Ohnehin kannten sich alle, und wer auf einer Insel etwas stiehlt …, nun ja.
Es gibt Facebook-Gruppen, in die man posten kann, wenn man etwas braucht, sucht, verloren oder gefunden hat. Wer an einem noch so abgelegenen Ort einen Handschuh verliert, bekommt ihn mit großer Wahrscheinlichkeit wieder zurück. Weil ihn irgendjemand findet. Vielleicht sogar einen Umweg fährt, um nach ihm zu suchen. Ich selbst habe, nachdem ich mein Mobiltelefon in Oslo im Flughafenklo versenkt hatte, hier schon einmal ein neues Telefon bekommen, geliehen, für die Zeit, in der ich auf Spitzbergen war. Von jemandem, den ich noch gar nicht kannte. So ist das dort. Es ist ein bisschen so, wie es mir ein Grönländer über sein früheres Leben, bevor auch dort die Moderne ihren Einzug gehalten hatte, erzählte: Wenn jemand etwas gebraucht hat, hat er es bekommen. Und das ist im Falle Longyearbyens keine romantisierende Sicht, es ist tatsächlich eine warme Blase im kalten Ozean.
In diese warme Blase kommen Menschen aus aller Welt, um hier zu leben und zu arbeiten; kurioserweise ist nach der norwegischen die thailändische die zweithäufigste Nationalität. Der Grund ist einfach: Für die Einreise benötigt man kein Visum. Alles ist so herrlich einfach hier, oder besser: Es war so herrlich einfach hier, doch davon später mehr. Auch die Autos sind unverschlossen in Longyearbyen, und bei den meisten steckt der Schlüssel. Man kann bei dem nicht einmal fünfzig Kilometer langen Straßennetz schlicht kein Auto klauen.
Mitunter führt das zu lustigen Vorkommnissen. So war ich einmal im Winter mit Freunden im Lokal Kroa zum Abendessen verabredet; wir waren mit Victor im Auto dorthin gefahren. Als wir noch nicht lange an der Bar saßen, stellte unser gemeinsamer Freund Bengt fest, dass er etwas vergessen hatte. Victor sagte, er solle einfach das Auto nehmen, der Schlüssel stecke. Bengt fuhr also weg und kam wenig später wieder zurück. »Ich hab’s woanders hingestellt«, sagte er, »vor der Tür war kein Platz mehr.« »Macht ja nichts«, sagte Victor. Als wir aber am Ende des Abends aus dem Kroa gingen, stand das Auto noch da, wo wir zuvor geparkt hatten. »Du hast ja gar nicht umgeparkt«, sagte Victor also zu Bengt. Der kratzte sich an der Mütze und sagte: »Oh. Da bin ich wohl mit einem anderen Auto gefahren.« Wir lachten, aber was sollten wir machen? Der Fahrer des anderen Autos, das Bengt ein Stück weiter die Straße hinauf abgestellt hatte, würde sich später ein bisschen wundern. Oder auch nicht, wer weiß.
Longyearbyen ist eine ganz und gar künstliche Gesellschaft, aufmerksamen Augen entgeht das nicht. Nach einer Weile fällt unweigerlich auf, dass es – außer unter den Gästen – hier keine alten Menschen gibt, auch keine Menschen, die eine Behinderung haben, und man sieht zwar etliche junge Mütter und Väter mit kleinen Kindern, aber keine Schwangeren. Der Grund ist einfach: Wer hier lebt, muss gesund sein und Arbeit haben. Es gibt nur ein kleines Krankenhaus, das mittlerweile ab und an ächzt unter den Massen an häufig durchaus betagten Touristinnen und Touristen, die dann doch medizinische Hilfe brauchen. Sechs Betten gibt es dort; es ist ein Krankenhaus zur Notversorgung, Verletzte oder Kranke werden nach Tromsø oder gleich nach Oslo geflogen. Kinder sollen hier nicht geboren werden; lange vor dem Entbindungstermin müssen die Frauen deswegen aufs Festland. Es gibt auch kein Altersheim auf der Insel und keinen Seniorentreff. Wer nicht mehr arbeitet, wer nicht gesund ist, geht. Es gibt nur wenige Ausnahmen.
Auch wer nur im Sommer kommt, wenn Longyearbyen staubig ist und alles rundherum braun, wenn es mittlerweile so warm ist, dass die Menschen auf Kroas Terrasse im kurzärmligen Merinoshirt sitzen, hat Longyearbyen nicht erlebt. Dieser Ort hat viele Gesichter, und er ändert sein ganzes Sein dramatisch mit dem Wetter. Er kann wunderschön und entspannt wirken im Sommer, wenn die Sonne auch um Mitternacht scheint und das Leben nie zur Ruhe kommt, wenn an manchen Tagen der Himmel wolkenlos ist und die Luft still. Er kann verregnet, hässlich und verzweifelt scheinen, verloren und deplatziert, dann, wenn es, wie neuerdings immer öfter, tagelang regnet und die ganze Welt unter einem schweren, graunassen Tuch zu verschwinden droht. Er kann wattig weiß strahlen, wenn es schneit und der Schnee all das Baugerät und Derbe und Harte zudeckt wie ein frisch gewaschenes Laken. Er kann hart und unerbittlich wirken, wenn die arktischen Stürme über ihn hinwegfegen, Schnee mitbringen und noch viel mehr aufwirbeln, sodass man kaum einige Meter weit sehen kann und die Menschen nicht umsonst Reflektorwesten tragen. Man spürt dann, dass der Tod nicht weit ist, dass dieser Wind fähig wäre, alle Lebenslichter auszulöschen, so gewaltig, so kalt, so groß ist er. Longyearbyen kann auch dunkel und gemütlich sein, in einer klaren Winternacht, in der man die Sterne sieht und keinen Mond, in der das Schwarz der Polarnacht alles zu verschlucken scheint und die Lichter in den Fenstern seltsam tröstlich und einladend wirken. Und schließlich kann sich dieser Ort in Pastell tauchen, wenn die Sonne, wie bei meinem allerersten Besuch, gerade erst wiederkommt und die blaue Zeit anbricht.
Weil alle Bedingungen passten, vom Wind bis zu den Wellen, fuhren wir auf einer der Reisen mit dem Segelschiff Antigua nach Hopen, eine Insel im Südosten des Archipels, die weitab der gängigen Routen von Umrundungen liegt. Wir segelten um die Südspitze Spitzbergens herum in Richtung Osten, auf einem Meer, das aussah, als hätte die Augsburger Puppenkiste ihre Frischhaltefolie aufgespannt. So glatt, so schimmernd, so wellenlos. Das Blau des Himmels verlief sich im Blau des Meeres, doch bald zeichnete sich der Horizont deutlich ab: weil sich auf ihm Blase von Walen aneinanderreihten. So viele, dass wir sie nicht zählen konnten, schlanke, hohe Blase von Finnwalen, kleinere, buschige Blase von Buckelwalen und schließlich die kleinen Pruster von Zwergwalen. Es waren so viele, dass wir unser Schiff einfach nur still in dieses Meer steuern mussten, dann tauchten die Wale rings um uns auf und ab, ab und auf. Wir wussten nicht, wohin wir unseren Blick zuerst wenden sollten.
Diese Stellen im Süden des Storfjords sind bekannt dafür, dass manchmal große Gruppen von Walen hier anzutreffen sind, einfach, weil es hier viel Futter gibt. Wenn man tatsächlich eine solch große Ansammlung dieser Meeressäuger findet, ist es faszinierend. Wir standen an Deck und staunten. Für mich ist es jedes Mal wieder eine wundervolle Erfahrung, wie still die Menschen werden, wenn sie Wale sehen. Es breitet sich ein ganz eigener Frieden aus. Gleich zweimal gerieten wir an diesem Tag in eine solch große Gruppe von verschiedenen Walarten. Stunden verbrachten wir mit ihrer Beobachtung und erreichten deswegen erst zum Abend die Tusenøyane, die Tausend Inseln im Süden von Edgeøya. Das ist eine recht energiesparende Weise gewesen, all die kleinen Eilande zu benennen, die in dieser Region teils nur sehr flach aus dem Meer ragen. Ob es tausend sind, wer weiß das schon. Es sind viele.
Nach dem Abendessen brachen wir auf zu einem Spaziergang auf der Langåra, einer der Basaltinseln, die schimmernd in der schon wieder tief stehenden Augustsonne vor uns lag und es zu einem eigenen Namen geschafft hat. Wir fanden die Überreste russischer Jagdstationen, bewunderten den Blick über die Doleritblöcke, eine Aussicht, die uns gänzlich neu war. Wir hörten das Kreischen von Vögeln, und sonst nichts, im roten Abendlicht.
Mit diesem ganz besonderen Frieden in uns, den solche Tage verbreiten, kehrten wir zurück aufs Schiff, wo wir jedoch nicht lange blieben. Kaum an Bord, stiegen wir schon wieder in die Schlauchboote. Denn an Land, ein ganzes Stück weit entfernt, war ein Eisbär unterwegs. Wir tuckerten also langsam mit leisen Motoren Richtung Küste, auf dem Weg zu einem ganz besonderen Erlebnis. Denn dort, wo das steinige Ufer von einem schwarzen Sandstrand unterbrochen wurde, lag eine kleine Gruppe Walrosse. Vielleicht zwanzig Tiere fläzten im Sand, wie Walrosse das zu tun pflegen, wenn sie von ihren Fresstouren zurückkehren. Bei diesen Ausflügen schlagen sie sich ihre Bäuche auch mal mit siebzig Kilogramm Sandklaffmuscheln voll. Dementsprechend rülpsen und furzen die sehr eindrucksvollen, aber nicht gerade possierlichen Tiere vor sich hin; Luther hätte hier keinen Zweifel daran, ob es den Tieren geschmacket hatte.
Etwa zwanzig Meter neben den Walrossen stand ein Bär an der Wasserlinie auf einem toten Walross.
Dieses Bild allein ist schon ein sehr ungewöhnliches. Walrosse sind kein regulärer Bestandteil des Speiseplans von Eisbären, zu massiv sind die Stoßzähne, mit denen sie sich gut zu verteidigen wissen, zu dick ist ihre Lederhaut, die auch ein Eisbär nur schwerlich zu durchbeißen vermag, zu schnell wären sie im Wasser, in dem der Eisbär keine Chance mehr hätte gegen die dort so behände größte Robbenart der Arktis. Ein Eisbär also, eine Walrosskolonie und ein Kadaver – das war sehr spannend. Was war hier passiert? War das tote Walross einfach gestorben, wie das Tiere in der Wildnis nun einmal tun, oder hatte der Bär nachgeholfen? War es ein junges, das der Bär doch geschafft hatte zu töten? Oder ein ganz altes? Die Kolonie der Walrosse lag dort ruhig und ungestört. Die Tiere reagierten überhaupt nicht auf unsere Boote. Das sprach nicht dafür, dass hier kurz zuvor alle aufgescheucht worden waren von einer dramatischen Jagd auf einen ihrer Artgenossen.
Der Bär aber hob nun den Kopf und schaute zu uns herüber. Wir kamen nicht näher; wir blieben mit unseren beiden Booten ein ganzes Stück weit von der Küste entfernt. Wir wollten die Tiere nicht stören, zudem war diese ganze Situation nicht unbedingt übersichtlich und das Wasser flach. Stecken bleiben will man nun gar nicht, wenn Bären und Walrosse in der Nähe sind, denn beide können gleichermaßen unangenehm werden.
Während wir noch über derlei Dinge kontemplierten, setzte sich der Eisbär in Bewegung und ging am Ufer entlang auf die Walrosse zu. Das wiederum brachte die Kolonie nun sehr wohl in Bewegung, die Männchen warfen ihre Köpfe samt Stoßzähnen abwehrend auf und nieder, und zum Rülpsen und Furzen gesellte sich nun ein viel weniger gemütliches und viel mehr bedrohliches Grunzen, das aus den tiefsten Tiefen der Walrosskolosse zu kommen schien. Bis auf wenige Meter lief der Bär auf die Kolonie zu, und wir hielten alle den Atem an. Griff er die Gruppe an? Sollten wir jetzt wirklich eine solche Szene beobachten können?
Nein. Als er direkt bei den Tieren angelangt war, blieb er stehen. Kurz schaute er über die wie Säcke daliegenden Säuger, dann drehte er sich um, als habe er sich gerade daran erinnert, dass Walrosshaut recht zäh sein kann, und lief zurück. Kollektiv atmeten wir in unseren Booten wieder aus. Der Bär marschierte zu seiner Beute zurück, machte sich aber nicht erneut ans Fressen. Er lief an dem Kadaver vorbei bis zu einem felsigen Küstenabschnitt. Bis dahin hatte er uns keines Blickes mehr gewürdigt, und wir hatten uns kaum bewegt. Wir dümpelten einfach so vor der Küste. Dann aber drehte sich der Bär zu uns um. Als habe er uns jetzt erst entdeckt, schaute er uns eine Weile an und ging ins Wasser! Obwohl doch dort am Ufer sein Fressen lag! Dieses Verhalten hatten wir nicht erwartet.
Wieder hielten wir die Luft an, denn nun schwamm der Bär auf uns zu. Unsere beiden Boote bewegten sich noch immer nicht nennenswert, und der Bär schien unentschlossen, wo er eigentlich hinwollte. Mal hielt er auf unser Boot zu, das von Steuermann Maarten geführt wurde, mal auf das andere, das Steuermann Isma lenkte. Langsam fingen wir nun doch an, rückwärtszufahren. Der Bär schaute uns an, neugierig. Er schwamm ungefähr in der Mitte zwischen unseren Booten hindurch, die etwa fünfzig Meter voneinander entfernt waren, und begann dann, auf Ismas Boot zuzuhalten. Isma beschleunigte sein Boot und fuhr ein ganzes Stück weiter aufs Meer hinaus. In diesem Moment drehte der Bär sich um, blickte auf uns – und veränderte mit einem Schlag sein ganzes Sein. Urplötzlich war er nicht mehr verspielt neugierig. Jetzt jagte er, und wir waren die Beute. Vom gemütlichen Paddeln beschleunigte er auf eine erstaunliche Geschwindigkeit und fixierte uns auf eine Weise, die mir alle Haare im Nacken aufstellte. Es war nun ganz eindeutig, was der Bär vorhatte, man las es glasklar in seinem Blick: Er wollte uns angreifen. Und somit war auch ganz eindeutig, was wir zu tun hatten: nämlich kontrolliert und zügig von dannen tuckern. Was wir auch taten. In sicherer Entfernung konnten wir ein zweites Mal kollektiv ausatmen.
Wir fuhren langsam in Richtung unserer Antigua, auf Ismas Boot zu. Der Bär begriff, dass er keine Chance mehr hatte, er gab auf und wandte sich wieder gen Land. Für uns war das Erlebnis aber immer noch nicht vorbei, denn obwohl wir nun ja auf dem Rückweg waren, robbte plötzlich ein großes Walrossmännchen ins Wasser. Zum zweiten Mal wurden wir anvisiert. Mit einer kaum zu fassenden Geschwindigkeit und einer erstaunlichen Bugwelle schmiss sich dieses Männchen auf uns zu, und nun machten wir uns wirklich von dannen. Denn ein verärgertes Walross, das sehr gut unter- und sehr unerwartet wieder auftauchen kann, war dann wirklich zu viel des Abendprogramms. Auch hatten wir nun den Eindruck, die Tiere trotz des großen Abstands gestört zu haben. Wir hatten ihr Verhalten verändert, sie machten nun andere Dinge als vor unserem Erscheinen – das wollen wir immer vermeiden. Ich bin dankbar für diese Begegnung, weil ich gesehen habe, dass man erkennen kann, wenn Bären ihre Meinung ändern. Man kann sehen, was sie wollen.
In einem spektakulären Sonnenuntergang glitten wir also über das stille Meer zurück zum Schiff und ließen die Tiere in Ruhe. Ein Tag, für den man Tage brauchte, ihn zu verarbeiten, ging in flammendem Licht zu Ende.
Wer auf Spitzbergen, wer in der Arktis unterwegs ist, verändert sich. Denn eine der wundervollen Eigenschaften der Arktis ist ihre scheinbare Leere, über weite Strecken. Ihre Reizarmut. Der moderne Mensch ist ja daran gewöhnt, dass er immer und überall etwas Menschengemachtes sieht, dass immer und überall in der Landschaft irgendwas drin ist, was die Landschaft nicht gemacht hat. Nur noch sehr selten findet man sich noch an Orten wieder, wo die Welt so aussieht, rundherum, als gäbe es den Menschen nicht. Ganz anders in der Arktis. Über in Mitteleuropa unvorstellbar weite Strecken kann man in dieser Region tatsächlich niemanden antreffen, nicht einmal Spuren menschlichen Daseins finden. Eine wirklich unberührte Landschaft habe ich zum ersten Mal in Franz-Joseph-Land in der russischen Arktis gesehen. Die Wirkung dieses Anblicks werde ich nie vergessen. Es macht etwas mit einem, wenn man sieht, wie die Welt ohne Menschen aussieht, wie sie überall aussehen könnte, gäbe es unsere Spezies nicht. Auf eine Weise sieht man die Welt dann auf einmal überall viel deutlicher.
Auf Spitzbergen gibt es wenige Gerüche, vor allem im Winter, wenn es kalt ist. Es gibt keine Geräusche, außer denen, die aus der Natur kommen: das wasserblasende Atmen von Walen, das Knispeln äsender Rentiere, das Prusten von Belugas, das Bellen von Polarfüchsen, das Kreischen unzähliger Vögel, das Pfeifen liebeskranker Robben. Das Flüstern