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Birgit Lutz, Journalistin und Arktis-Expertin, bereiten seit einigen Jahren die sichtbaren Veränderungen, die die Erderwärmung besonders in der Arktis verursacht, zunehmend Sorge. Sie nimmt uns deswegen mit auf eine besondere Reise: Wir umrunden mit ihr die Inselgruppe Spitzbergen, wandern über Gletscher und besuchen Orte abseits der Touristenrouten. Birgit Lutz zeigt uns den Wandel, der teilweise bereits innerhalb weniger Monate gravierend voranschreitet. Sie spricht mit Menschen, die direkt davon betroffen sind, und trifft namhafte Wissenschaftler wie Klimaforscher Stefan Rahmstorf oder Ökonomin Claudia Kemfert, die ihre Beobachtungen kenntnisreich einordnen. Auch ethischen und psychologischen Aspekten des Klimawandels gibt Birgit Lutz viel Raum. Denn zuletzt stehen bei ihr nicht Betroffenheit und Ohnmacht im Fokus, sondern der Aufruf, jetzt mutig neu zu denken und zu handeln. Wir alle können das Ruder noch herumreißen, um diese einzigartige Region und die Bewohnbarkeit unseres Planeten in seiner Vielfalt zu erhalten und zu schützen.
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Seitenzahl: 445
Zum Buch
Birgit Lutz, Journalistin und Arktis-Expertin, bereiten seit einigen Jahren die sichtbaren Veranderungen Sorge, die die Erderwarmung besonders in der Arktis verursacht. Sie nimmt uns deswegen mit auf eine besondere Reise: Wir umrunden mit ihr die Inselgruppe Spitzbergen, wandern über Gletscher und besuchen Orte abseits der Touristenrouten. Birgit Lutz zeigt uns den Wandel, der teilweise bereits innerhalb weniger Monate gravierend voranschreitet. Sie spricht mit Menschen, die direkt davon betroffen sind, und trifft namhafte Wissenschaftler wie Klimaforscher Stefan Rahmstorf oder Ökonomin Claudia Kemfert, die ihre Beobachtungen kenntnisreich einordnen. Auch ethischen und psychologischen Aspekten des Klimawandels gibt Birgit Lutz viel Raum. Denn zuletzt stehen bei ihr nicht Betroffenheit und Ohnmacht im Fokus, sondern der Aufruf, jetzt mutig neu zu denken und zu handeln. Wir alle können das Ruder noch herumreißen, um diese einzigartige Region und die Bewohnbarkeit unseres Planeten in seiner Vielfalt zu erhalten und zu schützen.
Zur Autorin
BIRGITLUTZ, Jahrgang 1974, ist auf Skiern von der russischen Eisstation Barneo zum Nordpol marschiert und hat Grönland durchquert. Nach einer Reise zum Nordpol im August 2007 spezialisierte sich die Journalistin auf die Arktis. Als Expeditionsleiterin hält sie an Bord von Schiffen Vorträge über das gefährdete Ökosystem und ist auch an Land eine gefragte Vortragsrednerin. Für das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung arbeitet sie an einem Plastik-Projekt. Ihre unter anderem in der Süddeutschen Zeitung oder dem Magazin des Schweizer Tagesspiegels erschienenen Reportagen wurden mehrfach ausgezeichnet. Für »Heute gehen wir Wale fangen« verbrachte sie drei Monate in Ostgrönland. In ihrem neuen Buch »Nachruf auf die Arktis« rekapituliert sie eine Reise nach Spitzbergen und geht mit Experten den Ursachen und Folgen des Klimawandels auf den Grund. Birgit Lutz lebt am Schliersee.
BIRGIT LUTZ
NACHRUF AUFDIE ARKTIS
Noch können wir die Welt retten
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Copyright © 2022 btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Vor- und Nachsatzkarte, Spitzbergenkarten: Peter Palm
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-28263-9V001www.btb-verlag.de
www.facebook.com/btbverlag
Natur ist
Der große Wandel
Der Hornsund, I
Professor Stefan Rahmstorf, Klimafolgenforscher: »Wir können es nicht zu weit treiben und dann sagen: Oh, jetzt ist es uns aber zu ungemütlich geworden hier, jetzt wollen wir wieder zurück. Zurück geht dann nicht mehr.«
Das Marketing der Mythen
Spitzbergen
Wolfgang Hübner-Zach, Küstenbewohner Longyearbyens: »Das war ein Umzug wider Willen.«
Der Hornsund, II
Professorin Bodil Bluhm, Biologin, über die Bedeutung von Gletschern für das Leben in Fjorden: »Dass die Gletscher immer weiter abschmelzen, hat direkte Folgen für das Leben im Wasser.«
Professorin Bodil Bluhm, Biologin, über die Atlantifizierung des Arktischen Ozeans: »Es gibt Stimmen, die das Zusammenbrechen des Nahrungsnetzes im Arktischen Ozean befürchten.«
Die Reste der Welt
Dr. Melanie Bergmann, Polar- und Tiefseeforscherin: »Die Plastikverschmutzung hat ein für das Leben auf der Erde gefährliches Ausmaß erreicht.«
Plastik, nicht fantastisch
Happy End für den Sack
Bären und Strandgut
Ins Eis
Professor Christian Haas, Meereisphysiker: »Wenn wir die Treibhausgaskonzentration stabilisieren, stabilisieren wir auch das Meereis.«
Professor Rolf Gradinger, Meereisbiologe und Phytoplanktologe: »Menschen, die vom Meereis abhängig sind, merken: Ihr Zuhause ist nicht mehr richtig.«
Klimafragen und philosophische Antworten
Professor Christoph Rehmann-Sutter, Philosoph: »Wenn wir künftigen Generationen keine Freiheitseinschränkungen zumuten wollen, die wir selber nie akzeptieren würden, müssen wir jetzt anders leben. Wir müssen uns radikal ändern – und wir können das.«
Das Flüstern des Eises
Wenn Küsten zerbrechen
Dr. Thomas Opel, Paläoklima- und Permafrostforscher: »Ich bewege mich zwischen Faszination, Erschrecken und wissenschaftlicher Begeisterung.«
Besuch im Forscherdorf
Gregory Tran und Fieke Rader, Überwinterer auf der deutsch-französischen Forschungsstation AWIPEV in Spitzbergen: »Wir wollen den Menschen klarmachen, dass sie etwas tun können.« (Tran)
Dr. Maarten Loonen, Biologe, über die Gänse: »Die Jahreszeiten verändern sich, und damit auch die Zeiten, in denen Futter zur Verfügung steht.«
Der sterbende Gletscher
Dr. Andreas Alexander, Glaziologe: »Wir können nicht mehr so schnell arbeiten, wie die Gletscher verschwinden.«
Dr. Maarten Loonen, Biologe, über den Wandel: »Wir müssen etwas von dem Schmerz auf uns nehmen, der den nächsten Generationen blühen wird.«
Das Bild von 1918 und ein Ausflug 2022
Warum wir es nicht wahrhaben wollen
Katharina van Bronswijk, Psychologin, über die Leugnung des Klimawandels: »Die Klimakrise ist als Problem so gestrickt, dass Menschen sie nicht so gut verarbeiten können.«
Die deutsche Energie
Im Isfjord
Professorin Claudia Kemfert, Energieökonomin: »Deutschland muss wieder Vorreiter beim Klimaschutz werden!«
Dranbleiben und mutig neu denken
Katharina van Bronswijk, Psychologin, über Klima-Angst: »Klima-Angst ist kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Alarmsignal: Sie zeigt uns, dass wir jetzt handeln müssen.«
Volker Quaschning, Professor für Regenerative Energiesysteme: »Die Energiewende ist in 15 Jahren machbar. Wenn man sie will.«
Zurück in Longyearbyen
Gemeinsam können wir es schaffen
Nikolaus Gelpke, Verleger und Meeresbiologe: »Wir brauchen ein neues Wir-Gefühl.«
Nach Hause
Anhang
Quellen und Möglichkeiten zum Weiterlesen
Grafik- und Tabellenverzeichnis
Fotonachweis
Danke
Das Ding ist, dass die Menschen denken, wir hätten eine Wahl.Dabei ist es so klar, so eindeutig, so unabänderlich:Das alles ist nicht verhandelbar.Jeder Segler weiß, dass man mit dem Wind nicht feilschen kann.Der Wind bestimmt.Natur verhandelt nicht.Natur ist.
In der Nacht sollten wir an der Ostküste Spitzbergens die Höhe des Hornsunds passieren. Dieser Sund, flankiert von hohen Bergen, wird oft zu einem Windkanal, gewaltige Windgeschwindigkeiten entstehen hier, in die eine oder andere Richtung. Wir wussten vorher, dass das in dieser Nacht auch so kommen konnte. Deswegen wollte Steuermann Moritz rechtzeitig die Segel abnehmen, bevor wir diese Stelle erreichten. Aber der Wind war schneller. Waren wir eben noch sanft gen Süden gesegelt, traf uns der Wind nun mit voller Wucht von der Seite, die SV Antigua, unser wunderbarer Dreimaster, legte sich auf die Seite und stieß ihren Bug in tiefe Wellentäler. Moritz kam ins Vorschiff gesprungen, wo wir schliefen, und schrie: Die Schot ist gebrochen! Und Maarten war so schnell in seiner Hose und aus der Kabine, wie das nur Segler können.
Wir bekamen eine kurze Verschnaufpause, als wir erneut den Schutz der Berge Südspitzbergens erreichten. Dann mussten wir um das Südkap herum, gegen den Wind. Das Vorschiff der Antigua verschwand während dieser Wende einige Male gänzlich im Wasser, der Klüverbaum bohrte sich in das Meer, wie man es aus Piratenfilmen kennt, Wellen überspülten das Mitteldeck, der Bug bewegte sich drei bis vier Meter nach oben, um dann sieben bis acht Meter nach unten zu sinken, es wäre ein prima Weltraumtraining gewesen, immer wieder schwerelos.
Wir hatten vorher gewusst, dass es so werden würde. Ungemütlich. Machbar. Hinterher verstanden unsere Passagiere, warum wir immer so lange über den Windkarten brüteten, warum wir diesen Tag gewählt hatten für die Umrundung des Südkaps und nicht, wie im ursprünglichen Plan, noch einen Tag später, an dem der Wind noch stärker gewesen wäre. Wir kannten die Grenzen, die der Gäste, die der Crew, die des Schiffs, und wir achteten sie. Wir wussten, dass sich der Wind nicht scherte um unsere Pläne. Wir mussten uns um den Wind scheren.
Das leise »Pling« holte mich aus dem Schlaf. Nach zehn Tagen auf dem Inlandeis hatte mein System gelernt, dass ein metallisches Geräusch nicht dazugehörte, zum normalen Soundtrack einer Grönland-Durchquerung. »Pling« bedeutete, dass die doppelten Zeltstangen gebrochen waren. Weil das Zelt quer zum Wind stand; wir hatten es entweder schlecht aufgestellt, oder der Wind hatte sich gedreht. Eine Windmauer hatten wir nicht gebaut, weil wir zu müde gewesen waren. Wir hatten nicht aufgepasst, und der Wind hatte die Lücke gefunden, die wir ihm gelassen hatten. Es wurde eine der schlimmsten Nächte meines Lebens; zum ersten Mal verspürte ich die reale Gefahr, dass es nun vorbei sein könnte, dass wir alle sterben konnten, mit jeder neuen Böe, die sich wie ein wilder Hund gegen die Zeltwand warf. Nie empfand ich die menschliche Ohnmacht größer, den Menschen kleiner und lächerlicher als in jenen Stunden. Weil der Wind nicht noch stärker wurde, weil wir Glück hatten und das Zelt ganz blieb, ist in dieser Nacht nichts und doch so viel passiert.
In Spitzbergen saßen wir einmal am Strand und überlegten: Können wir das machen? Können wir hundert Gäste hier an Land bringen, in einem immer stärker werdenden Wind? Hundert Gäste, die unruhig waren, seit Tagen war das Wetter schlecht, es wurde Zeit, dass sie mal von Bord kamen. Weiße Schaumkronen tanzten auf den Wellen, wir beobachteten die Brandung. Können wir das machen? Ein guter Expeditionsleiter setzt sich feste Grenzen, es ist wichtig, sie vorher festzulegen, und noch wichtiger ist es, sie zu achten, wenn man unterwegs ist. Sich nicht hinreißen zu lassen, dem Druck – die Gäste müssen doch was erleben! – nicht nachzugeben. Wir fragten per Funk auf dem entfernt liegenden Schiff nach der Windstärke. 26 Knoten mit Böen bis 32 Knoten. 25 war unsere Grenze. Wir müssen abbrechen, sagte ich. Wir machen es nicht. Die Sonne schien, der Ort war ein Traum. Wir machten es nicht. Auf dem Rückweg wurden wir vollkommen durchnässt, das Schlauchboot tanzte so auf den Wellen, dass wir nur mit Mühe wieder auf das Schiff springen konnten, der Wind war nun bei mehr als 30 Knoten, das ist kein Wetter, um in der Arktis Boot zu fahren.
In Grönland und auf dem gefrorenen Polarmeer sagte uns der Himmel, was zu tun war. Wir marschierten vorwärts, die Skier sangen das Lied der Sastrugi, wenn die Kanten über die Schneeränder schleiften. Wir bemerkten jede Änderung am Horizont, sahen die Wolken aufziehen und griffen nach den dickeren Handschuhen, bevor der Wind bei uns war. Wir zurrten die Schlittenabdeckungen fest und zogen alle Reißverschlüsse zu, wir stülpten die Sturmmasken über, wenn die Wolken schneller über den Himmel jagten, und wenn die Böen bei uns ankamen, fanden sie keine Haut mehr. Der Himmel sagte, was zu tun war, und wir hörten auf ihn.
Wer möchte schon dem Himmel widersprechen, den Wind herausfordern, wenn er auf einer Eisscholle, auf einem Eisschild sitzt, mit nichts als einer dünnen Zelthaut zwischen sich und allem anderen.
Würden doch alle Menschen nur ein einziges Mal genau das erleben: wie viel Kraft die Natur hat. Dass sie nicht einmal niesen muss, um uns einfach auszulöschen, fortzuwehen, niederzuwalzen, mit einem klitzekleinen Fingerschnips. Es hilft nicht, derlei nur zu lesen, scheint mir. Wie groß die Natur ist und wie klein wir. Romantische Sätze, die ihre Wirkung doch verfehlen.
Würde ihnen doch bewusst, dass wir alle auf dieser Scholle sitzen mit nichts als einem Zelt. Denn wir hören schon lange nicht mehr auf den Himmel. Wir halten uns nicht mehr an Grenzen. Weil wir denken, dass der Himmel keine Rolle spielt für uns und wir jederzeit alles tun können, was wir wollen, überall. Der Mensch im 21. Jahrhundert sieht sich losgelöst von der Natur. Er hat sich die Erde untertan gemacht.
Denkt er.
Doch keine Spezies der Welt kann sich die Erde untertan machen, kann sich über alle anderen stellen. Weil am Ende alles mit allem zusammenhängt und erst das große Zusammenspiel aller einzelnen Teile ermöglicht, dass alle heute existierenden Arten auf unserem Planeten leben können.
Vielleicht ist eben dies das größte Missverständnis unserer heutigen Zeit: das Denken, dass der Mensch allein existieren kann und über allen Dingen steht. Entwickelt hat sich dieses Denken, weil die Menschen heute in stabilen Häusern leben, und viele davon stehen in Städten. Wenn die Menschen Hunger haben, kaufen sie in gut gefüllten Supermärkten ein, wenn es regnet, sind sie geschützt im Trockenen, wenn es kalt ist, wärmen sie ihre Behausungen, und wenn es warm ist, kühlen sie sie. Egal, was draußen passiert, es ist alles kontrollierbar, ausblendbar, was auch immer geschieht: Der Mensch kann sich eine Komfortzone erhalten, in der es ihm gut geht. Der Mensch hat alles unter Kontrolle. Es kommt immer Wasser aus der Leitung und Strom aus der Steckdose. Meistens. Noch.
Der Mensch, ganz oben. Alles im Griff.
Wenn mich meine Reisen in der Arktis, meine Touren auf Skiern in die kältesten Gebiete der Erde, meine Wanderungen in den heimischen Alpen eines gelehrt haben, dann, dass das nicht so ist. Dass das nie so war und nie so sein wird. Der Mensch, das ist eine so banale wie weitreichende Tatsache, hat gar nichts im Griff.
Auf den Schiffen studieren wir jeden Tag Wetter- und Eiskarten. Wir können Routen anders legen, wir können Stürme aussitzen, uns verstecken, ausweichen. Wir können deuten, vorhersehen, reagieren. Was wir niemals können, ist, an einem Plan festzuhalten, gegen den die Wetterkarte spricht. Wir würden immer verlieren. Jeder Mensch, jedes Kind sollte als Teil seiner Schulbildung ein Gewitter in den Bergen erleben müssen. Einen Sturm auf See.
Denn wer einmal wirklich den Elementen ausgesetzt war, der verinnerlicht, dass auf dieser Erde nicht der Mensch bestimmt. Dass es tatsächlich etwas gibt, dem man sich beugen muss. Wir sind daran gewöhnt, Dinge zu besprechen, zu verhandeln, zu erschaffen und zu verändern. Einen Sturm auf See kann man aber nicht wegplaudern oder -theoretisieren. Er ist da. Er bestimmt die Route. Die einzigen Gesetze der Welt, die unumstößlich sind, sind die der Natur, und wer langfristig Erfolg haben will, muss sie achten.
Wir können nicht erwarten, dass wir diesen Planeten ausbeuten, verunreinigen, natürliche Abläufe in globalem Maß beeinflussen, die Gesetze und Regeln der Natur missachten können – ohne dass das je Folgen haben wird für den Planeten und für uns.
Der Treibhauseffekt
Das Leben auf unserer Erde ist nur aufgrund von Treibhausgasen möglich. Die Erde ist umgeben von der Erdatmosphäre, die Gase enthält, die einerseits die Sonnenstrahlung einlassen, andererseits aber die Wärmeabstrahlung der Erde vermindern. Zu diesen Gasen zählen vor allem Wasserdampf und Kohlendioxid. Weil sie die Abstrahlung der Erdwärme absorbieren, entsteht eine globale mittlere Lufttemperatur von +15 °C. Ohne die Treibhausgase läge sie bei -18 °C, der Planet wäre vereist. Seit Beginn der Industrialisierung und dem Einsatz fossiler Brennstoffe erzeugt die Weltbevölkerung zusätzlich zu den natürlich vorkommenden Treibhausgasen selbst Gase, vor allem Kohlendioxid. Der Mensch greift also in das Zusammenspiel vieler Faktoren ein, welches die Erde erst bewohnbar macht. Durch die Zunahme von Gasen in der Atmosphäre wird weniger Erdwärme in den Weltraum abgestrahlt, und die Erde erwärmt sich. Man spricht hier vom anthropogenen – vom Menschen verursachten – Treibhauseffekt.
Wir Menschen sind abhängig und damit schwach geworden. Die wenigsten jagen sich noch ihr Essen oder bauen es selbst an, die allerwenigsten überleben mit wenigen Hilfsmitteln. Wir brauchen Kleidung, Häuser, Klimaanlagen, Heizungen, Wasserleitungen, Strom und Supermärkte und damit Lastwagen, Flugzeuge, Heerscharen von Menschen und Tieren, die diesen Lebensstil ermöglichen. Einfach ist nichts mehr. Genau das macht uns machtlos.
Immer wieder ist das ein Gedanke, den ich habe, wenn wir Tiere in freier Wildbahn beobachten. Der Eisbär, der allein durch den Sturm wandert und sich zur Ruhe bettet und schläft, ohne sich auch nur eine Höhle zu bauen. Die kleine Dickschnabellumme, die von dem Vogelfelsen springt, aus einer Höhe, dreihundertmal so hoch wie das kleine Vögelchen, mit noch viel zu flugunfähigen Flügeln, und dann prallt es gegen den Felsen und dreht sich um sich selbst, trudelt gegen einen Vorsprung und schlägt dann nicht im Wasser, sondern an einem Abhang auf, von dem es meterweit hinaus in die Wellen katapultiert wird und untergeht. Und nach einigen Sekunden auftaucht, sich rüttelt und schüttelt und ihr Dickschnabellummen-Leben beginnt. Man vergleiche das mit dem Start des Menschen in sein Leben. Von Anfang an brauchen wir Hilfsmittel wie Kleidung, weil wir uns nicht selbst wärmen können. Wir brauchen sehr vieles – aber wer braucht uns?
Selbst der kleine Krill der Antarktis, wenige Millimeter groß, ist wichtiger als wir, weil sich riesengroße Wale allein von ihm ernähren. Der Eisbär von der Robbe. Der Fuchs vom Hasen. Welches Tier hängt vom Menschen ab? Die Existenz welcher Spezies hängt von uns ab?
Gemauerte Häuser und Städte, klimatisierte Innenräume in überhitzten Städten, allzeit verfügbare Waren gaukeln uns eine Sicherheit vor, die wir nicht haben. Die Welt, die wir erschaffen haben, mit all den künstlichen Systemen und Symbolen, Konventionen und Kulturen, die es nur gibt, weil der Mensch das so will, hat unseren Blick auf das Wesentliche verstellt. In dieser künstlichen Welt geht es um Arbeitsplätze, um Kosten, um Rechte und Bequemlichkeiten, um Aktienanteile und Renditen.
Dabei ist das alles längst nicht mehr wichtig. Sich Verlieren in Kleinteiligem ist längst nicht mehr von Bedeutung, sondern höchstens noch Ablenkung. Nicht mal mehr um Regionen oder Nationen geht es.
Jetzt geht es um das große Ganze.
Darum, dass wir überleben.
Ganz einfach.
Vieles muss sich ändern, damit es bleiben kann, wie es ist.
Giuseppe Tomasi di Lampedusa
Zu spät.
In der Magengrube wohnt dieses beklemmende Gefühl; 2015 hat es sich dort eingenistet. Und seitdem trifft es mich immer wieder wie ein Schlag: Es ist zu spät. Jetzt ist es so weit. Jetzt hat etwas angefangen, das größer ist als wir. Unser Planet verändert sich. Und zwar so, dass der Mensch bald nicht mehr darauf leben kann; der Science-Fiction-Film ist keine Fiktion mehr, unser Film spielt nicht in der Zukunft, er hat begonnen, sogar der Vorspann ist jetzt schon vorbei. Und wir sind selbst die Drehbuchautoren gewesen; wir haben das Skript geschrieben, weil wir nicht auf die Warnungen derer gehört haben, die Messungen machten, die Berechnungen anstellten, die Fakten vortrugen. Es gibt einen Spruch, der heißt: Jeder Katastrophenfilm beginnt mit einem Wissenschaftler, dessen Warnungen nicht gehört werden. Wir erleben das jetzt.
Ich selbst habe das lange nicht sehen wollen. Nicht so ernst genommen. Ich fuhr lange Zeit Jahr für Jahr unbeschwert in die Arktis; nach einer Weile jedoch sah ich die Veränderungen selbst sehr deutlich. Wenn wir mit dem Schiff an Gletschern entlangfuhren, die weit im Meer endeten. Immer in 500 Metern Abstand zur Gletscherkante, aber jedes Jahr lag unsere Route ein Stück näher am Land. Manchmal beinahe 100 Meter näher an Land. Das bedeutete, dass dort, wo wir nun mit dem Schiff fuhren, im Jahr zuvor noch Gletschereis war, eine 50 Meter hohe Front, zwei Kilometer breit. Wir rechneten mit den Gästen aus, wie groß dieser Eiswürfel war, der da innerhalb von zwölf Monaten weggeschmolzen war, es waren unvorstellbare Mengen, das Eisvolumen einfach fort. Wenn wir die Zahl verkündeten, machte sich dieses Gefühl in meinem Bauch breit, ja, schlimm, das sagte ich, und dann verdrängte ich es.
Ich kümmerte mich um Plastik, um eins der anderen großen Probleme, die unser Planet hat. Ich sammelte in meinem Citizen-Science-Projekt für das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven Plastik von den Stränden Spitzbergens, zählte, wog, kategorisierte und quantifizierte alles, was wir fanden, damit man mehr darüber erfuhr, wo es herkam, um irgendwann die Quellen anzugehen, denn Strandreinigungen sind nicht die Lösung.
Mit Plastiksammeln machte ich es mir insofern leicht, als dass ich keine Diskussionen darüber führen musste, wer denn nun schuld daran sei, an diesem Müll am Strand. Denn Plastik war ja nicht schon immer da oder vor Jahrmillionen schon mal, und überhaupt eben nicht etwas ganz Natürliches – all diese Argumente, mit denen sich meine Kollegen immer herumschlagen mussten, die sich mit dem Klima beschäftigten und Vorträge darüber hielten. Am Ende stand immer jemand auf, der das alles anzweifelte, das mit dem Kohlendioxid und das mit den fossilen Brennstoffen, der mit dem typischen Duktus des Nichtwissenschaftlers, der die kursierenden Pseudowissenschaftstexte las, reklamierte, dass doch das Klima schon immer schwanke und sogar schwanken müsse, und überhaupt, die Sonnenflecken. Und die Chinesen …
Ich hielt diese Gespräche nicht mehr aus, die sich dann entspannen, in denen meine Kollegen, teils gestandene Wissenschaftler, sich ebenso redlich wie erfolglos mühten, Fakten an den Mann zu bringen, zu informieren, zu erklären, alle noch so absurden Gegenargumente so höflich wie kompetent zu widerlegen und die doch, noch bevor sie den Raum betreten hatten, schon zum Scheitern verurteilt gewesen waren, weil nichts auf der Welt in diesen Zeiten so uneinnehmbar ist wie die Mauer der Überzeugung.
Plastik dagegen ist ziemlich eindeutig sowohl vom Menschen gemacht als auch vom Menschen ins Meer geworfen, das lässt sich schwerlich wegdiskutieren, und das meiste davon übrigens erst in den letzten zwanzig Jahren. In so kurzer Zeit kann der Mensch so immense Probleme erschaffen. Damit hatte ich es einfach, das Plastik lag da, wir sammelten es ein und konnten uns sogar noch gut fühlen dabei. Dieses ganze Klimathema ließ ich also weg, ich tat ja schon was.
Doch jetzt geht das nicht mehr. Weil zu viel geschehen ist. Weil es mittlerweile zu schnell geht. Weil wir in den vergangenen Jahren ungläubig staunten, wenn wir nach dem Winter nach Spitzbergen zurückkamen. Wenn wir im schon fortschreitenden Sommer zum ersten Mal in die Fjorde im Norden einfuhren und sich uns offenbarte, was seit unserem letzten Besuch geschehen war. Ich erschrak als Laie, weil ich Dinge sah, die ich zuvor nie gesehen hatte, und meine wissenschaftlichen Kollegen erschraken, weil sie immer wieder feststellen mussten, dass ihre Prognosen übertroffen worden waren. Dass die Schmelze des Eises und das Tauen des Permafrosts, der Anstieg der Temperaturen der Luft und des Wassers, die Veränderungen in der Tierwelt – jetzt viel schneller voranschritten als vorhergesagt.
Es schlich sich ein sehr dumpfes Gefühl an, wie eine langsame, aber sehr große Welle. Und 2015 brach sie.
In jenem Sommer 2015 waren wir im Liefdefjord, im Norden Spitzbergens, im Nebel auf den Monacobreen zugefahren, einen wunderbaren Gletscher, in dessen Hintergrund sich spitze Berge aufbauen. Der Monacobreen vereinigt sich mit einem zweiten Gletscher, dem Seligerbreen, und bildet gemeinsam mit ihm eine große Front am Ende des Fjords. Es lagen noch viele Eisschollen vor uns in jenem Juli, mit unserem Segelschiff fuhren wir behutsam durch den Nebel, die Schollen kratzten manchmal am Bug, Vögel flogen über uns hinweg, tauchten aus dem Weiß auf und wieder ein, und wir fuhren durch diese geisterhafte Stille, türkisfarbenes Wasser, weißes Eis, leises Gluckern.
Es dauerte lange, bis wir in die Nähe des Gletschers kamen, der immer noch verborgen im Nebel war. Und dann riss es auf, erst über uns, dann vor uns. Wie ein Vorhang auf einer grandiosen Bühne lichtete sich der Dunst. Und dann erschrak ich. Denn der Bergrücken, der bisher im Eis der beiden Gletscher eingeschlossen war und vor dem sich die beiden Gletscher zu einem vereint hatten – er unterbrach die Front jetzt. Die Eismassen hatten sich so weit zurückgezogen, dass es diese eine große Gletscherkante nicht mehr gab. Jetzt gab es diesen schwarzen Felsen im weißen Eis.
In diesem Moment legte sich ein großes Gewicht auf meine Seele, vielleicht beschreibt das dieses Gefühl am ehesten. Ich wusste auch damals, dass der Seligerbreen in den elf Jahren zuvor mehr als anderthalb Kilometer an Länge verloren hatte. Das ist ein immenses Volumen, wenn man bedenkt, dass diese Gletscherwand etwas 50 Meter hoch und mehrere Kilometer breit ist. Ich wusste auch, dass viele andere Gletscher, die jetzt separiert als Reste aus ihren Tälern krochen, früher zusammengeflossen waren in den Fjorden – dass das, was ich gerade beobachtete, also schon zigmal passiert war. Aber jetzt erlebte ich mit, wie es geschah. Jetzt konnte ich mir nicht mehr vormachen, dass schon noch alles … irgendwie in Ordnung war. Denn das war es nicht.
Als ich nach jener Reise nach Longyearbyen zurückkam, wechselte ich auf ein anderes Schiff und musste eine Woche im Ort warten. In dieser Woche wurde es so warm, dass ich 1500 Kilometer vom Nordpol entfernt T-Shirt tragen konnte; die Straßen waren staubig, in den Häusern wurde es stickig. Seit 1970 werden an der Station beim Flughafen die Temperaturen gemessen, im August liegen sie durchschnittlich bei 4,8 °C, aber im August 2015 kletterten sie zwei ganze Grad höher. Im Durchschnitt. An manchen Tagen wurden mehr als 16 Grad gemessen. Auch das ist aber nun schon wieder überholt, fast 22 Grad hatte es im August 2020 in Longyearbyen.
Und schließlich kam der Winter. In der Nacht vom 18. auf 19. Dezember 2015 brach ein Sturm über die Inseln, der viel, sehr viel Schnee mitbrachte. So viel Schnee wie früher, als es die ganzen Winter hindurch noch eisig kalt und sehr trocken war, nie auf einmal gefallen war. Am Morgen des 19. Dezember, dem Samstag vor Weihnachten, riss am Sukkertoppen, einem der kleinen Berge, zwischen deren steilen Hängen Longyearbyen liegt, ein Schneebrett ab. Es rutschte hinunter, auf einen Ortsteil Longyearbyens mit bunten Häusern zu. Zweihundert Meter lang war seine Abbruchkante, teilweise bis zu drei Meter hoch. 5000 Tonnen Schnee. Der Schnee traf auf elf Häuser. Er riss sie mit sich, einige drehten sich um ihre eigene Achse; in einem gewaltigen Rauschen schob es die Gebäude zwischen 30 und 80 Meter weiter nach unten, und die Schneemobile und Schlitten und Autos und Skier, die zwischen ihnen gelagert waren, auch. Als die Gebäude zum Stillstand kamen, rauschte die Lawine immer noch weiter und füllte Zimmer um Zimmer mit Schnee. Als das Schneebrett abriss, hatten sich 25 Menschen in den elf Gebäuden aufgehalten, die ihm im Weg standen. Zehn wurden verschüttet. Zwei wachten nie wieder auf, ein 42 Jahre alter Mann und ein kleines Mädchen.
Ich hatte mich schon bei meinem allerersten Besuch in Longyearbyen gefragt, wie man so nahe an so steilen Bergen Häuser bauen konnte, in den Alpen wäre das unmöglich. »Hier gibt es keine Lawinen«, war die Antwort 2008, wenn man Menschen im Dorf fragte. Weil die Luft so trocken, die Niederschläge so wenig waren. Es gab einfach nicht genügend Schnee für Lawinen.
Das war jetzt anders.
Nach dieser Lawine kam ein großer Regen. Die Temperaturen stiegen zu einer Zeit, in der sie sonst bei 30 Grad unter null liegen, auf neun Grad plus. Neun Grad plus im Hochwinter in der Hocharktis. In nur zwei Tagen fiel ein Viertel der Regenmenge, die sonst im ganzen Jahr dort fällt, es riss Dächer weg, und der ganze Schnee verschwand. Innerhalb weniger Tage zweimal Verwüstung. Auf eine Weise, die man an diesem Ort nicht gekannt hatte.
Darauf folgte ein Küstenabbruch, von dem uns ein Bewohner Longyearbyens noch erzählen wird, der deswegen sein Haus versetzen musste. Und als ich im Februar 2017 in Longyearbyen war, kam es wieder zu einem Sturm, er brachte Schnee, der quer heranflog, sich an die Fenster klebte und die Holzwände der Häuser mit Kristallen überzog, alles wurde weiß, alles versank.
Diesmal traf die Lawine ein Haus mit sechs Wohnungen. Diesmal starb niemand. Aber die Unschuld und Sicherheit waren damit endgültig dahin. Häuser wurden versetzt, der Ort verändert, ein Warnsystem eingerichtet. Vieles, was einmal Gewissheit war, stimmte nicht mehr. Man konnte sich nicht mehr verlassen auf das, was die Natur immer getan hatte. Vielleicht, weil sich die Natur auch nicht auf uns verlassen konnte. Und all das zusammen, das war mein Weckruf. Das dumpfe Gefühl, das damals begann, ist immer noch da. Aber aus dem anfänglich gebannten Beobachten, was nun passiert, ist Aktivität geworden. Dieses Buch hat in jenen Ereignissen des Jahres 2015 seinen Anfang genommen, in meinem Kopf.
Seit 15 Jahren bin ich nun in der Arktis unterwegs, und genauso lange werde ich gefragt, ob ich die Auswirkungen des Klimawandels dort sehen kann und ob wirklich das ganze Meereis schmelze. Anfangs habe ich geantwortet, dass ich das nicht beurteilen könne, dass das gar nicht möglich sei nach so kurzer Zeit und dass außerdem punktuelle Beobachtungen wenig Aussagekraft hätten, wenn es um Klima gehe. Wenn in einer Region wenig Meereis wäre, könne es an anderer Stelle dennoch gewachsen sein, das hänge immer von vielen Faktoren ab.
Heute ist meine Antwort eine andere. Heute kann ich berichten: Ja, ich kann es sehen. So wie es jeder sehen kann, der sich vielleicht auch nur wenige Monate in dieser Region aufhält. So schnell geht es mittlerweile. Das Schmelzen der Gletscher, die Veränderung der Küstenlinien, Lawinen, wo es nie Lawinen gab, prasselnder Regen im Winter und – früher unvorstellbar – T-Shirt-Wetter mit aneinanderklingenden Gläsern auf Terrassen im Sommer, das gehört jetzt zu Longyearbyen, auf 78 Grad Nord. Das Gesicht der Arktis hat sich ebenso verändert wie ihre Geräusche.
Die Folgen des Klimawandels
Betrachtet man die gängigen Klimamodelle, wird in den kommenden Jahren ein Erdklima entstehen, das die Menschheit bisher nicht erlebt hat. Diese klimatischen Veränderungen haben vielfältige Folgen; manche haben einschneidende regionale und manche haben globale Auswirkungen. Die Summe all dieser Folgen ergibt: Die Bewohnbarkeit der Erde verändert sich. Ein unvollständiger Überblick über Folgen einer wärmeren Erde:
Die Kryosphäre verändert sich: Gletscher und Eisschilde schmelzen, das Meereis – und damit ein Lebensraum vieler Tiere und Pflanzen – verschwindet, der Permafrost taut und setzt zusätzliche Treibhausgase frei, was die Erwärmung beschleunigtDer Meeresspiegel steigt an: Inseln und küstennahe Gebiete werden unbewohnbar. Bei einem Anstieg des Meeresspiegels um einen Meter sind 600–700 Millionen Menschen betroffen, direkt und indirekt durch eintretende Fluchtbewegungen. Unter anderem liegen 30 der 50 größten Städte der Welt in dieser Zone.Die Ozeane »versauern«: Weil der Ozean Kohlendioxid aufnimmt, sinkt der pH-Wert der Meere. Ein niedrigerer pH-Wert hat beispielsweise große Auswirkungen auf Kleintiere mit Kalkschalen, die die Basis der maritimen Nahrungskette bilden.Niederschläge verschieben sich: Der Wassermangel in trockenen Gebieten wird größer; Waldbrände häufen sich, Ernten gehen verloren, die Wüstenbildung nimmt zu.Extremwettereignisse häufen sich: Tropische Wirbelstürme, Starkregen und Überflutungen ziehen steigende wirtschaftliche Schäden nach sich, Ernten gehen verloren, die Zahl der Obdachlosen wächst.Tiere verändern ihre Verbreitungsgebiete und Zugzeiten, Pflanzen ihre Vegetationszeiten: Nahrungsketten reißen ab, weil Jäger und Beute nicht mehr aufeinandertreffen. Tropische Insekten, die Krankheiten übertragen, kommen zunehmend in gemäßigten Breiten vor.Pflanzen und Tiere scheitern an einer Anpassung und sterben aus: Man spricht heute bereits vom Beginn des sechsten Massensterbens der Weltgeschichte, mit bis zu 130 aussterbenden Arten pro Tag.Und das möchte ich euch zeigen. Ich möchte euch mitnehmen in diese Welt, wie ich sie sehe, diese fantastische, wunderbare arktische Welt – und ich möchte euch mit mir die Veränderungen erkennen lassen. Ich möchte euch teilhaben lassen an meiner Trauer, wenn ich Wanderungen, Gletscher, Eiswände, Landschaften verschwinden sehe. Wenn die Welt aufhört, so zu sein, wie wir sie kennen. Wenn die Schönheit verschwindet. Wenn die Arktis aufhört, Arktis zu sein.
Ich will Euch das aber nicht nur zeigen, weil es mich traurig macht. Sondern weil all dies auch ein Vorbote ist. Es geht in der Arktis ja nur schneller. So umfassend, wie sich dort jetzt alles verändert, wird sich auch die restliche Welt verändern. Die Arktis kann uns heute das Ausmaß der Veränderung zeigen, das auch in gemäßigten Breiten auf unsere Kinder zukommt. Ich will dabei weder dramatisieren noch moralisieren. Sondern beschreiben, was passiert. Ich beleuchte deswegen nicht nur naturwissenschaftliche Aspekte, sondern auch gesellschaftliche und spreche nicht nur mit renommierten Wissenschaftlern und Menschen, die selbst betroffen sind, sondern auch mit einem Philosophen über die ethischen Fragen des Klimawandels und mit einer Psychologin darüber, warum uns der Klimawandel so herausfordert. Und so werde ich in diesem Buch auch auf einige unbequeme Wahrheiten eingehen: Wer beeinflusst bereits unbemerkt unser Denken über den Klimawandel? Und was sind die Gründe dafür? Denn auch ich musste feststellen, dass ich in der Vergangenheit auf manche absichtlich gestreute Mythen hereingefallen war. Und schließlich, und das ist das Allerwichtigste, geht es auch darum, wie diesen Veränderungen begegnet werden kann. Denn es kann ja etwas getan werden, und wie wir sehen werden, gar nicht so wenig. Es ist immer noch nicht zu spät. Wir können die Bewohnbarkeit unseres Raumschiffs Erde ja immer noch erhalten. Das ist das Gute, das Motivierende!
Ich habe mir wieder allerlei kompetente Menschen gesucht, die diese Veränderungen, Zusammenhänge und Lösungswege sehr gut zu erklären vermögen. Und wie immer haben mich in den Gesprächen mit ihnen nicht nur die bloßen Fakten interessiert. Bald bemerkte ich die große Betroffenheit der Wissenschaftler, mit denen ich sprach. Gestandene Männer, die vor mir saßen und weinten. Ja, weinten. Nicht nur, weil sie sich tagtäglich mit unerfreulichen Daten konfrontiert sehen. Sondern vor allem auch, weil sie mit dem, was sie herausfinden, seit Jahrzehnten nicht oder nur unzureichend gehört werden, während die Daten gleichzeitig immer alarmierender werden. Was macht das mit diesen Menschen? Auch das habe ich gefragt, um den Forschenden auch eine private Stimme zu geben. Um zu zeigen, wie es den Menschen hinter den Nachrichten, Klimamodellen und Forschungsberichten geht. Jenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die dieses Gebiet teilweise seit Jahrzehnten erforschen, bin ich sehr dankbar. Für ihre Arbeit und dafür, dass sie ihr Wissen für dieses Buch mit uns teilen, für ihre Zeit und ihre Offenheit. Sie geben uns alles in die Hand, was wir wissen müssen. Handeln können wir.
Ich habe Glück, ich sitze auf der richtigen Seite. Wir fliegen östlich an der Südspitze Spitzbergens vorbei, und ich sitze so, dass ich gute Sicht habe. Ich kann die ersten Gipfel sehen, die ersten Gletscher, das typische Dunkel-hell-Muster Spitzbergens im Sommer, wenn weite Flächen der Tundra schneefrei sind. Zwei Jahre war ich nicht hier. Durch eine sehr glückliche Fügung bin ich nun wieder auf dem Weg nach Longyearbyen, dem Hauptort der Inselgruppe. Ich kann es noch immer nicht glauben, dass das nun tatsächlich passiert.
Und dann erschrecke ich. Ich blicke von Osten in den Hornsund hinein. Der Hornsund ist der südlichste Fjord Spitzbergens, der von Westen nach Osten in die Südspitze der Insel schneidet. Mehrere große Gletscher fließen in diesen Fjord.
Sund
Ein Sund ist eine Meeresstraße, die eine Landmasse von einer anderen trennt; in der Ostsee trennt beispielsweise der Fehmarnsund die Insel Fehmarn vom Festland oder der Öresund Schweden von Dänemark. Sunde sind also an beiden Seiten offen, man kann sie mit Schiffen durchfahren.
Fjord
Fjorde sind Vertiefungen, die Gletscher in die Landschaft erodiert haben, die einst im Meer endeten. Nach dem Abschmelzen der Gletscher blieben diese Vertiefungen, die sich mit Meerwasser gefüllt haben, zurück. An den Eingängen von Fjorden ist das Wasser häufig flacher – dort befand sich oft die Endmoräne des Gletschers. In Fjorde kann man mit dem Schiff hineinfahren, aber man kann sie nicht durchfahren. Sie enden dort, wo einst der Gletscher vom Land ins Meer floss.
Breen
Norwegisch bre heißt: ein Gletscher. Im Norwegischen wird der bestimmte Artikel als Endung an das Substantiv angehängt. Die Endung für männliche Substantive im Singular lautet: -en, deswegen bedeutet breen: der Gletscher. Hornbreen heißt auf deutsch also: der Horngletscher.
Einer davon ist der Hornbreen, der Horngletscher, er hat bisher zusammen mit dem Hambergbreen dafür gesorgt, dass der Hornsund, obwohl er doch so heißt, gar kein Sund war. Keine offene Wasserstraße also, denn Horn- und Hambergbreen hatten zusammen eine Eisbarriere gebildet, an deren Westseite eben der Hornsund lag, und an der Ostseite die Hambergbukta.
Der Hornsund hat eine sehr markante Geografie, mit gletschergefüllten Buchten, Landzungen, die in den Sund hineinschneiden, hohen Bergen, die alles überragen. Viele Male war ich in diesem Sund; ich kann von oben sehen, wo ich gewandert bin, wo wir in Schlauchbooten umherfuhren.
Aber diese Eisbarriere ist seltsam schmal geworden. Die einstige kilometerlange Gletscherzunge, die sich hier ins Meer geschoben hat, ist jetzt nur noch, wie soll man das sagen, eine nur noch temporär wirkende, dünne Brücke. Sie ist so dünn, dass ich vergesse, weiterzuatmen. Das ist der Hornbreen? Dieser einst so gewaltige Gletscher, der den Sund zu weiten Teilen anfüllte?
Aber sosehr ich meine Augen auch anstrenge, dort, wo vor Kurzem noch Eis war, ist jetzt nur noch dunkles Wasser. Und während ich noch dabei bin, dieses Bild zu verarbeiten, das sich mir da bietet, sehe ich plötzlich, dass diese dünne Barriere durchlässig zu werden scheint: Am südlichen Rand des Gletschers zeichnet sich ein langer, dunkler Einschnitt ab, der aussieht wie eine große Spalte. Wenn sich diese Spalte weiterzieht, dann bricht diese Front auseinander. Dann wird der Hornsund wirklich ein Sund sein. Das Südkappland, wie der südliche Teil Spitzbergens heißt, wird dann keine Verbindung mehr zur Insel haben, sondern selbst eine neue Insel sein.
Wir alle wissen seit Langem, dass das passieren wird. Wir hatten dabei immer an Jahrzehnte gedacht … irgendwann wird das einmal passieren.
Heute sehe ich, dass sich dieser Prozess nun in seiner Endphase befindet. Der Sund wird viel früher frei sein, als wir alle dachten. Und wieder einmal ist dies ein Moment, wie es sie in den vergangenen beiden Jahren so oft gegeben hat. Dass ich etwas aufschreibe, von dem ich nicht mehr weiß, ob es noch so sein wird, wenn das Geschriebene gelesen wird. Waren es früher Jahre, in denen sich derlei Dinge verändert haben, sind es heute Monate. Es ist bisher alles so gekommen wie vorhergesagt. Nur schneller. Ich befreie mich aus meinem regungslosen Staunen und krame nun hektisch nach meiner Kamera. Ich fotografiere den Hornsund mit dem Rest Hornbreen darin.
Als ich mich auf den Weg machte, in jenem Sommer 2021, zwei Jahre nach meinem letzten Spitzbergen-Besuch, hatte ich mich gefragt, was mich erwarten würde. Ob sich der Blomstrandbreen nun vollkommen ans Land zurückgezogen, der Monacobreen noch weiter zerteilt hat, ob am Alkhornet neue Löcher im Boden aufgetaucht sind, weil der Permafrost auftaut, und ob die Küste noch weiter weggerissen worden war, südlich des Flughafens. An den Hornbreen und die Frage, wann der Sund ein Sund sein wird, hatte ich nicht gedacht.
Ich schaue aus dem Fenster, bis sich Wolkenfetzen vor die Berge schieben und der Gletscher milchig hinter dem Dunst verschwindet.
Was wartet auf mich?
Was wartet auf uns?
Eines der ersten Gespräche für dieses Buch führe ich mit einem der renommiertesten Klimatologen der Welt: dem Potsdamer Klimafolgenforscher Professor Stefan Rahmstorf. Ihn habe ich über die grundlegenden Veränderungen befragt, in Deutschland und der Welt. Rahmstorf beschäftigt sich schon sein ganzes Leben mit dem sich ändernden Klima und den daraus entstehenden Folgen für das Leben auf der Erde. Das Gespräch gibt einen ersten Überblick über das Problem, mit dem wir es zu tun haben, aber auch über den Umgang der Menschen damit.
© Felix Amsel
Stefan Rahmstorf hat in den Siebzigerjahren in seiner niederländischen Grundschule an einem Projekt über das Ozonloch teilgenommen und danach nicht nur seine Eltern alle FCKW-haltigen Spraydosen aus dem Haushalt entfernen lassen, sondern sich von da an besonders für den Klimawandel interessiert. Seit 2000 lehrt Rahmstorf als Professor im Fach »Physik der Ozeane« an der Universität Potsdam. Er war von 2004–2013 Teil des Wissenschaftlichen Beirats Globale Umweltveränderungen (WBGU) der Bundesregierung und einer der Leitautoren des 4. IPCC-Berichts. Stefan Rahmstorf hat mehr als 130 Fachpublikationen veröffentlicht und ist einer der meistzitierten Wissenschaftler der Welt.
Wie werden wir in Deutschland die Klimaveränderungen zu spüren bekommen?
Auf vielfältige Weise – und wir spüren sie ja bereits. Da sind zum einen Hitzeextreme – jeder Laie sagt natürlich, das ist klar, dass Hitzeextreme zu- und Kälteextreme abnehmen, wenn es allgemein wärmer wird, und so ist es auch. Die Zahl der Hitzerekorde hat sich in den vergangenen zehn Jahren beinahe verdoppelt. Zusätzlich treten inzwischen neue Rekorde in den Monatsmittelwerten weltweit etwa achtmal häufiger auf, als es ohne Erderwärmung der Fall wäre. Die allermeisten Hitzerekorde sind jetzt eine Folge der Klimaerwärmung. Und jeder neue Rekord muss ja alle alten Rekorde übertreffen – das bedeutet, dass diese Hitzerekorde also nicht nur häufiger, sondern auch immer heißer werden. So sieht man, wie jedes weitere Zehntelgrad Erwärmung die Extreme sehr stark nach oben treibt.
Wie haben sich die Niederschläge verändert?
Auch bei den Niederschlagsextremen beobachten wir eine Zunahme. Bei den Hitzerekorden sind auch deshalb die Monatsmittel interessant, weil die Sterblichkeit sehr hoch ist, wenn die Hitzewellen länger anhalten. Bei den Niederschlägen dagegen sind vor allem die Tagesrekorde aussagekräftig, weil es hier eher auf kürzere Zeiträume ankommt, manchmal sogar wenige Stunden, wie bei Gewitterstarkregen, die verheerende Überflutungen auslösen können. Bei den Tagesrekorden an Niederschlägen also gibt es in den vergangenen zehn Jahren eine Zunahme um etwa ein Drittel im Vergleich dazu, was ohne Erderwärmung zu erwarten wäre.
Der neue IPCC-Bericht hat diese Analysen regional aufgeschlüsselt und gerade für Mittel- und Nordeuropa eine Zunahme von Extremregenereignissen konstatiert. Konkret sind das Ereignisse wie die Flutkatastrophe im Ahrtal. Es ist also nicht mehr nur zu erwarten, dass diese Ereignisse zunehmen. Sie haben bereits zugenommen, das ist in den Beobachtungsdaten statistisch signifikant nachgewiesen.
IPCC-Report
Der IPCC-Report oder IPCC-Bericht ist der Klimabericht der Vereinten Nationen. Er wird erstellt von der UN-Institution »Intergovernmental Panel on Climate Change« (IPCC), dem »Zwischenstaatlichen Ausschuss für Klima-Änderungen«, der oft auch als Weltklimarat bezeichnet wird. Im Auftrag dieses Rats tragen Fachleute weltweit regelmäßig den aktuellen Kenntnisstand zum Klimawandel zusammen und bewerten ihn aus wissenschaftlicher Sicht. Ihre Ergebnisse veröffentlichen die Fachleute in regelmäßigen Abständen in den IPCC-Berichten. Gegründet wurde der IPCC 1988 gemeinsam vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen und der Weltorganisation für Meteorologie, weil Forscherinnen und Forscher seit Mitte des 20. Jahrhunderts immer mehr Anzeichen dafür festgestellt hatten, dass sich die Atmosphäre der Erde erwärmt und dass menschliche Aktivitäten die Ursache dafür sein könnten. Der IPCC sitzt in Genf. Im August 2021, während der Recherchereise zu diesem Buch, erschien der sechste IPCC-Bericht.
Warum ist das so?
Der Hauptgrund für diese Zunahme ist mit elementarer Physik zu erklären: Der Sättigungsdampfdruck von Wasserdampf steigt mit der Temperatur exponentiell an. Pro Grad Erwärmung enthält eine gesättigte Luftmasse sieben Prozent mehr Wasserdampf – also diejenigen Luftmassen, aus denen die Niederschläge fallen.
Das heißt: Wenn es ein Grad wärmer würde – und ansonsten in der Wetterdynamik alles gleich bliebe –, würden die entsprechenden Niederschläge einfach sieben Prozent mehr Wasser enthalten.
Als Zusatzeffekt kommt aber noch hinzu, dass sich auch die Dynamik in der Atmosphäre verändert: Bei Gewitterniederschlägen – das sind typischerweise Ereignisse von einer Stunde – ist die Zunahme stärker als diese sieben Prozent. So ein Gewitter ist ja wie ein Schornstein, in dem Warmluft nach oben aufsteigt und durch den nach oben abnehmenden Luftdruck aus dem kondensierenden Wasserdampf Regen entsteht. Und diese Luftschornsteine werden intensiver und ziehen aus einem weiteren Umkreis feuchte Luftmassen an, sodass die Gewitter auch durch ihre Bewegungsdynamik – also durch die aufsteigende Luftmenge – intensiver werden.
Als Grund für die starken Niederschläge wird häufig auch eine Verlangsamung des Jetstreams genannt. Was hat es damit auf sich?
Das ist eine weitere Veränderung in der Atmosphärendynamik: Der Jetstream, der normalerweise in rund zehn Kilometern Höhe die Nordhalbkugel umkreist – wenn wir vom polaren Jetstream der Nordhalbkugel reden –, ist im Sommer in der Tat langsamer geworden.
Der Jetstream
Der Jetstream ist eines jener Phänomene auf unserer Erde, die es so schwer machen, die Tragweite von Veränderungen zu veranschaulichen. Denn wenn der Jetstream tut, was er immer tat, bemerken wir ihn gar nicht – obwohl er eine der stärksten Luftbewegungen formt, die es auf der Welt überhaupt gibt. Wenn der Jetstream aber aufhört, zu tun, was er immer tat – dann hat das sehr gravierende bis verheerende Auswirkungen auf das Wetter, auf die Ernten und auf das Leben auf der Erde.
Was also ist der Jetstream?
Jetstreams sind rohrförmige Windströme, auch Strahlströme genannt, die in der oberen Troposphäre oder unteren Stratosphäre mit Geschwindigkeiten von mehr als 400 Kilometern pro Stunde wehen. Es gibt nicht nur einen Jetstream, sondern mehrere.
Wie entstehen Jetstreams?
Die Sonne scheint nicht gleichmäßig auf die Oberfläche der Erde, die Sonnenenergie nimmt vom Äquator zu den Polen ab. Über dem Äquator ist die Luft warm, sie steigt nach oben. An den Polen ist die Luft kälter, dadurch schwerer und dichter – deshalb staut sich die Luft in Bodennähe. Deswegen bildet sich ein mit der Höhe immer stärker zunehmendes Druckgefälle: Der Druck in fünf Kilometern Höhe ist in den Subtropen höher als in den Polregionen. Infolgedessen entsteht ein Wind vom hohen zum tiefen Druck, also vom Äquator zum Pol.
Warum ist der Jetstream ein Westwind?
Weil sich die Erde dreht, wird der Wind auf seinem Weg nach Norden aufgrund der Corioliskraft nach Osten abgelenkt.
Warum verläuft die Bahn des Jetstreams nicht in einer geraden Linie?
Der Jetstream verläuft über Meer, Land, Gebirge hinweg – Regionen mit unterschiedlicher Geografie, Temperaturen und Druckzuständen. Diese Unterschiede lenken den Jetstream ab, und es entwickelt sich eine Wellenform, die sogenannten Rossby-Wellen.
Was ist der Polarfrontjet?
Das ist derjenige Jetstream, der das Wetter in Mitteleuropa maßgeblich beeinflusst. Die Polarfront verläuft je nach Jahreszeit in unterschiedlichen Breitengraden – im Sommer bei etwa 65 Grad, im Winter bei etwa 45 Grad, also relativ weit im Süden. Am schnellsten ist er im Winter, weil dann die Temperaturunterschiede von den Polregionen zum Äquator größer sind.
Was hat der Polarjet mit unserem Wetter zu tun?
Obwohl der Jetstream in sieben bis zwölf Kilometern Höhe weht, hat er Auswirkungen auf die Druckverhältnisse am Boden. Die Luft vor, in und nach den Mäandern bewegt sich nicht gleichmäßig schnell (ähnlich einem Auto, das um eine enge Kurve fährt). Dadurch wird die Luft an bestimmten Stellen dichter und an anderen dünner. So entstehen dynamische Hoch- und Tiefdruckgebiete entlang des Jetstreams. Diese Hochs und Tiefs wandern mit dem Jetstream von West nach Ost über Europa und bringen das entsprechende Wetter mit sich.
Wenn im Herbst die Sonnenenergie abnimmt, nimmt das Temperaturgefälle zwischen den Polen und den Subtropen zu, und der Jetstream bewegt sich Richtung Süden – sodass schließlich Polarluft in den Süden fließen und auch in mittleren Breiten für kühle Winter sorgen kann.
Das lässt sich darauf zurückführen, dass sich die Arktis stärker erwärmt hat als der Rest des Globus, und zwar in den letzten Jahrzehnten etwa dreimal so stark. Dadurch wird das Temperaturgefälle von den Subtropen in Richtung Pol schwächer.
Auf einer rotierenden Kugel bewegen sich Meeresströmungen und Winde aber immer entlang solcher Dichte- oder Luftmassegrenzen – und wenn der Unterschied schwächer wird, dann wird entsprechend auch der Wind schwächer. Das allein führt schon dazu, dass Wetterlagen tendenziell länger anhalten können, konkret also dazu, dass eine bestimmte Wetterlage mit Starkregen länger auf einer Stelle verharrt. Wenn der Regen tagelang auf dieselbe Gegend fällt, anstatt weiterzuziehen, sammelt sich in dieser Gegend natürlich viel Wasser an, auch so viel, dass es zur Überflutung kommt.
Die Grafik zeigt die Auswirkungen eines starken (links) und schwachen Jetstreams (rechts) auf das Winterwetter der Nordhalbkugel. Links: Durch hohe Temperaturunterschiede zwischen den Tropen und der Arktis ist der Jetstream stark ausgeprägt. Er mäandert nur wenig und die arktische Kaltluft bleibt im Norden. Die Winter in Nordamerika und Europa sind dann durch wechselnde Hoch- und Tiefdruckgebiete gekennzeichnet. Rechts: Erwärmt sich die Arktis, sind die Temperaturunterschiede zwischen Tropen und Arktis geringer. Der Jetstream ist dann schwächer ausgeprägt und verläuft in sehr ausgeprägten Wellen. Die Kaltluft dringt weit nach Süden vor, und die Druckgebiete sind oft über Wochen stationär.
Genau das war beispielsweise bei der Katastrophe im Ahrtal der Fall. Der Regen hat sich nicht weiterbewegt mit dem bekannten Resultat.
In einer Studie für Europa ist nachgewiesen, dass solche lang anhaltenden Niederschlagsereignisse zunehmen, und wir sehen leider immer wieder, dass das tatsächlich so ist. Im Oktober 2021 wurde bei Genua der Europarekord in der Tagessumme der Niederschläge gebrochen. Dort fiel ein absoluter Rekordregen, der zu erheblichen Überschwemmungen führte. (Anm. d. Autorin: Am 4. Oktober 2021 fielen in Rossoglione nördlich von Genua 848 Liter Regen innerhalb von 24 Stunden, 700 davon innerhalb von 12 Stunden. Das entspricht etwa der Regenmenge, die in Deutschland in einem ganzen Jahr fällt.)
Es gibt noch eine weitere klimawandelbedingte Veränderung beim Jetstream: Sowohl im Ozean als auch in der Atmosphäre gibt es Wellenbewegungen, die spezifisch sind für das Geschehen auf einer rotierenden Kugel – das sind die sogenannten Rossby-Wellen, planetare Wellen, die sich normalerweise von Westen nach Osten bewegen und die sich im Jetstream durch Mäander von Norden nach Süden bemerkbar machen. In diese Wellen sind die Hoch- und Tiefdruckgebiete eingebettet. Mein Kollege Vladimir Pethoukov hat nun vor knapp zehn Jahren gezeigt, dass es ein Resonanzphänomen dieser Wellen gibt.
Was heißt das?
Man muss sich das vorstellen wie Meereswellen zwischen zwei Hafenbeckenmauern, die hin- und herschwappen und sich immer weiter aufschaukeln. Genau das passiert mit den Rossby-Wellen, nur eben nicht in einem Hafenbecken, sondern um unseren ganzen Globus herum. Durch eine Art Resonanzverstärkung schaukeln sich die Wellen auf; sie werden dann sehr groß und recht regelmäßig. Sie bleiben auf der gesamten Nordhalbkugel auf der Stelle stehen, bewegen sich nicht mehr von Westen nach Osten voran – und das führt dann zu Wetterextremen um die ganze Nordhemisphäre herum. Das ist zum Beispiel im Sommer 2018 passiert: Gleichzeitig sind Hitze und Feuer in Kalifornien und Starkregen an der Ostküste der USA aufgetreten, und Hitzewellen in Westeuropa, Skandinavien und Japan – das Wetter, das eine Region schlussendlich bekommt, hängt bei diesem Phänomen davon ab, ob sie in einer Nord- oder Südschlaufe dieser Wellenbewegung liegt.
Die Daten sprechen dafür, dass dieses Phänomen immer häufiger wird. Auch hier liegt die Erklärung wahrscheinlich darin, dass sich im Zuge der globalen Erwärmung der Temperaturkontrast zwischen der Arktis und den mittleren Breiten abgeschwächt und zwischen Land- und Ozeangebieten verstärkt hat.
Kann man diese Entwicklung noch umdrehen?
Wir können die globale Erwärmung nicht rückgängig machen. Wir können sie nur aufhalten und verhindern, dass es schlimmer wird. Um das, was bereits passiert ist, rückgängig zu machen, müssten wir das gesamte CO2 wieder aus der Atmosphäre entnehmen, das wir seit Beginn der Industrialisierung ausgestoßen haben. Das CO2 sammelt sich ja in der Atmosphäre an und verweilt zu einem erheblichen Teil Zehntausende von Jahren darin.
Theoretisch ist es denkbar, dass man der Atmosphäre mit technischen Methoden CO2 wieder entzieht. Aber wir emittieren jedes Jahr weltweit 40 Milliarden Tonnen CO2. Man muss sich einmal bildlich vorstellen, wie riesig eine Tonne Gas ist! Das sind unvorstellbar große Mengen, die wir in die Atmosphäre pumpen – und vielleicht deshalb auch so schwer zu begreifen.
Auch wenn man theoretisch wieder etwas extrahieren kann, wird das niemals in den gigantischen Mengen der Fall sein, die wir jetzt schon in die Atmosphäre gepustet haben.
Und selbst wenn wir alles CO2 wieder entnehmen könnten, gebe es dennoch auch jetzt schon bereits ausgelöste unumkehrbare Effekte. Nehmen wir die Veränderungen der Eisschilde: In der Vergangenheit ist bei den natürlichen Klimaveränderungen das Eis am Ende einer Eiszeit innerhalb von 10 000 Jahren verschwunden. Aber es brauchte dann etwa 100 000 Jahre, um das Eis wieder aufzubauen. Warum ist das so? Das Eis verschwindet, indem es abschmilzt und ins Meer abrutscht, der Aufbau dagegen geschieht durch Schneefälle. Das sind zwei völlig unterschiedliche physikalische Prozesse, die auch nur unterschiedlich schnell ablaufen können. Folglich wird man das, was wir jetzt schon im Klimasystem verursacht haben, in den nächsten 100 000 Jahren nicht wieder rückgängig machen können.
Das ist einer der wichtigsten Aspekte des Klimawandels, den wir verursachen: Er ist unumkehrbar, auf Zehntausende Jahre in die Zukunft. Deswegen können wir es auch nicht zu weit treiben und dann sagen: Oh, jetzt ist uns aber hier zu ungemütlich geworden, jetzt aber zurück – das geht dann nicht mehr. Wir können hier nur mit dem Vorsorgeprinzip arbeiten, um Schlimmeres zu verhindern.
Was kommt nun auf uns zu?
Wir werden eine weitere Zunahme von Extremereignissen erleben. Extremniederschläge und Tropenstürme werden noch weiter zunehmen, verbunden mit entsprechenden Überflutungen und Verwüstungen. Und Tropenstürme werden häufiger auch Europas Küsten erreichen. Bisher haben solche Stürme sehr selten auch die Küste Portugals getroffen, aber künftig wird das Wasser auch nördlicher warm genug, um Tropenstürme zu unterstützen.
Im Ahrtal sind 170 Menschen gestorben, aber die wirklichen Killer sind Hitzewellen. Der sogenannte Jahrhundertsommer 2003 hat europaweit 70 000 Hitzetote gefordert. In Paris mussten am Stadtrand gekühlte Zelte für die vielen Särge aufgestellt werden, weil die Leichenhäuser überfüllt waren. Daran erinnert sich kaum noch jemand. Das ist aber das, was die Sterblichkeit wirklich hochtreibt – die Hitze.
Auch Dürren werden zunehmen. Ein Alptraumszenario ist, dass es gerade aufgrund der beschriebenen Jetstream-Resonanz-Phänomene gleichzeitig zu verheerenden Dürren in den verschiedenen Kornkammern Nordamerikas, Europas und Asiens kommt und eine weltweite Hungerkrise entsteht.
Das sind Dinge, die zu befürchten sind. Ganz abgesehen davon, dass es durch solche Wetterextreme auch zu politischer Instabilität und sehr großen Flüchtlingsbewegungen kommen dürfte. Einen Vorgeschmack haben wir in Syrien gesehen – Syrien ist in den Bürgerkrieg abgerutscht nach der schlimmsten Dürre der syrischen Geschichte. Die Ernten fielen aus, und anderthalb Millionen Menschen wurden zu Binnenflüchtlingen im Land, weil die Bauern ihre Dörfer verlassen mussten.
Solche politischen Instabilitäten werden uns in Zukunft noch sehr zu schaffen machen, wenn wir die globale Erwärmung nicht zügig stoppen.
Wie können wir diese Szenarien vermeiden und den Klimawandel aufhalten?
Das Zauberwort heißt Klimaneutralität. Wir müssen unser Energiesystem, aber auch unsere Landwirtschaft so umgestalten, dass wir den Klimawandel nicht weiter anheizen. Wir müssen klimaneutral werden, nur dann wird die Erwärmung nicht weitergehen. Das kann man auch im neuen IPCC-Bericht nachlesen. Wir können die globale Temperatur stabilisieren, ab dem Punkt, wo wir die Nullemission an Treibhausgasen erreicht haben – also genau das tun, was das Pariser Abkommen einhellig beschlossen hat, von allen Staaten weltweit.
Das Entscheidende ist, diesen Beschluss auch umzusetzen.
Hier muss jeder in seinem eigenen Land Druck ausüben auf die Regierung, sich an die Vorgaben und Ziele des Pariser Abkommens zu halten. Die jungen Menschen der Fridays for Future-Bewegung fordern ja zu Recht genau das und werden deshalb auch breit unterstützt von der Wissenschaft: Haltet das Pariser Abkommen ein! Deutschland muss seinen fairen Beitrag zu den Emissionsminderungen leisten, denn leider sind wir ja keineswegs Vorreiter, sondern ins Hintertreffen geraten, was die Emissionsminderung angeht.
Das Pariser Klimaschutzabkommen von 2015
197 Staaten haben sich im Dezember 2015 bei der UN-Klimakonferenz in Paris auf ein globales Klimaschutzabkommen geeinigt, das am 4. November 2016 in Kraft trat. Es verfolgt drei Ziele:
Die Staaten setzen sich das globale Ziel, die Erderwärmung im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter auf »deutlich unter« zwei Grad Celsius zu begrenzen, dabei aber Anstrengungen zu unternehmen für eine Beschränkung auf 1,5 Grad Celsius.
Als gleichberechtigtes Ziel neben der Minderung der Treibhausgasemissionen wird etabliert, dass die Fähigkeit zur Anpassung an den Klimawandel gestärkt werden soll.