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Eine Reise zum entlegensten Ort der Welt. Eine Reise in eine vergessene Welt.
Grönland. Die größte Insel der Welt. Unweit des Nordpols, umgeben von den mächtigsten Eisbergen der Nordhalbkugel. Heimat der Inuit. Als Birgit Lutz, Autorin und Abenteurerin, 2013 im Rahmen einer Expedition erstmals in den Osten der Insel kommt, ist sie fasziniert. Sie kehrt mehrmals nach Ostgrönland zurück, das erst vor etwa 130 Jahren von den Europäern entdeckt wurde. Lutz trifft Menschen, die noch in Erdhäusern aufgewachsen sind. Jugendliche, denen beim rasanten Anschluss an den modernen Lebensstil die Identität abhandengekommen ist. Und Europäer, die sich hier ein entschleunigtes Leben erhofften. Sie findet Menschen, die zwischen zwei Welten leben, und wird selbst immer wieder auf die Probe gestellt – etwa, als sie mit zur Robbenjagd geht und das Jägerleben aus der Perspektive jener erlebt, die es seit Jahrhunderten führen. Birgit Lutz gelingt ein fesselndes, einfühlsames Porträt Ostgrönlands in einer einmaligen Zeit – dem Moment, in dem eine Kultur für immer verschwindet.
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Seitenzahl: 428
Zum Buch
Grönland. Die größte Insel der Welt. Unweit des Nordpols, umgeben von den mächtigsten Eisbergen der Nordhalbkugel. Heimat der Inuit. Als Birgit Lutz, Autorin und Abenteurerin, 2013 im Rahmen einer Expedition erstmals in den Osten der Insel kommt, ist sie fasziniert. Sie kehrt mehrmals nach Ostgrönland zurück, das erst vor etwa 130 Jahren von den Europäern entdeckt wurde. Lutz trifft Menschen, die noch in Erdhäusern aufgewachsen sind. Jugendliche, denen beim rasanten Anschluss an den modernen Lebensstil die Identität abhandengekommen ist. Und Europäer, die sich hier ein entschleunigtes Leben erhofften. Sie findet Menschen, die zwischen zwei Welten leben, und wird selbst immer wieder auf die Probe gestellt – etwa, als sie mit zur Robbenjagd geht und das Jägerleben aus der Perspektive jener erlebt, die es seit Jahrhunderten führen. Birgit Lutz gelingt ein fesselndes, einfühlsames Porträt Ostgrönlands in einer einmaligen Zeit – dem Moment, in dem eine Kultur für immer verschwindet.
Zur Autorin
BIRGIT LUTZ, Jahrgang 1974, ist zweimal auf Skiern von der russischen Eisstation Barneo zum Nordpol marschiert und hat Grönland durchquert. Seit einer ersten Reise zum Nordpol im August 2007 ist sie mit dem arktischen Virus infiziert. In der Folge spezialisierte sich die Journalistin auf den hohen Norden. Sie arbeitet als Guide und Expeditionsleiterin an Bord von Expeditionsschiffen, hält dort Vorträge über das empfindliche Ökosystem und ist auch an Land eine gefragte Vortragsrednerin. Ihre u.a. in der Süddeutschen Zeitung erschienenen Reportagen wurden mehrfach ausgezeichnet. Für ihr neues Buch verbrachte sie insgesamt drei Monate in Ostgrönland. Birgit Lutz lebt am Schliersee.
Birgit Lutz
Heutegehen wirWale fangen
Wie mich die Grönländer mit in ihre alte Welt nahmen
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Copyright © 2017 btb Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: semper smile, München Umschlagmotiv: © Birgit Lutz; Maarten van der Dujin Schouten; Mario Capato
Vor- und Nachsatzkarte: Peter Palm
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-10217-3 V002 www.btb-verlag.de
Inhalt
Ende und Anfang in Isortoq
Erster Aufenthalt
Der Geburtstag
Pia Anning Nielsen»Grönland verwirrt viele Europäer, weil man hier frei ist.«
Ikateq
Harald Bianco»In Ikateq gab es keine Traurigkeit.«
Die Fische
Iddimanngiiu Bianco»Es war leicht für die Dänen, Grönland zu erobern. Niemand hat sich gewehrt. Und das ist immer noch so.«
Erik Lauridsen»Das Leben hier ist reich.«
Isortoq
Caroline Mikaelsen»Das Leben in Isortoq war das Allerbeste!«
Das Ende der Jagd
Der Trommeltanz
James Ignatiussen»Trommeltanz und Kirchenlieder sind eins, solange beides aus dem Herzen kommt.«
Das Kreuzfahrtschiff
Gerda Vilholm»In Dänemark hatte ich oft das Gefühl, ich sei nutzlos. Es ist besser, hier zu sein.«
Zweiter Aufenthalt
Majken Anning Andreassen»Sterben ist hier nicht das Schlimmste, was passieren kann.«
Die Schlittenfahrt
Massanti Riel»Ich schnitze mir sicher keinen Tupilak.«
Pia Anning Nielsen»Früher dachte ich, ich müsste wählen, ob ich grönländisch bin oder dänisch.«
Das Schlittenhunderennen
Die Schule
Vanilla Riis-Mathiassen»In Grönland gibt es sehr viel Hoffnung.«
Justus Hansen»Die Grönländer müssen Verantwortung übernehmen.«
Dritter Aufenthalt
Sermiligaaq
Bei Edvardine
Der Jäger Emanuel
Die Hochzeit
Die Robbenjagd
Der Wal
Jochen, der Lehrer»Wir bleiben in Sermiligaaq, bis wir sterben.«
Isortoq
Rasmus, der Jäger»Das Jägerleben war ein wundervolles Leben.«
Gertrud Poulsen Pötzsch»Ich hoffe, dass Isortoq wieder ein großes Dorf wird.«
Das Nordlicht
Das Eisbärfell
Der Jäger Salo»Wenn man auf dem Eis unterwegs ist, ist das Wichtigste, dass man hilfsbereit ist und freundlich.«
Zum Inlandeis
Anhang
Personenverzeichnis
Fotonachweis
Quellen und weitere Informationen
Dank
Karten
Wir hören einen Schuss. Als wir die Felsen erreichen und über die Bucht blicken können, sehen wir acht Boote im Wasser. Sie fahren langsam in eine Richtung. Auf einigen steht ein Jäger vorne am Bug, eine Harpune in der Hand, bereit zum Wurf. Weil wir gegen die Sonne schauen, sehen wir die Boote und Männer als schwarze Silhouetten vor dem blauen Meer und Himmel. Sie erinnern mich an Höhlenmalereien, auf denen ein Krieger einen Speer hält.
Wir haben sehr lang abgeschnitten von allen anderen gelebt.Wir mussten mit niemandem kämpfen.Wir sind ein stilles Volk. Wir sind schüchtern. Wir sind einfach nur glückliche Menschen, die nichts sagen.
Iddimanngiiu Bianco, Tasiilaq
Für Grönland
Ende und Anfang in Isortoq
Langsam mache ich die ersten Schritte auf den Holzplanken des Stegs von Isortoq. Das fühlt sich hart, sehr hart unter meinen Füßen an, die in den vergangenen 28 Tagen nichts als Schnee unter sich gespürt haben. Das Holz ist nass und rutschig. Ich schaue den Hügel hinauf, sehe verwitterte Holzhäuser in fleckigem Schnee.
Wir sind da.
Wir sind am Ziel, wir haben es geschafft, nach 28 Tagen und 560 Kilometern auf dem Inlandeis. Wir haben die größte Insel der Welt durchquert, von Kangerlussuaq im Westen nach Isortoq im Osten. Wir hieven unsere Schlitten und Skier aus dem kleinen Boot, in dem uns Salo, der Jäger, von der Eiskante abgeholt hat. Weil das Eis im Fjord schon aufgebrochen ist, konnten wir die allerletzten Kilometer nicht mehr nach Isortoq laufen, das auf einer Insel liegt. Salo hatte in seinem Boot auf uns gewartet, uns mit einem Lächeln empfangen und ins Dorf gefahren.
Dicker, feuchter Nebel liegt auf der flachen Felseninsel; das muss wohl so sein, heißt der Ort doch so viel wie »im nebligen Meer«. Es regnet dünne Tropfen aus einem niedrigen Himmel, der so grau ist wie der Schnee und die Häuser. Einige Hütten, die eine verlassene Traurigkeit verströmen, sind noch immer bewohnt. Hier gibt es kein rotblaugelbes Grönlandbunt. Ich bin glücklich und traurig zugleich, und in dieses Wirrwarr mischt sich noch ein ganz anderes Gefühl, das dieser Ort in mir verursacht. Dieser Ort, an dem wir gerade ankommen, liegt für uns am Ende des Eises und am Anfang der Welt, die die unsere ist und in die wir von hier aus wieder zurückkehren. Für die Menschen, die hier wohnen, liegt er am Anfang des Eises und am Ende der Welt.
Ich weiß nichts über Isortoq und wenig über Ostgrönland an diesem Junitag 2013, und ich werde nicht mehr erfahren, in den 24 Stunden, die ich in Isortoq habe. Ich werde meinen Schlitten umpacken, für den Schiffsversand vorbereiten, mich zum ersten Mal seit einem Monat wieder duschen. Am nächsten Morgen werden wir Richtung Hubschrauberlandeplatz laufen und davonfliegen, in den Regen hinein, der keine Pause und immer mehr Löcher in den Schnee macht.
Aus dem Hubschrauberfenster werde ich hinunterschauen auf dieses Häuflein Häuser auf dieser klitzekleinen Insel vor diesem riesengroßen Eis und mich fragen, warum sich jemals, jemals Menschen hier niedergelassen haben, warum sie noch immer hier sind, wer sie sind und wie sie es schaffen, hier zu leben. Und dann ist da auf einmal das Gefühl, als sei ich an Grönland vorbeigelaufen. Ich weiß jetzt, dass es sehr viel Eis gibt auf dieser Insel. Mehr weiß ich nicht. Und damit sitzt er fest, der Stachel. Etwas ist unerledigt.
Drei Jahre denke ich immer wieder an Isortoq, und wie es unter uns immer kleiner wird. Das Bild dieses Dorfs verschwindet einfach nicht aus meinem Kopf. Bis ich schließlich zurückkehre in dieses Land voller Wunder und Wunden. Der Osten Grönlands ist anders als der Westen. Kamen Abenteurer, Polsucher, Walfänger und Siedler schon früh nach Westgrönland, dauerte die Entdeckung von Tunu, der Rückseite des Landes, viel länger. Erst 1884 erreichten die ersten dänischen Siedler die Ammassalikregion, vor 133 Jahren. Auch, weil Ostgrönland gut geschützt war durch das Eis, das sich lange Monate an seinen Küsten hält. Das merkt man heute noch. Es gibt noch immer keine direkten Flüge nach Ostgrönland. An dieser etwa 2500 Kilometer langen Küste leben überhaupt nur 2500 Einwohner, die eine eigene Sprache sprechen. Man kann dort Menschen treffen, die keine sechzig Jahre alt und noch in Erdhäusern aufgewachsen sind, in Behausungen aus Torf und Steinen also, in denen viele Menschen nackt und auf engem Raum lebten. In der Steinzeit, wenn man es dramatisch ausdrücken will. Ostgrönland ist nicht weit weg und doch sehr fern.
Was mir auf meinen Reisen in Ostgrönland dann alles widerfährt, darauf bin ich nicht vorbereitet. Ich komme mit vielen Fragen dort an und fahre mit noch viel mehr wieder weg. Fragen, die auch mein Leben betreffen. Das Leben in Europa. Ich bin seit 2007 in der Arktis unterwegs, arbeite als Expeditionsleiterin auf Segelschiffen, erzähle dort über Eisbären, Robben, Walrosse, über Eis und unser modernes Plastikproblem, das auch im Norden angekommen ist. Ich habe eine Meinung entwickelt zu Robbenjagd und Walfang. Grönland stellt mich auf die Probe, was diese und andere Haltungen angeht, immer wieder. Grönland stellt sich mir in den Weg und zeigt mir, dass mein Bild nicht vollständig war, dass ich etwas Wichtiges übersehen habe. Ich lerne, wie sehr sich das Leben der Menschen in Ostgrönland in den vergangenen fünfzig Jahren verändert hat und welchen zusätzlichen Schlag es dieser Gesellschaft versetzt hat, als sie nach den Kampagnen europäischer und amerikanischer Tierschützer in den 1970er und 1980er Jahren gegen die Robbenjagd die wichtigste Säule ihrer Existenz verloren hatten. Ich erfahre, wie bizarr der Streit um die Robbenjagd entartet ist und mit welchem Hass auf die Menschen manche Tierschützer diesen Kampf noch immer weiterführen. Weil ich mir mein eigenes Bild machen will, gehe ich erst mit fischen, dann mit zur Robbenjagd, ich sehe beim Walfang zu und wie ein Eisbärfell verarbeitet wird. Grönland forderte mich heraus, und ich nahm an.
Die Grönländer, die in ein modernes Leben geschleudert wurden, finden sich heute in einer komplexen Situation wieder, und für viele ist die Antwort darauf, dieses moderne Leben gar nicht erst zu versuchen, sondern das »alte« Leben – so nennen die Grönländer das Jägerleben – weiterzuführen. Dieses Leben machte mich neugierig. Kann man noch einfach leben und wie geht das? Und nach einer Weile begreife ich: Einfach leben war noch nie so schwierig wie heute, wo doch alles scheinbar so einfach geworden ist.
Dreimal reise ich in die Ammassalikregion, im September 2015, März und September 2016, jeweils etwa einen Monat lang. Und beschließe, diejenigen auch selbst zu Wort kommen zu lassen, um deren Leben es geht: die Menschen Ostgrönlands. So verschieden diese Menschen sind, so spannend sind ihre Geschichten – denn »den Grönländer«, stelle ich fest, gibt es nicht. Da gibt es Grönländer, die schon immer in Grönland leben, Menschen mit dänischen und grönländischen Eltern oder Großeltern, oder Dänen, die in Grönland geboren oder nach Grönland gezogen sind und Grönländer, die anderswo aufgewachsen und zurückgekommen sind. Das Weggehen und Wiederkommen, die ständige Bewegung der Menschen gehört noch immer zum Inseldasein Grönlands, lerne ich – heute nur auf eine andere Art als früher. Die Menschen, die ich treffe, erzählen mir von ihrem »alten Leben«, von der Zeit, in der sie in kleinen Siedlungen, in Erdhäusern und von der Jagd lebten, in einer großen Freiheit. Sie erzählen mir, wie sie im neuen Leben kein Geld mehr verdienen können mit der Jagd, seit die Tierschützer kamen. Sie erzählen mir, wie schwierig es ist, wenn man eine Sprache spricht, die nur 2500 Menschen sprechen und kaum jemand in der dänischen Gemeindeverwaltung. Ich erfahre, wie viele junge Menschen sich jedes Jahr in Grönland das Leben nehmen, weil sie nicht mehr wissen, wo ihr Platz im Leben ist, wer sie sind. Ich sehe Menschen lachen und beobachte, dass man ganz anders miteinander sprechen kann als wir das tun.
Ich treffe auch viele Menschen, die bewusst aus Dänemark und Europa fortgegangen sind, die dem komplexen modernen Leben den Rücken gekehrt haben und ein wenn nicht einfacheres, so doch ein sehr anderes Leben leben wollen. Weil Europa ihnen das, was sie brauchten, offensichtlich nicht mehr geben konnte.
Eines, stelle ich im Lauf der Gespräche fest, haben sie alle gemeinsam: Sie alle leben auf eine bestimmte Weise zwischen Welten, zwischen dem alten Jäger- und dem neuen modernen Leben, zwischen Europa und Grönland, zwischen West- und Ostgrönland, zwischen Stadt und Natur, zwischen dem Leben in den Jagdgründen und in einem Haus mit Internetanschluss.
Dieses Dasein zwischen den Welten macht die Erzählungen dieser Menschen so spannend und das Buch am Ende nicht nur zu einem Buch über Ostgrönland, sondern über Menschen, die nach einer Identität suchen in einer Welt, die sich schnell verändert und sehr komplex geworden ist.
Den Menschen, die mir ihre Geschichten anvertraut haben, und denen, die mir geholfen haben, diese Menschen zu finden und zu verstehen, bin ich sehr dankbar. Ohne sie würde es dieses Buch nicht geben.
Isortoq, September 2016
Erster Aufenthalt
Annähern an Ammassalik, September 2015
Kulusuk. Der Hubschrauberpilot macht ein paar hastige Schritte auf mich zu, schnell, sagt er, das Wetter wird schlechter. Der Nebel drückt nach unten. Wenn er noch ein bisschen weiter absinkt, müssen wir am Boden bleiben. Aber der Nebel wartet noch, er lässt den roten Helikopter abheben, über die Insel Kulusuk aufsteigen, hinüberrütteln nach Tasiilaq. Schwarzblaues Fjordwasser, um das sich gelbbraune Felsenküsten wie Finger schließen, die in das weite Meer hineinragen, leuchtend weiße Eisberge, die auf ihrem Weg nach Süden auf Grund gelaufen sind und an denen sich schäumend die Wellen des Nordatlantiks brechen. In weiter Ferne, hinten am Horizont, ein blendender Schein. Das Inlandeis. Man kann dieses Bild nicht festhalten, man kann es nicht fotografieren, weil die Ränder hier so wichtig sind, die Ränder, die auf einer Fotografie immer fehlen, es ist das Ganze, das ganz große, große Ganze, das die Schönheit ausmacht, die sich hier vor mir aufbaut. Es gibt viele Bilder von Grönland, und doch hat niemand Grönland gesehen, der nicht hier gewesen ist.
In Tasiilaq springe ich aus dem Hubschrauber, der Pilot reicht mir meinen Rucksack. Im Heliportgebäude wartet Robert Peroni auf mich und Wesley, ein Amerikaner, der zu einem Filmteam gehört. Robert Peroni betreibt ein Guesthouse in Tasiilaq, das Rote Haus. In seinem weißen Jeep fahren wir eine ungeteerte Piste zum Haus hinauf. Es ist später Vormittag, über Tasiilaq steht eine helle Sonne, die die Farben der roten, grünen und blauen Häuser strahlen lässt und ebenso die bunten Blumenhänge, über die der Ort verstreut ist. Tasiilaq sieht farbenprächtig gut gelaunt aus. Im Roten Haus spricht Robert mit einer jungen Frau, Caroline. Sie scheint nicht begeistert, als sie mich sieht. Ich werde in einem der Nebenhäuser wohnen, aber das Zimmer ist noch nicht fertig.
Wegen der schlechten Wettervorhersage packe ich meine Kamera aus und gehe hinaus in diesen bunten Ort. Es ist Samstag, und ich weiß noch nicht, dass das bedeutet, dass gestern ein Freitag war, an dem Löhne und Sozialhilfe ausbezahlt wurden. Und was das heißt, für das Leben im Dorf. Dass dann einige so lange trinken, bis kein Geld mehr da ist – das ganze Wochenende über, dann kehrt wieder Ruhe ein. Aus einem gelben Haus tönt laute Technomusik, in dem schmuddeligen Gras um das Haus liegt eine Unmenge Bierdosen. Als ich auf Höhe des Hauses bin, fliegt aus einem der geöffneten Fenster eine weitere Dose heraus und landet scheppernd auf den anderen.
Das passt überhaupt nicht zu dem Grönland-Bilderbuchbild, auf das ich blicke. Der Himmel ist blau, die Luft kalt und klar, im Fjord glitzert das Wasser, und auf der anderen Seite drücken sich mächtige Gletscher die steil aufragenden Berge hinunter.
Aus einer staubigen Seitenstraße kommt ein Paar getorkelt, sie schreit immer wieder laut auf ihn ein, sie kreischt, sie wankt, sie ist so betrunken, dass sie sich kaum auf den Beinen halten kann. Sie schlingern an mir vorbei, ohne mich wahrzunehmen. Er antwortet ihr mit widerwilligen Lauten; dann pinkelt er gegen das Haus, aus dem die Bierdosen fliegen.
Zwei Hunde laufen auf mich zu, freundlich schwanzwedelnd. Sie setzen sich vor mich und kratzen sich ausgiebig hinter den Ohren. Dann jagen sie davon, einander immer wieder beißend.
Ich komme zu einer geteerten Straße, die in das Tal hinunter über einen Fluss führt und auf der anderen Seite wieder bergauf. Auf der Brücke steht ein rosafarbenes Kinder-Tretauto in der Mitte der Straße.
Im Fluss liegen drei Fahrräder und zwei Kinderwagen. Daneben angeln ein paar Jungs, die bis zu den Knien im kalten Wasser stehen, was sie nicht zu stören scheint.
Der kleine Supermarkt, stelle ich fest, ist gar nicht so klein. Es gibt eine Theke mit Brot, mehrere Gefrierschränke mit Fleisch und Fisch, Haushaltswaren, Saft. Ein bisschen Käse und ein bisschen Gemüse. Am reichhaltigsten ist das Angebot an Chips. Ich laufe noch ein Stück weiter die Küste entlang und bin überrascht, nach der Kargheit in Spitzbergen hier so viele blühende Blumen zu sehen, die einen sanften Kontrast zu der wilden Landschaft bilden.
Als ich zurückgehe, hat jemand das rosa Baby-Tretauto zur Seite geschoben. Ein junger Mann steckt seinen Kopf aus einem der Fenster des Hauses mit der Technomusik und übergibt sich.
Als ich zurück ins Guesthouse komme, ist dort gerade ein Notruf eingegangen, von einem Kajakfahrer, einem deutschen Touristen. Wegen der höher werdenden Wellen schafft er es nicht, zurück nach Tasiilaq zu kommen.
Tasiilaq / Ammassalik
Tasiilaq (grönländisch: wie ein ruhiger See) ist mit 2018 Einwohnern der größte Ort Ostgrönlands. Um ihn herum gruppieren sich fünf wesentlich kleinere Siedlungen: Isortoq, Tiniteqilaaq, Kuummiut, Sermiligaaq und Kulusuk. Während Tasiilaq heute fast einen urbanen und modernen Eindruck macht, ist das Leben in den Dörfern ursprünglicher, geprägt von der Jagd und an den Gegebenheiten der Natur orientiert. Früher hieß die Gemeinde Ammassalik oder Angmagssalik, wegen eines Fischs: der hier in großer Zahl vorkommenden Lodde, die auf grönländisch Ammassak heißt. Etwa 800 Kilometer weiter nördlich befindet sich die einzige andere Siedlung an der ostgrönländischen Küste, Ittoqqortoormiit, mit 381 Einwohnern. Erreichbar sind die Orte über einen Flughafen in Kulusuk und ein Flugfeld nahe Ittoqqortoormiit; die Siedlungen haben Hubschrauberlandeplätze. Tasiilaq liegt knapp unter dem Polarkreis, es gibt hier also weder Mitternachtssonne noch Polarnacht. Tag und Nacht variieren mit 23 Stunden Tageslicht im Juni und guten drei Stunden im Dezember allerdings beträchtlich. Der wärmste Monat ist mit durchschnittlich 7°C der Juli, der kälteste mit -7,7°C der März. Im Sommer kann es durchaus warm genug für kurze Hosen werden, während im Winter die Bedingungen sehr ungemütlich sein können. Wie an anderen Orten der Arktis auch, stiegen die Temperaturen in den letzten Jahren stark an.
Wenn ich will, kann ich mitfahren, den Kajakfahrer holen. So lerne ich Viggo kennen, einen der grönländischen Bootsfahrer, der schon in einem orangefarbenen Motorboot im Hafen wartet. Er reicht mir ohne Worte einen Thermoanzug und dicke Handschuhe. Mit dem schweigenden Viggo tuckere ich aus dem Hafen hinaus, und als wir den Fjord verlassen, schlagen uns Wellen entgegen, die zwischen anderthalb und zwei Meter hoch sind. Das ist hoch für so ein kleines Boot. Richtige kleine Berge. Viggo kämpft nicht gegen die Wellen, er fährt mit ihnen, vielleicht ist das die beste Beschreibung, ähnlich wie mit einem Segelboot. So schaukeln wir fast anderthalb Stunden Richtung Norden, in der langsam untergehenden Sonne, an großen Eisbergen vorbei. Es ist eine wunderschöne Fahrt. Ab und zu schaut Viggo mich an.
All good?, fragt er.
All fine, sage ich.
Wir finden den Kajakfahrer in einem kleinen Fjord, in dem das Wasser völlig glatt ist. Eine Erholung nach unserem Tanz über die Wellen. Wir laden seine Ausrüstung in das Boot. Als der Kajakfahrer eine letzte Tasche holt, dreht sich Viggo zu mir.
Mange takk, sagt er mit ernster Miene.
Vielen Dank, dass Du mit mir gefahren bist. Es ist gut, dass ich nicht alleine war.
Dann fährt er uns zurück nach Tasiilaq, in mittlerweile völliger Dunkelheit und durch schwarzes Wasser. Der Kajakfahrer steigt im Fjord aus, wo er sein Zelt aufstellen wird. Morgen will er kommen und für seine Rettung bezahlen. Viggo lässt mich im Hafen aussteigen und antwortet kaum auf meinen Abschiedsgruß, nachdem ich Thermoanzug und Handschuhe zurück ins Boot gelegt habe. Er fährt davon, wohin, habe ich nicht verstanden. Einen Moment stehe ich an der Hafenpier, allein im Dunkeln. Ich schaue hinauf auf den Hügel, wo irgendwo das Häuschen stehen muss, in dem ich wohne. Als das Motorgeräusch von Viggos Boot verklungen ist, ist es still. Für einen Mitteleuropäer sehr still, wenn man doch eigentlich mitten in einem Ort steht. Ich höre nur die Boote, die an der Pier schaukeln und um die das Wasser herumgluckst. Ich schaue auf die Lichter des Orts und atme die klare Luft ein und frage mich, was hier wohl alles auf mich warten wird.
Dann drehe ich mich um, gehe den Steg entlang und aufs Hafengelände, die steile Straße hinauf ins Dorf und langsam weiter zu dem Häuschen. Als ich an dem gelben Haus vorbeikomme, dröhnt noch immer Technomusik aus den offenen Fenstern in die dunkle Nacht.
Das war mein erster Tag in Tasiilaq.
Die nächsten beiden Tage regnet es in Strömen. Ich stehe im Guesthouse am Fenster und sehe zu, wie sich die Straßen in Schlammpisten verwandeln. In den tiefen Schlaglöchern steht das gelbbraune Wasser, platschen die Regentropfen. Der Sommer ist vorbei; er hat auch die Gäste mit fortgenommen, nur ein paar Alleinreisende sind noch hier und das Filmteam, drei Slowenen und der Amerikaner. Mit ihnen sitze ich auf der Eckbank, sie sichten ihr gefilmtes Material, ich lese. Die Slowenen Slavisa, Miha und Rozle arbeiten an einem beeindruckenden Film, einer Dokumentation über die letzten Eisjäger, die letzte Generation von Grönländern, die noch von der Jagd lebt. Sie zeigen mir etwas von ihrem Material, ich erzähle ihnen, dass ich ein Buch schreiben will. Und so tauschen wir bald Gedanken und Ideen aus. Slavisa, der Producer, erzählt mir nach einer Weile, wie persönlich dieser Film für sein Team ist: Sie alle kennen sich schon seit Jahren, aber derjenige, der die Idee zu dem Ganzen hatte, ihr Freund Jure Breceljnik, starb just in der Nacht, als alle Vorbereitungen abgeschlossen waren und am nächsten Morgen die Flüge gebucht werden sollten. Einfach so, im Schlaf, gerade mal 40 Jahre alt. Wir müssen den Film nun ohne ihn machen, sagt Slavisa, und er muss wirklich gut werden, das schulden wir Jure.
Als der Regen eine Pause macht, beschließe ich, einkaufen zu gehen, in den großen Supermarkt, den es am anderen Ende von Tasiilaq gibt. Ich gehe durch den Ort, erst den Berg hinunter, dann auf der anderen Seite wieder hinauf, vorbei an dem kleinen Laden, der Gemeindeverwaltung und dem Krankenhaus, bis ich hinter der Schule eine längliche Halle entdecke. Die muss es sein. Vor dem großen, zweistöckigen Gebäude stehen einige Menschen, die meisten rauchen, andere haben Plastiktüten in der Hand. Einige wanken. Gegenüber dem Supermarkt stehen ärmliche Behausungen. Davor sitzen ein paar Menschen auf einigen Stufen. Sie tragen schmutzige Kleidung, ihre Haare sind verfilzt. Eine Frau lächelt mich an, und ich sehe, dass sie kaum noch Zähne hat, aber alt ist sie nicht. Ich lächle zurück. Die Männer und Frauen, die neben ihr sitzen, schauen mich an, ausdruckslos bis abweisend. Als ich grüßend nicke, hebt einer von ihnen eine Hand.
Neben dem Supermarkteingang stehen einige Männer nebeneinander. Sie haben Fleisch vor sich auf Plastikplanen liegen, es muss Robbenfleisch sein. Sie bieten Dinge an, die ich nicht kenne. Die Tür des Supermarkts schwingt auf und heraus kommt ein betrunkenes Paar mit Bierdosen in den Händen. Sie halten sich aneinander fest, lallen sich kichernd Wörter ins Ohr. Sie gehen ein, zwei Schritte, dann lachen sie und wanken zur Seite, suchen dann wieder nach ihrer Richtung, die es gar nicht wirklich zu geben scheint.
Mir fällt auf, dass ich die einzige Nicht-Grönländerin auf dem ganzen Platz bin und fühle mich mit einem Mal sehr fremd. Es wird mir überdeutlich, dass ich die Gesetzmäßigkeiten, nach denen das Leben hier abläuft, nicht kenne. Ebenso deutlich wird mir bewusst, dass die Menschen mich nicht als eine Person sehen, sondern als eine weiße Person. Ich fühle mich seltsam deplatziert.
Ostgrönland
Im Spätsommer begann es zu wachsen, dicker und dicker, füllte die Fjorde aus und legte sich um die Inseln – das Packeis. Das Eis war der Grund, warum es den Europäern lange Zeit völlig entging, dass auf der Ostseite der größten Insel der Welt tatsächlich auch Menschen wohnten. Die Menschen hatten es bei den harschen Bedingungen dort nicht leicht; die Siedlungen wurden immer wieder verlassen oder ihre Bewohner starben aus – zum ersten Mal vor 4500 Jahren, dann etwa 600 v.Chr. Zuletzt siedelten sich Inuit erneut im 14. und 15. Jahrhundert in Ostgrönland an. Sie lebten als Jagdnomaden – im Winter wohnten sie in Erdhäusern, im Sommer zogen sie mit Zelten in die Jagdgründe. Alle Utensilien und Kleidung wurde aus Steinen oder Tierknochen hergestellt. Dieses Leben führten die Ostgrönländer in zunehmend abgeschwächter Form bis in die Achtziger- und Neunzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts hinein.
Auf der Westseite Grönlands siedelten Europäer schon zwischen dem 10. und 16. Jahrhundert, verließen das Gebiet aber wieder. 1721 schließlich begann der dänisch-norwegische Pfarrer Hans Egede mit der Missionierung der Grönländer, und Handelsstationen wurden errichtet. Auf der Ostseite sollte das noch eine Weile dauern. Erst 1884 erreichte der Däne Gustav Holm mit seiner Expedition Ammassalik und überwinterte dort. Diese erste Reise von Europäern nach Ostgrönland wird auch Frauenbootexpedition genannt – weil Holm mit zwei Umiaks, Frauenbooten, unterwegs war, den im Gegensatz zu Kajaks größeren Booten, die die Inuit für weite Strecken mit der ganzen Familie einsetzten. 413 Menschen zählte Holm damals in der Region. 1894 wurde die dänische Handels- und Missionsstation Angmagssalik (das heutige Tasiilaq) gegründet, ein Jahr später zogen die ersten Inuit aus ihren Siedlungen dorthin.
Im Supermarkt schließlich werden im Obergeschoss Kleidung, im Erdgeschoss außer Lebensmitteln auch Schneemobile und Gewehre angeboten. In den Tiefkühlfächern gibt es Wochenpackungen an Fertiggerichten, im kleinen Frischeregal sehr teuren Käse und wieder wenig Gemüse. Sehr viel Bier und Chips. Ich kaufe Orangensaft und Brot und bin bald wieder draußen. Eine fast zahnlose Alte steht nun mitten auf dem Platz, ihre Kleidung ist fleckig. Sie trägt zerschlissene Turnschuhe, die einmal rosa waren. Ihre Haare hängen wirr von ihrem Kopf. Sie steht da, mit leicht gebeugtem Rücken, unbeweglich. Die Menschen, die vor den Häusern gegenüber sitzen, rufen ihr etwas zu, unterbrochen von trunkenem Lachen, aber sie reagiert nicht. Aus dem Dachfenster eines der Häuser läuft eine Spur Erbrochenes die schwarze Dachpappe hinunter.
Vorbei an dieser Szene sieht man hinunter zum Fjord, der heute dunkelblau, fast schwarz daliegt, unter dem wolkenverhangenen Himmel und zwischen den grünen Hängen der Berge. Es sind intensiv schöne Farben wie kurz vor einem Sommergewitter.
Und auf einmal weiß ich, woran mich die Szene der Menschen hier erinnert: an meine Reisen durch die Südsee. Dort war ich auf kleinen Inseln unterwegs, einst von Europäern kolonialisiert. In den kleinen Siedlungen der Einheimischen gab es keine Kanalisation oder Strom, es waren einfache Dörfer. Die Hütten hatten keine Wände, nur Boden und Dach. Dazwischen sprangen Schweine, Hühner und nackte Kinder herum, die Erwachsenen trugen Wickeltücher, auch die Männer, sonst nichts. Am Abend ruderten die Männer in langen Booten hinaus, dunkle Silhouetten im Sonnenuntergang. Es war vielleicht alles sehr einfach, aber es erschien mir nicht arm. Diese Menschen hatten Würde. Sie wussten, wer sie waren; sie waren oben, ich war unten: ein Besucher, der nichts verstand von ihrem Leben.
In den größeren Orten allerdings drehte sich dieses Verhältnis um. In das von Häusern, Leuchtreklamen und Autos geprägte Straßenbild passten die in Tücher gekleideten Dorfbewohner nicht, durch den Kontext einer Umgebung, die sie nicht gestaltet hatten, erschienen sie plötzlich nicht mehr einfach, sondern auf eine urbane Art arm. Sie wurden zu Außenseitern, die die Gesetze des neuen Lebens nicht gelernt hatten. Sie waren unten, ich hingegen, die nie zuvor auf diesen Inseln gewesen war, ich war oben: Ich gehörte paradoxerweise mehr in diese Südsee-Orte als die indigenen Einwohner selbst, ganz einfach, weil ich die in dieser Umgebung geltenden Regeln (Kleidung und Schuhe tragen, nicht mit den Händen essen, auf Stühlen sitzen, mit Geld bezahlen) als die erkannte, in denen ich mich mein Leben lang selbst bewegt hatte, und dazu sprach ich mit Französisch sogar noch ihre Sprache.
Nun bin ich hier sehr weit weg von der Südsee. Aber auch die Leute auf diesem Supermarkt-Vorplatz haben ihre Umgebung nicht selbst gestaltet, sie ist gestaltet worden. Sie haben weder den Supermarkt, noch die Häuser rundherum, noch den Sport- oder Hubschrauberlandeplatz gebaut. In dieser Umgebung braucht man das, was sie wissen, nicht mehr; alles, was wichtig war, ist jetzt unwichtig, wo die Muscheln wachsen und das Seegras, wann die Vögel kommen und die Wale. Jetzt muss man ganz andere Dinge wissen. Selbst ihre Sprache ist nicht mehr die, die gesprochen werden soll.
Lang bleibe ich auf dem Vorplatz stehen.
Was macht es mit den Menschen, dass all das geschehen ist? Wer können sie noch sein in dieser neuen Welt?
Auf dem Weg nach Hause pflücke ich an einem der bunt bewachsenen Hänge drei Blumen. Sie sind für Viggos Frau, die heute Abend Geburtstag feiert.
Der Geburtstag
Die wenigen noch verbliebenen Gäste im Roten Haus sind zu der Geburtstagsfeier von Viggos Frau eingeladen, und sie erscheinen in ihrer Gesamtheit so skurril, dass sich eine Beschreibung lohnt. Da ist zum einen die Dänin, eine ältere Dame, die ihren Ruhestand dazu nutzt, ein Buch über eine Krankenschwester zu schreiben, die vor Jahrzehnten in Tasiilaq wirkte. Sie verbringt deswegen sehr viel Zeit im Museum von Tasiilaq, in dem viel über die Geschichte Ostgrönlands zu erfahren ist. Dann wäre da der Philosoph, ein Italiener, der allen unheimlich ist und schon Besuch von der Polizei hatte; sein einziges mitgebrachtes Gepäck ist eine Tasche voller Bücher. Er kann Dantes »Göttliche Komödie« auswendig rezitieren, oder zumindest eine Viertelstunde daraus. Die gab er ungefragt eines Morgens nach dem Frühstück zum Besten, bevor die Zuhörer fliehen konnten. Dann ist da der Radler, ein älterer Mann aus dem Ruhrpott, der seine gesamte Habe verkauft hat und nun um die Welt radelt, dabei aber übersehen hat, dass es in Grönland keine Radwege gibt. Er trägt ausnahmslos eine hier bizarr wirkende, enge, kurze Radlerhose und ein Radtrikot, das leider nicht lang genug ist. In dieser Tracht macht er von allen Menschen, ob sie wollen oder nicht, Nahaufnahmen mit seiner Kamera. Als er mir empört erzählt, dass ihn deswegen Frauen vor dem Supermarkt mit Steinen beworfen haben und ich antworte, dass ich das auch gern machen würde, ist er so beleidigt, dass aus uns wohl nicht mal mehr Facebook-Freunde werden. Dann gibt es noch den Kajakfahrer, der sich mittlerweile aus seinem Zelt hierher geflüchtet hat. Er verbringt jedes Jahr seinen Jahresurlaub damit, irgendwo alleine herumzupaddeln, wo es sehr kalt ist. Seit heute ist außerdem noch eine deutsche Trekkinggruppe zu uns gestoßen, die wegen des aufkommenden schlechten Wetters ihr Camp im Sermilikfjord verlassen musste und darüber nicht froh ist.
Und schließlich gibt es noch einen Italiener, Mario, den irgendetwas immer wieder in den Norden zieht, aber er weiß nicht was, und der gerne ein Buch schreiben würde. Mario ist also ein bisschen wie ich, nur mit noch weniger Plan. Er ist mir auf Anhieb sympathisch.
Dieses lustige Trüppchen macht also die zwangsläufig zu dieser Geburtstagsfeier geladenen Gäste aus, und ich frage mich, was die Einheimischen eigentlich so über diese Touristen denken. Vielleicht wundern sie sich aber auch schon lange über nichts mehr.
Alle Tische sind zu einer langen Tafel zusammengeschoben. Die ersten Gäste trudeln ein, darunter sehr viele Kinder, und auch Viggo und seine Frau kommen. Caroline, die kocht und sich um die Zimmer kümmert und mich aus irgendeinem Grund seit meiner Ankunft demonstrativ ignoriert, ist die Nichte der beiden, das habe ich mittlerweile verstanden. Wie so oft in Grönland wurde sie von ihnen als Tochter angenommen, weil ihre eigenen Eltern nicht für sie sorgen konnten. Ich überreiche meine Blumen, die mit einem Lächeln angenommen werden, dann singt Caroline ein sehr schön klingendes Lied, zu dem sie selbst auf dem Keyboard die Begleitung spielt. Als sie fertig ist, weint sie und umarmt ihre Mutter, alle klatschen. Dann gibt es Essen.
Es gibt Wal, der in der hier üblichen Variante einfach in Wasser gegart wird. Aus der so entstehenden Walfleischbrühe wird dann eine Reissuppe gekocht. Den Wal, einen Zwergwal, haben Jäger aus dem Ort gefangen. Sein Fleisch ist ungefähr so fest wie gekochtes Rindfleisch. Dicke Fettaugen schwimmen auf der Suppe.
Weil Viggo und seine Frau Mitglieder im Chor sind, zählen auch der Pfarrer und die anderen Chormitglieder zu den Gästen. Nach dem Essen beginnt der Chor zu singen, Lieder, die halb traditionell, halb modern klingen, sehr schöne Lieder, denen man ewig zuhören könnte, mal sind sie sehr melancholisch, mal sehr lebensfroh. Ein bisschen skurril wirkt dabei lediglich, dass der Pfarrer auf einer Hammond-Orgel Discosound dazu spielt. Es ist eine so fröhliche Darbietung, dass man sich kaum daran sattsehen – und -hören kann.
Dass man das auch anders sehen kann, beweist ein junges deutsches Paar aus der Trekkinggruppe. Der Mann murmelt, oh mann, das hört sich ja alles gleich an, und läuft ungeniert direkt an dem Chor vorbei, um zur Dusche zu gelangen. Es ist das gleiche bunt gekleidete Outdoor-Paar, das sich am Nachmittag darüber unterhielt, wie blöd sie es fanden, an diesem vermüllten, tristen Ort festzuhängen, statt draußen schöne Wanderungen machen zu können.
Wir anderen Zaungäste bemühen uns, im Hintergrund zu bleiben. Bis auf den Radler, der in seinem üblichen Aufzug in der ersten Reihe steht und in die Gesichter der Chormitglieder hineinfotografiert, während zwei Mädchen weiter hinten auf seine Hose deuten und kichern.
Dann kommt Caroline, die nun ein Robbenfellkleid trägt. Sie hat eine Trommel in der Hand, mit der sie einen der traditionellen Trommeltänze aufführt, der wiederum von dem Radler in der ersten Reihe lückenlos gefilmt wird. Die anderen wiegen sich zu den Trommelrhythmen. Caroline und ihre Bewegungen sind ein schöner Anblick. Sie hält die Trommel nach oben und klopft mit einem Holzstück auf die Umrandung, was ein klickendes Geräusch macht. Man merkt, dass das zwar einfach aussieht, es aber überhaupt nicht ist. Dazu singt sie ein Lied, das fremd und warm klingt. Caroline, die sehr, sehr stolz ist, kein einziges Wort mit mir spricht und mich sowieso keines Blickes würdigt, Caroline, die am Wochenende mit Paillettenrock in die Disco geht, Caroline, die hier in einem Fellkostüm steht und ein uraltes Lied singt, beginnt mich immer mehr zu interessieren.
Ein etwa zweijähriges Kind zieht sich an meinem Bein nach oben und lacht mich an, bevor es wieder mit den anderen Kindern weiterwuselt, um die hier wenig Aufhebens gemacht wird. Sie sind einfach da, spielen auf der Treppe, helfen sich gegenseitig hinauf und hinunter, und nach zwei Stunden Geburtstagsfeier fällt mir auf, dass noch keins der ungefähr zehn Kinder geweint oder geschrien hat und es auch noch keinen Streit um irgendetwas zwischen ihnen gegeben hat.
Mario, der sich Carolines Trommeltanz ebenfalls ansieht, fragt, ob ich übermorgen zu einem Bootsausflug in den Sermilikfjord mitkommen will. Auch Dorothée wird dabei sein, eine Französin, die in Island wohnt und für eine Reiseagentur arbeitet. Mit ihr habe ich mich beim Essen länger unterhalten. Sie wolle nach Tiniteqilaaq, sagt Mario, das könne man alles verbinden. Ich sage zu. Die Geburtstagsgesellschaft beginnt sich jetzt, so schnell wie sie zusammengekommen ist, auch schon wieder aufzulösen. Leider. Ich hätte noch lange zuhören können.
Als ich in mein Häuschen hinuntergehe, ist es schwarzdunkel, weil der Mond noch nicht aufgegangen ist, und ich habe Mühe zu sehen, wo ich hintrete. Auch, weil ich die ganze Zeit nach oben schauen will: Ein dicht besetzter Sternenhimmel hängt über Tasiilaq wie ein Zelt, das den Ort beschirmt. Ich bleibe lange auf der Terrasse stehen und schaue mir dieses still glitzernde Bild an, das man bei uns nur noch zu sehen bekommt, wenn man auf einem Berggipfel steht, weil es überall sonst zu hell ist.
Der nächste Morgen beginnt mit demselben gleichmäßigen Tropfgeräusch wie der vorherige. Tasiilaq scheint sich zu verflüssigen; als ich aus dem Fenster schaue, läuft das Wasser in Sturzbächen die Berge herunter, alles fließt.
Ich will heute zu Pia Anning Nielsen. Sie ist die Direktorin des Tourismusbüros von Ostgrönland, ist mir von mehreren Leuten empfohlen worden. Sie weiß alles über Grönland, heißt es. Zu Recht, wie sich herausstellen sollte. Ich gehe durch den Regen, der so dicht geworden ist wie eine Wand und komme tropfnass im Tourismusbüro an.
Pia Anning Nielsen
»Grönland verwirrt viele Europäer, weil man hier frei ist.«
Das Tourismusbüro ist in einem der ältesten Häuser Tasiilaqs untergebracht, es ist klein und gemütlich, mit knarzendem Holzboden. Es gibt hier Robbenfelle zu kaufen und Turnschuhe, Schnitzereien und Winterjacken. Als ich halbwegs abgetropft bin, macht Pia Anning Nielsen uns einen Kaffee, dann erzählt sie. Pia hat dänische Eltern und ist in Südgrönland geboren, seit 1978 lebt sie in Tasiilaq. Sie kennt beide Seiten, das europäische und das grönländische Leben.
Um das Leben in Ostgrönland zu verstehen, muss man sich immer unsere Geschichte vor Augen halten. Unser erster Kontakt mit der westlichen Welt war erst vor 130 Jahren, 1884. In den 1980ern und 1990ern konnten die Leute noch zu ihren Jagdgründen aufbrechen, nach einem Jahr zurückkehren und verkaufen, was sie gefangen hatten. Diese Leute gibt es noch, und ihre Kinder und Enkel. Sie haben das moderne Leben nie angenommen. Das ist wunderschön, einerseits. Es birgt aber viele Probleme.
Früher, bis in die 1990er, waren die Leute stolz darauf, dass sie Jäger waren. Jäger kamen mit der ganzen Familie nach Tasiilaq, sie verdienten Geld, kauften ein, und der Vater war stolz. Er musste nicht die Gemeindeverwaltung anbetteln.
Jetzt sind die Leute nicht mehr stolz. Jetzt können sich die Menschen nicht mehr selbst versorgen. Weil der Preis für die Robbenfelle zusammengebrochen ist, trotz der Subventionierung durch die grönländische Regierung, und gleichzeitig die Lebenshaltungskosten immer weiter angewachsen sind. Trotzdem gibt es eine große Gruppe von Leuten, die dieses Leben weiterführen will, die noch jagen gehen will. Obwohl es ein hartes, gefährliches und überhaupt kein romantisches Leben ist.
Um das verstehen zu können, muss man sich ansehen, was es bedeutet, ein Jäger, eine Jäger- und Sammlergesellschaft zu sein – denn das waren wir bis vor sehr kurzer Zeit. Das Jägerleben bringt ein sehr spezielles Selbstbild mit sich. Wenn man damit in einer modernen Gesellschaft leben soll, wird es schwierig. Ich habe folgende Theorie über die grönländische Kultur: Die grönländischen Jungen wurden erzogen, als seien sie die Größten. Natürlich! Sie mussten zu Großwildjägern werden. Sie müssen sich selbst so stark sehen, um fähig zu sein, hinauszugehen und ihr Leben zu riskieren, damit die Familie etwas zu essen bekommt. Sie mussten überzeugt sein, einen Eisbären töten zu können. Das ist keine Kleinigkeit.
Die Kinder lernen hier anders als wir das kennen. Wenn hier ein Jäger stirbt, bekommt das Kind, das als Nächstes geboren wird, seinen Namen und damit – so glaubt man – auch alle Fähigkeiten des Verstorbenen. Deswegen wird ein Kind nicht korrigiert – das würde die Ahnen beleidigen. Als eine Freundin von mir ihre erste Robbe zerteilen sollte, wurden ihr ein Messer und eine Robbe gegeben. Sie sollte sich erinnern, wie sie es bei ihrer Mutter gesehen hatte. Sie hätte aufpassen sollen – aber es war ihr auch nie vermittelt worden, dass sie hätte aufpassen sollen –, und dann wurde sie gezwungen, die Robbe zu zerteilen. Auf sich allein gestellt. Das mag herzlos erscheinen. Aber: Ihre Mutter ist nicht in ihren Arbeitsvorgang eingeschritten. Sie ließ sie die Robbe so zerteilen, wie sie es tat.
Bei einer solchen Erziehung entsteht eine andere Art von Persönlichkeit, als wir Europäer das gewöhnt sind. Denn wir werden korrigiert und kritisiert, wenn wir etwas falsch machen. Ständig! Hier lässt man die Menschen ihren eigenen Weg finden. Das ist etwas sehr Schönes. Das macht die Menschen in Grönland frei. Sie haben keine Grenzen. Sie haben sich keine komplexen Regelsysteme und Strukturen gebaut, denen sich alle einheitlich unterwerfen müssen.
Für Menschen mit europäischem Hintergrund ist es schwierig, in einer solchen Gesellschaft zu leben. Man hat eine Moment-zu-Moment-Demokratie. Europäer verwirrt es, wenn sie nichts haben, woran sie sich orientieren können. In Europa ist man eingewoben in Regeln, Strukturen, Institutionen und Konventionen, man wird in und von diesen Strukturen gehalten. Hier ist alles verhandelbar, niemand urteilt über einen – man ist einfach der, der man ist. So haben wir hier Menschen, die drei Leute umgebracht haben und trotzdem akzeptiert sind. Grönländer halten sich nicht mit der Vergangenheit auf und machen sich keine Sorgen über morgen. Auch das gibt sehr viel Freiheit. Weil man nicht von Gedanken eingeschränkt wird, was vielleicht passieren könnte. Du bist hier und jetzt.
Dass daraus auch Probleme mit Alkohol entstehen, ist die dunkle Seite dieser Lebensweise. Die Menschen, die du gestern vor dem Supermarkt gesehen hast, haben ihren Platz nicht gefunden in der neuen Gesellschaft. Sie verstehen das neue Leben genauso wenig, wie viele Ausländer das grönländische Leben. Weil es zwei Welten sind. Manche Ausländer sind richtig entsetzt über die strukturlose Lebensweise in Grönland. Darüber, dass die Leute trinken. Sie verstehen nicht, warum es manchmal schwierig ist, Dinge geregelt zu bekommen, während alle so entspannt scheinen.
Manche gewöhnen sich aber auch daran und mögen es. Sie können sich hier fühlen, als haben sie Rast gefunden, als seien sie nach Hause gekommen – sie verspüren keinen Druck mehr wie in Europa. In Grönland hat man nicht das Gefühl, etwas oder jemand sein zu müssen oder etwas auf eine bestimmte Weise tun zu müssen, um etwas oder jemand zu sein. Ich denke, das ist sehr, sehr schön. Eine Menge Leute in Europa könnten viel davon lernen und viel dabei gewinnen. Das Leben im Hier und Jetzt ist etwas sehr Wertvolles, es ist ein wundervoller Zug der Inuitkultur.
Wenn man hier lebt, stellt man ohnehin fest, dass diese Lebensweise für diese Gegend die einzig vernünftige ist. Weil viel zu oft Dinge nicht nach Plan laufen. Wenn dein Flugzeug in drei Wochen nicht planmäßig fliegen wird, kannst du entweder den ganzen Tag damit verbringen, dich zu ärgern und völlig gestresst die ganze Reise neu zu planen. Oder du entspannst dich und machst einfach etwas anderes. Und lebst.
Ich könnte Pia stundenlang zuhören. Ich werde immer wieder mit neuen Fragen zu ihr zurückkommen, und sie wird auf nahezu alles eine Antwort finden. Es wird mir fast zur Gewohnheit werden, bei jedem meiner Gänge durchs Dorf auch bei Pia vorbeizuschauen. Sie wird mich bekannt machen mit einigen Menschen in Tasiilaq und mir später auch helfen, meine Reisen in die Dörfer zu organisieren. In den vielen Gesprächen mit ihr beginne ich zu verstehen, was es heißen muss, zwischen zwei Welten zu schweben und in keiner davon leben zu können.
Pia hält mir auch genau das vor Augen, was für mich in Grönland oft schwierig ist: die Strukturlosigkeit. Ich merke in Grönland, wie unauslöschlich deutsch ich bin. Ich brauche Fakten. Wenn ich mich verabrede, dann heißt das: morgen um 3. In Grönland passieren die Dinge irgendwann und erstaunlicherweise manchmal von selbst. Das wird vor allem dann interessant, wenn ich mich mit einem Gesprächspartner und einem Übersetzer verabreden will. Es klappt immer, das ist das Schöne. Aber dass man nicht vorhersagen kann, wann und wie und wo genau – das halte ich erstaunlich schwer aus. Lange versuche ich, die Gesetzmäßigkeiten zu verstehen, nach denen Dinge passieren, das Raster, in dem man sich in Grönland bewegt. Dass es diese Gesetzmäßigkeiten gar nicht gibt, können wir Europäer uns nicht vorstellen. Manche Grönländer verstehen das wiederum nicht. Pia aber gelingt es, dass ich lerne, das Schöne darin zu erkennen.
In Grönland hat man nicht das Gefühl, etwas oder jemandsein zu müssen oder etwas auf eine bestimmte Weisetun zu müssen, um etwas oder jemand zu sein.Ich denke, das ist sehr, sehr schön.
Pia Anning Nielsen
Als ich aus dem Tourismusbüro wieder auf die Straße trete, hat der Regen aufgehört. Ich gehe in den Supermarkt, um mir für den morgigen Ausflug nach Ikateq mit Mario und Dorothée etwas zum Essen zu kaufen. Als ich auf dem Nachhauseweg dann an dem Pfad vorbeikomme, der ins Blumental führt, biege ich ab und gehe in das Tal hinein, jenen Einschnitt hinter Tasiilaq, an dessen Hängen rotblaugrünlilabunte Blumen blühen.
In dieses bunte Tal ist der Friedhof Tasiilaqs verlegt worden, als im Dorf bei der Kirche kein Platz mehr war. Der Weg führt an vielen Hunden vorbei, die hier angekettet sind und mich mit den Augen verfolgen, ein Gefühl, das ich noch oft haben werde, wenn ich aus dem Dorf hinauslaufe: Das Gefühl, beobachtet zu werden, wenn ich scheinbar alleine unterwegs bin und auf einmal unzählige Hunde still im Gras liegend entdecke, die mich lange schon gesehen haben. Einer steht vor den abgenagten Knochen einer Robbe, einige andere schlafen zusammengerollt. Ein Stück weiter liegt ein toter Hund am Wegesrand, steif ragen seine Pfoten in die Luft. Ein paar Welpen laufen auf mich zu und tollen eine Weile neben mir her, bis ich ihnen zu langweilig werde, sie sich wieder ineinander verbeißen und als felliges Knäuel den Pfad zurückwuseln.
Die ersten Reihen der sehr breiten Gräber sind am ältesten. Tief eingesunken sind sie teilweise, von hohem Gras umwuchert, aber immer noch liegen Plastikblumen auf ihnen; aus einigen Gestecken hat die Sonne die Farbe herausgebleicht, andere strahlen bunt ins Tal hinein. Weiter oben wächst noch kein Gras zwischen den Gräbern, sie sind frischer. Um viele Kreuze hängen bunte Kränze. An manchen lehnen laminierte Zeichnungen, Gedichte, Nachrichten. Alles ist nass von dem vielen Regen, dicke Tropfen hängen an den künstlichen Blüten, den Bildern.
Ich stehe still zwischen den letzten Reihen des Friedhofs. Auf den meisten Kreuzen stehen weder Namen noch Daten. Bei den wenigen, an denen die Geburts- und Sterbedaten zu lesen sind, erschrecke ich, weil das Sterbedatum oftmals bereits im nächsten oder übernächsten Jahrzehnt nach dem Geburtsdatum liegt.
Das ist eines der großen Probleme hier, die vielen Selbstmorde bei den jungen Menschen, und ich merke, dass es etwas ganz anderes ist, ob ich darüber lese oder an den Gräbern stehe. Ich werde traurig. Aber so will ich es. Ich bin nicht nach Grönland zurückgekommen, um das Eis, die Fjorde und Gletscher zu bestaunen oder wandern zu gehen. Ich möchte die Menschen verstehen, die in diesem Land leben, ihre Geschichten hören und weitererzählen. Und dafür muss ich dorthin schauen, wo es nicht so angenehm ist, nicht nur auf den blauen Himmel, das weiße Eis, die wundervolle Natur. Sondern auf das ganze Bild.
Ich setze mich auf einen Stein oberhalb des Friedhofs und denke daran, was Pia mir erzählt hat. Es ist ein ganzes Konglomerat an Motiven, warum sich junge Menschen in Grönland das Leben nehmen. Für Pia liegt ein Hauptgrund dafür in der Erziehung zum Jäger, in der Tatsache, dass diese Jugendlichen immer noch einem Jägervolk entstammen.
Wenn diese Kinder irgendwann Jugendliche sind, sagt Pia, stellen sie auf einmal fest, dass sie keine mutigen Jäger mehr sein werden. Und dann haben sie keinen Platz mehr. Sie haben einfach keinen Platz.
Über die Kreuze hinweg schaue ich auf die blumenbunt gefärbten Hänge und die roten Häuser hinunter zum Meer. Wie muss es sein, hier geboren zu werden, hier aufzuwachsen, in einer Welt, die aus einem Dorf mit 2000 Menschen besteht, aus dem keine einzige Straße hinausführt?
Es beginnt wieder zu regnen, und ich bleibe noch ein bisschen sitzen, höre, wie die Tropfen auf die Plastikblumen fallen und schaue zu, wie sie an den langen Grashalmen hängen bleiben, die sich unter der Last erst beugen und sie dann federnd abschütteln.
Ikateq
In engen Kurven lenkt Viggo unser Boot durch die mit Eisbergen gefüllte enge Wasserstraße. Er macht das so schnell und konzentriert, dass wir uns festhalten müssen. Wir, das sind Mario, Dorothée, Caroline und ich. Wir sind heute Morgen zum Hafen hinuntergegangen, haben uns in die Thermoanzüge gezwängt und sind in Viggos Boot aus dem Fjord von Tasiilaq hinausgeglitten.
Ein Stück weit fuhren wir die zackige, steil aufsteigende Küste entlang, vorbei an immensen Eisbergen, und dann hinein in den Sermilikfjord, in geschützte Gewässer zwischen kleinen Inseln.
Es ist eine rasante Fahrt durch diese steinige Inselwelt, auf deren Land noch das Gras des kurzen Sommers steht und einen seltsamen Kontrast bildet zu den türkisblauen Eisbergen, die auch die langen Sommersonnennächte nicht zum Schmelzen haben bringen können.
Viggo fährt eine weite, letzte Kurve und oberhalb einer zauberhaften kleinen Bucht kommt Ikateq zum Vorschein. Sechs, sieben graue, rote und grüne Holzhäuser und eine rote Kirche stehen verteilt an dem jäh über den natürlichen Hafen aufsteigenden Hang, auf dem sattgrünes Moos, gelbe Büsche, grünes und schon rotbraun werdendes Gras wachsen. Über all dem hängt ein blendend blauer Himmel mit einer kräftigen Sonne, deren durch das Eis vielfach reflektiertes Licht alle Farben noch viel intensiver leuchten lässt. Hölzerne Ständer für Fischernetze ragen zwischen den Häusern in den Himmel. Alles sieht so herrlich lebendig aus, dass man jede Sekunde darauf wartet, dass jemand aus einem der Häuser kommt und uns willkommen heißt oder etwas auf eines der Gestelle hängt, dass Kinder den Hang hinunterspringen und uns lachend umkreisen, dass Hunde herangelaufen kommen und bellen.
Aber nichts dergleichen geschieht. Wir schauen auf Ikateq, als würden wir eine Fotografie eines Dorfs betrachten und nicht das Dorf selbst. Als wir aus dem Boot an Land klettern, uns aufrichten und unseren Blick über dieses wundervolle Stückchen Welt schweifen lassen, bleibt alles still.
Denn dieses perfekt scheinende Grönlandbild, das sich uns hier bietet, hat einen Fehler: Ikateq ist verlassen. Die Häuser stehen leer. Ikateq ist eine jener Siedlungen, die in den letzten Jahrzehnten aufgegeben wurden.
Wir steigen den Hang hinauf Richtung Kirche. Die Sonne scheint auf die Insel; warm ist es hier. Wir öffnen die Kirchentür und stehen in einem kleinen, türkis gestrichenen Flur, von dem wiederum zwei Türen abgehen. Die rechte führt in die Kirche hinein. Es ist ein fröhlicher Raum, die Wände sind leuchtend hellblau, die Decke und die Fensterrahmen weiß getüncht. Nirgends blättert Farbe ab, es sieht aus, als seien wir mitten in Bullerbü gelandet. Auf dem Altar steht eine weiße Jesus-Figur, die in einer Willkommensgeste die Arme ausbreitet. Neben einem weißen Holzkreuz stehen zwei Vasen mit bunten Plastikblumen. Auf der kleinen Kanzel liegen Gebetsbücher, und in ein Gestell an der Wand hat jemand noch die Nummern der Lieder gesteckt, die gesungen werden sollen.
Caroline setzt sich an die Orgel, die neben dem Altar steht. Behutsam beginnt sie, mit den Fußpedalen Luft in das Instrument fließen zu lassen und ein Lied zu spielen. Die Sonne fällt durch die Fenster herein, der Staub wirbelt in den Sonnenstrahlen, während die Töne durch die Kirche fliegen, hinaus auf den verlassenen Platz vor der Kirche, die Wiese zum Wasser hinunter und den Hügel weiter hinauf zum Friedhof.
Für einen kurzen Moment belebt dieses Lied das kleine Dorf, in dem bis vor einigen Jahren die Fischer ihre Netze aufspannten, Boote ausliefen und zurückkehrten, gesungen und gelacht wurde. Wir stehen hinter der letzten Bankreihe und hören unbeweglich den Tönen zu, die Caroline in die Stille hineinschallen lässt, es ist ein melancholisches Lied und die Orgel klingt ein bisschen schief. Es fühlt sich an, als würden diese Töne uns ein Fenster durch die Zeit öffnen und uns in die Vergangenheit hineinschauen lassen. Mit dem Ausklingen des letzten Tons schließt sich dieses Fenster wieder, wir sind wieder hier, im Jetzt. Wir sind noch kurz still, als wollten wir dieses Gefühl noch nicht wieder hergeben. Dann klatschen wir, und Caroline steht verlegen lächelnd auf.