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Grenzfall - Der Tod in ihren Augen E-Book

Anna Schneider

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Beschreibung

Sie könnten unterschiedlicher nicht sein und müssen doch gemeinsam einen Mörder jagen – der erste Fall für das deutsch-österreichische Ermittlerteam Alexa Jahn und Bernhard Krammer Am Brauneck in Lenggries wird an einer Felswand eine leblose Frau entdeckt. Doch was auf den ersten Blick wie ein Kletterunfall aussah, entpuppt sich als grausamer Mord. Dem Oberkörper der Toten wurden Beine aus Stroh angenäht. Kurz darauf tauchen weitere Leichenteile am Achensee in Tirol auf. Stammen sie ebenfalls von der Toten? Doch weshalb sollte der Täter die Leiche auf zwei Länder verteilen? Für die junge und engagierte Oberkommissarin Alexa Jahn, die gerade ihren Dienst bei der Kripo Weilheim angetreten hat, ist es die erste große Ermittlung. Sie könnte jede Unterstützung gebrauchen, doch auf den desillusionierten Kollegen auf österreichischer Seite, Chefinspektor Bernhard Krammer, kann sie nicht zählen. Alexa ist lange auf sich allein gestellt und bekommt es mit einem Täter zu tun, dem sie vielleicht nicht gewachsen ist ... Auftakt der neuen packenden Krimiserie in der Grenzregion Deutschland – Österreich »Der spannendste und beste Auftakt einer Krimireihe, den ich in den letzten Jahren gelesen habe.« Deutschlandfunk Kultur, Mike Altwicker »Ein fulminanter Reihenauftakt, den man nicht verpassen sollte – düster, fesselnd, nicht aus der Hand zu legen.« Ursula Poznanski »Anna Schneider ist ein Rising Star für mich, definitiv ein ›Label to watch‹.« Elisabeth Herrmann

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Seitenzahl: 468

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GRENZFALL - Der Tod in ihren Augen

Kriminalroman

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Inhalt

WidmungPROLOG1.2.3.4.5.6.7.8.9.10.11.12.13.14.15.16.17.18.19.20.21.22.23.24.25.26.27.28.29.30.31.32.33.34.35.36.37.38.39.40.41.42.43.44.45.46.47.48.49.50.51.52.53.54.55.56.57.58.59.60.61.62.63.64.65.66.67.68.69.70.NACHWORTDANKSAGUNGLeseprobe Band 2PROLOGHinweis

Für Tom,

den tapferen Kämpfer.

PROLOG

Mit wenigen Handgriffen saß das Werkzeug perfekt, nur ein leises, metallisches Klicken war zu hören, als sich das Türschloss öffnete. Kichernd drängelte sich das Mädchen in das Innere des Hauses.

»Sei leise, bitte!«, ermahnte sie der Junge, der eilig sein Lockpicking-Set in seiner Gürteltasche verstaute, noch einmal prüfend nach rechts und links schaute und sich dann ebenfalls in den Flur schob.

Es war kühl, und ihre Schritte hallten auf dem steinernen Fliesenboden. Er folgte den nassen Spuren, die sie hinterlassen hatte.

»Zieh die Schuhe aus«, zischte er leise. »Da wird doch alles dreckig.«

»Ach, hab dich nicht so«, lachte sie und lugte hinter einer Tür am anderen Ende des Flurs hervor. »Das trocknet doch, bis die zurück sind. Mach schon!«

Er streifte die Schuhe ab und beeilte sich, zu ihr zu kommen. Das Wohnzimmer war riesig, und durch die bodentiefen Fenster drang genug Licht ins Innere, um sich umschauen zu können. Ein glänzender schwarzer Flügel mit Familienfotos darauf nahm die eine Seite des Raumes ein. In der anderen, direkt vor der Fensterfront, stand ein beigefarbenes Ecksofa, von dem man sowohl auf den Kamin als auch auf einen Flachbildschirm schauen konnte, der die halbe Wand bedeckte. Er inspizierte die Fenster und alle Regale, während seine Freundin sich auf die Couch warf.

»Wo bleibst du denn so lange?«, gurrte sie und kickte ihre Sneakers von den Füßen. Auf dem hochflorigen Teppich erzeugten sie kaum ein Geräusch.

»Ich muss erst schauen, ob hier irgendwo eine Kamera ist.«

»Meinst du, die wollen uns zugucken?«, fragte sie übermütig, zog ihren Pullover aus und rekelte sich über der Couchlehne.

Sein Herz schlug wie wild, und seine Lippen wurden schlagartig trocken, als er sie dort in ihrem roten Spitzen-BH liegen sah. Aber er musste zuerst sicherstellen, dass sie bei ihrem Date keine böse Überraschung erleben würden. Vorher könnte er sich ohnehin nicht entspannen.

Wieder kicherte sie nur und hüpfte dann von der Couch. »Warst du eigentlich schon einmal in diesem Haus?«, fragte sie, schlich sich von hinten an ihn heran und umschloss seine Hüfte mit den Armen. Er roch den Duft ihres Parfums, spürte die Wärme ihres Körpers, der sich nun sanft an seinen Rücken schmiegte.

»Wie kommst du denn darauf?« Er schüttelte den Kopf. »Dann müsste ich ja wohl kaum abchecken, ob die irgendwas zur Überwachung installiert haben, oder?«

»Stimmt auch wieder«, sagte sie, ließ von ihm ab und lief hinüber in die Kochecke. »Ich wollte nur wissen, ob du schon vor mir mit einem Mädchen hier warst. Aber wenn das so ist … dann besorge ich uns schon mal was zu trinken.«

»Das geht nicht!«, rief er ihr nach. »Das würden die Besitzer doch sofort merken! Wir müssen alles genau so hinterlassen, wie wir es vorgefunden haben. Am besten machen wir ein Foto. Außerdem geht diese Seite zur Straße raus. Komm besser wieder her, bevor dich jemand am Fenster sieht.«

»Seit wann bist du denn so ein Spießer? Lass mich wenigstens mal schauen. Ich passe schon auf, bin ja schließlich nicht blöd.« Mit einem breiten Grinsen öffnete sie die Tür des Kühlschranks. Bevor er etwas einwenden konnte, wurde ihr Gesicht von der Beleuchtung aus dem Inneren erhellt. Sofort war ihm klar, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Sie stand da wie erstarrt, das Lächeln war aus ihren Zügen verschwunden, die Augen weit aufgerissen. Ihr Mund klappte auf und zu, aber sie brachte keinen Ton heraus.

Als er fast bei ihr war, um selber nachzusehen, was ihren Blick so in den Bann zog, machte sie einen Satz zur Seite und übergab sich schwallartig in das Spülbecken. Sie röchelte, immer wieder hob sich ihr Magen.

Obwohl er jetzt gewappnet war, dass etwas Widerliches in dem Kühlschrank sein musste, hatte er absolut nicht mit dem Anblick gerechnet, der sich ihm darbot: Auf einem Suppenteller direkt in Augenhöhe stand ein Klumpen Fleisch. Den oberen Rand bildeten blutige Fetzen. Er blinzelte, und nur langsam konnte sein Verstand erfassen, dass es sich um einen bleichen Fuß handelte. Den eines Menschen.

Er schlug die Tür zu, lehnte sich dagegen, hielt sich die Hand vor den Mund und japste nach Luft. Seine Gedanken rasten.

Dann rannte er zur Couch, raffte den Pullover und die Schuhe seiner Freundin zusammen, eilte wieder zu ihr zurück, vermied es dabei jedoch, noch einmal auf den Kühlschrank zu schauen. Sie keuchte und zitterte noch immer am ganzen Körper, aber ihr Magen schien sich beruhigt zu haben.

»Geht es wieder?«, fragte er mit rauer Stimme.

Sie nickte. Er reichte ihr die Sachen, und während sie sie ohne ein Wort an sich nahm und hineinschlüpfte, machte er sich daran, die Spüle notdürftig mit Wasser zu säubern.

Dann ergriff er ihre Hand und zog sie in Richtung Ausgang.

»Nichts wie weg hier!«, brachte er noch hervor. Aber das Bild der rot lackierten Zehennägel auf dem weißen Porzellan würde er niemals vergessen.

1.

Laut schreien oder rennen? Mehr Möglichkeiten hatte sie nicht. Schon ertönte der Signalton, der das Schließen der Türen ankündigte. Alexa Jahn legte beherzt einen Sprint ein und erreichte in allerletzter Sekunde die Regionalbahn, die sie nach Weilheim bringen sollte, wo sie an diesem Montag ihre neue Stelle antreten würde. Sie verschnaufte kurz und sah noch einmal auf den Bahnsteig zurück. Ein junger Mann versuchte offenbar dasselbe wie sie, war jedoch viel zu weit vom Zug entfernt, um es zu schaffen. Kurzentschlossen schob sie ihren Koffer zwischen die Türflügel, bevor sie sich schließen konnten. Das eindringliche Gepiepse hielt an, aber nach einer Weile öffneten sie sich wieder.

»Danke! Das ist das erste Mal, dass ich von einer Frau gerettet wurde«, sagte er und lächelte Alexa spitzbübisch an. Der Mann war etwas größer als sie, hatte dichtes dunkelbraunes Haar und blaue Augen. Eine kleine Narbe auf der rechten Wange fiel ihr auf, die aber schon einige Jahre alt war.

»Gern geschehen«, antwortete sie. Noch immer außer Atem von ihrem strammen Lauf zog Alexa nun ihren großen Koffer hinter sich her und steuerte auf den erstbesten freien Sitzplatz zu.

Sie hätte damit rechnen müssen, dass der ICE Verspätung haben würde, immerhin war das keine Ausnahme. Aber es hatte sie schon Mühe gekostet, sich kurz vor vier Uhr aus dem Bett zu schälen, um den Zug von Aschaffenburg nach München zu erreichen. Noch früher wäre sie vermutlich gar nicht wach geworden. Sie seufzte. Zum Glück hatte sie es gerade noch geschafft und würde nicht gleich an ihrem ersten Tag zu spät kommen. Nur auf die Brotzeit, die sie eigentlich am Münchner Hauptbahnhof hatte kaufen wollen, musste sie nun verzichten. Und auf einen Kaffee. Aber das würde sie überleben.

In einer knappen Dreiviertelstunde würde sie schon Weilheim erreichen. Vom Bahnhof waren es fußläufig nur etwa zehn Minuten bis zu ihrer neuen Dienststelle, und sie wäre somit absolut pünktlich.

Alexa zog ihre Jacke aus, wickelte den Schal ab, schob ihn in den Ärmel, legte beides über die Lehne und hob zuletzt mit einem kräftigen Ruck ihren Koffer auf die Ablage über dem Fenster. Zu spät merkte sie, dass der Mann von vorhin dicht hinter ihr stand.

»Jetzt wollte ich mich revanchieren«, sagte er und zuckte die Schultern. »Aber anscheinend komme ich heute immer zu spät.«

Er nickte ihr zu, setzte sich dann in die Bankreihe schräg gegenüber und entnahm seiner abgegriffenen braunen Ledertasche ein paar Unterlagen, in die er sich sofort vertiefte. Von ihrem Platz aus musterte sie ihn noch eine Weile verstohlen. Er war ein paar Jahre älter als sie, ungefähr Mitte dreißig, und hatte eine tiefe Stirnfalte, wenn er las.

Dann schaute sie aus dem Fenster, betrachtete die vorbeiziehenden Gebäude und Landschaften. Je weiter sie sich von der bayerischen Landeshauptstadt entfernten, umso ländlicher wurde die Umgebung. Schon bald konnte sie die ersten Häuser im typisch alpenländischen Baustil ausmachen, die mit ihrer Holzverkleidung, verzierten Fensterläden und üppig bewachsenen Blumenkästen so ganz anders aussahen als in ihrer Heimatstadt Aschaffenburg. Großartig – so hatten ihre Kollegen und Freunde einhellig ihren Wechsel kommentiert. Sie würde genau da arbeiten und leben, wo andere Urlaub machten. Ihr erster Gedanke war hingegen gewesen: ausgerechnet Oberbayern!

Immer, wenn sie in den Alpen war, fühlte sie sich beklommen und auf eine eigenartige Weise eingeengt. Die Berge, die wilde Natur, aber auch die stille Art der Menschen dort, die das Herz nicht auf der Zunge trugen und teilweise schroff reagierten, hatte Alexa nie für diese Gegend einnehmen können. Außerdem hasste sie Schnee schon seit ihrer Kindheit und konnte einfach nicht begreifen, warum jemand bereit war, ein Vermögen für eine Woche Skiurlaub auszugeben. So hatte sie die große Bergkette, die den Weg in den Urlaub nach Italien verlängerte, bisher nur als Hindernis wahrgenommen.

Aber Respekt vor den Einheimischen ebenso wie vor der Natur zu haben war vielleicht gar keine schlechte Voraussetzung für ihre Arbeit bei der hiesigen Kripo. Und wer wusste schon, wie es wirklich hier im Süden war? Sie kannte die Gegend ja im Grunde nicht und konnte sich kein Urteil darüber erlauben.

In jedem Fall war es eine tolle Chance, die ihr Chef ihr vermittelt hatte. Der Aufstieg zur Kriminaloberkommissarin nach knapp eineinhalb Jahren war absolut nicht üblich. Und vertraulich hatte sie auch erfahren, dass eine weitere Beförderung fast genauso schnell zu erwarten war, wenn sie sich in Weilheim bewährte. Denn der Leiter dieser Dienststelle war bemüht, die Frauenquote zu heben, und hatte ganz bewusst nach sehr guten weiblichen Nachwuchskräften gesucht, die er nach besten Kräften fördern wollte. Dennoch hatte sie im Grunde ihres Herzens gehofft, weiter da bleiben zu können, wo sie von Beginn an gearbeitet hatte, in ihrem vertrauten Team. Und bei Jan. Seufzend legte sie den Kopf an die Lehne. Der Gedanke an ihn schmerzte immer noch. Sie hatten zusammen die Ausbildung absolviert, und nach einer Weile hatte sie sich in ihn verliebt. Doch er war schon vergeben – deshalb behielt sie ihre Gefühle für sich und konzentrierte sich völlig auf die Arbeit.

Schwergefallen war ihr das nie, doch erst jetzt merkte sie, wie wenig sie im Grunde zurückgelassen hatte. Seit sie nach dem Abitur zum ersten Mal die Dienstuniform angezogen hatte, wusste sie, dass es keinen besseren Arbeitsplatz für sie gab als die Polizei. Damals war die Kleidung noch grün und beige gewesen und nicht so adrett wie die neue dunkelblaue. Dennoch schien sie sich mit der Uniform in eine Person zu verwandeln, die ihre Bestimmung gefunden hatte. Dann war sie genau da, wo sie hingehörte. Dieses Gefühl hatte sie bis heute nicht verloren und eine steile Karriere hingelegt.

Doch sie wollte noch viel weiter, träumte davon, einmal eine Dienststelle zu leiten, wirklich Einfluss zu haben und ein großes Team von erfahrenen Kollegen anzuführen. Und diese Stelle war der beste Weg, ihr Ziel zu erreichen. Mit der Zeit würde sie auch Jan vergessen und sich vielleicht sogar neu verlieben. Jedenfalls hoffte sie das.

Alexa zog ihr Smartphone heraus, kontrollierte, ob die Frisur und ihr dezentes Augen-Make-up in Ordnung waren. Zufrieden musterte sie ihr Spiegelbild im Display, strich den dunklen Pony seitlich aus der Stirn, die andere Strähne schob sie hinter das Ohr. Perfekt. Schließlich gab es nur eine Möglichkeit für den ersten Eindruck. Alexa mochte ihr Äußeres, auch wenn ihre Nase leicht schief und ein bisschen zu groß war. Ihre Hüften waren ebenfalls etwas zu breit geraten. Aber mit diesen winzigen Fehlern hatte sie längst ihren Frieden gemacht.

Sie wollte gerade ihr Smartphone in der Handtasche verstauen, als sie bemerkte, dass jemand sie ansah. Der Mann, den sie »gerettet« hatte, beobachtete sie völlig ungeniert und grinste sie breit an.

Rasch schaute sie weg, rief eine andere App auf und lenkte sich mit der Notiz ab, in der sie die wichtigsten Namen ihrer neuen Kollegen aufgelistet hatte, um sie sich noch einmal genau einzuprägen. Wenn sie gut vorbereitet war, hatte sie auch ihre Nervosität im Griff. Und ihr Gegenüber würde schon wieder aufhören, sie anzustarren, wenn sie ihn konsequent ignorierte.

 

Wenig später hatte Alexa Weilheim erreicht und hielt gespannt auf die Eingangstür des dreistöckigen Gebäudes zu, in dem die Kriminalinspektion untergebracht war. Ihr Rollkoffer ratterte laut auf dem Pflaster des Weges. Die Luft war kühl, aber die Sonne zeigte sich schon am blauen Himmel. Es würde ein schöner Tag werden.

Tief sog sie die klare Luft ein, als die Tür von innen aufgeschoben wurde und zwei Männer aus dem Gebäude traten. Der erste war klein und untersetzt, und um seine Halbglatze verlief ein dunkler Haarkranz. Seine Gesichtszüge waren ernst, aber tief eingegrabene Lachfalten zeigten, dass er Humor besaß. Der blaue Mantel wie auch der Anzug, den er zu einem weißen Hemd ohne Krawatte trug, waren schon älter und an manchen Stellen ausgebeult. Alexa schätzte ihn auf ungefähr sechzig. Der Jüngere überragte ihn um eine Kopflänge, war sportlich in Jeans, Trekkingschuhen und einer dünnen Daunenjacke gekleidet. Seine blonden Haare umrahmten ein sonnengebräuntes Gesicht mit den typischen hellen Augenrändern eines Skifahrers. Er musterte Alexa prüfend, als sie lächelnd auf die Männer zuhielt.

»Frau Jahn!«, rief der Kleinere, dessen Gesichtszüge sofort freundlich und entspannter wirkten. »Wir wollten gerade zum Bahnhof fahren, um Sie abzuholen. Wir sind zu einem Einsatz gerufen worden. Ein Vermisstenfall am Brauneck. Wir dachten, wir nehmen Sie gleich mit und zeigen Ihnen dabei ein wenig die Gegend. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.«

Alexa streckte ihm die Hand entgegen. »Einsätze sind mir zu jeder Zeit willkommen, Herr Brandl.« Ihr neuer Chef hatte einen angenehm festen Händedruck und war genauso groß wie sie selbst – und ihr noch sympathischer als schon zuvor bei der Videokonferenz, über die sie das Einstellungsgespräch geführt hatten.

Dann wandte sie sich zu dem anderen Mann. Er ergriff ebenfalls ihre Hand, nickte ihr zu, doch sein Händedruck war kurz und flüchtig. Das musste ihr Kollege Florian Huber sein, deshalb begrüßte sie ihn gleich mit Namen, was er mit einer hochgezogenen Augenbraue quittierte. Huber war etwas älter als sie selbst, schon immer in Weilheim eingesetzt und im selben Rang wie sie. Er machte sich vermutlich Hoffnungen auf eine baldige Beförderung zum Hauptkommissar. Und wie sie befürchtet hatte, sah er sie als nicht ganz so willkommene Konkurrenz, denn im Gegensatz zu ihrem Vorgesetzten lächelte er nicht.

»Nehmen wir meinen Koffer mit oder soll ich ihn rasch in den Flur stellen?«, fragte sie deshalb, um nicht kompliziert zu erscheinen.

»Den bringt der Florian schnell für Sie rein.« Ludwig Brandl nickte dem Kollegen zu, der ohne Zögern den Koffer ergriff. »Wollen Sie sich noch frisch machen, bevor wir aufbrechen? Wir fahren eine Weile, bis wir in Lenggries ankommen.«

Alexa schüttelte den Kopf. Nun war sie froh, dass sie keinen Kaffee getrunken hatte und nicht mehr zur Toilette musste. Sie war sofort einsatzbereit. »Nicht nötig. Von mir aus können wir gleich los! Nach wem wird denn gesucht?«

»Das wissen wir noch nicht. Es ist ein Rucksack gefunden worden, aber darin war nichts enthalten, was einen Hinweis auf den Besitzer geliefert hätte.«

Während sie auf einen silbernen Audi A6 Kombi zuhielten, hatte Huber sie schon eingeholt. Alexa, die zwar um einiges kleiner war als ihr Kollege und kein Problem damit hatte, hinten zu sitzen, war dennoch gespannt, ob er ihr den Beifahrersitz anbieten würde oder nicht. Aber er war der Fahrer, deshalb stellte sich die Frage nicht. Noch nicht.

Brandl hielt ihr galant die Tür auf der rechten Seite auf, ganz ein Mann der alten Schule, doch Alexa winkte bloß lächelnd ab und deutete auf die Rückbank.

»Ich sitze gerne hinten und rücke einfach in die Mitte, dann können Sie beide mir berichten, was ich sonst noch wissen muss. Ließ sich denn feststellen, ob der Rucksack schon länger dort war? Vielleicht hat ihn nur jemand vergessen.«

»Das Sonderbare ist, dass der Rucksack direkt neben einem Wanderweg stand«, meldete sich jetzt Florian Huber zu Wort, während er den Motor startete. »Nicht etwas abseits bei einer Bank oder einer Gelegenheit, die man zum Ausruhen hätte nutzen können. Die Wanderer, die den Fund angezeigt haben, konnten ihn schon aus der Entfernung sehen. Sie haben mehrmals gerufen, und als niemand erschien, verständigten sie die Bergwacht. Das Gebiet dort ist sehr schroff, und viele unterschätzen die Wege.«

Er musterte sie im Rückspiegel, und mit einem Mal erinnerte sie sich an ihr Schuhwerk. Zwar trug sie Sneakers, aber für Bergwanderungen waren die nicht wirklich geeignet. Sie ärgerte sich, dass sie nicht gefragt hatte, was mit dem Brauneck gemeint war, denn ihre Trekkingschuhe standen jetzt in der Dienststelle. Das hatte sie nun von ihrem Arbeitseifer.

»Das ist wirklich seltsam. Aber könnte er nicht einfach dem- oder derjenigen zu schwer geworden sein?«, fragte sie nach und überspielte ihre kurze Verunsicherung.

»Möglich«, antwortete Huber. »Wir fahren ja gerade hin, um uns ein detailliertes Bild zu machen. Die Bergwacht ist schon vor Ort, eine Hundestaffel ist auch unterwegs und trifft wahrscheinlich mit uns zusammen dort ein. Bis die Sonne heute Abend untergeht, müssen wir versuchen, den Besitzer zu finden. In der Nacht sollen Wolken aufziehen, und es wird wieder empfindlich kalt werden. Es könnte sogar noch einmal schneien, wenn wir Pech haben.«

Alexa nickte nachdenklich. Gerade als sie über die nächste Kuppe fuhren, lichtete sich der Wald, und am Horizont erschien das Panorama der Voralpen, auf deren Gipfeln noch Schnee lag.

Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück und fragte sich, was dort oben geschehen sein konnte. Ein Unfall vielleicht. Oder jemand hatte sich verlaufen. Aber in beiden Fällen würde man wohl kaum seinen Rucksack am Wegesrand zurücklassen.

Sie musterte das mächtige Bergmassiv, das vor ihr lag, die grauen, steinigen Wände, ohne jedes Grün, ohne Spuren von Leben. Sofort stieg ein mulmiges Gefühl in ihr auf.

2.

Eine Schar von Menschen tummelte sich auf dem Weg direkt unterhalb des Waldsaumes, über dem steil der Berg aufragte. Auch auf dem Gipfel des Braunecks lag noch Schnee, dichte Nebelschwaden stiegen aus den Tannen auf und nahmen der Sonne ihr Licht. Alexa erkannte Kollegen von der Polizei sowie mehrere Menschen in farbenfroher Kleidung und ausgestattet mit Helmen, die von der Bergwacht sein mussten.

Florian Huber war ihr und Brandl ein Stück voraus. Ihre Sorge wegen des Schuhwerks hatte sich als unbegründet erwiesen, denn ihr Chef schnaufte schon nach der kurzen Wegstrecke, die sie vom Parkplatz aus zurückgelegt hatten, so dass sie sich entschied, in seinem Tempo zu bleiben. Wie ihr schien, hatte er ein Problem mit der Hüfte oder dem Knie. Sie hielt sich dicht an seiner Seite, um ihm beizustehen, falls er nicht mehr konnte – und auch, um ihm die Möglichkeit zu geben, sie allen Beteiligten vorzustellen.

Endlich sah sie zwischen den vielen Leuten den Rucksack, der die Suche ausgelöst hatte, und fragte sich plötzlich, warum sie eigentlich mit drei Kriminalbeamten ausgerückt waren, obwohl kein Hinweis auf ein Verbrechen vorlag. Im Grunde hätte die Bergwacht diese Suche auch alleine übernehmen können. Aber sie kannte sich mit den hiesigen Abläufen und Gepflogenheiten natürlich nicht aus. Womöglich hatte Brandl auch nur deshalb seine Hilfe angeboten, weil es eine gute Gelegenheit war, sie mit den Kollegen und dem künftigen Einsatzgebiet bekannt zu machen.

Ein Mann in roter Fleecejacke trat aus der Menge hervor und kam ihnen ein paar Meter entgegen. Wie Brandl sie wissen ließ, handelte es sich um Tobias Gerg, den Leiter der Bergwacht von Lenggries. Die Kollegen in Uniform kamen von der Polizeiinspektion in Bad Tölz, ein hübsches Städtchen direkt an der Isar, das sie auf der Fahrt passiert hatten.

»Servus, Tobi. Ich möchte dir unsere neue Mitarbeiterin Alexa Jahn vorstellen. Sie hat heute ihren ersten Tag.« An Alexa gewandt fuhr er fort: »Der Tobi ist einer unserer besten Leute hier. Er kennt sich aus wie kein anderer. Du bist schon wie lange bei der Bergwacht?«

»Ach, das interessiert doch niemanden, Ludwig.«

Der schlanke, drahtige Mann mit dem graumelierten Kurzhaarschnitt nickte Alexa zu und hob zum Gruß die Hand. Das war ihr auf Anhieb sympathisch. Er wirkte wie jemand, der nicht viele Worte machte, doch wenn er etwas sagte, dann hatte es Relevanz.

»Er tut immer so bescheiden, aber die Bergwacht hier hat ungefähr dreihundert Einsätze pro Jahr«, klärte Brandl sie auf.

Alexa zog die Augenbrauen hoch. »Passiert hier wirklich so viel? Das hätte ich nicht gedacht.« Tatsächlich wirkte das Gelände auf den ersten Blick nicht so problematisch. Und da es sich nur um die Voralpen handelte, hätte sie nie mit einer derart hohen Zahl gerechnet, denn das hieß, dass die Helfer fast täglich angefordert wurden.

»Es könnten weit weniger sein, wenn die Menschen etwas vorsichtiger wären, gute Ausrüstung hätten und vor allem besser auf das Wetter achten würden. Immer wieder werden Wanderer oder Skiläufer von sich ändernden Bedingungen überrascht – obwohl die Vorhersagen mittlerweile schon sehr gut sind. Oder sie rutschen ab, weil sie kein trittfestes Schuhwerk haben.«

Nicht nur Alexa dachte bei diesen Worten sofort an ihre eigene Bekleidung. Auch Huber musterte ihre Sneakers mit einem amüsierten Grinsen. Aber sie würde sich nichts anmerken lassen, wie auch immer sie mit den Schuhen klarkam.

»Habt ihr denn inzwischen irgendetwas Neues in der Sache herausgefunden?«, fragte ihr Chef nach.

»Nein. Wir wissen nicht, wem der Rucksack gehört. Kein Handy, kein Ausweis, kein Hinweis auf einen Namen. Die Wanderer haben ihn heute in der Früh entdeckt, aber vom Besitzer gibt es keine Spur.«

»Also stammt er von jemandem, der gestern vielleicht zu spät den Abstieg gemacht hat oder ganz früh am Morgen nach oben wollte und ihn nach einer Rast einfach vergessen hat«, resümierte Brandl.

»Oder derjenige hat sich verlaufen. Ist einem Tier hinterher, in der Hoffnung auf ein tolles Foto oder so einen Schmarrn.« Gerg verzog den Mund. »Wir steigen jetzt am besten weiter hinauf, denn hier unten haben wir schon alles abgesucht. Würde Schnee liegen, könnten wir einfach den Spuren folgen, aber der- oder diejenige könnte im Grunde überall sein. Bleibt zu hoffen, dass die Hunde uns gleich auf die richtige Spur bringen.«

Da sie offenbar noch Zeit hatten, ging Alexa zu dem Rucksack. Sie zog ein Paar Gummihandschuhe aus ihrer Handtasche, die sie noch immer bei sich trug, und hockte sich hin, um ihn näher zu inspizieren.

Er war weinrot, von einer einschlägigen Marke. Dunkle Spuren an der Rückseite und an den Trägern wiesen auf eine häufige Nutzung hin. Damit handelte es sich bei der vermissten Person jedenfalls nicht um einen Hobbysportler, der zum ersten Mal unterwegs war.

Sie hob die Lasche an und leuchtete mit ihrem Smartphone hinein. Im Inneren sah sie einen Schal und eine Trinkflasche aus Metall, die ebenfalls Kratzer aufwies. Auf dem Deckel hatten mal Initialen gestanden, aber die Überreste waren kaum zu entziffern. Der erste Buchstabe könnte vielleicht ein B sein, bei dem zweiten hatte sie nicht einmal eine Vermutung. Möglicherweise würde die Spurensicherung mehr dazu sagen können. Es lag auch eine Karte darin. Sie zog sie ein Stück heraus und betrachtete sie genauer. Das Papier war an den Kanten schon brüchig, und die Farben ließen an der Falz nach, aber es war offenbar keine Route eingezeichnet, nichts, was ihnen bei der Suche geholfen hätte. Sie schob sie zurück, fand dann noch diverse Energieriegel, Seile, Handschuhe, Steigeisen und einen faltbaren Wanderstock. Ein Profi, daran hatte sie nun keinen Zweifel mehr. Vermutlich trafen dann all die Dinge, die Tobias Gerg zuvor gesagt hatte, nicht auf die Person zu, die sie suchten.

»Darf ich?«, fragte sie und bemerkte erst jetzt, dass die Männer ihr Tun interessiert beobachteten.

Ihr Chef nickte ihr zu. Ihr erster Verdacht bestätigte sich, als sie die Handschuhe herausnahm und sie zum Vergleich auf ihre eigene Hand legte: Sie suchten nach einem Jugendlichen oder nach einer Frau.

In diesem Moment trafen die Kollegen von der Hundestaffel ein. Alexa hielt die Handschuhe für den Mann und die Frau bereit, die ihre Hunde an der kurzen Leine dicht bei sich führten. Der darin haftende Schweißgeruch war ideal, um die Tiere Witterung aufnehmen zu lassen.

»Kommt doch mal alle zusammen«, rief nun Ludwig Brandl. »Weil das Wetter schlechter werden soll, schlage ich vor, wir teilen uns in zwei Gruppen auf. Jeweils einer von unserer Einheit und je zwei von der Bergwacht gehen mit jedem Hund mit. Die beiden Gruppen brechen in einem knappen zeitlichen Abstand nacheinander auf. Der Suchtrupp sollte aber nicht zu groß sein, denn falls die vermisste Person einen Unfall hatte und gestürzt ist, müssen wir eventuell in unwegsames Gelände.« Dann wandte er sich an die Streifenpolizisten. »Ihr kennt die Leute hier im Ort am besten. Fragt doch bitte in allen Pensionen und Gasthäusern nach, ob dort jemand abgängig ist. Es scheint sich ja um eine Einzelperson zu handeln.«

»Nach der Größe der Handschuhe zu urteilen, könnte es eine Frau sein. Oder ein Jugendlicher«, warf Alexa spontan ein und hielt die Handschuhe hoch.

Brandl nickte. »Ihr habt sie gehört. Noch irgendwelche Fragen?« Er sah in die Runde. »In Ordnung, dann weiß jetzt jeder, was er zu tun hat. Die Bergwacht hat Handfunkgeräte dabei, damit bleiben wir in Kontakt.«

»Wird der Aufstieg schwierig sein?«, fragte Alexa Tobi Gerg, der seinen Sanitätsrucksack schulterte.

»Für jemanden, der geübt ist, sicher nicht«, murmelte Florian Huber. Aber nicht leise genug, dass Alexa es nicht gehört hätte.

»Es kommt darauf an, welche Strecke wir gehen müssen. Das Gipfelkreuz ist auf 1555 Meter. Querfeldein kann es schon schwierig werden. Generell sind die Wege hier aber nur mittelschwer, wenn man trittsicher und schwindelfrei ist. Die achthundert Höhenmeter können allerdings schon eine Herausforderung sein.«

Tobi Gerg schlug Brandl bei diesen Worten leicht auf die Schulter. Er hatte offenbar dasselbe gedacht wie Alexa. Sie hoffte, für ihren Chef würde das Ganze nicht zu anstrengend werden.

»Du machst dir ja wohl keine Sorgen um mich, oder?«, lachte der nur und meinte dann: »Die Strecke gehe ich noch immer mit links.«

Alexa reichte nun dem Hundeführer die Handschuhe.

Der Mann murmelte ein paar kurze Kommandos. Seine braune Schweißhündin, die offenbar zu einem Mantrailer ausgebildet war, hatte den Namen Bolha. Mit geweiteten Nasenflügeln nahm das Tier den Geruch auf, schnüffelte immer wieder an dem Stoff, dann hielt es die Schnauze in die Luft. Anschließend gab ihr Führer Alexa die Handschuhe zurück, ließ die Leine lang und konzentrierte sich ganz auf seine Hündin.

Sie hielt den Duftträger nun der anderen Führerin hin, doch die winkte ab. Alexa vermutete deshalb, dass es sich bei diesem Tier um einen Flächensuchhund handelte, der keiner speziellen Fährte folgte, sondern dazu ausgebildet war, Verletzte aufzuspüren. Es war ein schwarzer Labrador, der auf den Namen Artos hörte. Seine Führerin bückte sich und sprach ruhig mit dem Tier. Die Ohren des Hundes waren aufmerksam aufgerichtet, und sobald er von der Leine gelöst wurde, lief er einmal kurz zu dem Rucksack hinüber, setzte sich dann aber zielstrebig bergauf in Bewegung.

Ganz anders der andere Hund. Bolha hielt die Nase auf dem Boden, lief hin und her, schnaufte, hob dann die Schnauze, ihre Nasenflügel weit gebläht, schnaubte erneut. Dann begann das Gehabe wieder von vorne.

Seltsam, dachte Alexa. Da aber weder Huber noch ihr Chef dem ersten Team folgten, sondern noch immer gespannt die Reaktion von Bolha beobachteten, entschied sie, mit Artos zu gehen. Natürlich wäre der Personenspürhund eindeutig die vielversprechendere Variante gewesen, denn der suchte nicht bloß nach menschlichen Abriebspuren, sondern war dazu ausgebildet, den speziellen Geruch einer Person aufzunehmen – und sie zu finden.

Aber diesen Part würde sie heute Florian Huber überlassen. Immerhin war es ihr erster Tag, und sie wollte beweisen, dass sie teamfähig war.

Also beeilte Alexa sich, die Handschuhe wieder in den Rucksack zurückzulegen, um nicht den Anschluss an ihre Gruppe zu verlieren, die schon einige Meter entfernt war.

Als sie gerade die Laschen schließen wollte, fiel ihr Blick auf etwas, das ihr zuvor nicht aufgefallen war: Es gab einen kleinen dunkelbraunen Fleck auf der Schließe des Leders. Sie musterte die restliche Oberfläche genauer und fuhr zuletzt noch einmal mit der Fingerspitze über die Ränder des Flecks. Es konnte im Grunde alles sein, aber auch ohne kriminaltechnische Untersuchung hätte sie schwören können, dass es sich um eingetrocknetes Blut handelte.

3.

Der Hund lief zügig mit gesenktem Kopf den Bergpfad entlang, vergewisserte sich nur von Zeit zu Zeit, ob seine Führerin noch hinter ihm war. Alexa, Tobi Gerg und der andere Mann von der Bergwacht achteten darauf, das Tempo zu halten. Niemand sagte ein Wort. Auf den ersten Metern hatte Alexa sich noch häufig umgeschaut, neugierig, ob auch das andere Tier diesen Weg einschlagen würde. Aber schon bald hatten sie das offene Gelände verlassen und waren von dichtem Wald umgeben, der ihr die Sicht auf ihren Ausgangspunkt nahm.

Der steile Weg war anstrengender, als sie zunächst erwartet hatte, und je höher sie kamen, umso schmaler wurde der Pfad und umso mehr Schotter lag darauf. Immer wieder rutschte sie auf den Steinen weg und musste sich konzentrieren, um in den Sneakers nicht umzuknicken. Zwar hatte sich der Nebel bereits gehoben, und ab und zu kam die Sonne durch, aber es war noch empfindlich kühl. Wenn dieser Weg mittelschwer war, dann hoffte sie, nie zu einem Einsatz in schwerem Gelände gerufen zu werden.

Sobald der Wald sich lichtete, konnte sie an dem wolkenlosen Himmel die bunten Schirme der Gleitschirmflieger sehen, die lautlos über ihren Köpfen schwebten. Auch einen See mit türkisfarbenem Wasser hatten sie passiert, der nach Auskunft von Tobi Gerg im Winter benutzt wurde, um den Hang künstlich zu beschneien. Die Skilifte waren seit Ostern geschlossen. Im Grunde war die Umgebung die pure Idylle, aber wirklich genießen konnte sie sie nicht. Sie hätte sich eine kurze Rast gewünscht, merkte nun doch deutlich, dass sie schon eine Weile auf den Beinen war und heute den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte.

Als Alexa sich gerade erkundigen wollte, ob sie nicht bereits viel zu weit von dem Rucksack entfernt waren, bellte Artos plötzlich, machte eine Kehre und lief abseits des schmalen Ziehweges mitten in den Wald hinein.

Der Hund wurde immer schneller, der Untergrund gleichzeitig unwegsamer. Es roch nach Tannennadeln und Erde, die Luft war schwer und feucht. Nur mit Hilfe von vereinzelten Felsen, an denen sie etwas Halt fand, konnte Alexa sich weiter zwischen den Büschen und hohen Tannen vorarbeiten.

»Geht es?«, fragte Tobi Gerg, der offenbar bemerkt hatte, dass ihre Kräfte nachließen.

Alexa nickte kurz, wollte die anderen nicht aufhalten, jetzt, wo das Tier so aufgeregt vorwärtsdrängte. Sie konzentrierte sich noch stärker auf jeden einzelnen ihrer Schritte. Das feuchte Moos, das vereinzelt die Felsen überzog, machte sie rutschig, gleichzeitig standen die Bäume immer dichter.

Die Gruppe umrundete eine karge graue Felsformation, die hoch neben ihnen aufragte und aus der sich plötzlich mit einem klackernden Geräusch ein winziger Stein löste. Sie zuckte zusammen, schaute nach oben und sah, wie er immer wieder irgendwo abprallte, schneller wurde und dann das steile Gelände hinabjagte. Bloß vorsichtig bleiben, dachte Alexa.

Im Zickzackkurs ging es weiter über umgefallene Baumstämme und Wurzeln. Ein Rabe krächzte irgendwo hoch oben, das Echo seiner Schreie hallte laut von den Bergwänden wider. Die Führerin rief Artos jetzt kurze Kommandos zu, dass er langsamer machen sollte, damit die Gruppe beisammenblieb.

Plötzlich bellte der Rüde laut und rannte mit hohem Tempo den steilen Berg hinab. Alexa hielt sich an einem Baum fest und spähte in die Richtung, in die das Tier lief. Im Laub, etwa zwanzig Meter weiter unten, sah sie etwas Farbiges. Ein Schuh. Also war dort auch ein Mensch, ohne jeden Zweifel.

Mit einem Schlag kehrten ihre Kräfte zurück, und sie hatte nur noch ein Ziel: dem Verletzten so schnell wie möglich zu Hilfe zu kommen.

Gerg hatte schon sein Handfunkgerät herausgezogen und gab seinem Kollegen durch, dass sie fündig geworden waren. Alexa schob sich an ihm vorbei und beeilte sich, der Führerin zu folgen. Als sie einen kleinen Bogen um einen Felsen machen musste, entdeckte sie in einem Gebüsch etwas Metallisches. Sie verlangsamte ihr Tempo, suchte sicheren Halt und schob die Äste zur Seite. Ein blaues Mountainbike lag vor ihr am Boden, dessen Vorderreifen sich von der völlig verbogenen Felge gelöst hatte.

»Diese leichtsinnigen Deppen«, knurrte Gerg, der hinter ihr aufgeschlossen hatte. »Die meinen immer, sie könnten abseits der Strecken fahren. Und dann …«

Der junge Mann, der einen schwarzen Fahrradhelm mit gelben Flammen darauf trug, kam gerade wieder zu sich, als der Hund ihn jaulend mit der Schnauze anstieß. Alexa stand nur da und starrte den Biker an. Er war komplett in stylische Sportsachen gekleidet und hatte eine Bauchtasche umgeschnallt. Vermutlich war er somit nicht derjenige, dem die Handschuhe und der betagte Rucksack gehörten. Sie hoffte, dass ihr die Enttäuschung nicht allzu deutlich im Gesicht abzulesen war.

Die Hundeführerin nahm Artos wieder an die Leine, lobte ihn, tätschelte seinen Kopf und gab ihm ein paar Leckerlis. Gerg und sein Kollege kümmerten sich um den Biker, stützten ihn, während er sich aufsetzte. Sein Ellenbogen, beide Knie und Unterschenkel waren von Schürfwunden und Schrammen übersät, aber er schien nicht ernsthaft verletzt und konnte sich schon nach wenigen Minuten von selbst wieder aufrappeln. Der Busch hatte seinen Fall gebremst, und sein Helm hatte ihm vermutlich das Leben gerettet. Aber Alexa schätzte, dass ihn das nicht davon abhalten würde, immer wieder in irrem Tempo die steilen Berge hinabzurasen. Er war noch ein Teenager, fühlte sich aber sicher längst erwachsen, stark und vor allem unverletzlich.

Gerg trug jetzt Desinfektionsmittel auf die Wunden auf und schimpfte auf den Burschen ein, den er zu kennen schien.

»Herrschaftszeiten, ihr wisst doch, dass ihr nicht querfeldein fahren sollt. Einen Meter weiter drüben«, er deutete auf einen spitzen Felsen, den Alexa erst jetzt bemerkte, »und du hättest entweder keinen Verstand mehr oder würdest für immer im Rollstuhl sitzen.«

Der blasse Junge wollte sich verlegen am Kopf kratzen, zuckte aber zurück und verzog schmerzhaft das Gesicht. Sofort half ihm Gerg mit ein paar geschickten Griffen den Gurt des Helms zu lösen. Obwohl er so grantig tat, stand ihm die Sorge deutlich ins Gesicht geschrieben. Vielleicht hatte er auch einen Sohn in dem Alter.

»So war das doch gar nicht!«, verteidigte sich nun der Biker kleinlaut. »Die Bremse hat nicht funktioniert. Ich bin immer schneller geworden, und es ist ja so verdammt steil auf diesem Abschnitt. Da habe ich gedacht, ich lenke besser zur Seite, in die Büsche, um so das Tempo wieder in den Griff zu bekommen. Aber dahinter war dann der Abhang, und ich konnte mich nicht mehr halten und dann … Keine Ahnung, wie lange ich hier gelegen habe …«

Gerg schüttelte den Kopf, packte das Verbandsmaterial zurück in seinen Rucksack, stand auf und klopfte sich den Dreck von den Knien.

»Alexa Jahn, Kripo Weilheim«, stellte sie sich vor. Es war das erste Mal, dass sie das tat. Es fühlte sich noch fremd, aber gut an. Dann fragte sie den Biker: »Wann bist du denn heute Morgen los?«

Ruckartig fuhr sein Kopf zu ihr herum. »Kripo? Wieso, ich meine … kriege ich jetzt Ärger?« Er wurde noch ein Stück blasser und schaute zu Boden.

»Nur, wenn du der Kommissarin nicht auf der Stelle ihre Frage beantwortest, Seppi«, ermahnte Gerg ihn.

Der Junge erklärte detailreich, dass er ganz früh am Morgen den Seufzerweg nach oben genommen hatte, und nannte die präzise Uhrzeit, zu der er vom Gipfel aus gestartet war, eine knappe Viertelstunde bevor Alexa mit ihren Kollegen unten am Hang angekommen war. Also hatte der Hund diese Fährte verfolgt. Und sie war eindeutig dem falschen Team hinterhergelaufen.

»Einen Rucksack hast du nicht zufällig dabeigehabt? Und ihn unten am Weg vergessen?«, fragte Alexa noch, obwohl sie wusste, dass es im Grunde überflüssig war.

Der Junge schüttelte den Kopf. »Ich? Wieso? Nein. Ich sagte doch, ich bin in der Früh hoch und dann …« Er zuckte die Schultern.

»Kannst du laufen? Oder soll ich jemanden rufen, der uns eine Krankentrage bringt?«, fragte jetzt Gerg.

»Nein, passt schon. Ich schaff das.« Der Junge tastete seine Hose ab und schien etwas zu suchen. »Scheiße. Mein Handy …«

Obwohl Alexa natürlich heilfroh war, dass sie den Jungen entdeckt hatten und er wohlbehalten war, wollte sie sich nicht unnötig lange hier aufhalten. Und er würde diesen Ort sicher nicht verlassen, bevor er sein wichtigstes Utensil gefunden hatte. Da Gerg bisher vom anderen Team keine Nachricht bekommen hatte, waren auch Brandl und Huber offenbar noch nicht fündig geworden.

»Könnten Sie kurz meinen Chef anfunken?«, bat Alexa ihn, die nicht länger ihre Zeit vertun wollte. »Ich würde versuchen, sie irgendwo abzupassen, falls das möglich ist.«

Gerg zog sein Funkgerät heraus, teilte kurz mit, was ihre Suche ergeben hatte, und fragte nach den Koordinaten des anderen Suchtrupps.

Schon ertönte die blecherne Stimme von Gergs Kollegen: »Wir sind noch immer genau da, wo wir uns getrennt haben. Die Hündin hat gesucht, aber keine Fährte gefunden.«

Alexa starrte den Hügel hinab und ließ das Gehörte wirken. Erst jetzt bemerkte sie den leichten Wind, der aufgekommen war. Vereinzelte Wolken waren am Himmel zu sehen. Die Bäume ächzten, und immer wieder knisterte es im Unterholz.

Seltsam. Soviel sie wusste, nahm ein Personenspürhund die Fährte über die Hautschuppen auf, die ein Mensch ständig in der Bewegung verlor und die der Wind dann in der Gegend verteilte. Wenn Bolha da unten keine Spur fand, musste das im Grunde bedeuten, dass der Besitzer des Rucksacks nie da gewesen war, wo er gestanden hatte. Denn in Luft konnte derjenige sich schlecht aufgelöst haben. Aber wenn jemand das Gepäckstück gestohlen hatte, warum lag es dann nicht irgendwo im Dickicht, sondern stand mitten auf dem Weg, wie ein Mahnmal?

Alexa fröstelte, und eine ungute, beklemmende Vorahnung beschlich sie.

4.

Gemeinsam mit der Hundeführerin und einem Bergretter war Alexa vorgegangen und schon nach einer knappen Viertelstunde wieder bei ihrem Ausgangspunkt angekommen. Huber stand mit den beiden Männern von der Bergwacht mitten auf dem Weg und telefonierte, schaute dabei unentwegt nach oben in den Himmel. Der andere Hundeführer war mit Bolha vermutlich schon zu seinem Wagen zurückgekehrt, denn ihn konnte sie weit und breit nicht mehr sehen. Brandl hatte sich etwas abseits im Schatten auf einem umgestürzten Baum am Waldsaum niedergelassen und rieb sich das Knie, erhob sich aber sofort, als sie sich näherten.

»Den Einsatz hatten wir uns einfacher vorgestellt, der Huber und ich«, sagte ihr Chef.

»Sie haben das aber nicht bloß gemacht, um zu schauen, ob ich fit genug für die Berge hier bin?«, fragte sie lächelnd und stellte den Fuß auf den Baumstamm, um ihre Wade zu dehnen.

»Sicher nicht«, lachte Brandl. »Aber ihr habt ja wenigstens jemanden gerettet da oben. Wir sind nur hinter dem Tier im Kreis gelaufen wie die Deppen.«

Jetzt musste auch Alexa lachen. Sie würde sich gut mit Brandl verstehen. Ihr Chef in Aschaffenburg hatte ihr nicht zu viel versprochen. Der Mann trug das Herz auf dem rechten Fleck, und sie hatte das Gefühl, ihn schon ewig zu kennen.

»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte sie. »Tobias Gerg müsste mit dem Verletzten gleich hier sein.«

In dem Moment rief Huber Brandls Namen und deutete nach oben. Alexa musste ihre Augen mit der Hand abschirmen, um nicht geblendet zu werden. Doch bevor sie etwas entdecken konnte, vernahm sie schon das unverkennbare Geräusch eines Hubschraubers, der in ihre Richtung flog.

»Wir haben den Rettungshubschrauber angefordert«, erklärte Brandl. »Heute Nacht soll es verdammt kalt werden hier oben, und wenn sich doch jemand verlaufen hat … Wir sollten nichts unversucht lassen, nur weil der Hund nichts gewittert hat. Vielleicht waren die Handschuhe einfach nur zu lange nicht benutzt worden, der Geruch nicht intensiv genug.«

Alexa nickte ihm zu. Dröhnend kreiste der Hubschrauber jetzt über ihren Köpfen. Solange er das Waldstück absuchte, wäre jede weitere Unterhaltung unmöglich. Deshalb zog Alexa ihr Handy aus der Tasche. Der Empfang war schwach, aber sie hatte Netz. Rasch tippte sie Mantrailer ein und überflog die Zeilen über die Ausbildung und den Einsatz dieser speziell trainierten Hunde. Alles deutete darauf hin, dass die Tiere wirklich gut darin waren, Spuren zu suchen, und erstaunlich oft Erfolge erzielten. Selbst auf dem Wasser konnten sie speziellen Fährten folgen und Vermisste entdecken.

Seltsam, dachte Alexa. Sie steckte das Handy wieder in ihre Tasche und sah nachdenklich nach oben. Immer noch war der Himmel übersät von den bunten Gleitschirmfliegern, die den Berggipfel umkreisten, was die Suchaktion für den Piloten des Helikopters nicht leichter machte. Es war ein riskantes Manöver, so nah an dem Bergmassiv zu fliegen und gleichzeitig keinen der Gleitschirmflieger in Gefahr zu bringen.

Dann eilte sie zu der Hundeführerin, die genau wie die anderen interessiert zusah, wie der Hubschrauber langsam das Gelände abflog.

»Haben Sie mitbekommen, dass Bolha keine Fährte gefunden hat?«, fragte Alexa gegen den Lärm an.

Die Frau nickte und presste die Lippen zusammen. »Ich dachte mir das schon, als sie so unruhig war. Kein gutes Zeichen.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Alexa nach.

»Unsere Bolha ist eine der Besten. Wenn die nichts findet, dann kann das nur einen Grund haben.«

»Sie meinen, dass der Rucksack geklaut wurde und der Besitzer nie hier war und wir ganz umsonst nach ihm suchen?«

Die andere schüttelte den Kopf. »Nein. Ich vermute eher, dass wir zu spät gekommen sind. Vermutlich stand der Rucksack doch schon seit gestern Abend da. Unsere Hunde folgen nur den Spuren von Lebenden, wissen Sie? Wenn sich jedoch der Individualgeruch der gesuchten Person verflüchtigt hat, können Bolha und Artos nicht mehr helfen.«

Alexa schaute wieder den Berg hinauf. Er wirkte gewaltig, dunkel und unheimlich, und sie erinnerte sich an diese seltsame Stille, die sie zuvor im Wald wahrgenommen hatte. Dort war kein Autolärm an ihr Ohr gedrungen, keine weit entfernten Stimmen. Nichts. Nur der Wind in den Bäumen und das Geräusch ihrer Schritte. Dabei war sie nicht einmal alleine gewesen. Wie musste sich jemand fühlen, der sich dort in der Dunkelheit aufhielt? Womöglich verletzt … Denn sie hoffte einfach, dass die Hundeführerin sich irrte.

Sie nickte der Frau zu und ging wieder hinüber zu Brandl, um ihm zu berichten, was sie erfahren hatte. Doch etwas schien passiert zu sein. Huber deutete hektisch nach oben, einer von der Bergwacht sprach über das Funkgerät. Hatte die Suche etwas ergeben? Alexa beobachtete den Hubschrauber, der das Gelände nun nicht mehr absuchte, sondern seine Höhe nahe einer kahlen Felsspitze hielt, auf der Alexa ein Gipfelkreuz entdeckte.

Im Laufschritt kam Huber zu ihnen zurück.

»Haben sie was gefunden?«, fragte Brandl, eilte ihm seinerseits humpelnd ein paar Schritte entgegen.

Huber nickte. »Von hier unten kann man es nicht sehen, hat der Pilot des Rettungshubschraubers gemeint. Aber an der Ostflanke des Braunecks, an der sogenannten Demmelspitze, hängt auf der Rückseite ein Körper in einem Klettergeschirr. Sie vermuten, dass dort jemand beim unerlaubten Klettern abgestürzt ist. Wir können nicht ganz auf den Felsen rauf, aber von hier kann man in ungefähr vierzig Minuten unterhalb der Stelle sein. Sie werden jemanden an einem Seil runterlassen, der die Person bergen soll, denn zu Fuß ist es zu gefährlich. Der Berg ist seit ein paar Jahren für die Besteigung gesperrt. Er zerfällt immer mehr, und die Gemeinde hatte die Befürchtung, dass jemand bei einem Felssturz verletzt werden könnte.«

»Lebt die Person noch?«, fragte Alexa zögerlich, obwohl sie die Antwort nach der Information der Hundeführerin im Grunde schon erahnte.

Huber schüttelte den Kopf. »Sie sind ein paarmal hin und her geflogen, aber sie hat sich nicht bewegt und auch auf Rufe nicht reagiert. Aber sie kann natürlich auch bewusstlos sein, dehydriert, deshalb wollen sie sie so schnell wie möglich bergen. Kommt jemand mit? Ich will mir das unbedingt aus der Nähe anschauen.«

Doch Brandl hielt ihn zurück. »Wenn das wirklich so gefährlich ist, Florian, dann solltest du nicht da oben rumkraxeln. Lass uns das Ganze von hier aus beobachten und dann gleich, wenn sie fertig sind, rüber zum Hubschrauberlandeplatz der Bergwacht fahren und dort auf den Helikopter warten.«

Huber schnaubte unwirsch, und es war ihm deutlich anzumerken, dass er nicht mit der Entscheidung einverstanden war. Er hielt einen Moment inne, ging dann aber ohne ein weiteres Wort zurück zu den Bergrettungsleuten.

Brandl sah ihm nachdenklich hinterher.

»Er hätte es ohnehin nicht geschafft, rechtzeitig oben zu sein«, wandte Alexa ein und deutete zu dem grauen Felsen, an dem sich nun eine Person mit einer orangefarbenen Schutzweste vom Hubschrauber abseilte. »Es geht schon los!«

Fasziniert beobachtete sie, wie das Seil, an dem der Mann hing, gefährlich im Wind schwankte. Ganz langsam verringerte der Hubschrauber den Abstand zur Bergspitze, ließ gleichzeitig den Mann weiter herab. Noch immer pendelte er hin und her, seine Füße berührten schon fast den Felsen. Alexa biss sich nervös auf die Unterlippe. Die Männer da oben mussten Nerven wie Drahtseile haben. Eine falsche Bewegung, und sie hätten den nächsten Verletzten. Doch der Hubschrauberpilot arbeitete zentimetergenau, und schon hatte der Bergretter Halt gefunden und befestigte ein Seil zwischen dem Hubschrauber und dem Gipfelkreuz.

Ein zweiter Mann kletterte nun aus dem Inneren und stellte sich mit dem Rücken zum Helikopter auf die äußere Kufe. Alexa konnte kaum hinsehen. Natürlich waren die Männer gesichert. Dennoch: Ein kurzes Wackeln, ein heftiger Windstoß, und der Mann würde abstürzen und mit hohem Tempo gegen einen der Felsen prallen.

Langsam wurde an dem Seil, das nun zwischen dem Heli und der Bergspitze befestigt war, eine Trage herabgelassen, mit der sie die verletzte Person bergen wollten.

»Passiert es oft, dass Leute hier in der Gegend abstürzen?«

Brandl hielt den Blick weiter nach oben gerichtet. »Öfter, als uns lieb ist. Es ist eine Mischung aus Unerfahrenheit, schlechter Ausrüstung, vor allem aber von Leichtsinn. Am Latschenkopf gab es 2019 gleich zwei tödliche Unfälle. Die Leute versteigen sich, und statt sofort umzukehren und wieder auf die festen Wege zu gelangen, gehen sie das Risiko ein und klettern immer weiter in das unwegsame Gelände hinein, hoffen irgendwie wieder herauszufinden. Aber manche haben auch Glück. Am Geierstein stürzte mal ein Wanderer vierzig Meter tief in eine Schlucht, blieb schwerverletzt in einem Bach liegen, konnte aber noch einen Notruf absetzen. Den haben die Bergretter rechtzeitig in ein Krankenhaus bringen können. Schädelbasisbruch, aber er hat’s überlebt.«

Er hielt inne, denn nun fuhr die Trage zurück nach oben. Der Bergretter saß seitlich darauf, und ganz langsam bewegte sich der Hubschrauber von dem gefährlichen Bergmassiv weg.

»Hoffen wir, dass unser Fall heute auch noch ein glückliches Ende nimmt. Kommen Sie, Frau Jahn, wir sollten uns jetzt auf den Weg machen.«

5.

Fast gleichzeitig mit dem Helikopter erreichten sie den Landeplatz, blieben aber zur Sicherheit noch im Audi sitzen. Der Hubschrauber drehte sich um die eigene Achse und setzte nur langsam auf dem Boden auf. Kleine Äste und Blätter wirbelten wild durch die Luft. Keiner von ihnen hatte auf der Fahrt ein Wort gesagt. Die Anspannung stand Alexas Kollegen deutlich ins Gesicht geschrieben.

In ein paar Minuten würden sie wissen, was mit der geborgenen Person los war – und hoffentlich auch, ob sie etwas mit dem herrenlosen Rucksack zu tun hatte. Dass der Helikopter nicht sofort ein Krankenhaus angeflogen hatte, war in jedem Fall kein gutes Zeichen.

Endlich öffnete Brandl die Autotür, und wie auf Kommando taten Alexa und Huber es ihm gleich. »Kein Krankenwagen«, murmelte ihr neuer Chef und schüttelte den Kopf.

Alexa nickte und straffte die Schultern. Neben ihnen hielt der Streifenwagen der örtlichen Kollegen, die offenbar ebenfalls von dem Team des Rettungshubschraubers informiert worden waren. Sie blieben noch für einen Moment dicht bei den Autos stehen, denn die Luftverwirbelungen, die der Rotor verursachte, betrugen auch in dieser Entfernung mindestens Windstärke acht. Die Haare peitschten Alexa ins Gesicht. Zum Schutz senkte sie den Kopf und schirmte ihre Augen mit der Hand ab.

Die Tür des Hubschraubers ging auf, und zwei der Bergretter machten sich geduckt daran, die Trage aus dem Inneren zu heben und aus dem Gefahrenbereich der Rotorblätter zu bringen.

Gemeinsam liefen sie den beiden Männern entgegen. Einer von ihnen stand mit hängenden Schultern da, schüttelte immer wieder den Kopf, und als sie nur noch wenige Meter entfernt waren, fiel Alexa bereits seine unnatürliche Blässe auf.

Er löste den Helm, unter dem seine Haare strähnig und nass zum Vorschein kamen. Während er sie sich aus der Stirn strich, sagte er mit belegter Stimme: »Das müsst ihr euch ansehen. Ihr glaubt das sonst nicht.« Er schlug die Augen nieder, wischte sich übers Gesicht und deutete hinter sich. »Und den Rechtsmediziner solltet ihr auch rufen.«

Sie näherten sich der Trage, noch immer hatte keiner von ihnen etwas gesagt. Auf den ersten Blick konnte Alexa nichts Ungewöhnliches erkennen: Bei der Person, die geborgen worden war, handelte es sich um eine Frau, deren Alter sie auf Mitte vierzig schätzte. Ihr Gesicht schien unversehrt. Allerdings wunderte Alexa sich, dass man der Frau nicht den Helm abgenommen hatte.

»Ich habe versucht, so wenig wie möglich zu verändern. Aber ich musste sie ja irgendwie da oben wegbekommen. Als ich ihren Körper hochgezogen habe, war mir schon klar, dass irgendetwas nicht stimmt. Aber das …« Der Bergretter schüttelte erneut den Kopf, dann gab er seinem Kollegen ein Zeichen, die Gurte zu lösen, mit denen die Leiche auf der Trage fixiert war. »Ich frage mich wirklich, wie man so was machen kann.«

Brandl ging daneben in die Knie und konnte dabei ein leises Stöhnen nicht unterdrücken. Alexa blieb hinter ihm stehen und beobachtete gespannt, wie der Mann nun behutsam den Reißverschluss der roten Schutzhülle aufzog, die den Körper der Leiche auf der Trage bisher verborgen hatte.

Die Frau trug eine schwarze Jacke mit weißen Signalstreifen an den Reißverschlüssen, die bereits geöffnet war. Darunter einen lilafarbenen Fleecepullover über einem weißen T-Shirt, dazu eine schwarze Wanderhose mit erhöhtem Bund, Hosenträgern und vielen Seitentaschen, deren Nähte und seitliche Reißverschlüsse ebenfalls lila waren. Um ihren Oberkörper verlief das Gurtzeug, mit dem sie sich oben an dem Steilhang gesichert hatte, das sie aber offenkundig nicht hatte retten können.

»Was …?«, fragte Brandl nun und deutete auf die Füße der Frau, deren unnatürliche Stellung jetzt auch Alexa ins Auge fiel. Die Fußspitzen waren nach innen gedreht. Am unteren Saum entdeckte sie auf beiden Seiten kleine silberne Metallklammern, die sich rund um das Hosenbein zogen.

»Ich hatte mich gewundert, weil sie so leicht war«, fuhr der Mann von der Bergrettung fort. »Ein lebloser Körper ist ja nicht ohne. Aber dann, als ich sie abseilen und auf die Liege heben wollte, kam ich erst darauf, was da die ganze Zeit nicht gestimmt hat. Die Beine … sie knickten einfach weg.«

Alexas Blick wanderte an der Leiche entlang nach oben. Auch auf Höhe der Hüfte lugten unter dem Klettergurt kleine Metallklammern hervor, jeweils in circa einem Zentimeter Abstand. Bevor sie fragen konnte, was es damit auf sich hatte, redete der Mann schon weiter. Er stand ganz offensichtlich unter Schock, denn er hörte nicht auf zu schwitzen, wischte sich immer wieder über das Gesicht. Oder er versuchte auf diese Weise das Bild der toten Frau loszuwerden, das ihn offenbar total aus der Fassung gebracht hatte.

»Ich habe es erst nicht verstanden, weil es so absurd ist. Das muss ein vollkommen Irrer gewesen sein, der die Frau da oben hingetragen hat. Oder besser gesagt ihren Oberkörper.«

Ein Schaudern erfasste Alexa, als sie begriff, mit was sie es hier zu tun hatten.

»Du willst mir aber nicht sagen, dass die Frau zerteilt worden ist«, meinte Brandl.

»Doch, genau so ist es«, sagte der Mann und hockte sich neben dem Kommissar hin. »Der Oberkörper ist vorhanden, aber von der Taille abwärts nur Stroh. Siehst du, hier in der Hose ist ein winziges Loch.«

Er deutete auf eine Stelle, an der tatsächlich ein paar beige Halme über dem Hosensaum herauslugten. Erst jetzt bemerkte Alexa, dass die Beine der Toten völlig gerade und unnatürlich gleichförmig aussahen. Sie schüttelte den Kopf und rieb sich die Arme, über die ihr eine Gänsehaut lief.

»Die Schuhe dagegen sind richtig schwer. Ich denke, die wurden mit Steinen oder Ähnlichem gefüllt. Deshalb hing sie stramm am Seil, und wir konnten aus der Luft beim besten Willen nicht erkennen, was uns erwarten würde …« Er blinzelte, schaute nach oben und schüttelte den Kopf.

Alexa starrte Huber an, der direkt neben ihr stand und mit einem pfeifenden Geräusch Luft abließ, die er wohl unbewusst angehalten hatte. Dann betrachtete sie noch einmal genau den vor ihr liegenden Körper. Der Täter hatte die Montur der Frau so präpariert, dass sie tatsächlich wie aus einem Stück erschien. Doch Pullover, Hose und Schuhe waren mit einem Tacker aneinandergeheftet, wie man ihn zum Polstern benutzte. So hielt das ganze Konstrukt, das der Täter geschaffen hatte, zusammen. Nur deshalb hatte er die Leiche überhaupt vom Tal bis auf den Berg hinauftragen können. In einem Stück wäre er mit einem so hohen Gewicht wohl kaum bis zur Spitze gekommen. Dennoch mussten sie es mit einem sehr sportlichen und kräftigen Mann zu tun haben, denn schon die wenigen Meter ohne jede zusätzliche Belastung hatten Alexas Kräfte gefordert. Mit einem toten Körper – und wenn es auch nur die Hälfte davon war – musste das eine immense Herausforderung gewesen sein. War das der Grund dafür, weshalb er die Frau zuvor zerteilt hatte?

»Habt ihr etwas gefunden, das auf ihre Identität hindeutet?«, wollte Alexa wissen. »Papiere? Ein Handy? Irgendetwas? Oder kennt sie vielleicht zufällig jemand von euch? Ist sie aus der Gegend?«

Der Mann verneinte. »Ich habe die Taschen grob abgetastet, aber da war nichts. Auch kein Schmuckstück oder eine Uhr oder irgendein anderer persönlicher Gegenstand. Vielleicht unter ihrer Kleidung, aber wie gesagt, ich wollte so wenig wie möglich verändern.«

Brandl erhob sich und klopfte dem Bergretter auf die Schulter.

»Gute Arbeit. Vielleicht hilft uns genau das weiter.« Dann drehte er sich zu ihnen um, das Gesicht ernst und die Stimme fest: »Florian, du rufst die Kollegen von der Kriminaltechnik und den Rechtsmediziner an.« Er wandte sich an die Polizisten von der Bad Tölzer Dienststelle. »Habt ihr im Ort irgendetwas herausfinden können?«

»Negativ«, entgegnete einer von ihnen. »Um diese Zeit ist alles komplett ausgebucht und voller Touristen. Aber niemand scheint bisher vermisst zu werden. Wir haben darum gebeten, dass sie uns informieren, wenn sich heute am Abend jemand nicht zurückmeldet, jedenfalls werden das die großen Häuser so machen. Die kleinen Pensionen haben wir noch nicht geschafft, da haken wir aber gleich weiter nach. Und den Rucksack hat auch keiner wiedererkannt.«

»Okay. Den Rucksack lasst jetzt hier, damit wir ihn auf Spuren untersuchen lassen können. Damit sicher ist, ob er der Toten gehört hat oder ob wir noch jemanden vermissen.« Brandl legte eine kurze Pause ein. Dann fuhr er mit sachlicher Miene fort: »Besorgt doch bitte zuvor noch ein Zelt, damit wir die Leiche vor der Sonne schützen können, bis der Kollege für die Untersuchung hier ist. Und Stellwände benötigen wir auch. Und dann sollen eure Leute bitte sofort alle Vermisstenmeldungen checken. Wir können jetzt relativ sicher sagen, dass es um eine Frau Mitte vierzig geht.«

Brandl sah an Alexa vorbei und deutete auf einen Mann, der ein Stück entfernt eine Kamera mit einem großen Objektiv auf sie gerichtet hielt. Ein Wanderer, dem Äußeren nach zu urteilen.

»Und sagt diesem Deppen da hinten, er soll sofort aufhören, hier Bilder zu machen. Ich fürchte, dass unser Einsatz ohnehin schon für große Aufmerksamkeit gesorgt hat und bald die ersten Schaulustigen eintrudeln werden.«

Mit einem Nicken zeigten die Kollegen aus Bad Tölz an, dass sie verstanden hatten, und machten sich auf den Weg zu ihrem Auto. Huber stand noch immer regungslos da.

Alexa kniete sich hin und betrachtete das Gesicht der Frau, das wie aus einem Wachsfigurenkabinett aussah. Das dunkle Tuch um ihren Hals verstärkte den Eindruck noch. Ihre Hände waren schmal, die Fingernägel kurz geschnitten und nicht lackiert. Alexa konnte keine Verletzungen oder Hämatome entdecken, die auf einen Kampf hingedeutet hätten. Da war nur eine ältere, winzige Narbe auf ihrem Handrücken.