Grenzfall - Ihr Schrei in der Nacht - Anna Schneider - E-Book
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Grenzfall - Ihr Schrei in der Nacht E-Book

Anna Schneider

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Beschreibung

Sie könnten unterschiedlicher nicht sein und müssen doch gemeinsam einen Mörder jagen – der zweite Fall für das deutsch-österreichische Ermittlerteam Alexa Jahn und Bernhard Krammer Nichts geht mehr in der Grenzregion Karwendel, heftige Schneefälle bringen über Nacht alles zum Erliegen. Mitten im Chaos verschwindet in der Jachenau eine junge Frau auf dem Weg zu ihrem Elternhaus. In Innsbruck kommt es zu einem Zwischenfall in einem Studentenwohnheim, zwei Studentinnen werden seither vermisst. Alexa Jahn und Bernhard Krammer haben alle Mühe, unter den erschwerten Bedingungen grenzübergreifend zusammenarbeiten, als zwei weitere Vermisstenmeldungen eingehen. Ein Zufall ist nun ausgeschlossen, die Fälle müssen zusammenhängen. Bald beschleicht Bernhard Krammer eine ungute Ahnung, er fühlt sich an einen alten Fall erinnert. Doch noch bevor er Alexa Jahn einweihen kann, macht sie einen folgenschweren Fehler. »Mein Fazit: Besser kann man einen Krimi nicht schreiben.« Deutschlandfunk Kultur, Mike Altwicker zu »Grenzfall – Der Tod in ihren Augen« »Ein fulminanter Reihenauftakt, den man nicht verpassen sollte – düster, fesselnd, nicht aus der Hand zu legen.« Ursula Poznanski zu »Grenzfall – Der Tod in ihren Augen« »Anna Schneider ist ein Rising Star für mich, definitiv ein ›Label to watch‹.« Elisabeth Herrmann Band 2 der packenden Krimiserie in der Grenzregion Deutschland – Österreich

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Seitenzahl: 456

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GRENZFALL – Ihr Schrei in der Nacht

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Inhalt

Widmung1.Notiz2.3.4.5.6.7.8.9.Notiz10.11.12.13.14.15.16.17.18.19.20.Notiz21.22.23.24.25.26.27.28.29.Notiz30.31.32.33.34.35.36.37.Notiz38.39.40.41.42.43.Notiz44.45.46.47.48.Notiz49.50.51.52.Notiz53.54.55.56.Notiz57.58.59.60.61.62.Nachwort und DankLeseprobePrologHinweis

Für Noah

1.

Der Schnee knirschte unter den Sohlen ihrer dicken Fellstiefel. Es war das einzige Geräusch, das sie ausmachen konnte. Die dicht fallenden Schneeflocken verschluckten jeden anderen Laut. Bis zur Hälfte des Schienbeins sank sie in den Neuschnee ein und schwitzte vor Anstrengung, trotz der eisigen Kälte. Zum Schutz senkte sie den Kopf, konnte ohnehin kaum die Hand vor Augen sehen. Sie musste sich einfach geradeaus halten, bis die ersten Häuser in Sicht kamen.

Warum war sie nur so spät losgefahren? Im ersten Moment war sie wütend auf den Taxifahrer gewesen, hatte ihm die Schuld in die Schuhe geschoben, weil er sich geweigert hatte, sie bis zu ihrem Elternhaus zu bringen. »Unbefahrbar. Ich bin doch nicht lebensmüde«, hatte er bloß geantwortet und war weder mit Worten zu erweichen noch mit Geld zu bestechen gewesen, sie weiter als zum Loipenparkplatz beim Dannerer zu bringen. Er war einfach umgedreht und hatte sie dort mit ihrer Tasche stehen lassen.

In Wahrheit trug sie selbst die Verantwortung dafür, dass sie diesen Marsch jetzt unternehmen musste. Wie jedes Mal hatte sie ihre Abfahrt bis zum allerletzten Augenblick hinausgezögert. Dabei waren sämtliche Wettervorhersagen katastrophal gewesen. Ihre Mutter hatte ihr mehrmals auf den Anrufbeantworter gesprochen, dass die Verkehrsbedingungen äußerst schlecht waren und sie sich Sorgen mache, dass Juliane nicht heil nach Hause kommen würde.

Aber vor ein paar Stunden war die Vorstellung, das warme Bett zu verlassen, in dem sie mit David gelegen hatte, der immer wieder sanft die empfindliche Stelle an ihrem Hals küsste, und stattdessen in die eisige Kälte einzutauchen, die seit ein paar Tagen in Oberbayern herrschte, keine reizvolle Alternative gewesen. Deshalb hatte sie ihre Bedenken stumm gestellt und lachend die Decke über ihre Köpfe gezogen, um noch einmal in der Wärme seiner Umarmung zu versinken und seine Zärtlichkeiten zu genießen, von denen sie beide nicht wussten, wohin sie führen würden. Für sie zählte nur dieser Moment, und David war eindeutig das beste Geburtstagsgeschenk, das sie sich vorstellen konnte.

Nun ärgerte sie sich jedoch. Wenn sie weiterhin in dem Tempo vorwärtskam, würde sie erst weit nach 19 Uhr das Haus ihrer Eltern erreichen. Der allabendliche Kirchgang ihrer Mutter dürfte bei der Witterung sowieso ausfallen, insofern wäre die Uhrzeit im Grunde kein Problem. Aber sie ahnte, wie frostig die Begrüßung sein würde, wenn sie sich so sehr verspätete, das Gemüse längst verkocht und der Braten trocken war. Sie spürte sie schon, die Blicke ihres Vaters, der noch nie etwas für sie übriggehabt hatte. »Stundenlang steht deine Mutter in der Küche, reibt sich auf für dich. Und das ist dein Dank?! Na sauber.«

Sie hielt kurz an, blickte in den dunklen Nachthimmel. Kein Stern war zu sehen, nichts als Millionen weißer Punkte, die sich aus den Wolken entluden. Unaufhörlich. Und es wurden immer mehr.

Nur die höheren Schneemassen auf den Seitenstreifen ließen erahnen, wo die Straße ungefähr entlangführte. Wenn der Wind weiter so kräftig über das Land zog, konnten die Schneewehen sie jedoch täuschen. Zwar war sie hier groß geworden und kannte die Gegend wie ihre Westentasche – doch sie wusste auch, wie gefährlich es in dieser Jahreszeit sein konnte, allein im Schnee zu laufen.

Mit zitternden Händen zog sie ihr Handy hervor, um ihre Mutter anzurufen. Aber wie schon befürchtet, hatte sie keinen Empfang. In dem Tal gab es so manche Lücke im Funknetz. Also nahm sie Tempo auf, um zügig nach Hause zu kommen.

Sie tröstete sich damit, dass es dort warm war, ein leckeres Essen auf dem Herd stand, das sie für die Strapazen entschädigen würde. Kurz flammte die Erinnerung an David auf und entlockte ihr einen tiefen Seufzer. Nein, sie durfte nicht an ihn denken, sonst würde sie sofort wieder umdrehen.

Natürlich freute sie sich auf ihre Mutter und war gerührt gewesen, dass sie sie an ihrem Geburtstag bekochen wollte. Sie würde ihr Lieblingsessen machen: Schweinebraten mit Blaukraut und Knödeln. Und zum Nachtisch noch eine richtige Geburtstagstorte.

Aber mit ihrem Vater an einem Tisch zu sitzen, weckte schlimme Erinnerungen. Nicht nur, dass er die meiste Zeit übel roch. Er schien seinen Schweiß zu lieben, ihn als Bestandteil seiner selbst zu sehen, den andere genauso zu ertragen hatten wie seine Bosheiten und seine schlechten Manieren. Nach jeder Mahlzeit, die in der Regel schweigend verlief, schob er seinen Teller von sich, lehnte sich zurück und rülpste laut. Sie war sich sicher, er tat es, weil ihre Mutter sich so sehr davor ekelte, dass sie sofort aufhörte zu essen. Schließlich sollte sie nicht fett werden, das sagte er ihr immer wieder. Danach rieb er sich seinen ausladenden Bauch und begann, mit den Fingernägeln seine Zahnzwischenräume zu reinigen.

Juliane verzog sich jedes Mal rasch mit dem Geschirr in die Küche, ihre Mutter brachte ihm noch sein Bier ins Wohnzimmer und stellte den Fernseher an. Dann konnte der gemütliche Teil des Abends beginnen. Juliane und ihre Mutter saßen gemeinsam am kleinen Küchentisch und tauschten mit gedämpfter Stimme Neuigkeiten aus, über ihr Leben in der Stadt und über die Leute im Dorf, bis es Schlafenszeit war.

Nachdem sie eine weitere Kurve gelaufen war, spähte sie in den dichten Flockenvorhang und hoffte, schon die erleuchteten Fenster des geduckten Holzhauses zu sehen. Aber sie war noch immer zu weit weg.

Auch dem war sie entflohen. Den dunklen Räumen mit viel zu winzigen Fenstern, die kaum Helligkeit nach innen ließen. Den fast schwarz gebeizten, massiven Möbeln und dem stickigen Geruch nach verbranntem Holz, der sich auf die Stimmbänder legte und das Atmen erschwerte.

In der Ferne tauchten plötzlich helle Scheinwerfer auf. Erst dachte sie, sie würde es sich nur einbilden, aber dann hörte sie es: Ein Schneemobil kam auf sie zu. Erleichtert stellte sie sich mitten auf den Weg, hob die Arme und winkte, damit der Fahrer sie sehen konnte. Bestimmt war es jemand von der Bergwacht, der sie nach Hause bringen konnte.

Als das Fahrzeug vor ihr zum Stehen kam, strahlten ihr die gleißenden Scheinwerfer direkt ins Gesicht. Geblendet wandte sie den Kopf ab und musste blinzeln. Als sie wieder hochsah, hob sie die Hand zum Schutz, doch bevor sie erkennen konnte, wen sie vor sich hatte, spürte sie einen harten Schlag an der Schläfe, der helle Lichtpunkte vor ihren Augen tanzen ließ.

»Nummer fünf«, hörte sie eine tiefe Männerstimme sagen. »Jetzt kann die Party beginnen.«

Und während sie zu Boden sank, in den weißen Schnee, wärmte ein Rinnsal von Blut ihre Wange.

Warte nicht darauf, dass irgendjemand dich einlädt.

Veranstalte deine eigene Party.

Die Gäste sollten etwas Besonderes sein.

Alle handverlesen.

2.

Der Schnee fiel dichter und Alexa Jahn zog den Kragen ihrer wattierten Jacke enger. Sie schaute auf ihr Smartphone. Da sie viel zu früh dran war, musste sie wohl oder übel noch zwanzig Minuten auf der Ludwigsbrücke oberhalb des Auer Mühlbachs ausharren, wo sie sich verabredet hatte. Die Temperaturen waren in den letzten Tagen rapide nach unten gegangen, und es schneite seit Mittag ohne Unterlass. In den Bergen war vor Unwettern gewarnt worden, aber in München war davon bisher nicht viel zu merken. Der nasse Schnee taute schnell weg, und es lag nicht mehr als eine dünne weiße Schicht über allem.

Unablässig rauschte der Freitagabendverkehr an ihr vorbei, die Fahrzeuge dicht an dicht. Kalter Dunst stieg aus der mit hohen Bäumen bestandenen Senke auf, in der sich die Muffathalle befand, wo sie heute zu einem Popkonzert wollte, das kurzfristig wegen eines Rohrbruchs vom Backstage in diese Location verlegt worden war. Sie hatte einen früheren Zug genommen, um zuvor noch durch die Geschäfte in der Innenstadt zu ziehen, aber ein erneuter Anruf ihrer Mutter hatte ihr die Lust darauf gründlich verdorben.

Die schien offenbar nicht begreifen zu wollen, dass ihr absolut nicht nach Reden zumute war. Seit Tagen klingelte nach Feierabend das Telefon. In unregelmäßigen Abständen immer und immer wieder. Alexa hatte es längst aufgegeben, die Nachrichten abzuhören, die ihre Mutter jedes Mal auf der Mailbox hinterließ. Sie konnte sich die ewige Litanei an Entschuldigungen sparen.

Im Gegenteil: Es machte sie nur noch wütender. Ihre Mutter Susanna hatte genau gewusst, was sie tat, und hatte sich die Konsequenz selbst zuzuschreiben.

Kurz entschlossen stellte Alexa ihr Telefon einfach lautlos. Wenigstens heute wollte sie ihre Ruhe haben, feiern und tanzen, vor allem aber an etwas anderes denken.

Erst vor wenigen Tagen hatte sie von ihrer Mutter erfahren, dass ihr Vater nicht so unauffindbar war, wie sie sie immer hatte glauben lassen. Im Gegenteil: Er hatte nicht die leiseste Ahnung gehabt, dass es sie, Alexa, überhaupt gab. Und bei ihrem allerersten Fall bei der Weilheimer Kriminalpolizei hatte Alexa im Rahmen einer grenzübergreifenden Ermittlung ausgerechnet mit diesem Mann zusammengearbeitet. Fassen konnte sie es immer noch nicht. Und sie hatte auch keinen blassen Schimmer, wie sie mit dieser Information umgehen sollte. Deshalb hatte sie bislang versucht, ihn und das ganze Thema so weit wie möglich zu ignorieren. Was ihr nicht schwergefallen war, bei all der Arbeit in der neuen Dienststelle.

Nur eines ließ sich nicht wegdrücken: die Enttäuschung über das Verhalten ihrer Mutter, die alles andere überlagerte. Sie hatte immer fest daran geglaubt, sie beide seien ein perfektes Team, stets füreinander da. Ihr konnte sie blind vertrauen. Aber die Tatsache, dass Susanna ihre Schwangerschaft für sich behalten und ihr Vater dadurch bis heute nie etwas von Alexas Existenz erfahren hatte, setzte alles, was gewesen war, in ein anderes Licht.

Am schlimmsten aber wog für Alexa, dass ihre Mutter ihr damit die Chance genommen hatte, ihn überhaupt kennenzulernen. Ohne diesen gewaltigen Zufall vergangene Woche hätte sie womöglich nie von seiner Existenz erfahren.

Zwar musste sie der Fairness halber einräumen, dass sie bisher nichts vermisst hatte. Aber das lag vielleicht nur daran, dass sie gar nicht wusste, wie sich ein echtes Familienleben angefühlt hätte. Ein Leben mit zwei Elternteilen. Susannas Entscheidung war unfair und egoistisch – auch ihrem leiblichen Vater gegenüber.

Das hatten sie beide nicht verdient.

Seit dem Telefonat und Susannas Eingeständnis stellte Alexa jedoch auch alles andere in Frage, was sie zuvor mit ihrer Mutter verbunden hatte. Denn Susanna selbst war es gewesen, die Ehrlichkeit ständig als höchstes Gut gepriesen hatte. Und hatte dennoch ihre Tochter derart hintergangen. Der reinste Hohn.

Deshalb weigerte Alexa sich bislang auch, mit ihr zu reden. Ihre Wut war riesig, und sie hatte Angst, dieses Gespräch könnte zu einem Bruch führen, der sich nicht mehr kitten ließ. Denn trotz allem blieb ihre Mutter der wichtigste Mensch in ihrem Leben.

Ihre erste Woche in der neuen Inspektion war zum Glück so turbulent gewesen, dass sie sich die meiste Zeit hatte ablenken können. Die Berichte und Auswertungen des letzten Falls, das Kennenlernen aller Kollegen und der Gegebenheiten vor Ort hatten die Tage im Nu vergehen lassen. Die Abende in ihrem Zimmer in der Pension in Weilheim, in dem sie sich noch immer fremd fühlte, waren hingegen lang und trist gewesen.

Gedankenverloren starrte Alexa auf die bunten Lichter, die vor der Halle glitzerten, und beobachtete die Konzertbesucher, deren Fußtritte sich im Schnee deutlich abzeichneten.

Das Martinshorn eines Polizeifahrzeugs zog für einen Moment ihre Aufmerksamkeit auf sich. Nur mit Mühe konnte sich der Wagen einen Weg durch den Feierabendstau bahnen. Am liebsten hätte Alexa sich auf die Straße gestellt und den Verkehr geregelt, damit die Einsatzkräfte besser durchkamen. Sie musste sich zwingen, woanders hinzusehen.

Weiter oben am Anstieg zum Gasteig hob plötzlich jemand die Hand. Es war Line Persson. Ihre blonden, schulterlangen Haare trug sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, der bei jedem Schritt hin und her schwang. Alexa hatte die Psychologin, die im gleichen Alter wie sie selber war und aus Schweden stammte, letzte Woche im Rahmen ihrer Arbeit kennengelernt und sich auf Anhieb mit ihr verstanden.

Freudig winkte Alexa zurück und beschloss, die trübseligen Gedanken für heute komplett auszublenden. Diesen Abend würde sie sich weder von ihrer Mutter noch von dem Schneegestöber, das nun immer dichter wurde, verderben lassen.

»Wartest du schon lange?«, fragte Line und deutete auf Alexas Haare. »Du bist ja ganz nass!«

»Alles gut, ich bin nicht aus Zucker. Drinnen ist es warm, da trocknen die sicher ganz schnell.«

Line strahlte über das ganze Gesicht. Ihre gute Laune wirkte ansteckend, also hakte Alexa sich spontan bei ihr unter, und gemeinsam liefen sie über das rutschige Kopfsteinpflaster zu dem Veranstaltungsgebäude hinab, vor dem bereits eine Menschenschlange auf den Einlass wartete.

»Und wie lange kennst du diesen Konstantin schon?«, fragte Line, als sie kurze Zeit später ihre Winterjacken in dem Garderobenzelt neben dem Eingang des Ampere, der kleineren der beiden Hallen des Muffatwerks, abgaben. Alexa nahm die Zettel mit den Nummern entgegen und schlang die Arme um den Oberkörper.

»Ehrlich gesagt kenne ich ihn gar nicht richtig«, antwortete sie. »Er war einer der Zeugen bei dem Fall vergangene Woche, weil er früher mal zur Miete in demselben Haus in Bad Tölz gewohnt hat wie das Opfer. Bei der Befragung hat er mir von diesem Konzert erzählt.«

»Nicht wahr!« Line zwinkerte ihr zu. »Du scheinst ja ein ganz besonderes Vertrauensverhältnis zu deinen Zeugen aufzubauen, wenn er dich spontan zu einem Konzert einlädt. Alle Achtung!«

»Seine Wohnung war voller Gitarren und Konzertposter«, fügte Alexa eilig hinzu und machte eine wegwerfende Geste, um zu überspielen, dass sie sich irgendwie ertappt fühlte.

»Ist das denn in Ordnung, ich meine, kriegst du da keinen Ärger?«, fragte Line nach. »Ich trenne das immer ganz strikt, das Berufliche und das Private.«

»Der Fall ist doch schon abgeschlossen«, bemerkte Alexa hastig, der es unangenehm war, dass Line so auf dieser Sache herumritt. »Außerdem hat er ja nichts verbrochen. Wie gesagt, er war nur ein Zeuge.« Dann setzte sie nach: »Und so ganz perfekt gelingt dir die Trennung ja wohl nicht. Immerhin kennen wir uns auch von der Arbeit.«

»Auch wieder wahr«, sagte Line lächelnd und schüttelte den Schnee von ihrem blonden Pferdeschwanz.

Endlich waren sie bei den Ordnern am Eingang der Halle angelangt. »Hallo. Ich müsste auf der Liste stehen. Alexa Jahn mit Begleitung.«

Alexa spürte einen Seitenblick von Line. Kein Wunder, denn tatsächlich durfte Alexa als Beamtin so etwas eigentlich nicht annehmen. Zudem war die Frau, die die Gästeliste durchging, schon fast am Ende angelangt, ohne sie zu finden. Machte sie sich hier gerade zum Narren? War die Einladung nur eine hohle Floskel gewesen?

»Wie war noch gleich der Name?«, fragte die Ordnerin nach.

»Jahn«, wiederholte Alexa und buchstabierte ihren kurzen Namen. »Konstantin Bergmüller wollte mich auf die Liste setzen. Er ist bei Teachers Rock, der Vorgruppe.«

»Ach, sagen Sie das doch gleich!« Die Ordnerin schlug die Seite auf ihrem Klemmbrett um, und eine weitere, wesentlich kürzere Namensliste kam zum Vorschein. »Da steht ihr. Viel Spaß dann.«

Sie drückte ihnen einen Stempel auf den Handrücken, und gleich darauf fanden sie sich in einem Vorraum wieder, von dem es rechts in die Halle ging. Line verschwand noch einmal zur Toilette. »Bevor da gleich wieder eine riesige Schlange ist.«

Die Beleuchtung war bereits gedimmt, nur oberhalb der Theke erhellten Lichtinstallationen den Raum. Vor der Bühne, auf der schon die Instrumente bereitstanden, drängten sich die Fans der Hauptgruppe, die bunte Plakate mit sich führten und bayerische Trachtenhüte trugen. Die Musik kam vom Band, und Alexa musste brüllen, um zwei Bier zu bestellen. Dann sicherte sie einen Platz auf der kleinen Empore, die sich seitlich auf gleicher Höhe mit der Bühne befand. Von dort hatten sie einen guten Blick auf die Band, standen aber nicht gedrängt in den Massen. Sie stellte die Getränke auf dem Boden ab und betrachtete neugierig die Leute im Saal. Sofort fiel ihr auf, dass das Publikum vorwiegend aus Frauen bestand. Viele hatten sich extrem zurechtgemacht, trugen trotz der Kälte draußen Lederhosen und tief ausgeschnittene Tops, hatten oft auch bunte Trachtentücher umgebunden. Lässig, aber ziemlich sexy.

Sie selbst hatte sich für ein Ringelshirt, eine Strickjacke, Jeans und hohe Boots mit dicker Sohle entschieden. Sie hatte sich nie besonders für Mode interessiert, ihr war es vor allem wichtig, dass ihre Kleidung bequem war. Line war zwar ähnlich gekleidet wie sie selbst, dennoch fühlte Alexa sich in ihrem praktischen Look plötzlich irgendwie fehl am Platz.

In dem Moment lief jemand eilig auf die Bühne. Alexa strich sich die nassen Ponysträhnen aus der Stirn, und ihr Blick folgte dem Mann gespannt. Aber es war nur ein Helfer, der den letzten Check der Instrumente und Mikrophone machte und mit dem Techniker am Mischpult Zeichen austauschte.

Als sie merkte, dass sie offenbar die ganze Zeit die Luft angehalten hatte, musste sie über sich selber lachen. Sie benahm sich wie ein Teenie.

Dennoch beschloss Alexa, vor dem Beginn des Konzerts auch noch kurz die Toilette aufzusuchen, um wenigstens ihre Haare einigermaßen zu richten. Und Lippenstift aufzutragen.

Schaden würde das jedenfalls nicht.

3.

Chefinspektor Bernhard Krammer, der Leiter der Gruppe Leib und Leben im Innsbrucker Landeskriminalamt, stand regungslos mit verschränkten Armen vor dem Bürofenster. Eisiger Wind drang an sein Gesicht. Dieses Wetter hatte ihm gerade noch gefehlt. Seit er am vergangenen Montag aus Deutschland zurückgekehrt war, hatte er sich nicht mehr richtig auf seine Arbeit konzentrieren können, war aber dennoch jeden Tag bis zum späten Abend geblieben.

So auch heute.

Schon seit Stunden hatte er Dienstschluss, aber ihn zog nichts nach Hause. Im Gegenteil. Es graute ihm vor der Stille dort und davor, mit seinen Gedanken allein zu sein. Vor den ungefüllten Stunden des Wochenendes, die sich wieder einmal wie Kaugummi in die Länge ziehen würden.

Er hatte einen Ausflug in die Berge vorgehabt, wollte sich beim Wandern abreagieren, seine Gedanken sortieren und dann noch irgendwo einkehren, um ein warmes Essen und einen Roten zu genießen. Oder auch zwei. Aber bei diesem Wetter konnte er das vergessen.

Es verhieß aber auch, dass sie eine ereignislose Woche vor sich hatten, denn die Verbrechensrate war bei Schneestürmen geringer als bei allen anderen Wetterlagen. Während Diebe bei jeder Witterung unterwegs waren, gingen Tötungsdelikte und Sexualstraftaten im Allgemeinen deutlich zurück. Nur an Feiertagen stieg sie wieder an, doch Ostern lag ja schon lange hinter ihnen.

Gerade deshalb war es viel zu spät für diese Schneemassen. Der Frühling war längst überfällig. Aber das Wetter spielte ja immer öfter verrückt.

Resigniert wandte Krammer sich um. Sein Blick fiel dabei auf den großen Zeitungsartikel, der seit letzter Woche an seiner Pinnwand hing. Über den Grenzfall, den er zusammen mit einer deutschen Kommissarin gelöst hatte. Neben dieser jungen Frau, die auf dem Foto herausfordernd das Kinn gehoben hatte, sah er verdammt alt aus. Und genau so fühlte er sich gerade.

Er schob den Gedanken weg, nahm an seinem Schreibtisch Platz und griff nach der Mappe, die zuoberst auf dem Stapel von Altfällen lag, die er sich für diese Woche vorgenommen hatte. Der Aktendeckel war abgegriffen und die Farbe verblichen. Wie viele Male hatten seine Vorgänger wohl schon darin geblättert, ohne die entscheidende Spur zu finden? Es ging um ein sechzehnjähriges Mädchen, das vor nunmehr zwölf Jahren auf dem Heimweg von seiner besten Freundin spurlos verschwand. Was ihr wohl an diesem Abend passiert war?

Er wusste genau, wie sie aussah: ein lachender Teenager mit ebenmäßigen Zähnen, großen blauen Augen und blonden Haaren. War sie abgehauen, um Abenteuer zu suchen? Oder war sie der falschen Person begegnet und einem Verbrechen zum Opfer gefallen? Wenn sie noch am Leben war, dann wäre sie mittlerweile Ende zwanzig. Würde sie wirklich die ganze Zeit untertauchen, sich nie melden? Eher nicht. Er hielt es für wahrscheinlicher, dass sie irgendwo in den Tiroler Wäldern verscharrt war, ihr Körper längst eins geworden mit dem Erdreich.

Er seufzte bei dem Gedanken an ihre Eltern. Die nie zur Ruhe kommen würden, solange sie ihr einziges Kind nicht zu Grabe tragen konnten. Denn die Hoffnung, es würde alles doch noch ein gutes Ende nehmen, war wie eine Zecke, die an ihnen saugte, trotz allem wuchs und immer neue Nahrung fand.

Er selbst wusste im Grunde nichts über diesen Schmerz. Er hatte nie eigene Kinder gehabt. Aber auch wenn er nicht beurteilen konnte, wie sie sich fühlten, so war es ihm immerhin möglich, ihrer Tochter Achtung zu erweisen, indem er sie selbst viele Jahre später nicht vergaß und sich weigerte, einfach aufzugeben. Er würde weiter nach dem entscheidenden Hinweis suchen, der erklärte, was damals geschehen und wieso sie verschwunden war.

Wenigstens das.

Langsam ging Krammer zu der Stereoanlage, die sich auf seinem Sideboard befand, legte eine CD ein und stellte sie auf mittlere Lautstärke, bevor er wieder Platz nahm. Seine heutige Wahl fiel auf Schuberts achte Sinfonie.

Als die Streicher einsetzten, schloss er die Augen, lehnte den Kopf gegen die Lehne und versuchte, sich zu entspannen. Aber in seiner Schläfe pochte ein fieser Schmerz, und sein steifer Nacken ließ nicht zu, dass er den Hals ganz nach hinten durchbog. Er stöhnte auf, als er versuchte, mit den Schultern zu kreisen, um die Muskulatur zu lockern.

Es war ein Kreuz mit dem Alter. Mittlerweile tat ihm jeden Tag ein anderer Körperteil weh. Und der Kopfschmerz war längst zu einem dauerhaften Begleiter geworden. Was war geblieben von den sogenannten guten Jahren? Finanziell war er zwar abgesichert, dafür hatte er gesorgt und immer bescheiden gelebt. Aber im Privaten hatte er völlig versagt. Manchmal kam er sich vor wie ein alter Narr, der sich aus schierer Panik vor dem Alter und der Einsamkeit weigerte, seinen Job an den Nagel zu hängen.

Er starrte ins Leere, lauschte auf die Musik.

Andererseits war gerade diese Beharrlichkeit vielleicht die letzte Chance für dieses Mädchen. Weil er nicht bereit war aufzugeben und hartnäckig blieb. Er konnte sich natürlich weiter einreden, dass es an seiner Art lag. Oder an seiner Haltung zu seinem Beruf. Doch im Grunde wusste er selbst, dass er diesen Charakterzug perfektioniert hatte, weil es in seinem Leben nichts anderes von Bedeutung gab, das ihn hätte ablenken können.

Resolut schlug er den Aktendeckel auf, musterte das Bild der Verschwundenen, blätterte dann ein paar Seiten weiter bis zum Vernehmungsprotokoll des Nachbarn, der damals im Fokus der Ermittlungen gestanden hatte.

Was wohl Alexa Jahn zu den Aufzeichnungen sagen würde? Er hatte oft an die Kriminaloberkommissarin aus Weilheim gedacht, mit der er in der vergangenen Woche eng zusammengearbeitet hatte. Schon seit Tagen überlegte Krammer, sie anzurufen. Immer wieder musste er an den letzten gemeinsamen Abend in Deutschland denken, an dem er sich ihr gegenüber unmöglich aufgeführt hatte. Sicher hielt sie ihn für impertinent und ungehobelt. Leider hatte sie damit nicht ganz unrecht – und er wusste, dass er sich entschuldigen sollte. Er streckte die Hand nach dem Telefonhörer aus, zögerte aber, ihn abzuheben.

»Du bist noch da?«, riss ihn eine Stimme aus seinen Gedanken.

Er hatte nicht damit gerechnet, dass seine Kollegin noch im Haus war. Irritiert sah er auf die Uhr.

Es war schon nach acht.

Roza Szabo, eine zierliche Rothaarige, die aus Ungarn stammte, ging schnurstracks zu dem gekippten Fenster und schloss es mit einem lauten Knall. Resolut, genau wie sie es auch im sonstigen Leben war.

»Irgendwann wirst du hier drin zu Eis erstarren!«

Krammer ließ sich gegen die Stuhllehne fallen, wischte sich einmal über das Gesicht, um wieder frisch zu werden. Denn ohne Grund war Roza sicher nicht mehr hier. »Bist du nur gekommen, um mich zu kritisieren?«

Sie lachte und hielt ihm ein Blatt hin. Das Bild zeigte eine verschleierte junge Frau mit braunen Augen, buschigen Augenbrauen und markanter Nase. Anfang oder Mitte zwanzig, schätzte er.

»Was ist mit ihr?«

»Lela Neshan wird von ihrer Kommilitonin vermisst.«

»Seit wann?«

»Erst ein paar Stunden. Aber sie waren zum Lernen verabredet, und das Mädchen ist felsenfest überzeugt, dass Lela das niemals ausfallen ließe, ohne sich zuvor abzumelden.«

Krammer zog eine Augenbraue hoch. »Vielleicht ist sie bei dem Wetter irgendwo stecken geblieben? Es herrscht ein ziemliches Chaos auf den Straßen.«

Roza Szabo winkte ab. »Sie wohnt im Studentenwohnheim Am Gießen und geht immer zu Fuß in die Uni. Ein Auto hat sie nicht. Diese Nasrin Bahno, die mich angerufen hat, kann sich deshalb nicht vorstellen, dass das Wetter mit ihrem Verschwinden zu tun hat. Schließlich kann sie sie auch auf dem Handy nicht erreichen.«

»Aber sie ist noch nicht lange weg, oder?«

»Nasrin Bahno hat sie vor zwei Tagen zum letzten Mal gesehen, als sie Unterricht bei ihr hatte. Lela Neshan finanziert sich wohl über Nachhilfe. Frau Bahno klang wirklich überzeugend, und ich verstehe ihre Sorge. Wenn diese Lela das Geld unbedingt braucht, um die Miete und ihren Lebensunterhalt zu bezahlen …«

Roza Szabo griff nach ihren Haaren und steckte sie geschickt mit einer Nadel zu einem Knoten. Das war ihr amtlicher Look und ein sicheres Zeichen, dass sie sich auf den Weg machen wollte.

»Sie ist Ausländerin. Trägt einen Hidschab, insofern ist sie sicher religiös. Scheint mir nicht der Typ zu sein, der am Wochenende einen draufmacht und alles um sich herum vergisst«, sagte sie. »Ich will mir nicht vorwerfen lassen, nicht früh genug gehandelt zu haben und schau auf dem Heimweg einfach noch dort vorbei. Das Wohnheim ist kein großer Umweg. Wenn es falscher Alarm war, kann ich wenigstens am Wochenende ruhig schlafen.«

Sie beugte sich über den Schreibtisch, griff nach dem Foto der jungen Frau und steckte es ein.

»Außerdem habe ich eh nichts Besseres vor«, fügte sie hinzu. »Also, baba und ein schönes Wochenende.«

Szabo war schon an der Tür, als Krammer kurz entschlossen die Akten zusammenschob, in seine Tasche räumte und den Computer herunterfuhr.

»Warte. Ich komme mit«, rief er ihr zu und schaltete die Musik aus. Es war in jedem Fall besser, den Lebenden zu helfen. Die Toten konnten warten.

4.

Immer wieder wanderte Alexas Blick über die vielen Köpfe hinweg in Richtung Eingang. Der Hauptact, der mit temporeichem Bayernrock das Publikum zum Mitgrölen animierte, erreichte sie nicht wirklich. Die Musik war einfach nicht ihr Ding. Und ihr Fuß, den sie sich bei ihrem letzten Einsatz leicht verletzt hatte, war von dem langen Stehen geschwollen und pochte schmerzhaft. Offenbar war das Konzert nicht die beste Idee gewesen. Erst recht nicht bei diesem scheußlichen nasskalten Wetter. Sie hätte allen Grund gehabt, genervt zu sein.

Wäre da nicht Konstantin gewesen. Als er vor seinem Auftritt über eine kleine Rampe auf die Bühne lief, hatte er sie bemerkt und mit einem strahlenden Lächeln zu ihr herübergewinkt.

Sofort war Alexa die Röte ins Gesicht gestiegen, als sie die neugierigen Blicke der Umstehenden spürte. So aus der Masse herausgehoben zu werden, machte sie verlegen. Doch gleichzeitig hatte ihr Herz eine Spur schneller geschlagen, und sie war gespannt darauf, was der Abend noch bringen würde. Line hatte sie in die Seite geknufft und ihr vielsagend zugezwinkert.

Gebannt hatte Alexa Konstantin auf der Bühne beobachtet, seine lässige Art, mit der er sich völlig selbstverständlich vor all diesen Menschen präsentierte, als hätte er nie etwas anderes in seinem Leben getan. Die Coversongs, die Teachers Rock gespielt hatte, kannte Alexa fast ausnahmslos und hatte schon bald im Chor mit den anderen im Saal gesungen. Die Arrangements der Band waren zwar noch nicht perfekt, aber sie performten mit Leidenschaft, und Konstantin zog das Publikum voll in seinen Bann. Er genoss sichtlich die Blicke, agierte mit dem Mikrophonständer, flirtete mit den Frauen und bewegte sich im Takt wie ein echter Rockstar.

Als sie zum Schluss ein sehr gefühlvolles Lied von Coldplay anstimmten, saß Konstantin allein mit einem Kollegen auf einem Barhocker, nur ein einzelner Strahler war auf die beiden gerichtet, der Rest der Halle blieb dunkel. Seine tiefe, rauchige Stimmfarbe zur akustischen Gitarre brachte so starke Emotionen rüber, dass Alexa eine Gänsehaut bekam und im Saal die Handylichter wie ein Sternenmeer funkelten. Dann war er rasch hinter der Bühne verschwunden.

Mittlerweile spielte die zweite Band schon seit einer Stunde. Mindestens. Aber Konstantin war nirgends zu sehen. Dabei hatte Alexa geglaubt, dass er sich das Konzert des Hauptacts noch mit ansehen würde, und war ein wenig enttäuscht, dass er sich nicht mehr blicken ließ.

Aber was hatte sie eigentlich erwartet? Er hatte nichts dergleichen versprochen. Außerdem kannten sie einander nur flüchtig, und es war schon eine tolle Geste, dass er sie überhaupt eingeladen hatte.

Sicher wäre es besser gewesen, nach seinem Auftritt abzuhauen, mit Line irgendwo eine Kleinigkeit essen zu gehen und noch ein wenig zu plaudern. Denn trotz ihrer Vorsätze drängte nun auch das andere Thema wieder in ihr Bewusstsein, das ihr schon seit Tagen auf der Seele lag. Doch Line schien die Musik sehr gut zu gefallen, sie strahlte über das ganze Gesicht, tanzte und klatschte mit. Es wäre nicht fair, sie jetzt zu drängen, nach Hause zu fahren, nur weil es ihr die Stimmung verhagelt hatte. Vielleicht gab es eine Bar in der Nähe, in die sie noch einkehren konnten. Ein Cocktail und ein gutes Gespräch würden ihre Laune sicher gleich wieder bessern.

Plötzlich bemerkte Alexa einen Tumult im Publikum. Ein paar Leute sprangen zur Seite. Irgendetwas war da vorne passiert, direkt unterhalb der Bühne. Schon brach die Musik ab, und die Künstler starrten zu Boden.

Alexa stellte sich auf die Zehenspitzen, konnte aber von ihrem Platz aus nichts erkennen. Doch die Stille im Raum verhieß nichts Gutes.

Plötzlich teilte sich die Menge.

»Da liegt jemand!«, sagte Line und rannte auch schon los.

Ohne zu zögern lief Alexa hinterher. Sie bahnten sich ihren Weg durch die Konzertbesucher, und tatsächlich: Eine junge Frau lag reglos da. Die Umstehenden blieben auf Abstand und glotzten bloß.

Während Line niederkniete und den Puls fühlte, rief Alexa den Notruf an und orderte einen Krankenwagen. Die Frau zitterte plötzlich am ganzen Körper.

»Sie riecht nach Cannabis«, fügte Line hinzu. »Vielleicht hat sie zu viel davon erwischt und hatte einen Whiteout. Schnell, wir brauchen was Zuckerhaltiges.«

Alexa eilte zur Theke, orderte einen Schokoriegel und eine Fanta. Als sie sich umdrehte, stellte sie fest, dass die meisten Konzertbesucher sich bereits Richtung Ausgang bewegten und auch die Musiker von der Bühne verschwunden waren. Klar, alle wollten nur weg. Bevor es unbequem wurde.

Line hockte allein neben der jungen Frau, die noch immer nicht bei Bewusstsein war. Alexa reichte Line die Sachen, die sie geholt hatte, und lief nach draußen, um den Sanitätern den Weg zu weisen.

Der kalte Wind schnitt ihr ins Gesicht. Mittlerweile hüllte eine weiße Schneedecke alles ringsherum ein, und es schneite unablässig weiter.

Weil noch kein Martinshorn zu hören war, bog sie rasch in das Garderobenzelt ab und drängte sich mit ihrem Dienstausweis an der Schlange vorbei nach vorne, um die beiden Jacken abzuholen. Das Murren einiger Leute überhörte sie einfach. Keiner der Meckerer hatte auch nur versucht, der Frau in der Halle zu helfen. Geschah ihnen recht, dass sie nun einen Moment länger frieren mussten. Die ignorante Haltung vieler Menschen erstaunte sie immer wieder.

Rasch schlüpfte Alexa in ihre Jacke, trat nach draußen und setzte ihre Kapuze auf. Ernüchtert betrachtete sie die Fassade der alten Halle, in der vormals ein E-Werk untergebracht war. Zuvor hatte sie es nicht bemerkt, aber an einigen Stellen bröckelte der Putz. Der Geruch nach fetter Bratwurst und Pommes hing schwer in der Luft.

Endlich hörte sie die Sirenen und ging noch ein paar Schritte weiter auf den Vorplatz hinaus, machte mit erhobenen Armen auf sich aufmerksam.

Ein Stück von ihr entfernt, an der zur Isar gelegenen Seite, entdeckte sie Konstantin Bergmüller, der mit jemandem sprach. Den dunkelhaarigen Typen mit Locken, der einen halben Kopf kleiner als Konstantin war und in dem Parka in Übergröße fast verschwand, konnte sie im Halbdunkel kaum erkennen. Doch zur Band gehörte er definitiv nicht. Und noch etwas wurde deutlich: Das Gespräch war keineswegs freundlich. Die beiden stritten, heftig sogar.

Die Gestik des Kleineren war fahrig und aggressiv. Bei jedem Satz trat er näher zu Konstantin, bewegte seinen Kopf ruckartig vor, als würde er nach seinem Gegenüber hacken. Als der Rettungswagen gerade den kopfsteingepflasterten Weg zur Halle hinunterfuhr, stieß er Konstantin mit beiden Händen gegen die Brust, wodurch der beinahe gestürzt wäre. Instinktiv griff Alexa mit der Rechten unter ihre Armbeuge, aber natürlich hatte sie ihr Schulterholster nicht hierher mitgenommen.

Am liebsten wäre sie zu den Streitenden hinübergegangen, doch sie musste erst den Notarzt zu der Frau lotsen.

Kurz bevor sie mit dem Sanitäter zurück in die Halle eilte, warf sie noch einmal einen Blick über die Schulter, aber sie konnte die beiden Männer nicht mehr entdecken.

Drinnen hatte sich das Bild völlig verändert: Die junge Frau saß nun aufrecht, schüttelte wütend den Kopf und fuchtelte wild mit den Armen. Line hatte alle Mühe, sie zusammen mit einem Mann, der ihr offenbar zu Hilfe gekommen war, festzuhalten. Die Frau brüllte dabei wie am Spieß, stieß übelste Beschimpfungen aus und versuchte immer wieder, sich aus dem Griff der beiden herauszuwinden.

Alexa und der Arzt rannten zu dem Trio und halfen ebenfalls mit, die Frau zu fixieren, während Line kurz zusammenfasste, was passiert war.

»Sie behauptet, sie würde verfolgt. Ich habe keine Ahnung, was sie genommen hat, aber sie leidet ganz offenbar unter Wahnvorstellungen. Gras kann ich riechen, aber wer weiß, was sie sonst noch intus hat«, erklärte Line dem Notarzt und nannte ihren Namen und ihren Beruf.

Der Arzt nickte und zog hinter dem Rücken der Patientin eine Spritze auf. Die Verabreichung eines Sedativums war notwendig, denn ihre Gegenwehr wurde immer heftiger, und es bestand die Gefahr, dass sie sich in ihrem Wahn selbst verletzte. Sie knurrte wie ein wildes Tier, schrie voller Angst, jemand wolle sie in seine Gewalt bringen.

Die Wirkung des Mittels setzte zum Glück schnell ein. Die Frau würde eine Weile schläfrig und benommen sein. Wie erwartet, endete ihre Gegenwehr abrupt, und sie sackte langsam in sich zusammen.

Nun konnte der Arzt untersuchen, ob sie sich bei dem Sturz verletzt hatte. Obwohl er nichts feststellen konnte, ließ er sie zur Sicherheit auf eine Trage legen und in die Klinik bringen.

Line und Alexa händigten dem Arzt noch ihre Karten aus für den Fall, dass im Nachgang Fragen auftauchen sollten.

Dann standen sie allein mitten in der Halle, in der bereits die normale Beleuchtung eingeschaltet war und die Roadies mit dem Abbau der Instrumente begonnen hatten.

»Kommst du noch mit zu mir? Ich könnte nach der Geschichte gut ein Gläschen vertragen«, sagte Line und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte.

»Ich würde total gerne, aber bei dem Schneechaos befürchte ich, dass ich mit dem späteren Zug vielleicht nicht mehr nach Weilheim zurückkomme.«

»Dann übernachte doch bei mir«, schlug Line vor. »Ich habe eine Couch, die man ausziehen kann, und einen Pyjama kann ich dir auch leihen. Also, falls du nichts vorhast, meine ich. Oder willst du noch backstage deinen Sänger treffen?« Vielsagend hob sie die Augenbrauen.

Alexa spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Sie hasste es, dass ihr das immer wieder passierte.

Als sie gemeinsam vor die Tür traten, lugte sie noch einmal in die Richtung, in der sie Konstantin zuletzt im Halbdunkel gesehen hatte, doch der Platz war längst leer. Zwar war sie erschöpft, und es wäre sicher vernünftiger, zurückzufahren. Aber sie hatte wenig Lust, auf dem zugigen Hauptbahnhof herumzustehen und auf die Bahn zu warten. Und darauf, allein in ihrem Zimmer zu hocken, am allerwenigsten.

»Wo müssen wir denn lang? Den Hügel hoch, richtig?«, fragte Alexa deshalb rasch und hakte sich bei Line unter. Dann stapften sie los durch den Schneematsch.

So würde dieser seltsame Abend vielleicht doch noch eine gute Wendung nehmen.

5.

Szabo bog langsam in die verschneite Straße ein, fuhr durch ein zweiflügeliges Tor und stellte den Wagen auf dem Parkplatz ab. Das Studentenwohnheim war ein in die Jahre gekommener Betonbau aus den späten Siebzigern, welcher vormals das Internat des Ursulinenordens beherbergt hatte und von einem bekannten Tiroler Architekten erbaut worden war.

Das hell erleuchtete Gebäude wirkte zwar auf den ersten Blick nüchtern, war jedoch so ausgerichtet, dass beinahe alle Zimmer nach Süden hin lagen und lichtdurchflutet waren. Zum Großteil verfügten sie über Balkone.

Der Schnee fiel dicht, und der Vorplatz war menschleer. Kein Wunder: Bei diesem fiesen Aprilwetter würde man nicht mal einen Hund auf die Straße jagen. Die Sicht war so schlecht, dass selbst die Umrisse der Nordkette kaum mehr zu erkennen waren, die hinter der Stadt aufragte.

Als sie auf den Haupteingang zusteuerten, schob eine junge Frau die Glastür auf. Sie hatte schwarzes, lockiges Haar, das ihr bis zur Mitte des Rückens reichte, einen dunklen Teint, braune Augen und volle Lippen. Anders als Krammer erwartet hatte, trug sie kein Kopftuch.

»Frau Bahno?«, fragte Szabo sie schon. »Wir hatten vorhin telefoniert, Roza Szabo mein Name. Und das ist mein Kollege Chefinspektor Bernhard Krammer. Wollen Sie uns vielleicht zu dem Zimmer bringen, in dem Ihre Freundin wohnt?«

»Natürlich«, antwortete Nasrin Bahno und führte sie ohne lange Vorrede zum Treppenhaus.

Sie passierten ein paar große, helle Räume, in denen sich vereinzelt Studierende über ihre Laptops beugten oder in dicken Büchern lasen.

Während sie in den zweiten Stock hinaufstiegen, sah Krammer auch in den Gängen einige Sitzecken. In seiner Jugend hätte man hier vermutlich krachlaute Musik durch die Flure schallen hören. Immerhin war es schon spät und Freitagabend. Doch heutzutage blieb man selbst mit seiner Musik für sich und genoss lieber seine individuelle Playlist über Kopfhörer.

Für ihre Ermittlungen war es sicher gut, dass sich so viele Personen im Haus aufhielten. Falls etwas hinter der Sache stecken sollte, gab es genug Leute, die sie befragen konnten, ob vielleicht jemand etwas Verdächtiges beobachtet hatte. Wobei in diesen Wohnheimen, in denen ständig jemand ein- oder auszog oder zu Besuch kam, ein Fremder nicht wirklich auffiel. Gerade deshalb fanden zahlreiche sexuelle Übergriffe in einem solchen belebten Umfeld statt und nicht in der Stille und Abgeschiedenheit, wie oft vermutet wurde.

Doch die wenigsten davon wurden gemeldet.

Aus Scham.

»Wir treffen uns immer hier im Wohnheim und setzen uns in einen der Lernräume«, ließ Nasrin sie wissen. »Lela war noch nie unpünktlich. Wirklich nie. Es muss etwas passiert sein. Ich bin mir ganz sicher.«

»Seit wann nehmen Sie denn Nachhilfe bei ihr?«

»Schon über ein halbes Jahr. Ich hatte zu Beginn des letzten Wintersemesters jemanden gesucht, der mich in Biologie unterstützt. Ich habe in dem Fach einiges aufzuholen, was in einer fremden Sprache doppelt schwer ist, und muss lernen, mich noch präziser im Deutschen auszudrücken. Seitdem komme ich jeden Freitag.«

»Aber Sie sprechen ganz hervorragend«, fasste Szabo in Worte, was Krammer gerade gedacht hatte.

Nasrin Bahno errötete leicht, wies das Lob aber von sich. »Meine Dozenten sehen das anders. Ich lebe jetzt schon drei Jahre in Österreich, aber die Grammatik fällt mir immer noch richtig schwer.«

Die junge Frau beäugte die Zimmernummern und lief nun noch etwas schneller den Gang entlang.

»Sie kennen ihr Zimmer gut? Und würden merken, wenn etwas fehlt?«, fragte Krammer neugierig.

Nasrin Bahno schüttelte vehement den Kopf. »Nein. Ich weiß die Zimmernummer, aber ich war nie dort. Wir sind ja keine Freundinnen. Lela ist auch schon etwas älter als ich.«

»Haben Sie denn schon Leute im Wohnheim gefragt, ob sie sie vielleicht gesehen haben?«, wollte Szabo wissen. »Es gibt doch sicher noch andere Räume, wo sie sein könnte. Gemeinschaftsküchen oder etwas in der Art.«

Wieder verneinte Nasrin. »Ich kenne hier niemanden. Aber ich habe ihr auf WhatsApp geschrieben. Mehrfach. Und sie auch angerufen.« Sie zog ihr Smartphone hervor. »Schauen Sie: zwei Haken. Sie hat es nicht einmal gelesen. Das passt nicht zu ihr.«

Obwohl Krammer natürlich wusste, dass diese Generation es vollkommen normal fand, eingehende Meldungen auf dem Smartphone sofort zu überprüfen, konnte er nicht verstehen, dass jemand tatsächlich jederzeit überall erreichbar sein wollte. Und trotz dieser weltweiten engen Vernetzung gab es offenbar immer mehr Menschen, die sich einsam und allein fühlten. Ein verrücktes Paradox.

Nasrin deutete auf die vorletzte Tür. Dann trat sie zurück, so als erwartete sie, dass gleich eine Art Springteufel aus dem Raum hervorschnellte. Krammer gefiel es, dass die junge Frau so viel Respekt vor der Privatsphäre ihrer Mentorin hatte.

Szabo trat vor und klopfte. Als keine Antwort kam, drückte sie die Klinke herunter. Doch das Zimmer war – wie nicht anders zu erwarten – verschlossen. Szabo drehte sich mit weit aufgerissenen Augen zu Krammer um, was ein deutliches Zeichen dafür war, dass sie sich ärgerte.

»Bitte, Sie müssen nachsehen!«, bettelte Nasrin Bahno. Sie zitterte am ganzen Körper, was vermutlich daran lag, dass sie trotz des Schneefalls bloß Sneakers und eine knöchellange Hose trug. Beides durchnässt und viel zu dünn für dieses Wetter.

Als Szabo Nasrin gerade erklärte, dass sie sich nicht ohne triftigen Grund Zutritt zu Lelas Räumlichkeiten verschaffen durften, ging Krammer ein paar Schritte weiter und musterte den Eingangsbereich des Nachbarzimmers, das letzte im Gang. Ihm fiel auf, dass die Tür einen schmalen Spalt offen stand. Als er anklopfen wollte, bewegte sie sich leicht.

»Sie sind ganz sicher, dass es nicht dieses Zimmer hier ist, Frau Bahno?«, fragte Krammer mit gedämpfter Stimme.

Szabo sah ihn irritiert an.

Er nickte seiner Kollegin zu und legte seine Hand auf das Holster, während Roza Szabo die Studentin eilig mit sich zog.

»Polizei! Ich komme jetzt herein«, sagte Krammer laut, als die beiden Frauen weit genug entfernt waren, und stieß mit dem Fuß die Tür auf.

Gegenüber stand eines der Fenster weit offen, was vermutlich die Bewegung der Tür verursacht hatte. Auf dem äußeren Rand des Schreibtischs lag eine dünne Schneeschicht.

Vielleicht hielt sich jemand um die Ecke verborgen, nachdem er sie draußen auf dem Flur hatte reden hören. Langsam ging Krammer in den Raum hinein, zog zur Sicherheit seine Pistole.

Das Zimmer war knapp vier Meter lang und ebenso breit. Er schaute ins Bad, kontrollierte den Einbauschrank. Erst als er auch draußen auf dem Balkon nachgesehen hatte und dort niemanden ausmachen konnte, steckte er die Waffe weg.

Doch eines war jetzt sicher: Nasrin Bahno hatte richtig gehandelt, sie zu rufen. Denn auch ohne den Raum näher zu untersuchen, war klar, dass hier etwas nicht stimmte. Es ging um weit mehr als einen simplen Einbruch. Auf der Schreibtischkante waren Blutspuren. Sie hatten es mit großer Wahrscheinlichkeit mit einem Gewaltverbrechen zu tun.

Krammer trat auf den Gang hinaus und ging zu den beiden Frauen. Er wechselte einen kurzen Blick mit Szabo, die sofort verstand.

»Frau Bahno«, sagte sie, »es wäre besser, wenn Sie uns hier einen Moment allein lassen würden.«

Das Gesicht der jungen Frau war blass geworden, die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Sie kämpfte mit ihren Ängsten, bestätigte aber mit einer Kopfbewegung, dass sie verstand, und zog sich langsam in Richtung des Treppenhauses zurück. Auf halbem Weg blieb sie stehen.

»Ist ihr etwas zugestoßen?«, fragte sie mit bebender Stimme.

»Das können wir noch nicht sagen«, versuchte Krammer sie zu beruhigen. »Wir müssen alles erst genauer untersuchen. Aber halten Sie sich doch bitte unten bereit, falls wir noch Fragen haben.«

Als sie weit genug entfernt war, bat er seine Kollegin, ihm noch einmal das Bild der Vermissten zu zeigen. Szabo reichte es ihm. Erst dann betraten sie zusammen den kleinen Raum. Krammer hörte, wie Szabo zischend die Luft ausstieß.

»Grundgütiger«, murmelte sie.

»Der hat damit nichts zu tun«, entgegnete er, während er Handschuhe anzog. Er machte einen großen Schritt über den umgefallenen Stuhl, um das Fenster zu schließen, damit nicht weiter nasser Schnee hereindrang, blieb aber darauf bedacht, mit seinem Mantel keinesfalls die Kante des Schreibtischs zu berühren, damit er etwaige Spuren nicht verwischte. Szabo rief bereits bei den Kollegen der Spurensicherung an und gab die Adresse des Wohnheims durch.

Wortlos standen sie eine Weile in dem Zimmer, nahmen die Einzelheiten auf, die sie von nun an wieder und wieder durchkauen würden, bis sie wussten, was geschehen war: die Blutspuren auf dem Tisch und an dem linken Vorhang, der durchnässt und halb heruntergerissen war, der fehlende Rechner, dessen Netzkabel sich noch auf dem Schreibtisch befand, und das schief nach unten hängende Regal. Die leuchtend grüne Bettwäsche auf dem Bett war zerwühlt, eine zerrissene silberne Kette lag auf dem Boden. Hier hatte eindeutig ein Kampf stattgefunden. Und es war nicht schwer zu erraten, wer die Unterlegene gewesen war.

Krammer nahm das Bild von Lela Neshan und hielt es neben eine Serie von Automatenfotos, die er an einer Pinnwand entdeckt hatte. Zwei junge Frauen strahlten darauf um die Wette: eine hatte Sommersprossen, eine wallende rote Mähne, warf den Kopf selbstbewusst in den Nacken, von der anderen konnte man unter dem Kopftuch nur das schmale, längliche Gesicht erkennen, auf dem sich ein Lächeln andeutete. Aber die dunklen Augen und die markante Nase waren eindeutig die von Lela Neshan.

»Ich hole den Hausmeister«, sagte Szabo knapp. »Der muss uns sofort auch Lela Neshans Zimmer nebenan aufschließen.«

Als Szabo sich eilig entfernte, starrte Krammer durch das Fenster nach draußen. Der Himmel verdüsterte sich immer mehr, die Sicht wurde schlechter. Eisige Flocken schlugen gegen das Fenster und glitten daran herunter.

Dann blickte er sich wieder in dem Raum um und zog einen Stift aus der Tasche, mit dem er vorsichtig ein Blatt zur Seite schob, um auf den Deckel eines Ringblocks sehen zu können, auf dem ein Name notiert war: Karolin Nowak.

Noch einmal schaute er auf die Bilder der beiden Studentinnen an der Pinnwannd. So jung, voller Erwartung und Lebensfreude.

Er seufzte. Wenigstens musste er sich jetzt nicht mehr den Kopf darüber zerbrechen, wie er das Wochenende verbringen sollte.

6.

Line Perssons Altbauwohnung war extrem gemütlich, mit vielen Kerzen, Decken und jeder Menge flauschiger Kissen. Da sie beide nach dem Heimweg ziemlich durchgefroren waren, hatte die Schwedin eine Flasche Glögg aufgesetzt, der von Weihnachten übrig war, und stellte noch eine Schüssel mit Crackern dazu.

Sofort hatte Line zu erzählen begonnen, dass sie wegen ihrer Liebe zu den Bergen nach Süddeutschland gekommen war. Ihre Mutter hatte Ende der siebziger Jahre eine Zugreise von Kopenhagen nach Rom mit dem Alpen-Express unternommen. Den Fahrplan von damals hatte Line als Teenager gefunden und seit dieser Zeit alle Städte sehen wollen, die dort aufgeführt waren: München, Kufstein, Innsbruck, Verona und Rom. Mit achtzehn hatte sie sich auf den Weg gemacht, war aber in München hängengeblieben, um dort Psychologie zu studieren. Mittlerweile führte sie mit einem Kollegen, der auf Hypnose spezialisiert war, eine Gemeinschaftspraxis in der Innenstadt, die gut ausgelastet war. Die Arbeit beim Kriseninterventionsteam, über die Alexa sie kennengelernt hatte, machte sie ehrenamtlich.

»Mich bedrückt die Trauer der Hinterbliebenen immer sehr«, hatte Alexa gesagt, »und es fällt mir auch heute noch schwer, das abzuschütteln. Ist es nicht ungeheuer schwierig, Menschen in solchen Situationen beizustehen?«

»Oft reicht es schon, einfach nur da zu sein. Zuzuhören. Damit die Menschen spüren, dass sie trotz ihres Verlustes nicht allein auf der Welt sind. Ich empfinde es nicht als schwierig. Im Grunde ist das ja der Kern meines Berufs: dass meine Patienten sich den Schwierigkeiten des Lebens stellen, die Untiefen annehmen und ich mit ihnen erarbeite, wie sie lernen können, künftig damit umzugehen.«

Lines Worte erinnerten Alexa daran, wie sehr ihr eigenes Leben vor ein paar Tagen auf den Kopf gestellt worden war. Bislang hatte sie keiner Menschenseele davon erzählt. Generell trug sie ihr Herz nicht auf der Zunge, machte Probleme eher mit sich selbst aus. Über ihre unglückliche Verliebtheit in ihren früheren Kollegen Jan hatte sie zum Beispiel nie ein Wort verloren. Nicht einmal ihre Mutter, die schon immer ihre engste Vertraute gewesen war, hatte davon gewusst.

Aber Lines offene Art bewirkte etwas in ihr. Vielleicht lag es auch am Alkohol, der sie sentimental werden ließ. Denn plötzlich sprudelte alles aus ihr heraus: wieso sie Aschaffenburg verlassen hatte, von der verlockenden Aussicht auf einen Karrieresprung, wie sehr sie zunächst mit ihrer neuen Stelle gehadert hatte, die Zweifel, ob sie wirklich schon in der Lage war, selbständig eine Ermittlung zu leiten, oder ob sie sich schlicht übernommen hatte. Und schließlich berichtete sie von dem Abend, als ihre Mutter endlich die Wahrheit über ihren Vater herausgelassen hatte.

»Du kennst ihn sogar. Es ist Bernhard Krammer«, schloss Alexa ihre Erzählung, bei der sie von Line nicht ein einziges Mal unterbrochen worden war.

»Der Kommissar aus Österreich?«, fragte die Schwedin verblüfft.

Alexa nickte.

»Wow. Jetzt verstehe ich auch, warum du heute Abend manchmal so abwesend gewirkt hast. Aber eine solche Geschichte hatte ich niemals erwartet. Krass.« Line verteilte schnell den letzten Rest des Getränks aus der Warmhaltekanne in ihre Tassen. »Was wirst du denn nun machen?«

Alexa zuckte die Schultern. »Wenn ich das wüsste … Es geht mir so vieles durch den Kopf. Ich bekomme einfach keine Ordnung in meine Gedanken.«

Line sah sie aus ihren großen blauen Augen an, ohne sie zu drängen. Alexa genoss die unglaubliche Ruhe, die von der Schwedin ausging, die Zeit, die sie ihr gab, um die richtigen Worte zu finden.

»Ich bin so wütend«, begann Alexa. »So kenne ich mich gar nicht. Manchmal habe ich das Gefühl, ich könnte völlig die Beherrschung verlieren. Es ist so unfair von ihr! Sie hätte mir das doch sagen müssen! Allerspätestens an dem Tag, an dem ich mich bei der Polizei beworben habe. Diese Parallele …« Sie stockte kurz. »Ich habe mich immer gefragt, woher meine Leidenschaft für diesen Beruf kam. Ich will nicht sagen, dass ich die geerbt habe, aber vielleicht gibt es Ähnlichkeiten zwischen ihm und mir, die diesen Weg vorgezeichnet haben.«

»Nenn mal ein Beispiel.«

»Hm …« Sie überlegte. »Sinn für Gerechtigkeit. Hartnäckigkeit. Oder Teamfähigkeit und Durchsetzungsvermögen.«

»Risikobereitschaft«, fügte Line an.

»Empathie«, vervollständigte Alexa die Aufzählung.

»Und das alles hat deine Mutter nicht?«, fragte Line.

Doch. Das hatte sie. Aber sie lebte es auf eine völlig andere Weise aus. Menschen zu helfen war auch ihrer Mutter wichtig, deshalb hatte sie sich zur Osteopathin ausbilden lassen. Doch was ihr fehlte, waren die Risikobereitschaft und eine gewisse Lust an der Gefahr, die den Unterschied machten. An der dunklen Seite des Lebens.

»Das ist es ja gerade, weshalb ich so sauer bin. Meiner Mutter ist Ehrlichkeit so unglaublich wichtig. Gerechtigkeit genauso. Das hat sie zumindest immer behauptet. Deshalb will mir einfach nicht in den Kopf, wieso sie es weder mir noch ihm gesagt hat. Es ist doch total egoistisch, mich nur für sich haben zu wollen. Überleg mal: Wenn ich nicht nach Weilheim gekommen wäre, hätte ich womöglich nie etwas von ihm erfahren.«

»Vielleicht hatte sie weniger Angst davor, ein Kind ganz allein großzuziehen, als davor, an einen Fremden gebunden zu sein und mit ihm ihr restliches Leben zu verbringen.«

Alexa musterte Lines Gesicht. Aus der Perspektive hatte sie die ganze Sache noch gar nicht betrachtet. Aber etwas in ihr wehrte sich auch jetzt dagegen, Verständnis für die Haltung ihrer Mutter aufzubringen. Sie fühlte sich um einen Teil ihres Lebens betrogen, den sie nie zurückbekommen würde. Das konnte sie ihr nicht so schnell verzeihen.

»Weißt du, ich dachte immer, der Mann wäre es vielleicht nicht wert gewesen. Dass es nur seine körperliche Anziehung war, die meine Mutter in diese Affäre geführt hat. Sie war jung, hübsch, ungebunden. Ich habe mir immer ausgemalt, er wäre so ein Charmeur, der sie um den Finger gewickelt hat. Attraktiv, aber nicht besonders zuverlässig. Jemand, mit dem man kein solides Leben aufbauen kann. Ein Herumtreiber. Weißt du, was ich meine?«

»So, wie dieser heiße Sänger?«

Alexa erstaunte der plötzliche Themenwechsel. »Was? Wie meinst du das?«

Line zuckte die Schultern. »Ich wollte dich nur aufziehen. Ich kenne deinen Konstantin nicht und will mir kein vorschnelles Urteil erlauben.«

Alexa nahm noch einen Schluck aus ihrer Tasse und versuchte zu überspielen, dass Lines kurze Bemerkung sie getroffen hatte. Auch sie hatte nicht schlecht gestaunt, wie anders Konstantin auf der Bühne wirkte und wie er mit seinem vornehmlich weiblichen Publikum gespielt hat.

»Hast du denn etwas vermisst, ohne Vater?«, kam Line wieder auf das ursprüngliche Thema zurück.

»Gute Frage. Eigentlich dachte ich bisher immer, dass meine Kindheit rundum perfekt gewesen ist. Meine Mutter und ich waren ein echtes Dream-Team.«

»Für mich klingt das alles sehr schön.« Lines Wangen waren von dem heißen Getränk gerötet.

Alexa schwieg für einen Moment, bevor sie fragte: »Wie ist es bei dir, hast du ein gutes Verhältnis zu deinen Eltern?«

Line nahm die Tasse in die Hand und strich mit dem Daumen über die blaue Blume, die darauf gemalt war. »Die gehörte meiner Mama. Ihre Lieblingstasse. Sie ist gestorben, als ich zwölf Jahre alt war. Lungenkrebs.«

Alexa streckte die Hand aus und legte sie Line auf den Arm. »Das tut mir leid. Du vermisst sie, oder?«

Line lächelte. »Sehr. Jeden Tag. Mein Vater hat sein Bestes gegeben, und unsere Nachbarn haben ihn toll unterstützt, mich und meinen Bruder so unbeschwert wie möglich groß werden zu lassen. Sie sind wie Tante und Onkel für mich, auch wenn wir nicht blutsverwandt sind. Mein Vater baut tolle Holzhäuser. Aber mit dem Reden hat er es nicht so, das hat es manchmal schwer gemacht. Weil wir Kinder dadurch auch kaum über sie gesprochen haben. Vermutlich sind wir deshalb beide fortgegangen. Um wieder Luft zu bekommen …« Line zog ein Bein heran und schlang ihre Arme darum.

»Deshalb die Fahrt mit dem Alpen-Express?«, fragte Alexa.

Nickend fuhr Line fort: »Ich hatte gehofft, sie dadurch besser kennenzulernen. Die Erinnerung an sie verblasst immer mehr. Ich wollte wohl etwas Greifbares. Ihr Staunen erleben, ihre Neugier, ihre Leidenschaft.«

»Ist es dir gelungen? Bist du ihr nähergekommen?«

»Nein«, antwortete Line. »Dennoch war die Reise ungemein wertvoll. In dem Moment, in dem ich losgefahren bin, habe ich alles hinter mir gelassen. Die Schwere, Erinnerungen, ja selbst den ganz eigenen Geruch unseres Hauses. Ich wusste nicht, wie sehr mich das alles in Ketten gelegt hatte. Als ich mit der Fähre mein Heimatland verließ, konnte ich wieder frei atmen. Statt sie zu finden, habe ich dabei im Grunde mich gefunden. Mein Blick ist seitdem klarer geworden. Und ich wusste, was ich tun wollte: anderen Menschen helfen, diesen Weg für sich zu finden.«

Alexa verstand, was Line sagen wollte. Aber erneut war es, als zöge sich ihre Brust enger. Wie ein Panzer, der jede liebevolle Emotion abschirmte.

»Du solltest froh sein, dass du nun beide Elternteile gefunden hast«, fuhr Line fort und drückte Alexas Hand. »Das ist eine tolle Möglichkeit, die dir das Leben bietet. Natürlich hat dein Vater deine Kindheit verpasst. Aber ihr könnt euch jetzt kennenlernen. Als Erwachsene. Auf Augenhöhe. Und vielleicht bleibt dir mehr Zeit mit ihm, als ich je mit meiner Mutter hatte.«

Alexa strich über den Teppich, beobachtete, wie die Farbe changierte, wenn sie sämtliche Fasern in eine andere Richtung schob. 

»Du meinst …« Sie brach wieder ab.