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»Lassen Sie sich mit der Grenzfall-Serie auf die dunkle Seite der Alpen entführen. Allerfeinste Krimiunterhaltung!« Romy Fölck Das Böse sprengt jede Grenze – der fünfte Band der SPIEGEL-Bestseller-Serie um das deutsch-österreichische Ermittlerteam Alexa Jahn und Bernhard Krammer Im Karwendel brennen Ende Juni auf den Bergen die traditionellen Sonnwendfeuer, die vor Unheil schützen sollen. Doch in diesem Jahr machen die Flammen auch vor den Tälern nicht Halt. Bei Bad Tölz ist ein Wagen von der Straße abgekommen und völlig ausgebrannt – Brandstiftung mit Todesfolge. Bevor Oberkommissarin Alexa Jahn die genauen Umstände klären kann, kommt es zu weiteren tödlichen Brandanschlägen, auch auf österreichischer Seite. Gemeinsam mit Chefinspektor Bernhard Krammer versucht Alexa sich einen Reim auf die Taten zu machen. Wer legt diese Feuer? Um was geht es hier? Und weshalb wurde an einem der Tatorte ein Kräuterbund gefunden, der dem Volksglauben nach das Böse abhalten soll? Alexa und Krammer wissen, dass die Zeit gegen sie arbeitet, und ein anonymes Schreiben lässt ihre schlimmsten Befürchtungen wahr werden. »Dass in zauberhafter Idylle das Böse umso mehr Grusel erzeugt, erklärt wohl den Reiz der vielen Alpen-Krimis, aus denen die Grenzfall-Reihe […] heraussticht.« Matthias Busch, Münchner Merkur »Anna Schneider – eine Highlight-Autorin im Kriminalroman!« Alex Dengler, denglers-buchkritik.de Band 5 der packenden Krimiserie in der Grenzregion Deutschland – Österreich
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 442
Anna Schneider
Ihre Spur in den Flammen
Kriminalroman
Der fünfte Fall für das deutsch-österreichische Ermittlerteam Alexa Jahn und Bernhard Krammer
Im Karwendel brennen Ende Juni auf den Bergen die traditionellen Sonnwendfeuer, die vor Unheil schützen sollen. Doch in diesem Jahr machen die Flammen auch vor den Tälern nicht Halt. Bei Bad Tölz ist ein Wagen von der Straße abgekommen und völlig ausgebrannt – Brandstiftung mit Todesfolge.
Bevor Oberkommissarin Alexa Jahn die genauen Umstände klären kann, kommt es zu weiteren tödlichen Brandanschlägen, auch auf österreichischer Seite. Gemeinsam mit Chefinspektor Bernhard Krammer versucht Alexa sich einen Reim auf die Taten zu machen. Wer legt diese Feuer? Um was geht es hier? Und weshalb wurde an einem der Tatorte ein Kräuterbund gefunden, der dem Volksglauben nach das Böse abhalten soll?
Alexa und Krammer wissen, dass die Zeit gegen sie arbeitet, und ein anonymes Schreiben lässt ihre schlimmsten Befürchtungen wahr werden.
»Anna Schneider – eine Highlight-Autorin im Kriminalroman!« Alex Dengler, denglers-buchkritik.de
»rasant und extrem spannend« krimi-couch.de
Die »Grenzfall«-Serie bei FISCHER:
»Grenzfall – Der Tod in ihren Augen«, »Grenzfall – Ihr Schrei in der Nacht«, »Grenzfall – In der Stille des Waldes«, »Grenzfall – In den Tiefen der Schuld«, »Grenzfall – Ihre Spur in den Flammen«
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Schon als Kind lauschte Anna Schneider im Wirtshaus ihrer Großmutter gern den Geschichten der Gäste. Bald entwickelte sie eine Vorliebe für Kriminalfälle, bewarb sich nach dem Abitur sogar bei der Polizei, wurde aber abgelehnt. Zum Glück, denn so kam sie zum Schreiben. Für ihre Thriller lässt sie sich gern im Alltag inspirieren. So auch für die »Grenzfall«-Serie: Eine Zeitungsmeldung über einen vermissten Wanderer in Lenggries brachte sie auf die Idee. Die Nähe zur österreichischen Grenze tat ihr übriges. Die Serie spielt in beiden Ländern, Deutschland und Österreich, und lässt zwei gegensätzliche Ermittler aufeinandertreffen, die erst als Team zusammenzuwachsen müssen. Anna Schneider lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München.
Motto
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
Zuvor
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
Zuvor
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
Zuvor
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
Zuvor
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
Zuvor
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
Zuvor
35. Kapitel
36. Kapitel
Zuvor
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
Zuvor
40. Kapitel
Zuvor
41. Kapitel
Zuvor
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
DANK
[Leseprobe]
Prolog
[Newsletter]
Ich glaube, man kann das Leben nur übers Sterben begreifen. Und man muss einfach verstehen, dass der Tod nicht am Ende des Lebens auf einen wartet, sondern in jedem Moment.
Lars Eidinger
»Warum sind wir nicht früher heimgefahren?«, meckerte ihr Mann auf dem Beifahrersitz. »Ich weiß echt nicht, wie ich morgen aus dem Bett kommen soll.« Er sah auf die Uhr. »Sakra! Von wegen morgen … es ist ja schon nach Mitternacht! In vier Stunden muss ich in der Backstube sein.«
Er schnaubte unwirsch.
Sie verkniff sich den Kommentar, dass er es gewesen war, der beim Schafkopfen kein Ende finden wollte und dann die letzte Runde auch noch schwarz verloren hatte. Seinen Frust hatte er anschließend mit seinen Mitspielern in diversen Hellen zu ertränken versucht.
»Ich beeile mich ja schon«, antwortete sie, als sie gerade die Pestkapelle in Bairawies passierten. »Aber schneller mag ich nicht fahren, immerhin hatte ich auch zwei Gläser Wein.«
Schweigend saßen sie nebeneinander. Während er missmutig die Nachrichten auf seinem Handy checkte, konzentrierte sie sich auf die kurvige Landstraße. In einiger Entfernung sah sie die Rücklichter eines anderen Wagens vor sich, sonst war nichts los auf der Strecke. Hoffentlich keine Polizeistreife, dachte sie und drosselte vorsichtshalber das Tempo. Sie wollte keinen Alkoholtest riskieren. Schnell vergrößerte sich der Abstand zu dem Vorausfahrenden. Sie sah die beiden roten Lichter in der dunklen Nacht kleiner werden, und immer wieder verschwanden sie kurz hinter den Bäumen.
»Ganz schön flott unterwegs«, murmelte sie. Aber das ging sie ja zum Glück nichts an.
Plötzlich leuchteten die Bremslichter des Vorausfahrenden grell auf, dann zog der Wagen nach links – in Richtung Wald.
»Siehst du das?«, fragte sie ihren Mann. »Was macht der denn? Da ist doch keine Abzweigung.«
Er rappelte sich im Beifahrersitz auf, war offenbar kurz eingenickt, doch bevor er antworten konnte, schoss der Wagen vor ihnen mit hohem Tempo über die Wiese neben der Straße und krachte frontal gegen einen der Bäume, die vereinzelt auf dem Grundstück standen.
»Herrschaftszeiten! Der ist sicher einem Tier ausgewichen und hat die Kontrolle verloren. Was für ein Depp!«
Ohne weiter nachzudenken beschleunigte sie, denn nun begann der Motor des Wagens Flammen zu schlagen. Sie mussten dem Fahrer zu Hilfe kommen.
Während ihr Mann bereits einen Notruf absetzte und ihren Standort durchgab, stoppte sie auf dem gegenüberliegenden Seitenstreifen, setzte den Warnblinker, riss die Fahrertür auf und rannte los, bis zu dem völlig verbogenen Straßenschild, das wie abgeknickt in der Verankerung hing. Also kein Wild, vermutlich war der Wagen zuvor damit kollidiert. Zu ihrer Erleichterung sah sie, dass eine Frau mit einem hellen Oberteil schwankend auf der Fahrerseite ausstieg, neben dem Auto stehen blieb und auf die Flammen starrte. Hoffentlich war die Fahrerin alleine unterwegs, aber sicher wäre sie sonst auf die andere Seite gelaufen, um zu helfen. Stattdessen sah es aus, als würde sie etwas durch die offen stehende Tür ins Innere werfen.
»Haben wir was zum Löschen?«, rief sie ihrem Mann unsicher zu, der ein Warndreieck auf die Fahrbahn gestellt hatte. Etwas Derartiges hatte sie noch nie erlebt, und sie wusste nicht recht, was sie tun sollte. Doch bevor er antworten konnte, vernahm sie ein Zischen, dann gab es einen lauten Knall, der über die Ebene hallte, und schon brannte der Unfallwagen lichterloh.
»Maria und Josef«, murmelte sie und starrte auf den Brand, der sich blitzschnell auf das umliegende Geäst ausbreitete. »Die Frau …« Sie deutete in die Richtung, hoffte, dass sie sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatte. Sehen konnte sie sie nicht.
Aus Richtung Bad Tölz war ein weiteres Auto hinzugekommen. Der Fahrer des SUV rannte jetzt von der linken Seite her zu dem brennenden Wagen, doch nach ein paar Metern hielt auch er im Lauf inne und hob einen Arm, vermutlich um sein Gesicht vor der Hitze abzuschirmen.
»Das kann er sich sparen. Da kommt keiner mehr raus. Schau gar nicht hin«, entgegnete ihr Mann, der zu ihr aufgeschlossen hatte. Er drehte sie an den Schultern herum und nahm sie in den Arm.
Sie schüttelte ihn ab. »Lass mich los! Die Frau ist noch ausgestiegen, ich hab sie gesehen. Sie stand direkt neben dem Wagen. Wir müssen da hin. Vielleicht ist sie bei dem Aufprall verletzt worden!« Erneut spähte sie in die Richtung, aber von der Fahrerin gab es keine Spur mehr. Wegen des Rauchs und der Dunkelheit konnte sie kaum etwas erkennen. Sie musste näher ran.
»Bist du verrückt!«, herrschte ihr Mann sie an und hielt sie am Arm fest. »Da kann jeden Moment wieder etwas in die Luft fliegen! Von dem Qualm gar nicht zu reden. Wir bleiben besser hier in Sicherheit, bis die Rettungskräfte kommen.«
Sie versuchte sich aus seinem Griff zu befreien. »Und wenn sie unter Schock steht? Wir können doch nicht einfach nur zuschauen und nichts tun!«
Verzweifelt starrte sie ihren Mann an. Doch der schüttelte nur den Kopf und hielt sie weiter fest. Sie riss sich los und richtete den Blick auf die Unfallstelle, suchte nach irgendeinem Lebenszeichen der Fahrerin. Aber die grauen Schwaden wurden immer dichter und erschwerten die Sicht.
»Die Feuerwehr ist jeden Moment hier, glaub mir. Und auch ein Krankenwagen«, versuchte ihr Mann sie zu beruhigen. »Mehr können wir nicht tun. Und wir sollten nicht riskieren, selbst zu Schaden zu kommen.«
Sie sah hilflos zu ihm auf. Doch ihre Unsicherheit überwog – sie hatte ja nicht einmal eine Ahnung, wo sie nach der Frau suchen sollte oder womit sie den Brand hätte löschen können.
Wieder starrte sie auf den gleißenden Feuerball, in den sich das Fahrzeug verwandelt hatte, und hoffte, dass die Fahrerin weit genug entfernt gestanden hatte, als es die Explosion gab, vermutlich von dem Benzintank. Ein leichter Wind kam auf, ließ das dürre Gras in der Dunkelheit glimmen und trieb beißenden Qualm in ihre Richtung.
Zitternd lehnte sie sich an den Brustkorb ihres Mannes, schlang die Arme eng um sich und hörte zu ihrer Erleichterung endlich das Martinshorn der Feuerwehr. Sie wollte sich gerade von dem furchtbaren Bild abwenden, da nahm sie hinter dem Wagen eine Bewegung wahr.
»Siehst du das?« Sie deutete auf den Schatten, der in Richtung Wald zu laufen schien. »Ist das die Fahrerin? Wo will sie denn jetzt hin?«
»Wo?«, fragte er. »Bist du sicher?«
»Na, da hinten! Am Waldrand.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich seh da nichts. Der Rauch gaukelt dir sicher was vor. Ich meine, die wäre doch längst rüber zu dem SUV, der dort gehalten hat.«
»Echt?« Sie suchte erneut die Ebene ab, aber das Licht der entgegenkommenden Feuerwehr blendete sie. Als sie die Hand hob, um ihre Augen abzuschirmen, stellte sie fest, dass der Wagen des anderen Zeugen verschwunden war.
Seltsam. War er wieder Richtung Tölz zurückgekehrt? Sie hatte kein Auto bemerkt, das an ihnen vorbeigefahren wäre, aber sie hatte die Straße auch nicht die ganze Zeit genau beobachtet.
Noch einmal konzentrierte sie sich auf den Bereich zwischen den Bäumen, wo sie die Frau zuletzt gesehen hatte. Nach einer Weile meinte sie erneut, das helle Oberteil wahrzunehmen, das sie getragen hatte.
Sie seufzte und rieb sich die Augen, die von der Anstrengung oder wegen der rauchgeschwängerten Luft zu brennen anfingen. Dann starrte sie wieder in den Wald. Doch sie konnte nichts Ungewöhnliches mehr erkennen.
Vermutlich hatte ihr Mann recht. Sicher brachte der andere Fahrer sie bereits in ein Krankenhaus.
Außerdem: Was sollte die Frau auch dort in der Wildnis? Sie wäre wohl eher zur Straße gelaufen, um Hilfe zu holen.
Schließlich hatte sie ja nichts verbrochen.
ZEUGENGESUCHT
Auf der Landstraße zwischen Einöd und Bad Tölz ist gestern kurz nach Mitternacht ein Fahrzeug mit zwei Insassen aus noch ungeklärten Gründen von der Fahrbahn abgekommen. Es rammte dabei ein Verkehrsschild, fuhr über eine Wiese und kam erst durch einen dort stehenden Baum zum Stillstand. Bei dem Aufprall entzündete sich zunächst der Motor, wenig später stand der gesamte Wagen in Flammen. Durch den Unfall entstand ein Sachschaden von mehreren Zehntausend Euro. Der Beifahrer konnte nicht gerettet werden.
Zeugen berichten, dass die bislang unbekannte Fahrerin vor dem Ausbrennen des Kfz noch selbständig aus dem Fahrzeug ausgestiegen ist. Die Polizei fahndet nun sowohl nach der Halterin des Sportwagens mit britischem Kennzeichen als auch nach einem BMWX5, der in der Nähe der Unfallstelle gesehen wurde. Wenn Sie nähere Hinweise zum Unfallhergang oder dem Verbleib der vermissten Frau haben, wenden Sie sich bitte an die nächstgelegene Polizeidienststelle oder direkt an die Kripo Weilheim.
Die Mitarbeiter der Bad Tölzer Polizeiinspektion empfingen Alexa Jahn und ihren Kollegen Florian Huber an der Straße nahe der Unfallstelle, die in beide Richtungen gesperrt war. Der Jaguar F-Type befand sich weitab von der Straße auf einer Wiese an der St 2072, die nach Bad Tölz führte. Der Sportwagen hatte tiefe Spuren in den Boden gepflügt, an deren Ende nur noch ein Metallskelett übrig geblieben war, das in einer riesigen Lache aus Löschschaum stand.
»Wir hatten alle Hände voll zu tun, das Feuer in den Griff zu bekommen. Wir waren zügig hier, aber das Ding war ein einziger Feuerball, als wir eintrafen. Die Wiese war ein paar Tage zuvor gemäht worden, das Gras lag zum Trocknen aus und brannte wie Zunder. Zwanzig Leute von den umliegenden freiwilligen Feuerwehren waren im Einsatz. Wir haben erst mit Wasser gelöscht, dann mit Schaum. Wir mussten unbedingt verhindern, dass der Brand auf den Wald übergreift. Eine Zeugin hatte gesagt, dass jemand unverletzt aus dem Jaguar gestiegen ist, bevor der explodierte. Deshalb war das ein totaler Schock, als wir später den Mann in dem Wagen entdeckten. Wir dachten ja, die Fahrerin sei in Sicherheit und es hätte in dem Chaos bloß niemand mitbekommen, dass sie in ein Krankenhaus gebracht wurde. Wir konnten ja nicht wissen …«
Der Leiter der Feuerwehr Bad Tölz brach abrupt ab. Simon Besch war fast zwei Meter groß und stämmig, wahrhaftig ein Baum von einem Mann. Er räusperte sich, schaute noch einmal zu dem Wagen und strich mit der Hand über seinen dichten Vollbart. Seine bestürzte Miene zeigte deutlich, wie sehr es ihn mitnahm, dass ein Mensch in den Flammen sein Leben verloren hatte und er nicht rechtzeitig zu Hilfe gekommen war.
»Habt ihr schon was zur Halterabfrage?«, fragte Florian Huber.
»Die läuft, aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt wissen wir noch nicht, wem das Fahrzeug gehört«, antwortete Joachim Walk, der für die Polizei Bad Tölz das Sagen hatte, die bereits in der Nacht vor Ort gewesen war. »Seit dem Brexit läuft die Halterabfrage über das BKA, aber in den nächsten 24 Stunden dürften wir eine Rückmeldung haben.«
Alexa stutzte. »Aber in dem Artikel in der Zeitung war doch von einer Halterin die Rede. War das reine Spekulation?«
Walk verzog den Mund. »Eher ein Journalist, der nicht eins und eins zusammenzählt. Die Zeugin hat gesehen, dass jemand links ausgestiegen ist. Und weil wir nach der Frau fahnden, die am Unfallort gesehen wurde, hat der Depp aus ihr gleich die Halterin des Fahrzeugs gemacht. Dabei handelt es sich bei dem Wagen um ein britisches Fahrzeug – also um einen Rechtslenker.« Er schnaufte unwirsch. »Womöglich ist die Frau bei dem Aufprall ebenfalls verletzt worden, oder sie war in Folge eines psychischen Schocks nicht ganz bei sich. Falls sie zusehen musste, wie der Fahrer verbrannte, wäre das kein Wunder, das sagte auch die Mitarbeiterin vom KIT, die in der Nacht noch hier am Unfallort war. Die Bergwacht ist schon unterwegs und versucht mit Hunden ihre Spur aufzunehmen.«
Alexa drehte den Kopf in Richtung des Waldes. Ein Greifvogel ließ sich dort gerade im Geäst nieder und beobachtete die Szenerie.
»Hat Tobi Gerg das Kommando?«, fragte sie und musterte die Umgebung. Der Wald war jetzt im Juni noch dichter als im Frühjahr, das Gras stand ebenfalls hoch, sofern nicht gemäht war, da es in der ersten Jahreshälfte viel geregnet hatte. Vielleicht konnten sie irgendwo Trittspuren erkennen.
»Genau. Er hat eine Truppe zusammengestellt, die gleich nach Sonnenaufgang in verschiedenen Richtungen losgezogen ist. Eine Gruppe Richtung Habichau, eine nach Schnaitt rüber und eine Richtung Hechenberg. Drohnen und Mantrailer sind auch im Einsatz. Wir hoffen, dass wir sie bald finden.«
Alexa nickte. Nur gut, dass es mittlerweile nachts nicht mehr so empfindlich kühl war wie noch vor wenigen Wochen. Denn der Schreckzustand der Frau, den Walk beschrieben hatte, wurde sehr oft unterschätzt. Erlebte ein Mensch eine traumatische Situation wie diesen schweren Unfall, war das Gehirn kurzfristig überfordert. Der Körper schaltete auf Notbetrieb, um das gesamte Denken auf die eine Sache zu fokussieren, die für das Überleben am wichtigsten war: Flucht. Weg vom Brandherd. Viele Betroffene beschrieben, dass sie einen kompletten Blackout gehabt hatten – deshalb bestand durchaus die Möglichkeit, dass die Frau völlig kopflos vom Unfallort weggelaufen war. Und unbehandelt konnte der Schock schwerwiegende Folgen haben – im schlimmsten Fall sogar zu multiplem Organversagen und damit zum Tod führen. Somit war Eile dringend geboten.
»Mich wundert immer noch, dass der Wagen komplett ausgebrannt ist«, wandte sich Huber jetzt an Simon Besch.
»Durch die beiden Kollisionen mit dem Schild und dem Baum sind sicher Schmierstoffe oder Benzin ausgetreten, die sich an den heißen Motorteilen entzündet haben«, erläuterte der Feuerwehrmann. »Normalerweise sind die Behälter zwar gut abgedichtet, aber den Zeugen zufolge hatte das Fahrzeug ja bereits Feuer gefangen, als es von der Fahrbahn abkam. Passiert nicht oft, aber wenn es unglücklich läuft wie hier … Je nach der Fortsetzungsgeschwindigkeit der Flammen dauert es nur wenige Minuten, bis das Feuer vom Motorraum auf das komplette Interieur übergreift und es zu einem Vollbrand kommt. Bis wir bei den Entfernungen hier draußen am Unfallort eintreffen, ist meistens nichts mehr zu retten.«
Erneut klang seine Stimme belegt. Alexa hoffte, dass er mit jemandem sprechen konnte, denn dass ein Mensch bei einem Brand ums Leben kam, war auch für gestandene Feuerwehrleute wie Besch und seine Männer eine traumatische Erfahrung, die erst verarbeitet werden musste.
»Die Zeugen, die am Unfallort geblieben sind, haben von einer Explosion berichtet«, erwähnte Walk.
»Das können die Reifen gewesen sein, wegen des plötzlichen Druckverlustes, oder irgendetwas im Motorraum«, antwortete Besch. »Ein Elektroauto war es jedenfalls nicht.«
»Eine Verpuffung vielleicht?«, fragte Huber.
Besch zuckte mit den Schultern. Dann fügte er nachdenklich hinzu: »Wie es überhaupt passieren konnte, dass das Auto nach der Kollision mit dem Schild von der Fahrbahn abkam, ist mir ein Rätsel.«
»Vielleicht war da ein Tier«, meinte Huber.
»Wir sollten keine Mutmaßungen anstellen, bis uns sämtliche Auswertungen vorliegen«, mischte sich Walk ein. »Sobald alles abgekühlt ist, kann die Spurensicherung mit ihrer Arbeit anfangen, obwohl da nicht viel zu holen sein wird. Wir haben deshalb auch einen Kfz-Gutachter hinzugezogen, der sich das genau ansehen wird. Und dieser Theo Marschner, Brandexperte beim LKA, hat vorhin schon das gesamte Material angefordert.«
Er verzog das Gesicht, doch bevor Alexa ihn darauf ansprechen konnte, meldete sich Max Redlich zu Wort.
»Dasselbe gilt für uns«, ließ der schlaksige Rothaarige Anfang vierzig vernehmen, der als Rechtsmediziner den Fall untersuchte. »Der Körper des Toten war verhältnismäßig lange den Flammen und extrem hohen Temperaturen ausgesetzt, so dass es schwer werden wird, ihn mit den üblichen Verfahren zu identifizieren. Aufgrund der Größe würde ich sagen, dass wir es mit einem Mann zu tun haben. Aber nicht einmal das ist derzeit gesichert. Wir bemühen uns natürlich, schnell zu sein.«
Er reichte Alexa Fotos aus dem Inneren des Wagens, in dem der Tote nur mit Mühe von dem verbrannten Interieur zu unterscheiden war. Er schien völlig mit dem Sitz verschmolzen zu sein.
Rasch übergab sie Huber die Bilder. Auch wenn sie in ihrem Job schon einiges gesehen hatte, war die Vorstellung, bei lebendigem Leib zu verbrennen, für Alexa ein Horrorszenario und beileibe die schrecklichste Art zu sterben. Sie hoffte, dass er bei dem Aufprall das Bewusstsein verloren hatte und nicht mehr mitbekommen musste, was danach geschah.
»Ich würde gerne mit dem Paar reden, das den Unfall beobachtet hat«, sagte Alexa. Sie räusperte sich und wandte sich an Walk: »Und ihr hört euch bitte an den Tankstellen in der Umgebung um und versucht, etwaige Bilder von Überwachungskameras zu sichten. Ein Wagen mit englischem Kennzeichen könnte ja jemandem aufgefallen sein, falls er hier in der Gegend wohnt oder Urlaub macht. Das gelbe Schild hinten fällt doch sehr ins Auge. Vielleicht haben wir ja Glück.«
Wenig später waren Alexa und Huber unterwegs nach Sachsenkam, wo das Paar wohnte, das den Unfall gesehen hatte. Sie passierten gerade einen Teil der Tölzer Moorachse, als Huber in die Stille hinein fragte: »Warst du hier schon mal mit Oskar? Das Naturschutzgebiet solltest du dir ansehen. Besonders der Kirchsee, in dem man auch baden kann. Und im Winter ist am Nordrand eine Langlaufloipe. Falls wir nachher noch Zeit haben, könnten wir zum Mittagessen einen Abstecher zum Franziskanerinnenkloster Reutberg machen. Dort gibt es eine eigene Brauerei.«
Alexa hörte ihm kaum zu. Sie war am Vorabend noch in München gewesen, weil ein Freund sie dringend um Hilfe gebeten hatte. Eigentlich hatte sie gleich am Vormittag in die JVA Wiesheim fahren wollen, in die Konstantin Bergmüller kurz vor ihrem Eintreffen in München überstellt worden war, aber ihr Dienst und dieser Unfall mit Todesfolge gingen nun einmal vor.
»Nein, diese Ecke kenne ich bisher nicht, aber für ein Bier ist es noch ein bisschen früh, oder?«, antwortete sie und bemühte sich um einen lockeren Tonfall. »Oskar ist übrigens seit ein paar Tagen bei Line Persson.«
Der braune Mischlingshund fehlte ihr sehr, das merkte Alexa jedes Mal, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam und sich nichts in der Wohnung rührte. Die Psychologin, mit der sie seit ihrem ersten Fall in Oberbayern eine Freundschaft verband, hatte darum gebeten, das Tier für einige Tage ausleihen zu dürfen. Und das aus einem triftigen Grund: Sie brauchte einen Beschützer an ihrer Seite, da sie sich beobachtet fühlte.
Alexa atmete schwer.
»Ist alles in Ordnung? Falls dir nach dieser Sache vorhin nicht nach Essen zumute ist …«, schob Huber nach, dem die Veränderung in ihrer Stimmung nicht entgangen war.
Alexa konnte die Sorge in seiner Stimme deutlich hören. Erst wollte sie seine Nachfrage mit dem in der Gegend üblichen Passt schon von sich weisen, entschied sich dann aber doch für schonungslose Offenheit. Allerdings nur für den Teil der Geschichte, der sie bedrückte.
»Ich fürchte, ich bin eine miserable Freundin. Line hat sich den Hund ausgeliehen, weil sie das Gefühl hat, beobachtet zu werden. Und obwohl ich gemerkt habe, dass sie sich offenbar ernsthaft Sorgen macht, habe ich kein einziges Mal nachgefragt, wie es ihr geht. Ob sie sich jetzt besser fühlt, mit Oskar an ihrer Seite.«
Huber bog in die kleine Ortschaft ein, die nur knapp über tausend Einwohner hatte. In wenigen Minuten würden sie bei dem Ehepaar eintreffen.
»Etwa ein Stalker? Das sollte sie zur Anzeige bringen.«
Genau das hatte Alexa ihr auch geraten. Doch Line hatte nichts davon hören wollen, sich vielmehr darauf zurückgezogen, dass es mit einer Patientin zu tun habe, deren Fall ihr sehr unter die Haut ging, weshalb sie womöglich überreagierte. Dennoch hatte Alexa in der nächstgelegenen Polizeiwache Bescheid gegeben und die Kollegen gebeten, häufiger in ihrer Wohnstraße Streife zu fahren. Damit hatte sie den Fall abgehakt. Und fühlte sich gerade deswegen so schlecht, weil Line ihr in den letzten Wochen stets zur Seite gestanden und immer ein Ohr für sie hatte.
Huber hatte ihr aufmerksam zugehört. »Jetzt mach dich mal nicht schlechter, als du bist, Alexa. Immerhin weiß Line, was du um die Ohren hast, seit du zu uns versetzt wurdest. So viel war hier noch nie in so kurzer Zeit los. Und die Fälle hatten es wirklich in sich, ganz zu schweigen von deiner Schussverletzung. Und nicht zuletzt die Sache mit Krammer.«
Alexa bemerkte, dass Huber sich verkniff, ihn als ihren Vater zu bezeichnen. Womöglich kam es ihm ebenso seltsam vor wie ihr.
»Außerdem musstest du deine Wohnung einrichten«, fuhr er rasch fort, »und hier erst einmal richtig ankommen. Line steht mit beiden Beinen fest im Leben und weiß sich zu wehren, würde ich meinen. Ich bin sicher, sie hätte sich längst bei dir gemeldet, wenn sie Hilfe benötigen würde. Oder bei den Kollegen vor Ort, wenn sie um ihre Sicherheit fürchtet. Mit den Jahren hat sie doch gute Kontakte geknüpft.«
Dankbar sah Alexa ihren Kollegen an und spürte, dass die Spannung in ihren Schultern nachließ. Er hatte recht. Alexa sollte darauf vertrauen, dass Line wusste, was sie brauchte. Dennoch blieb ein Stachel der Unzufriedenheit. Aber sie konnte am Abend vielleicht zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und sich sowohl um die Sache mit Konstantin kümmern als auch Line und Oskar einen Besuch abstatten.
Sie passierten gerade die Kirche von Sachsenkam mit dem spitzen Turm, den man schon aus der Ferne hatte sehen können. Der Ort war das Musterbild eines gepflegten bayerischen Dorfes.
»Hier werden recht häufig Filme gedreht, wusstest du das?«, meinte Huber, der scheinbar ihre Gedanken gelesen hatte. »Der Bulle von Tölz, Forsthaus Falkenau und die Rosenheim Cops. Sogar Horst Schimanski ist schon einmal in den Kirchsee gefallen.«
Alexa musste schmunzeln. Huber wusste offenbar wirklich alles über die Gegend, und man hörte deutlich einen gewissen Stolz auf seine Heimat heraus. Die Erwähnung des Duisburger Tatort-Kommissars brachte sie aber wieder zurück zu dem neuesten Fall.
»Was war das eigentlich vorhin mit dem Kollegen vom LKA? Ich hatte das Gefühl, Walk schätzt ihn nicht besonders. Hattest du schon einmal mit ihm zu tun? Sollte ich irgendetwas wissen?«
»Gut beobachtet. Ich kenne ihn nicht, kann den Walk aber gut verstehen: Dieser Marschner hat den Fall für die interne Kommunikation Barbecue getauft.«
Was vermutlich nur ein Witz sein sollte, war tatsächlich etwas daneben. Alexa konnte verstehen, dass diese Titulierung für alle beteiligten Hilfskräfte eine Zumutung sein musste, und fragte sich einmal mehr, ob die Verrohung, die sie immer wieder in der Bevölkerung spürte, auch vor den eigenen Reihen nicht haltmachte.
»Da vorne«, sagte sie und deutete auf ein Haus in der Alpenblickstraße, vor dem eine Doppelgarage stand. Huber stellte den Wagen neben dem silbernen Kombi ab, der davor parkte.
Gemeinsam traten sie vor das hölzerne Gartentor und betätigten die Klingel. In dem Ensemble waren sogar die Mülleimer in einem eigenen winzigen Haus untergebracht, das im selben Baustil wie die Garage und das Wohngebäude gehalten war. In Letzterem zierten rot-weiß karierte Gardinen die Fenster, die perfekt zur Farbe des Bewuchses in den Blumenkästen passten. Hier hatte jemand wirklich ein Händchen für Gestaltung bewiesen. Auch der Garten war gepflegt, der Rasen getrimmt und ohne jedes Unkraut, und in den üppig blühenden Stauden summten Insekten.
Alexa fragte sich, ob Huber wohl genauso wohnte. In ihrer Wohnung in Lenggries waren mittlerweile immerhin ihre eigenen Möbel angekommen, und sie hatte die Gartenstühle ihrer kürzlich verstorbenen Vermieterin endlich auf die Terrasse gestellt.
In dem Moment zeigte sich der Herr des Hauses in der Eingangstür. Huber wies sich aus, und schon öffnete sich mit einem Summen das Tor.
Johann Peltzer ging voraus in die Küche, räumte rasch Geschirr, eine Packung Frühstücksflocken und eine Flasche Milch vom Tisch, dann wischte er mit der Hand ein paar Krümel von der Platte und bat sie, auf der Eckbank Platz zu nehmen.
»Meine Frau hat es heute früh vor der Arbeit wohl nicht geschafft, das wegzuräumen«, entschuldigte er sich. Er deutete auf die Kaffeemaschine. »Mögen Sie vielleicht einen? Ich kann gerne Frischen aufbrühen.«
Alexa winkte ab, und auch Huber mochte Herrn Peltzer keine Umstände machen. Dann setzte sie sich auf eines der flachen, rot-weiß karierten Kissen, die Frau Peltzer vermutlich selbst genäht hatte. Alles in der großen Wohnküche wirkte zwar wie aus einer Zeitschrift, aber es war nicht ganz so ordentlich, wie man es aus diesen Magazinen kannte. Gerade das gefiel Alexa, denn die Familie hatte dem gestylten Raum einen eigenen, lebendigen Stempel aufgedrückt.
Peltzer blieb stehen und wischte sich die Hände an den Oberschenkeln der Jeans ab. Er wirkte übernächtigt, und ihr Erscheinen machte den Mann offenkundig nervös. Schließlich nahm er sich einen Stuhl und setzte sich auf die äußerste Kante, fast so, als wäre er auf dem Sprung.
»Wir wollen Sie gar nicht lange stören, falls Sie losmüssen«, begann Alexa in ruhigem Ton. »Wir haben nur ein paar Fragen zu dem Unfall gestern, dann sind wir auch schon wieder weg.«
»Schon gut. Ich habe mir heute freigenommen. Letzte Nacht …« Erneut rieb er über die Oberschenkel. »Ich hab’s im Internet gelesen. Die kamen ja nicht mal von hier … Aber wir konnten ja nicht wissen …«
»Niemand macht Ihnen einen Vorwurf, Herr Peltzer«, bemühte sich Alexa, ihn zu beruhigen. »Für uns ist nur von Interesse, dass Sie uns noch einmal ganz genau beschreiben, wie der Unfall vonstattengegangen ist. Jedes noch so kleine Detail kann uns dabei helfen zu rekonstruieren, was überhaupt geschehen ist.«
Der Mann nickte und runzelte die Stirn. Die Informationen schienen nur mit Verzögerung bei ihm anzukommen, und Alexa beschloss, noch einmal jemanden vom psychologischen Dienst zu bitten, nach ihm zu sehen.
»Tja, eigentlich kann ich gar nicht so viel dazu sagen«, meinte er. »Ich hab den Abend mit Kumpels verbracht. Beim Spielen wurde einiges getrunken … wie das halt so ist. Außerdem war es spät, deshalb ist ja auch die Moni gefahren.«
»Sie haben also nicht gesehen, wie der Unfall passiert ist?«, fragte Huber nach.
»Ich war wohl kurz eingenickt. Erst als die Moni neben mir aufschrie, bin ich zu mir gekommen und habe sofort den Notruf gewählt. Meine Frau hat am Straßenrand gestoppt und wollte schon zu dem Wagen rennen, aber ich habe sie zurückgehalten. Es war einfach zu gefährlich …« Er senkte den Kopf und schloss die Augen.
Das war es also, was ihn so umtrieb: Er fühlte sich schuldig. Vermutlich hatte er kein Auge zugetan und sich seit gestern immer wieder gefragt, ob ein beherzteres Eingreifen das Leben des Fahrers vielleicht hätte retten können.
»Ihre Frau hat ausgesagt, dass eine Insassin aus dem Wagen ausgestiegen ist. Können Sie uns beschreiben, was diese Person anhatte, wie groß sie ungefähr war?«
Johann Peltzer hob den Kopf, presste die Lippen zusammen und rieb wieder mit den Händen über die Oberschenkel. Dann öffnete er den Mund, so als wolle er anheben etwas zu sagen, entschied sich jedoch anders.
Wieder erschien Alexa seine Reaktion irgendwie seltsam. Aber genau wie ihr Kollege hielt sie sich zurück und gab dem Zeugen die Zeit, die er augenscheinlich brauchte, um sich zu sammeln.
»Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll«, begann er. Dann erhob er sich abrupt, ging ein paar Schritte zum Fenster, hielt den Kopf gesenkt und blieb mit dem Rücken zu ihnen stehen. »Meine Frau leidet unter Depressionen«, fuhr er schließlich fort. »Schon seit fast einem Jahr.«
Huber und Alexa wechselten einen Blick. Er verstand genauso wenig wie sie selbst, wie das mit dem Unfall zusammenhing.
Dann drehte Peltzer sich um und rang die Hände. »Sie sieht seither … öfter Dinge. Menschen oder Gestalten. Ihr Arzt hat es uns erklärt. Visuelle Halluzinationen hat er es genannt. Die entstehen bei ihr meist in Situationen, in denen sie Angst hat. Oder aus dem Wunsch heraus, nicht das zu sehen, was real ist … Ich kann es Ihnen nicht besser beschreiben. Aber das, was die Moni sieht, das gibt es oft gar nicht. Sie nimmt dagegen natürlich Medikamente ein. Aber trotzdem … Ich wollte das gestern vor den Feuerwehrleuten nicht so breittreten. Eigentlich wurde ihr ja empfohlen, in der Dunkelheit nicht zu fahren. Und sie hatte auch noch einen Wein gehabt.« Er atmete tief ein. »Aber um die Zeit … Sie kennt die Strecke gut, und normalerweise ist da nachts nicht viel los.«
Endlich begriff Alexa. »Sie meinen, sie hat sich nur eingebildet, dass jemand aus dem Auto ausgestiegen ist?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich war vielleicht zwei Minuten nach ihr draußen. Außer dem Fahrer von dem dicken SUV, der ebenfalls angehalten hat, war da niemand zu sehen. Der stand auf dem Feld, hatte noch versucht, Hilfe zu leisten, ist dann aber wohl weggefahren, als die Feuerwehr kam. Schon als wir anhielten, brannte die komplette Front des Wagens. Und dann gab es diese heftige Explosion, und alles stand lichterloh in Flammen. Glauben Sie mir, da hat sich gar nichts gerührt. Niemand wäre da lebend rausgekommen.«
Krammer fegte ein paar Krümel vom Tisch und zog lächelnd einen der braunen Stühle an der geschwungenen Lehne zurück. Das Café Central war sein Stammlokal, seit er in Innsbruck lebte, aber heute nahm er zum ersten Mal nicht den Platz ein, den er früher immer gewählt hatte, sondern den, an dem er am Vortag mit seiner Tochter Alexa gesessen hatte. Andere hätten ihn deswegen vermutlich belächelt, aber für ihn war dieser Bruch mit seinen Gewohnheiten wichtig und ein Grund zur Freude. Er hatte sich geschworen, sich zu ändern, und das war der erste Schritt.
Der Oberkellner, den er schon lange kannte, beeilte sich zu ihm zu kommen und begrüßte ihn mit einem Lächeln, wischte noch einmal sorgfältig über die Tischplatte, bevor er ihm seine Zeitung reichte und die Bestellung aufnahm.
Kurz überlegte Krammer, mal etwas völlig anderes zu ordern, aber er wollte es mit den Neuerungen auch nicht gleich übertreiben. Lieber blieb er bei seinem kleinen Braunen. Dazu würde er sich heute ein Stück Kuchen gönnen.
Er seufzte tief, dann musterte er die anderen Gäste. Das Lokal war zur Hälfte besetzt, und die meisten waren genau wie er vor der Arbeit noch schnell hergekommen, um sich zu stärken.
Seit er nach Innsbruck gezogen war, wo er eine Dreizimmerwohnung hatte, frühstückte er meist auswärts. Allein in seiner kleinen Küche zu frühstücken, hatte er noch nie gemocht. Dann verzichtete er lieber ganz darauf.
Du solltest mehr auf dich achten, würde seine Kollegin Roza Szabo ihn schimpfen. Aber er konnte dem ganzen Gerede über gesunde Lebensführung nichts abgewinnen.
Achtsamkeit, vegane Ernährung, Me-Time, Work-Life-Balance – all diese Trends waren in seinen Augen bloß Larifari, der den entsprechenden Industrien eine Menge Geld einspielte. Er hatte immer gegessen, worauf er Lust hatte, aber stets in Maßen. Beim Trinken hielt er es genauso. Ein gutes Glas Wein sollte ohnehin genossen werden. Sich volllaufen zu lassen, genau wie der damit einhergehende Kontrollverlust, hatte in seinen Augen etwas Erniedrigendes. Viel Bewegung und genug Schlaf – das musste genügen.
Der Gedanke an seine Kollegin ließ ihn tief seufzen. Er war erleichtert, sie nachher wieder im Büro anzutreffen. Sie hatte sich die Woche zuvor ein paar Tage freigenommen, um sich um die kleine Emily zu kümmern. Deren Mutter war eine enge Freundin von Roza aus Kindertagen und vor kurzem bei einem Einsatz ums Leben gekommen, und auch der Stiefvater hatte bis gestern noch im Krankenhaus gelegen. Aber ab heute war Roza wieder da. Nur die Beerdigung von Emilys Mutter stand ihr noch bevor. Ihr tragisches Ende bereitete Krammer großen Kummer, denn er machte sich Vorwürfe, nicht schnell genug gehandelt zu haben. Wäre er früher auf die richtige Spur gekommen, hätte er nicht an seiner Kollegin gezweifelt, dann hätte die Frau vielleicht nicht so jung sterben müssen.
Der Fall, in dem ein Drahtzieher des organisierten Verbrechens schließlich in Deutschland gefasst werden konnte, schlug auch in Österreich große Wellen. Dicke Schlagzeilen in den Zeitungen und Fernsehberichte hatte es gegeben, die die Arbeit der Polizei lobten. Aber inzwischen waren andere Meldungen in den Fokus gerückt. Bis das Verfahren gegen den Mann in Gang kam, würden allerdings Monate vergehen. Er saß zwar unter allerstrengsten Auflagen in einem Hochsicherheitsgefängnis, und sie hatten jedes Detail akribisch festgehalten, damit es in dem Fall keine Formfehler gab, die den Prozess oder einen Schuldspruch gefährdet hätten. Verurteilt war er aber noch lange nicht.
Zum Glück hatte Roza mit ihrer Freundin vor deren Tod Videointerviews gemacht, in denen diese eine Reihe von Namen und Verbindungen aufdeckte, durch die auch Hintermänner in Bedrängnis kamen, die sicher versuchen würden, mit ihren Aussagen Deals herauszuschlagen. Außerdem gab es Fotos aus früheren Jahren, die ebenfalls als Beweise dienlich waren. Manchmal kam es Krammer vor, als hätte die Frau schon geahnt, wie das alles enden würde – was jedoch nichts an seinen Schuldgefühlen änderte.
Am Vorabend hatten sie noch lange zusammengesessen und dabei auch über den Unfalltod von Rozas Schwester gesprochen. Er hatte bislang keine Ahnung von den wahren Hintergründen gehabt, warum seine Kollegin nie mehr nach Ungarn gereist war und den Kontakt zu ihrer Familie rigoros abgebrochen hatte – obwohl sie ihre Heimat so sehr liebte. Was dieser Vorfall für Roza als Kind bedeutet hatte, mochte er sich gar nicht ausmalen, und es war ein Wunder, dass sie nicht daran zerbrochen war. Ihre Eltern hatten sie damals für das Geschehen verantwortlich gemacht, und Roza war für sie ab diesem Tag unsichtbar geworden. Mit ihrer Trauer musste sie ganz allein zurechtkommen. All das erklärte, warum sie sich später mit aller Kraft in ihren Beruf geworfen hatte, um eine so akribische, mutige Inspektorin zu werden.
Außerdem verstand er endlich, warum Roza nie eine feste Partnerschaft eingegangen war. Wurde das Urvertrauen derart im Mark erschüttert, verheilten die Wunden vermutlich niemals ganz. Krammer hatte sich deshalb fest vorgenommen, ihr nun mehr zu sein als nur ein Kollege. Sie brauchte vor allem einen Freund, der stets ein Auge auf sie hatte, sie schützte.
So hatte er es als seine Pflicht angesehen, die Waffe, die Roza zu ihrem Schutz gestohlen hatte, ohne Aufsehen zurück in die Asservatenkammer zu schmuggeln. Da Szabo diese nie abgefeuert hatte, sah er keinen Grund, die Angelegenheit zu Protokoll zu geben. Im Gegenteil: Es würde ihrer beider Geheimnis bleiben.
Der Oberkellner, der aus Tunesien stammte, trat an Krammers Tisch und riss ihn aus seinen Gedanken. Er stellte die Bestellung vor ihm ab und richtete den Henkel der Tasse sorgsam nach außen aus. Sicher war seine Geschichte ebenfalls von Sehnsucht nach seiner Heimat, vielleicht gar von Verlust geprägt. Wie bei vielen Menschen, die in Österreich strandeten, deren Vergangenheit aber kaum jemanden interessierte.
Nachdenklich trennte Krammer mit der Gabel ein Stück von dem saftigen Guglhupf ab und fühlte sich durch den Geschmack sofort in die Kindheit zurückversetzt. Seine Großmutter hatte den immer gemacht, mit guter Butter, die zimmerwarm sein musste, und natürlich mit Topfen. Wie glücklich seine Kindheit gewesen war, wurde ihm erst jetzt bewusst. Mittlerweile waren allerdings alle längst verstorben.
Durch das Fenster fiel sein Blick auf den Himmel, der heute strahlend blau war. Schon musste er lächeln.
Schließlich hatte er in diesem Jahr ein Familienmitglied hinzugewonnen. Genau wie Roza, die sich nun um die kleine Emily kümmern würde. Im Gegensatz zu ihm schien seine Kollegin allerdings instinktiv zu wissen, wie sie mit dem Kind umgehen sollte. Sie würde Emily künftig als eine Art Patentante begleiten und Sorge dafür tragen, dass sie so aufwuchs, wie ihre Mutter es sich gewünscht hätte.
Vielleicht war es ein Wink des Schicksals, dass Roza und er nun beide die Chance hatten, Teil einer Familie zu sein.
Sie hatte nicht schlecht gestaunt, als er ihr endlich von seiner ungewöhnlichen Beziehung zu Alexa erzählte. Zum Glück hatte sie ihm sein langes Schweigen nicht verübelt. Aber schließlich hatte auch sie ihn nicht ins Vertrauen gezogen. In dieser Hinsicht waren sie nun quitt.
Während sich Roza jedoch mit Elan in ihre neue Aufgabe warf, war er selbst Alexa gegenüber in dieser Rolle immer noch unsicher. Er hatte keine Geschwister und nur selten mit Kindern zu tun gehabt. Es gab kein Muster, dem er nacheifern konnte. Ohnehin trug er ständig ein enges Korsett aus Vorsicht und Bedenken, und wenn es in einer Beziehung persönlich wurde, war er schon immer ein Tölpel gewesen. Aber das gestrige Gespräch mit seiner Tochter hier im CC war ein erster Schritt in die richtige Richtung gewesen.
Allerdings hatte es auch die Erinnerungen an seine kurze Zeit mit Susanna erneut geweckt. Alexa ähnelte ihrer Mutter zwar äußerlich kaum, ihre Art zu sprechen und zu denken hingegen schon. Gefühle waren in ihm aufgestiegen, die er so sorgsam in sich verschlossen hatte, dass er beinahe vergessen hatte, wie es sich anfühlte, zu lieben und aufrichtig geliebt zu werden. Denn auch wenn Susanna damals gegangen war und ihn nie mehr kontaktierte – sie hätte niemals sein Kind behalten, wenn sie nicht ebenso empfunden hätte.
Er starrte auf seine Handfläche, sah die Altersflecken darauf und die frische Narbe, die er von einem Unfall davongetragen hatte. Alles im Leben verging so schnell, die guten Zeiten waren genauso verwelkt wie sein Körper.
Dann betrachtete er wieder den Kuchen und fragte sich, wie er es hinbekommen sollte, in der Zeit, die ihm noch blieb, mit seiner Tochter derlei Erinnerungen zu schaffen, die bei ihm der Geschmack dieses Guglhupfs hervorrief. Erlebnisse, die sie später, wenn er nicht mehr war, an ihn denken lassen würden.
Außer seinem Beruf und seiner Leidenschaft für die Natur, für gutes Essen, guten Wein und die Musik gab es nicht viel, das ihn ausmachte.
Gedankenverloren rührte er in seiner Tasse.
Als er die fortgeschrittene Uhrzeit bemerkte, wurde ihm klar, dass er nur noch einen kurzen Blick in die Zeitung werfen konnte. Er würde nicht erneut von Roza verlangen, für ihn Ausreden zu erfinden, weshalb er zu spät kam.
Rasch nahm er die Tiroler Tageszeitung zur Hand, um auf dem Laufenden zu sein. Die Schlagzeilen waren allerdings alles andere als erfreulich. Weder die Lage in der Welt noch die Politik in seinem eigenen Land. Es schien wöchentlich mehr Krisenherde zu geben, und unter der Oberfläche brodelte es spürbar. Statt dass die Menschen angesichts der akuten Bedrohung des Klimas und des Friedens versöhnlicher wurden, ein Stück zusammenrückten und gemeinsam nach Lösungen suchten, zogen sie sich immer mehr auf sich und ihren engsten Kreis zurück, begegneten einander mit Argwohn, Misstrauen und Wut. Grenzten sich ab und schoben die Verantwortung auf andere.
Sein Blick blieb an einem Artikel über einen Brand in Innsbruck hängen. Auf der Hungerburg, die über dem Stadtzentrum auf einer Höhe von 860 Metern auf einem Hochplateau am Fuß der Nordkette lag, direkt unter dem Hafelekar.
Einerseits schon mitten im Karwendel, andererseits durch die Hungerburgbahn mit der Stadt verbunden, war Hoch-Innsbruck, wie es auch genannt wurde, eine exklusive, auf der Sonnenseite gelegene Wohngegend, die einen atemberaubenden Blick über das Inntal und zu der gegenüberliegenden Bergkette bot.
Der Brand war nachts in einem leer stehenden Wohnhaus entstanden, das wohl als Ferienimmobilie genutzt wurde. Es war dadurch zwar niemand zu Schaden gekommen, aber es hatte genau aus diesem Grund auch gedauert, bis das Feuer bemerkt worden war. Als einem Nachbarn die Helligkeit auffiel, brannte bereits das gesamte untere Stockwerk. Die Feuerwehren Hötting, Hungerburg und Mühlau waren zum Löschen gerufen worden und hatten das Geschehen erst in den frühen Morgenstunden im Griff. Laut der Meldung hatte eine Einsatzkraft dabei eine Verletzung davongetragen, und durch den Funkenflug war auch das nebenstehende Gebäude in Mitleidenschaft gezogen worden.
Über die Ursache gab es derzeit keine Angaben, aber da das Haus noch während des Wochenendes bewohnt gewesen war, ging man davon aus, dass sich das Feuer womöglich über den offenen Kamin und davor liegende Felle und Teppiche langsam ausgebreitet hatte. Der entstandene Schaden würde später genauer beziffert werden.
Die Männer von der Feuerwehr hatten dort oben in der Regel mehr mit von der Schneelast oder von Stürmen umgestürzten Bäumen und mit Fahrzeugunfällen zu tun. Neuerdings kamen sie aber häufiger zum Löschen, als ihnen lieb war.
Erst vor ein paar Wochen hatte ein Linienbus in Hötting, unterhalb der Hungerburg, Feuer gefangen. Nur der Umsicht des Fahrers war es zu verdanken, dass niemand verletzt worden war. Als er den Rauch bemerkte, sorgte er dafür, dass die Fahrgäste umgehend den Bus verließen. Dieser brannte danach völlig aus. Ein technischer Defekt, hatte es damals geheißen, wie es bei Elektromotoren gelegentlich passierte, aber er hatte das nicht weiterverfolgt.
Krammer nahm einen Schluck Kaffee. Bei schönem Wetter fuhr er oft mit der Hungerburgbahn hinauf und verharrte vor seiner Rückfahrt stets kurz am Hermann-Buhl-Platz, um die Aussicht von der dortigen Plattform zu genießen.
Vielleicht könnte er Alexa zu einer Tagestour einladen. Schon die Auffahrt mit der Nordketten-Bahn in die Berge war etwas Besonderes. Von der Bergstation aus konnte man den Goetheweg nehmen und vielleicht noch im Restaurant Seegrube einkehren. Die Tour war mittelschwer, man brauchte Trittsicherheit und Kondition. Aber da Alexa neulich mit ihrem früheren Kollegen aus Aschaffenburg bereits die Wolfsschlucht geschafft hatte, stellte beides für sie sicher kein Problem dar.
Bestimmt würde sie dann verstehen, warum er das Wandern und Innsbruck so sehr liebte. Der Blick über das Inntal würde auch sie überzeugen. Und vielleicht häufiger zu ihm führen. Denn drängen mochte er sie nicht.
Krammer betrachtete noch einmal das spektakuläre Foto, das über dem Artikel prangte und den Einsatz vor dem noblen Haus zeigte. Gottlob war nur Sachschaden entstanden. Alles, was man mit Geld gutmachen kann, ist kein Problem, pflegte seine Mutter immer zu sagen. In dem Punkt hatte sie sicher recht. Und bei dem Hausbrand traf es wenigstens keinen armen Schlucker, denn diese Villa hatte definitiv eine ordentliche Stange Geld gekostet.
Krammer faltete die Zeitung zusammen, leerte seine Tasse und aß den Rest des Kuchens. Es wurde höchste Zeit, ins Büro zu gehen. Roza wartete bestimmt schon auf ihn. Er winkte den Kellner herbei, dem er heute ein extra gutes Trinkgeld geben würde.
Ohne ein Wort waren die beiden Kommissare wieder in das Auto eingestiegen. Während Huber den Wagen startete, starrte Alexa das Haus an, das äußerlich wie die Blaupause eines rundum glücklichen Heimes wirkte. Ob das Paar wirklich so harmonisch war, vermochte sie nach diesem Gespräch allerdings nicht mehr zu sagen. Einiges, was Peltzer zuvor erwähnt hatte, verursachte ihr Unbehagen. Möglicherweise hing es bloß damit zusammen, dass sie ganz anders aufgewachsen war. Wie unterschiedlich sie das Leben sah, fiel ihr immer wieder auf, wenn sie einen kurzen Blick hinter die Fassade normaler Familien warf. Und genauso oft fragte sie sich dann, wie sie später einmal ihr eigenes gestalten wollte.
»Damit hatte ich jetzt nicht gerechnet«, platzte sie heraus, als Huber den Wagen zurücksetzte.
»Stimmt. Es wirft ein völlig neues Licht auf den Unfall.«
»Moment. Bisher heißt das doch nur, dass Peltzer die Frau nicht gesehen hat«, präzisierte Alexa. »Aber er hat zuvor geschlafen und außerdem zugegeben, dass er getrunken hat. Immerhin so viel, dass er nicht am Steuer saß, obwohl sie nach Meinung der Ärzte nachts nicht fahren sollte.« Außerdem hatte er sich kein bisschen hinter seine erkrankte Frau gestellt, fügte Alexa im Stillen hinzu, behielt den Kommentar aber für sich. »Ich würde jetzt gerne direkt mit Monika Peltzer sprechen«, murmelte sie. »Wissen wir, wo sie arbeitet?«
Huber nickte und gab bereits die Adresse ein. »Wir sollten vor allem Tobi Gerg und der Suchmannschaft Bescheid geben. Denn wenn Peltzer recht hat …«
»Und wenn nicht? Nur weil die Frau psychische Probleme hat, ist sie doch keine schlechtere Zeugin.«
Huber zog eine Augenbraue hoch und schwieg. Aber Alexa merkte deutlich, dass er bereits an Monika Peltzers Verlässlichkeit zweifelte, ohne mit ihr gesprochen zu haben.
Etwas begann sich Bahn zu brechen, was sich offenbar schon länger in ihr aufgestaut hatte. Vielleicht interpretierte sie zu viel in die Sache hinein, aber manchmal machten sie derlei Stereotype einfach wütend.
»Erklär mir das bitte genauer. Wir haben zwei Zeugen, die unterschiedliche Dinge gesehen haben. Du glaubst dabei also eher jemandem, der angetrunken war und seine Frau daran hinderte, Hilfe zu leisten, als jemandem, der mit psychischen Problemen zu kämpfen hat, sich deshalb aber behandeln lässt und es heute trotz des nächtlichen Vorfalls schafft, zur Arbeit zu gehen? Im Gegensatz zu ihrem Mann!«
Huber stieß hörbar Luft aus. »Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«
Alexa schüttelte unwirsch den Kopf. »Mir? Keine. Aber du musst zugeben, dass viel zu oft verharmlost wird, dass Alkohol ein Rauschmittel ist und das Hirn vernebelt. Hier in Bayern hat sich das bei vielen Männern anscheinend noch nicht herumgesprochen.« Etwas milder fuhr sie fort: »Ich wundere mich offen gestanden, dass Herr Peltzer so bereitwillig die ganze Krankengeschichte seiner Frau vor uns ausgebreitet hat. Immerhin ist sie nur eine Zeugin, steht nicht unter Anklage.«
»Sie hat Halluzinationen.«
»Aber sie schwächelt heute Vormittag nicht rum.«
Huber lenkte scharf ein, und Alexa musste sich am seitlichen Griff festhalten. Er fuhr weit schneller als die zugelassene Höchstgeschwindigkeit. Offenbar hatte sie bei ihm einen Nerv getroffen. Und bei dem Gedanken an das wenige, das sie über seine Ehe wusste, tat es ihr schon wieder leid. Sie hatte völlig vergessen, dass es bei Huber und seiner Frau alles andere als gut lief.
»Tut mir leid«, beeilte sie sich deshalb zu sagen. »Ich wollte dir damit nicht zu nahe treten.«
»Schon gut«, sagte er und hielt vor dem Tor, das zu einem Kindergarten führte. Seine Miene ließ vermuten, dass es besser war, das Thema nicht weiter zu vertiefen. Aber Alexa schwor sich, später noch einmal darauf zurückzukommen.
Sie stieg aus und betrachtete das flache Gebäude. Bunt bemalte Stäbe zierten die Pfeiler des rundumführenden Zauns. Seitlich von dem Gebäude schloss sich ein weitläufiger Garten mit hohen Bäumen an, in dem kreischend eine Kinderschar spielte.
Eine Frau stand etwas abseits, trug eine knielange Strickjacke, obwohl es recht warm war, und hatte die Arme eng um den Oberkörper geschlungen.
Ohne es genauer begründen zu können, war Alexa überzeugt, dass sie Frau Peltzer bereits gefunden hatten. Sie wollte auf Huber warten, der aber gerade einen Anruf angenommen hatte und ihr bedeutete, schon vorzugehen.
Alexa schob das Tor auf und trat direkt auf die Frau zu. Zwar sah sie wie ihr Mann etwas übernächtigt aus, aber ihr Teint war gebräunt, so dass sie dennoch einen überaus gesunden Eindruck machte. Dass das Äußere täuschen konnte, war Alexa zwar bewusst, aber Monika Peltzer wirkte völlig anders, als ihr Mann sie beschrieben hatte. Patent und ausgesprochen wach.
»Wer ist das, Moni?«, fragte ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen und klammerte sich an das Bein der Erzieherin.
»Ich bin die Alexa von der Polizei«, klärte sie das Kind auf und lächelte es an. »Lässt du mich für fünf Minuten mit der Frau Peltzer allein?«
»Fünf Minuten«, konstatierte die Kleine, zählte laut von fünf bis eins herunter und lief dann mit Tatütata-Geheule zu ihren Freunden.
Monika Peltzer nickte ihrer Kollegin am anderen Ende des Gartens zu und machte ihr ein Zeichen, dass sie kurz mit Alexa reden müsse.
»Jahn, Kripo Weilheim. Tut mir leid, dass ich Sie hier stören muss. Wir sind wegen der Ereignisse der letzten Nacht hier, und ich wollte Sie bitten, mir noch einmal genau zu schildern, was Sie am Unfallort gehört und gesehen haben.«
Monika Peltzer begann ohne Umschweife mit ihrer Schilderung. In Abfolge und Details deckte sie sich genau mit dem, was ihr Mann zuvor gesagt hatte. Während sie erzählte, ließ sie die Kinder keinen Moment aus den Augen.
»Ich wollte schon zu dem Wagen laufen, aber dann sah ich, dass die Fahrerin ausstieg.«
Alexa hielt sich zurück. Sie wollte Frau Peltzer nicht ablenken, indem sie Nachfragen stellte, sondern war froh, dass sie sich bemühte, die Situation so genau wie möglich zu beschreiben.
»Sie stand einen Moment neben dem Fahrzeug, schaute noch hinein.«
»Und wie sah die Frau aus?«
Monika Peltzer wandte sich ihr kurz zu, dann wanderte ihr Blick wieder zu den Kindern, die jetzt mit der anderen Betreuerin ein Singspiel machten.
»Ich konnte sie nicht besonders gut sehen, sie war ja ein ganzes Stück entfernt. Und durch die Hitze der Flammen und den Rauch wirkte alles verschwommen.«
»War ihre Kleidung hell oder dunkel?«, versuchte Alexa ihr eine Hilfestellung zu geben.
»Eher hell. Ich würde sagen, sie trug ausgeblichene Jeans und ein weites Oberteil in einer ähnlichen Farbe. Deshalb hob sich ihre Gestalt ja so deutlich vor dem Hintergrund ab.«
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als eines der Kinder ein Tänzchen veranstaltete. Bei einer Pirouette geriet die Kleine ins Straucheln. Schon machte Monika Peltzer einen Schritt in ihre Richtung, doch das Mädchen fand von selbst ihr Gleichgewicht wieder und alberte herum, woraufhin sich auch Frau Peltzer entspannte.
»Handelte es sich um eine ältere Frau oder eher eine junge?«, fragte Alexa weiter nach. Sie war sich sicher, dass Monika Peltzer weit mehr sagen konnte, als sie sich bewusst machte. Sie war definitiv eine gute Beobachterin.
»Jünger, denke ich, auch wenn sie wirklich weit weg war. Wegen der Art, sich zu bewegen. Und sie hatte dunkle Haare«, schob sie rasch hinterher.
Die andere Erzieherin beendete jetzt die Spielzeit und forderte die Gruppe auf, nach drinnen zu gehen. Sofort wandte Monika Peltzer sich wieder Alexa zu, schaute ihr direkt in die Augen und hielt ihrem Blick stand.
»Wir haben ja nicht ahnen können, dass da noch jemand im Auto war«, sagte sie. »Mein Mann … Seit ich den Bericht online gelesen habe …« Sie senkte den Blick. »Und dann auch noch jemand aus dem Ausland … Auf das Nummernschild habe ich überhaupt nicht geachtet. Wenn ich mir das vorstelle, dass er im Urlaub hier war und nun nie wieder nach Hause zurückkehren wird … Hatte er Familie?«
Alexa winkte ab und vermied es, auf ihre Frage einzugehen. »Machen Sie sich bitte keine Vorwürfe, es trifft Sie keine Schuld an dem, was geschehen ist.«
Monika Peltzer atmete tief durch, dann schlang sie erneut die Arme um den Körper, als wolle sie sich so vor den Bildern der Nacht und den Gefühlen schützen, die sie in ihr auslösten. Sicher würde der Unfall wieder und wieder vor ihren Augen ablaufen. Nicht selten waren die Zeugen genauso traumatisiert wie die Rettungskräfte.
»Die waren definitiv zu schnell unterwegs, das hatte ich zuvor schon zu meinem Mann gesagt. Wer die Strecken hier nicht kennt, unterschätzt oft, wie gefährlich unsere schmalen Landstraßen sind. Vor allem junge Leute, die wenig Fahrpraxis haben.«
Frau Peltzer war ungefähr in ihrem Alter, Anfang dreißig, insofern irritierte Alexa etwas, dass sie von der Jugend wie von einer fremden Spezies sprach.
»Ich würde gerne noch einmal auf eine Sache eingehen. Die Frau stand einfach bloß eine Weile da und war dann plötzlich weg?«, hakte Alexa ein, um zu vermeiden, erneut auf den Toten zu sprechen zu kommen.
»Genau. Sie starrte in das Auto, dann sah es aus, als würde sie etwas ins Fahrzeuginnere werfen. Anschließend ist sie in Richtung des Waldes gegangen.«
Interessiert schaute Alexa die Zeugin an. »Sind Sie sicher?«
Die Frau nickte. »Sie holte mit dem Arm aus, trat ein paar Schritte zurück, dann kam die Explosion, und sie lief zum Wald hinüber. Sicher wollte sie sich in Sicherheit bringen, falls erneut etwas hochging.«
»Sie hat also nicht versucht, Sie zu Hilfe zu holen oder auf die andere Seite des Fahrzeugs zu gelangen? Hat sie vielleicht etwas gerufen?«
Doch Frau Peltzer schüttelte den Kopf. »Nein. Sie hielt direkt auf den Wald zu. Das hatte ich auch in der Nacht schon zu Protokoll gegeben. Mein Mann hatte die Vermutung, der Fahrer des SUV