Grenzfall - In der Stille des Waldes - Anna Schneider - E-Book
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Grenzfall - In der Stille des Waldes E-Book

Anna Schneider

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Beschreibung

Der dritte Band der SPIEGEL-Bestseller-Serie um das deutsch-österreichische Ermittlerteam Alexa Jahn und Bernhard Krammer Ratlos begutachtet Chefinspektor Bernhard Krammer den Fund auf einer Baustelle am Ortsrand von Gnadenwald in Tirol. Zwei präparierte Dachse, in deren Inneren Babykleidung versteckt wurde. Weshalb? Und wer hat die ausgestopften Tiere vergraben? Zur gleichen Zeit erholt sich Oberkommissarin Alexa Jahn in Lenggries von einer Schussverletzung. Bis ein ehemaliger Kollege aus Aschaffenburg mit schlechten Nachrichten vor der Tür steht: In einem alten Fall wurde der Falsche verhaftet. Alexa macht sich Vorwürfe – hat sie damals bei den Ermittlungen etwas übersehen?  Während sie den Fall neu aufrollt, kommt Krammer einer Tragödie auf die Spur, deren wahres Ausmaß zunächst niemand ahnt.  Band 3 der packenden Krimiserie in der Grenzregion Deutschland – Österreich

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Ähnliche


Anna Schneider

Grenzfall – In der Stille des Waldes

Kriminalroman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Der dritte Fall für das deutsch-österreichische Ermittlerteam Alexa Jahn und Bernhard Krammer

Ratlos begutachtet Chefinspektor Bernhard Krammer den Fund auf einer Baustelle am Ortsrand von Gnadenwald in Tirol. Zwei präparierte Dachse, in deren Inneren Babykleidung versteckt wurde. Weshalb? Und wer hat die ausgestopften Tiere vergraben?

Zur gleichen Zeit erholt sich Oberkommissarin Alexa Jahn in Lenggries von einer Schussverletzung. Bis ein ehemaliger Kollege aus Aschaffenburg mit schlechten Nachrichten vor der Tür steht: In einem alten Fall wurde der Falsche verhaftet. Alexa macht sich Vorwürfe – hat sie damals bei den Ermittlungen etwas übersehen? 

Während sie den Fall neu aufrollt, kommt Krammer einer Tragödie auf die Spur, deren wahres Ausmaß zunächst niemand ahnt. 

 

»Die Grenzfall-Reihe hat eindeutig Suchtpotential!« SR3

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Schon als Kind lauschte Anna Schneider im Wirtshaus ihrer Großmutter gern den Geschichten der Gäste. Bald entwickelte sie eine Vorliebe für Kriminalfälle, bewarb sich nach dem Abitur sogar bei der Polizei, wurde aber abgelehnt. Zum Glück, denn so kam sie zum Schreiben. Für ihre Thriller lässt sie sich gern im Alltag inspirieren. So auch für die »Grenzfall«-Serie: Eine Zeitungsmeldung über einen vermissten Wanderer in Lenggries brachte sie auf die Idee. Die Nähe zur österreichischen Grenze tat ihr übriges. Die Serie spielt in beiden Ländern, Deutschland und Österreich, und lässt zwei gegensätzliche Ermittler aufeinandertreffen, die erst als Team zusammenzuwachsen müssen. Anna Schneider lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München.

Für Sven,

den Einen und Einzigen

Prolog

Die Sonne brannte heiß vom Himmel. Ein Greifvogel zog seine Kreise hoch über ihnen, stieß von Zeit zu Zeit einen gellenden Schrei aus. Die schwüle Luft flimmerte. Im Laufe des Tages würde es bestimmt ein Gewitter geben, erste Wolken zogen bereits auf.

Der Architekt Rainer Röder beeilte sich, die Pläne des Neubauprojektes auf der Motorhaube seines schwarzen SUVs auszubreiten, und erklärte dem Leiter der Baustelle noch einmal eindringlich, was dem Bauherrn besonders wichtig war. Ein dickes Millionenprojekt wie dieses bekam er nicht jeden Tag rein, und er war darauf erpicht, dass alles opti-mal funktionierte, um diesen Kunden zufriedenzustellen, in der Hoffnung, er möge weitere betuchte Menschen zu ihm führen.

Die letzten Monate waren finanziell nicht gut für sein Büro gelaufen. Immer wieder hatte er auf Ersparnisse zurückgreifen müssen und nun einen dicken Kredit gebraucht, um weiter über die Runden zu kommen. Es hatte relativ wenige Ausschreibungen gegeben – und wenn, dann hatte ihn jedes Mal ein Konkurrent unterboten.

Ein Teufelskreis.

Röder verstand nicht, wie die anderen das machten. Vermutlich mit unterbezahlten Leiharbeitskräften. Anders war das gar nicht möglich. Der Kostendruck wurde auf die Schultern von illegalen Bauarbeitern aus dem Ausland abgewälzt, eine moderne Art des Menschenhandels. Aber genau das war der Pluspunkt an dem neuen Bauherrn. Seine Bedingungen: absolut saubere Arbeit, gute Fachkräfte, einwandfreie Materialien. Echte Wertarbeit, die über Jahrzehnte halten sollte. Eine Seltenheit – und ein Segen für einen Architekten. Denn in alles andere mischte er sich nicht ein, sondern ließ ihm völlig freie Hand.

In der näheren Umgebung des Halltals wohnten Mitglieder der weit über Tirol hinaus bekannten Swarovski-Familie. Vielleicht gab es Folgeaufträge, wenn er das Projekt perfekt über die Bühne brachte. Bisher lief alles wie am Schnürchen, und alle, die am Bau arbeiteten, hatte Röder handverlesen.

»Also: Du garantierst mir, dass wir mit dem Ausschachten Ende der Woche fertig sind?«, wollte Röder von seinem alten Spezl Hans Pertl wissen. Neben der markierten Fläche hatten sie in einem großen Container Wurzeln und Geäst aufgeschichtet, dicke Baumstämme lagen daneben, die sie als Erstes entfernt hatten, um heute noch mit dem Ausschachten zu beginnen. Der Bagger machte sich gerade daran, die letzten Reste aus dem Boden zu heben.

»Herrschaftszeiten, ja! Hab ich dir doch schon beim letzten Mal versprochen. Du brauchst das jetzt nicht jeden Tag zu wiederholen. Natürlich schaff ich das …«

Plötzlich erregte ein lauter Pfiff ihre Aufmerksamkeit. Im selben Moment verdunkelte sich der Himmel. Die riesige Wolke, die noch vor ein paar Minuten in weiter Ferne schien, hatte sich vor die Sonne geschoben. Schon fielen dicke Tropfen vom Himmel.

Röder raffte die Pläne zusammen und suchte mit Pertl Schutz in seinem Auto. Der Regen verdichtete sich, und noch bevor ein Donner durch das Tal krachte, begann es obendrein zu hageln.

»Halt!«, schrie einer der Arbeiter und gestikulierte wild mit den Armen. »Sofort aufhören!«

Doch der Baggerführer stoppte nicht, sondern zerrte mit dem Greifer weiter an dem tief sitzenden Wurzelwerk.

Der Wind peitschte den Regen auf das Dach des SUVs, so dass Röder nur noch Schemen erkennen konnte. Er startete den Scheibenwischer.

Gerade sah er, wie sich die Front des Baggers vom Boden hob, während er weiter an dem letzten Wurzelstück zog. Der Regen lief bereits in schmalen Bächen den Hang hinab. Endlich hatte der Fahrer Erfolg. Die Verankerung des Baumes löste sich, und die Vorderachse des Baggers krachte wieder nach unten. Die Wucht der Regengüsse nahm noch einmal zu, und bevor der Baggerführer den Rest wegbringen konnte, gab plötzlich ein Teil des Bodens nach, und das Fahrzeug geriet ins Rutschen.

»Scheiße«, entfuhr es Röder. »Pertl, schau nur!«

Durch die Scheibenwischer konnten sie lediglich einen Bruchteil dessen erkennen, was dort draußen passierte. Der Bagger hatte sich gedreht, der Fahrer ließ die Ketten schneller laufen, aber der schlammige Boden bot zu wenig Halt. Unaufhaltsam rutschte der Bagger rückwärts den Berg hinab.

Pertl riss die Tür auf und sprang raus, auch einige der anderen Bauarbeiter waren hinausgeeilt, starrten auf das Fahrzeug. Mit Wucht ließ der Baggerfahrer den Greifer hinabsausen. Das Metall kreischte auf dem Felsen, und gerade rechtzeitig kam er wieder zum Stehen. Der Fahrer stürzte aus der Kabine und brachte sich in Sicherheit.

»Jessasmaria«, murmelte Röder.

Pertl stieg nass bis auf die Knochen wieder zu ihm ins Auto. »Das ist noch einmal gutgegangen. Aber die gebrochene Kante müssen wir wieder aufschütten und stabilisieren. Das dauert, wenn das halten soll.«

Besser jetzt, als wenn das Gebäude bereits gestanden hätte, dachte Röder.

Während Pertl sich aus der nassen Jacke schälte, betrachtete Röder die schmalen Rinnen, über die das Wasser lief. Am Horizont wurde es bereits heller. Im Kopf überschlug er die Kosten und versuchte abzuschätzen, was diese Verzögerung zeitlich bedeuten würde. Doch egal, wie lange es dauern würde: Wenigstens waren ihm Ermittlungen wegen eines Unfalls erspart geblieben. Das hätte ihn definitiv länger aufgehalten.

Als der Regen nachließ, kamen die Arbeiter aus dem Bauwagen, in den sie sich geflüchtet hatten. Röder und Pertl stiegen aus dem SUV, um gemeinsam die Bescherung zu begutachten.

»Hätte schlimmer sein können«, meinte Pertl und klopfte ihm auf die Schulter.

Doch Röder konnte das nicht wirklich beruhigen. Das Erdloch, das sie für die doppelte Unterkellerung graben wollten, musste besonders tief sein. Eine unterirdische Garage für zehn Oldtimer war dort geplant, die mit einem Fahrstuhl nach oben transportiert werden sollten. Und er fragte sich gerade, ob die Örtlichkeit das überhaupt hergeben würde.

Aufgeregt liefen ein paar der Männer an den Rand der Bruchstelle und deuteten nach unten. Röder wechselte einen kurzen Blick mit Pertl und eilte dann ebenfalls zu ihnen.

Ein blauer Plastiksack lag in der weggeschwemmten Erde.

»Ach, da hat nur jemand sein altes Klump entsorgt«, meinte Pertl. »Heb den Sack da raus, leg ihn neben den Container, und weiter geht’s. Den entsorgen wir dann später mit dem Rest. Jetzt los, wir müssen den Rand stabilisieren. Bevor der nächste Regen kommt«, fügte er mit einem Blick nach oben hinzu.

»Und wenn das Gefahrgut ist?«, fragte Röder.

»Schmarrn.« Pertl winkte ab.

Doch anders als der Bauleiter wollte Röder sichergehen, dass nichts dort lag, das nicht hundertprozentig in Ordnung war.

»Kannst du erkennen, was das ist?«, rief er dem Mann zu, der an dem Beutel zerrte.

Röder knetete nervös seine Handflächen. Das alles gefiel ihm nicht. Wenigstens schloss das Plastik aus, dass es sich um einen archäologischen Fund handelte, der eine Baustelle sofort stilllegen würde. Vor dem Herbst sollte der Rohbau stehen, und bis dahin hatten sie noch eine Menge zu tun.

Zu seiner Erleichterung winkte der Arbeiter ab.

»Alles gut. Da hat bloß jemand Müll entsorgt«, rief er. Er versuchte den Sack, dessen Inhalt recht sperrig wirkte, aus dem Schlamm zu ziehen, hielt dann aber in der Bewegung inne. Ganz langsam ging er in die Knie und legte den Kopf schief. Der Sack war seitlich aufgeplatzt.

»Was?«, rief Röder ihm zu. Er hatte ein ungutes Gefühl. Irgendetwas stimmte nicht, er spürte es genau. Erneut schob sich eine graue Wolke vor die Sonne und verdunkelte die Szenerie. Er hastete selbst zu dem Bauarbeiter.

»Nun mach schon, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!«, rief Pertl ungeduldig.

Die Stille, die plötzlich eintrat, war unwirklich. Sämtliche Blicke waren auf den Arbeiter gerichtet, der sich noch immer an dem Inhalt des Sacks zu schaffen machte.

Als Röder schon fast bei ihm war, fand er endlich seine Sprache wieder. »Da drin liegen ausgestopfte Tiere. Zwei riesige Dachse«, rief er seinem Chef zu.

»Und wieso glotzt du dann so?«, meckerte Pertl. »Los, los, los. Beißen werden die toten Viecher ja wohl niemanden mehr.«

Doch keiner der Männer folgte seinem Befehl.

Endlich konnte Röder den ominösen Fund selbst erkennen. Tatsächlich handelte es sich um zwei Dachse, die eingerollt nah beieinander auf einer mit Moos bezogenen Holzplatte montiert waren. Sie sahen aus, als würden sie friedlich schlafen. Aber offenbar hatte der Bagger das Ding irgendwie beschädigt und ein Loch in das Fell eines der Tiere gerissen. Aus dem Inneren hatte der Arbeiter die Füllung gezogen, die er in seinen Händen hielt: ein winziger Strampler eines Säuglings, bedruckt mit hellrosa Streublumen.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Röder.

Dem Mann zitterte die Hand, als er mit seinem Handy in das Innere des Tieres leuchtete. »Keine Ahnung. Aber schauen Sie … Es sieht so aus, als wäre dadrinnen noch mehr.«

Röder trat noch einen Schritt näher und sah, was nun am Rand des Risses hing. Eine blonde Locke mit einer zartrosafarbenen Schleife daran.

»Langsam wird mir das unheimlich«, sagte der Arbeiter und legte den Strampler vorsichtig weg.

Röder fuhr sich durch die Haare. Es war vielleicht nur altes Zeug, aber sein Gefühl sagte ihm, dass der Bau nicht so unproblematisch verlaufen würde, wie er gehofft hatte.

»Ist hier in der letzten Zeit jemand verschwunden? Ein Kind vielleicht?«, fragte Röder den Mann.

Denn dass jemand ohne Grund die Sachen dort im Boden vergraben hatte, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen.

Der Bauarbeiter nickte und schaute Röder direkt in die Augen. »Das ist ja das Unheimliche. Der Peter Fichtner und sein Sohn. Vor zwei Jahren war das. Die Polizei hat nach ihnen gesucht, aber nie eine Spur gefunden«, berichtete er. Der Mann starrte auf den schlammigen Boden und machte vorsichtig zwei Schritte zurück. »Und der Fichtner … Er war Tierpräparator.«

ER

Plötzlich war es still. Kein Laut war mehr zu hören. Nur in seinem Inneren gab es keine Ruhe. Ihre schrillen Schreie echoten weiter in seinem Kopf. Wieder und wieder. Genau wie die Worte, die er ihr zugeflüstert hatte. Leise, beschwörend. Sein Mund dicht an ihrem Ohr, ihre Haarspitzen hatten seine Lippen berührt.

Doch sie ließ sich nicht beruhigen.

Dann war er lauter geworden. Hatte sie geohrfeigt. Erstaunt hatte sie innegehalten. Nur um dann noch lauter zu werden. Ihr makelloses Gesicht war voller roter Flecken, ihre Stimme ein hysterisches Kreischen, Speichel rann ihr Kinn hinab. Dennoch wollte sie keine Ruhe geben.

Bis vor einer Minute.

Jetzt lag sie vor ihm im vom Tau feuchten Gras. Reglos. Die seidigen Haare auf ihrem Körper bewegten sich mit dem Wind. Er strich ihr eine blonde Strähne aus dem Gesicht, die über ihre aufgerissenen Augen gefallen war, sah sie bloß an.

Wie schön sie war. Auch jetzt noch.

Vorsichtig schloss er ihre Lider.

Einem Impuls folgend, legte er sich kurz neben sie, schmiegte sich dicht an ihre Seite. Sog noch einmal ihren süßlichen Geruch ein, der ihn immer an frische Erdbeeren und Frühling erinnert hatte. Im Profil sah es aus, als würde sie nur schlafen.

So als wäre nichts geschehen.

Ein letztes Mal berührten seine Fingerspitzen ihre Haut. Ganz behutsam. Dann vergrub er sein Gesicht in ihrem seidigen blonden Haar.

Ein Abschied.

Für immer.

So wollte er sich an sie erinnern. Nur an das Gute. An ihre Wärme, ihre Sanftheit, ihren vollkommenen Körper.

Nicht an seine Wut.

Er hatte einfach nicht gewusst, was er noch tun sollte, wollte nur, dass sie endlich aufhörte mit dem Geschrei. Er hatte seine Hand auf ihren Mund gelegt.

Schsch … Ganz ruhig. Alles wird gut. Schsch …

Immer wieder hatte er sie beschworen.

Aber sie hörte nicht auf. Sie war nicht mehr das sanfte Wesen, das er in- und auswendig kannte. Es waren nicht ihre Augen, die ihn voller Abscheu ansahen.

Das war nicht die, die er liebte. Die, die die ganze Welt für ihn bedeutet hatte.

Rasch schlug er die Augen nieder.

Dann begann er, sie auszuziehen. Faltete sorgsam ihre Kleidung zusammen, verstaute sie in seinem Rucksack.

Er kämmte ihr Haar, wischte ein Blatt von ihrer Schulter, legte behutsam ihre Hände übereinander.

Sie war so wunderschön. Auch jetzt noch.

Er war ein besserer Mensch geworden durch sie. Das hatte er bereits in dem Moment gespürt, als er sie zum ersten Mal in den Armen hielt.

Und er würde sie beschützen. Auf ewig.

Das hatte er ihr geschworen.

Und genau das hatte er getan.

Es war alles nur für sie.

1.

Schweißgebadet fuhr Bernhard Krammer in seinem Bett auf. Gierig griff er nach der Karaffe mit Wasser, die auf dem Tisch stand. Er machte sich nicht die Mühe, sein Glas zu füllen, sondern setzte gleich den Krug an, störte sich nicht an dem Rinnsal, das über seine Mundwinkel lief und sein Pyjamaoberteil durchnässte.

Seit Tagen träumte er immer wieder dieselbe furchtbare Szene. Er stand am Ufer eines Sees, bestaunte den Sonnenuntergang, das Licht in warmen Rottönen tausendfach gebrochen auf der vom Wind gekräuselten Oberfläche. Dann ein Schrei und eine Hand, die aus dem Wasser ragte, alle Finger hilfesuchend ausgestreckt. Er dachte nicht lange nach, warf sich in die Fluten, schwamm in die Richtung, stieß sich mit den Beinen ab, doch als er an der Stelle ankam, fand er nichts, keinen Hilfesuchenden, aber auch keinen Halt. Stattdessen ein erbarmungsloser Strudel, der ihn mit sich in die Tiefe riss.

Nach Luft japsend stellte er den Krug auf dem Nachtkastl ab, fand nur langsam in die Realität zurück. Er rieb sich die Augen, dann zog er das durchnässte Pyjamaoberteil aus. Es war noch dunkel draußen, die Lichter der Stadt spiegelten sich in der regennassen Scheibe. Gestern hatte es immer wieder heftige Schauer gegeben, und die Woche sollte wechselhaft bleiben.

Er ging in das kleine Badezimmer mit den dunkelgrünen Fliesen aus den Siebzigern, das er schon längst hatte renovieren wollen. Genauso wie er den vergilbten Spiegelschrank hatte austauschen wollen, aus dem ihm sein unrasiertes, zerknittertes Gesicht entgegensah, das ebenfalls eine Grunderneuerung nötig gehabt hätte.

Nachdem er sich gewaschen, rasiert und angezogen hatte, schlurfte er zurück in das Wohnzimmer, schaltete BR-Klassik ein und brühte sich einen Espresso auf.

Resigniert checkte er seine Mails und hielt inne. Der Name sagte ihm etwas: Franz Baumgartner. Vor Jahren hatten sie schon einmal zusammengearbeitet, jetzt war er Leiter der Polizeiinspektion Hall in Tirol. Er bat ihn dringend um Rückruf.

Krammer ließ das Handy sinken und starrte in das Dunkel vor seinem Fenster. Wieder kroch das beängstigende Gefühl aus seinem Traum in ihm hoch. Er beobachtete den Straßenzug, zu dem seine Wohnung ausgerichtet war, aber außer einem drahtigen Jogger, der dem Wetter trotzte, war dort niemand zu sehen. Er hatte die vehementen Ermahnungen seiner Kollegin Roza Szabo noch im Kopf, die sie Tag für Tag wiederholte: Er solle seine Wohnung sichern, solange Roland Perski auf freiem Fuß war.

Dennoch hatte Krammer nichts unternommen. Er spielte mit der Gefahr, das war ihm vollkommen klar. Aber er wollte seinen Gegner endlich aus der Reserve locken. Für das Finale, das noch ausstand. Bei dem es wieder Tote geben würde. Doch dieses Mal sollte es Perski selbst erwischen. Deshalb war Deckung die falsche Entscheidung. Das Ganze musste ein Ende finden.

Dies allein war Grund genug für schlechte Träume. Die Nachricht, die er vor einer Woche bekommen hatte, in der Perski eindeutig sein direktes Umfeld bedrohte, erhöhte seine Unruhe noch. Sogar seine Ex-Frau hatte er informiert.

Er schaute erneut auf das Handy, suchte die Nummer von Alexa Jahn, strich sanft mit dem Daumen über den Eintrag. Wie gerne würde er sie anrufen, um zu hören, wie es ihrer Schulter mittlerweile ging. Ihrer angenehm hellen Stimme zu lauschen, hätte seine schlechte Laune sofort in Nichts aufgelöst. Aber er vermied so gut es ging, sie zu kontaktieren. Noch immer hatte er Angst, Perski könnte doch über irgendwelche Kanäle von ihrer engen Verbindung erfahren. Nur vom Präsidium aus rief er von Zeit zu Zeit an. Ein Dienstgespräch zum letzten Fall. Mehr konnte da niemand hineininterpretieren. Alles andere wäre zu gefährlich. Er hoffte, sie würde es nicht falsch verstehen. Aber er hatte keine andere Wahl, wenn er sie schützen wollte.

Fluchend leerte Krammer die Tasse, spülte sie gleich aus und stellte sie zum Abtropfen auf die Ablage, direkt neben den Teller und das Messer, die er sowohl zum Frühstück als auch zum Abendessen benutzte.

Wie arm sein Privatleben aussah, machte allein schon dieses Ensemble deutlich. Was würde seine Tochter wohl davon halten? Vielleicht war es sogar besser, dass sie nicht viel über ihn wusste. Und er tat sich einen Gefallen, wenn er nicht allzu viel in diese neue Verbindung hineininterpretierte. Alexa war bereits über dreißig Jahre ohne ihn ausgekommen. Sie brauchte ihn nicht. Sie meisterte ihr Leben allein. Und das war gut so. Ihre Mutter hatte bei Alexas Erziehung hervorragende Arbeit geleistet. Sicher hatte sie damals schon geahnt, dass er seinem Kind in dieser Hinsicht ohnehin nichts zu bieten gehabt hätte.

Krammer schaute auf seine Armbanduhr. Es war noch nicht zu spät, um nach Hall zu fahren. Statt eines Anrufs könnte er Franz Baumgartner auch gleich einen Besuch abstatten. Er mochte die Stadt sehr, und die Umgebung war atemberaubend. Im Büro in Innsbruck gab es ohnehin derzeit nichts Wichtiges zu tun. Der Altfall, dem er sich heute widmen wollte, konnte ruhig noch einen Tag länger liegen bleiben. Warum also nicht?

Nur Elly Schmiedinger, der guten Seele des LKA, würde er kurz Bescheid geben, dass ihn ein anderes Dezernat um Hilfe gebeten hatte, damit seine Kollegin Roza Szabo sich keine unnötigen Sorgen machte. Sie wirkte in den letzten Tagen sowieso gereizt und unruhig, da wäre es nicht fair, einfach ohne ein Wort zu verschwinden.

Diese kurze Tour würde ihm die Gelegenheit bieten, den neuen Wagen einzufahren. Außerdem konnte er sich dabei selbst davon überzeugen, dass es wirklich niemanden gab, der ihm folgte. Szabo meinte, er müsse den Kerl endlich hinter sich lassen – und damit hatte sie absolut recht. Auch letztes Mal war jahrelang Ruhe gewesen.

Er strich sich durch sein Haar, das mit den Jahren immer dünner wurde, und starrte ins Leere. Dann richtete er sich auf, schloss das gekippte Küchenfenster und checkte kurz die Wetter-App. Es würde ein schöner Tag werden. Vielleicht der einzige in dieser Woche, in der es oft bewölkt sein sollte. Außerdem war der Mai schon immer seine liebste Zeit in dieser Gegend gewesen.

Noch einmal inspizierte er die Straße unten.

Aber er sah nichts Auffälliges.

Sicher war Roland Perski längst über alle Berge. Hockte in einem neuen Versteck und begann wieder, Menschen um sich zu scharen wie Fliegen, die er in sein tödliches Netz lockte. Zuvor hatte er ihn noch ein letztes Mal in Unruhe versetzen wollen. Weil er es liebte, ihn zu quälen.

Und das war ihm ohne Frage gelungen.

Doch jetzt war es genug.

Entschlossen zog Krammer sich den Mantel über und schlüpfte eilig aus der Tür.

Baumgartner. Er war ein guter Mann. Vielleicht war es längst überfällig, mal wieder ein paar alte Bekanntschaften aufleben zu lassen.

2.

Oskar stellte die Ohren auf und gab einen kurzen Laut von sich. Noch während der braune Mischlingshund sich erhob, um in den Flur zu trotten, klopfte es an Alexa Jahns Tür. Die Klingel zu ihrer neuen Wohnung, in die sie gerade eingezogen war, würde erst im Laufe der Woche installiert werden. Wer immer draußen um Einlass bat, wusste offenbar davon. Umso neugieriger öffnete sie die Tür und war erstaunt, ihren Chef, Ludwig Brandl, auf Krücken gestützt dort vorzufinden.

»Servus, Alexa! Ich hoffe, ich störe nicht. Ich wollte mal sehen, wie es deiner Verletzung geht, und dachte, ich schaue mir bei der Gelegenheit gleich mal an, wo du jetzt wohnst.« Brandl streckte die Hand aus und tätschelte Oskar, der den Besucher freudig begrüßte, den Kopf. »Und du musst der vierbeinige Held sein. Habe schon viel von dir gehört.«

Alexa spürte ein Ziehen in der Schulter, als sie einen raschen Blick nach drinnen warf, um zu überprüfen, wie schlimm es in ihrer noch spartanisch eingerichteten Wohnung aussah. Automatisch legte sie eine Hand auf ihre Wunde, versuchte aber, die Geste sofort zu überspielen, indem sie Brandl breit anlächelte. »Ich war gerade beim Frühstück. Komm doch herein!«

Oskar lief schwanzwedelnd vor ihnen her und ließ sich auf der flauschigen Decke nieder, die sie ihm in einer Ecke bereitgelegt hatte. Eilig räumte Alexa die Süddeutsche vom Gartenstuhl am Esstisch weg und bat ihren Chef, Platz zu nehmen.

»Magst du auch einen Kaffee?«

»Sehr gerne!«

Brandl lehnte die Krücke gegen den Gartentisch und nahm geräuschvoll Platz. Alexa wollte ihm die Gelegenheit geben, sich in Würde zu setzen, und ihn nicht begaffen. Es konnte noch nicht lange her sein, dass er ohne Rollstuhl zurechtkam. Er war durch einen Sturz in den Bergen sehr gehandicapt gewesen und auch nicht mehr der Jüngste.

»Ich habe allerdings nur Filterkaffee. Und keine Milch …« Sie zuckte die Schultern und verzog augenblicklich das Gesicht, als sie erneut einen stechenden Schmerz spürte. Schnell drehte sie sich um, damit ihr Chef es nicht mitbekam. Er sollte nicht denken, dass sie empfindlich war. Sie hatte die Schmerztablette nicht auf nüchternen Magen einnehmen wollen, hätte sie aber wohl doch nötig gehabt.

»Ich trinke ihn sowieso schwarz, und bitte nur eine halbe Tasse. Mein Blutdruck …«

Alexa goss vorsichtig ein, griff mit ihrer Linken nach der Tasse, die ein völlig anderes Dekor als ihre eigene hatte, und stellte sie vor Brandl hin.

Als sie ihm gegenüber auf ihrem Gartenstuhl Platz genommen hatte, brach es aus ihr heraus: »Es ist noch ziemlich spartanisch eingerichtet, ich weiß. Frau Messerer, die oben wohnt, war so nett, mir für die Übergangszeit ihre Gartenmöbel zu borgen. Und mein Schlafzimmer war früher ihr Gästezimmer. Mehr Möbel habe ich noch nicht. Allerdings werden die Kisten aus meiner alten Wohnung, die ich in Aschaffenburg eingelagert hatte, schon in der nächsten Woche von einer Spedition hergebracht. Du musst also entschuldigen, dass ich derzeit nicht einmal zueinander passende Tassen habe.«

Brandl lachte und machte eine wegwerfende Geste. »Aber dafür sehr guten Kaffee. Das ist viel wichtiger. Unsere Lotti nimmt immer zu wenig Pulver. Nach deinem ist man wenigstens wach!«

Er musterte sie eingehend, und Alexa begann sofort, sich unter seinem Blick aufzurichten. Die Schulterorthese, die sie wegen einer Schussverletzung noch mindestens eine Woche tragen musste, hatte eine kleine Stelle am Hals wund gescheuert, die unangenehm brannte. Erst jetzt kam ihr in den Sinn, dass Brandl ihr vermutlich nicht nur einen simplen Krankenbesuch abstatten wollte. Als er sich erneut sehr vorsichtig in eine angenehmere Haltung schob, wurde ihr plötzlich bewusst, dass er sicher noch nicht in der Lage war, selbst Auto zu fahren. Er war jedoch alleine hereingekommen. Das verhieß nicht unbedingt etwas Gutes, auch wenn er bislang einen völlig lockeren Eindruck machte. Er seufzte tief, als er endlich gut zu sitzen schien.

»Wir sind schon eine Truppe«, meinte er grinsend und rieb sein ausgestrecktes Bein, dessen Oberschenkel offenbar noch immer bandagiert war. »PI Weilheim. Platz für Invalide.«

Nun musste auch Alexa lachen, und schon fiel die Anspannung von ihr ab. Sie machte sich immer viel zu viele Gedanken.

»Aber mal im Ernst«, fuhr Brandl fort. »Wie geht es dir? Hast du noch starke Schmerzen?«

Sie schüttelte den Kopf und schob die Schüssel mit dem vollkommen durchgeweichten Müsli zur Seite. »Es ist schon viel besser. Ich nehme Ibuprofen, aber nur noch tagsüber, wegen der Entzündung. Der Arzt ist sehr zufrieden mit der Heilung und meint, ich könnte ohne Probleme schon …«

Brandl legte den Kopf schief und unterbrach sie: »Drei Wochen bist du noch krankgeschrieben. Ich habe die Meldung gesehen. Und die Zeit solltest du auch unbedingt einhalten, um wieder richtig gesund zu werden.«

»Sagt der, der sogar im Rollstuhl zur Arbeit gekommen ist.« Sie nahm einen Schluck Kaffee. Sie waren aus demselben Holz, sie und Brandl. Sie wollten ihren Job machen und nicht rumjammern oder Trübsal blasen.

»Aber ich war nicht in eine Schießerei verwickelt, so wie du«, entgegnete er.

Sein Tonfall ließ sie aufmerken.

»Alexa, ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden. Es gibt Stimmen in unserer Abteilung, die dein Vorgehen in den letzten Wochen ernsthaft hinterfragen.«

Instinktiv wollte Alexa sofort dagegen argumentieren, besann sich aber eines Besseren. Brandl war noch nicht fertig, das spürte sie.

»Ich kann die Kollegen offen gestanden verstehen. Seit du bei uns bist, hast du dich nun schon das zweite Mal in Gefahr gebracht. Es ist zwar gut ausgegangen, und ich will auch deine Verdienste bei der Aufklärung der beiden Fälle nicht schmälern. Daran gibt es nichts auszusetzen. Aber es wäre vielleicht gut, wenn du dir für deine Genesung Zeit nehmen und noch einmal reflektieren würdest, was neulich bei dem Zugriff passiert ist und welche alternativen Wege es bei der Lösung gegeben hätte.«

Sie holte bereits Luft, als er noch hinzufügte: »Vergiss nicht: Wenn du in Zukunft eine Karriere bei uns anstrebst, brauchst du die Unterstützung der anderen. Des gesamten Teams.«

Daher wehte also der Wind. Sie streckte ihre Hand nach der Tasse aus, zog sie dann jedoch wieder zurück. Stattdessen suchte sie Brandls Blick und fragte ihn ganz direkt: »Du redest immer von den anderen. Wie ist es mit dir, Ludwig? Zweifelst du ebenfalls an meiner Teamfähigkeit oder an meinem Urteilsvermögen?«

Er schürzte die Lippen. »Das steht hier nicht zur Debatte. Sieh es als Chance, Alexa. Du kannst dir jetzt Zeit nehmen, die Eindrücke aus deinen ersten beiden Fällen zu verarbeiten, richtig bei uns anzukommen und dich erst mal hier in der Wohnung einzurichten. Danach greifst du mit voller Kraft an und zeigst den Jungs, wo der Hammer hängt.«

»Du stellst mich also kalt«, resümierte sie nüchtern. »Ist es das, was du mir sagen willst?«

Sie fixierte die Aufschrift auf ihrer Tasse, die ironischerweise Carpe diem lautete.

»Alexa, ich kann mir vorstellen, wie sich das für dich anfühlen muss. Mir ist bewusst, wie zielstrebig und ehrgeizig du bist. Aber du hast gerade erst bei uns angefangen. Tritt bitte einen Schritt zurück und überleg dir: Wie würdest du dich an der Seite eines Partners fühlen, der nicht voll einsatzfähig ist? Du weißt selbst, dass der Eigenschutz in unserer Arbeit immer Vorrang hat. Und dieses Recht haben deine Kollegen genauso wie du. Dass der letzte Einsatz genauer untersucht wird, dürfte für dich ebenfalls keine Überraschung sein. Deine Dienstwaffe wurde deshalb zunächst eingezogen. Du kennst unsere Bestimmungen.«

Dagegen konnte sie nichts einwenden. Und sie wusste genau, worauf er anspielte. Sie hatte vor kurzem erst ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt, um das einer Geisel zu retten.

»Ich denke aber, dass du diese Zeit vor allem nutzen solltest, um mit einem unserer Psychologen zu reden.«

Ihr Kopf fuhr hoch. Ungläubig starrte sie ihren Chef an. Ihre Hand fing an zu kribbeln, so stark presste sie den Arm in die Schlinge. Sie hatte Mühe, die Fassung zu wahren.

»Ich bin für mein Team verantwortlich, und jeder von euch ist mir wichtig«, fuhr Brandl fort. »Ich nehme das sehr ernst. Dazu gehört auch die Fürsorge für eure Gesundheit, körperlich ebenso wie mental. Auch wenn du mir gegenüber versuchst, die Starke zu mimen: Diese Situation hat etwas mit dir gemacht. Und es wäre einfach falsch, darüber hinwegzugehen und so zu tun, als wäre der Zugriff völlig normal abgelaufen. Wir wissen beide, was dir da drin hätte passieren können. Ohne den Einsatz von Krammer …« Er brach ab.

Alexa senkte den Blick. Diesem Argument konnte sie nichts entgegensetzen. Ohne die Aktion des Österreichers hätte sie die brenzlige Situation vergangene Woche vielleicht nicht lebend überstanden.

»Ich möchte, dass du das alles verarbeitet hast, bevor du wieder in den Dienst kommst. Für dich fühlt es sich vermutlich gerade an, als würde ich dich in die Schranken weisen. Aber das Gegenteil ist der Fall: Mir liegt etwas an dir. Ich habe einfach zu oft erlebt, dass man Kollegen nicht ausreichend Zeit gibt, diesen Stress zu verarbeiten, und die ihre Sorgen dann im Alkohol ertränken. Eine posttraumatische Belastungsstörung ist im Polizeidienst nicht selten und auch nicht zu unterschätzen.«

Alexa nickte und spürte einen Kloß im Hals. Sie dachte an ihre aufsteigende Panik, als sie neulich mit Huber im Schneechaos eingeschlossen war. Brandls Argumente waren entwaffnend. Dennoch blieb ein hohles Gefühl zurück.

»Aber ich könnte doch genau wie du erst einmal im reinen Innendienst bleiben«, wagte sie einen letzten Vorstoß. »Damit könnte ich die anderen unterstützen und zeigen, dass ich hinter ihnen stehe. Meinst du nicht, dass das viel eher meine Teamfähigkeit unter Beweis stellen würde? Wenn ich bewusst einen Schritt zurücktrete, nur den Support übernehme. Dabei hätte ich doch genug Raum, um mich zu erholen. Meinetwegen kann ich dann auch mit einem Psychologen reden, wenn dir so daran gelegen ist.«

Doch Brandl schüttelte den Kopf. »Ich habe mir diese Entscheidung nicht leicht gemacht, Alexa. Sieh es als eine Art Umzugsurlaub oder als Abfeiern von Überstunden, wenn es damit leichter für dich wird. Aber ich möchte, dass du dich dem stellst, was du erlebt hast. Gönne dir Ruhe, lerne die Umgebung kennen. Gehe in die Berge und horche in dich hinein. Mir helfen Wanderungen immer ganz gut weiter. Und am liebsten wäre mir, du suchst dir jemanden, der dich dabei unterstützt. Ob das ein Therapeut oder ein Kollege ist, das stelle ich dir frei. Lass es mich wissen, wenn ich für dich einen Termin machen soll. Und zu deiner Beruhigung: Niemand wird von diesem Teil unserer Abmachung erfahren, wenn du das nicht willst. Die anderen sind in dem Glauben, du müsstest deinen Arm schonen.«

Alexa griff nach ihrer Tasse und bemerkte einen Moment zu spät, dass ihre Hand zitterte. Rasch nahm sie einen Schluck, um es zu kaschieren. Sie spürte die lauwarme Flüssigkeit in ihrer Kehle, doch die Beklemmung, die sie empfand, ließ sich damit nicht auflösen. Sich mit sich selbst zu konfrontieren, war so ziemlich das Letzte, was sie gerade wollte.

Aber Brandl ließ ihr wohl keine Wahl.

Für einen Moment musterte Alexa die große Tanne vor dem Fenster, fragte sich, ob es Huber war, der draußen mit dem Auto auf Brandl wartete, und ob nicht er hinter dieser ganzen Sache steckte. Eigentlich hatte sie das Gefühl gehabt, sie wären sich ein Stück nähergekommen in der letzten Zeit, doch nun war sie sich nicht mehr so sicher. Immerhin waren sie nach wie vor Konkurrenten um Brandls Nachfolge.

Egal. Es half nichts, das alles zu hinterfragen, das machte es eher schlimmer für sie.

Wenigstens hatte sie keine konkreten Vorgaben erhalten, mit wem sie sprechen sollte. Also konnte sie genauso gut Line fragen, die Psychologin, mit der sie mittlerweile befreundet war. Ihr vertraute Alexa blind, auch wenn sie sich erst seit kurzem kannten. Und Line hatte ihr schon einmal geholfen.

Schließlich schaute sie Brandl direkt ins Gesicht und nickte.

3.

Bernhard Krammer tauschte seine normalen Schuhe gegen die Wanderschuhe aus, die er zum Glück eingepackt hatte, bückte sich unter dem Flatterband durch und marschierte querfeldein über die dunkelbraune, frisch aufgegrabene Erde. In einem nicht allzu tiefen Loch stand in einiger Entfernung ein großes weißes Zelt. Krammer hielt inne und begutachtete die Umgebung. Ein großartiger Bauplatz. Im Rücken die kargen Berge, darunter der breite Waldsaum, und vor ihm erstreckte sich das Halltal mit sanften Hügeln und Wiesen.

Franz Baumgartner hatte erstaunt reagiert, als Krammer plötzlich leibhaftig in der Inspektion stand, schien aber froh über die Möglichkeit, direkt mit ihm raus nach Gnadenwald fahren zu können.

»Ich möchte einfach nur wissen, was du von dieser Geschichte hältst«, hatte er gemeint. »Weil wir uns von früher kennen, habe ich mir erlaubt, den kleinen Dienstweg zu wählen.«

Krammer lief vorsichtig den Hang hinab. Der Untergrund war rutschig, und er gab acht, dass er sich bei der Aktion nicht erneut den Rücken verzog. Baumgartner, der wohl seit kurzem Probleme mit einem Knie hatte, konnte gut mithalten. Dann traten sie in das weiße Zelt ein.

Drei Beamte waren gerade dabei, vorsichtig weitere Schichten abzutragen. Da es viel geregnet hatte, war diese Arbeit zäh und der Job der Kollegen sicher nicht einfach. Vor allem stand zu vermuten, dass aufgrund der vielen Unwetter der letzten Wochen mögliche Hinweise bereits zerstört oder örtlich verändert waren. Die Wassermassen, zu denen dann noch die Schneeschmelze kam, konnten einiges bewegen, wenn nicht gar beschädigen, was die Arbeit der Polizei bei einem solchen Fall nicht leichter machte.

Auf einem großen Klapptisch in der Mitte des Zeltes lagen verschiedene Gegenstände: ein zerrissener Müllsack, ein präpariertes Tierensemble, in dem Krammer zwei Dachse erkannte, einige Kleidungsstücke eines Säuglings, eine blonde Haarsträhne mit einem rosa Bändchen und eine silberne Rassel.

Er trat näher an den Tisch, denn Baumgartner schwieg weiter beharrlich, wollte offenbar nichts vorwegnehmen.

Krammer musterte die Kleidung genauer, aber es schien nichts daran zu haften, stellte er mit Erleichterung fest. Weder an den winzigen Söckchen noch an dem rosafarbenen Strampler. Er sah kein Blut, keine herausgezogenen Fasern, keinen Riss. Nichts, was bedeutsam schien. Der Stoff wirkte wie neu und ungetragen. Jeder Knopf war verschlossen, jedes Schleifchen ordentlich gebunden. Die Rassel wies keine Kratzer oder Macken auf, nur das Silber war beschlagen. Jetzt erkannte er einen Namen darauf: Luzia.

Er warf noch einen Blick auf die Grabenden. Zwei Männer und eine Frau, die akribisch Meter für Meter absuchten. Erst jetzt ging ihm auf, dass am Rande der Baustelle nur zivile Fahrzeuge gestanden hatten und keine Polizeiwagen.

»Das alles habt ihr hier in der Grube gefunden?«

Baumgartner nickte. »Die Bauarbeiter haben es herausgehoben, nachdem sie mit der Baggerschaufel den Sack entdeckt und dabei aufgerissen haben.«

»Ich verstehe nicht ganz. Für mich sieht es eher so aus, als hätte da bloß jemand seinen Müll entsorgt.«

»Das dachte ich erst auch. Der Architekt hat viel Aufhebens um diese Sache gemacht. Seine Auftraggeber sind sehr wohlhabende Leute, und er will ganz sichergehen, dass die Bauarbeiten hier störungsfrei ablaufen können. Deshalb hat er uns gerufen.«

Krammer verstand immer noch nicht.

»Es ist zunächst einmal so, dass die Kleidung nicht bloß in dem Sack war, sondern in einen der Dachse eingearbeitet.«

Baumgartner deutete auf das Loch im Fell des einen Tieres. »Durch den Stempel auf der Unterseite der Platte konnten wir gleich erkennen, wer die Arbeit angefertigt hat. Ein Hobbypräparator hier aus der Gegend: Peter Fichtner. Der ist bekannt, denn er hat einige Arbeiten in einem Tiermuseum ausgestellt, das drüben in Terfens liegt. Das Seltsame ist: Dieser Fichtner ist seit längerem verschwunden.«

Jetzt wurde die Sache interessant. »Erzähl weiter«, forderte Krammer ihn auf.

»Seine Frau Irmgard hatte ihn und ihren gemeinsamen Sohn als vermisst gemeldet. Vor etwa zwei Jahren war das. Allerdings gab es keinen Hinweis auf ein Verbrechen. Irgendwann gingen wir davon aus, dass die beiden bei einem Bergunglück ums Leben gekommen sein müssen. Gefunden wurden sie aber nie.«

»Ich erinnere mich. Der wohnte ganz hier in der Nähe, richtig?«

Baumgartner nickte. »Sein Wagen war auf dem Mautparkplatz abgestellt, über den man zur Hinterhornalm aufsteigt. Er hatte in der Frühe einen Parkschein gelöst, der lag gut sichtbar auf dem Armaturenbrett. Auf den beiden Almen, die man dort oben besuchen kann, hat sie niemand gesehen. Auch sonst konnte sich keiner an sie erinnern. Wir haben damals das gesamte Gelände rund um den Wanderweg abgesucht, gerade weil der Junge noch so klein war. Ein Hubschrauber war im Einsatz, aber selbst mit der Wärmebildkamera konnten wir im Umkreis nichts entdecken. Es waren auch unzählige Freiwillige unterwegs, immerhin kannte man den Mann und sein Kind. Nach gut zwei Monaten haben wir die Suche eingestellt. Und seitdem: nichts.«

»Der verschwundene Sohn, wie alt war der?«, fragte Krammer, der sich an einen ganz anderen Fall erinnerte. Ein Mädchen. Aber sie war älter gewesen. Und alleine. Aber auch sie war urplötzlich weg, schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Vor kurzem erst hatte er sich ihre Akte angesehen. Da man ihren Ranzen am Straßenrand gefunden hatte, war man von einem Verbrechen ausgegangen – und so war der Fall bei ihnen im LKA gelandet. Doch es konnte nie aufgeklärt werden, was passiert war.

»Acht Jahre. Marko hieß er.«

Baumgartner brach ab und fuhr mit Daumen und Zeigefinger über seinen Nasenrücken. Dass sie den Jungen damals nicht gefunden hatten, schien ihm zu schaffen zu machen. Kein Wunder. Wenn unschuldigen Kindern etwas zustieß, war das besonders schwer für die ermittelnden Beamten. Baumgartner hatte selbst zwei Buben, die unwesentlich älter waren.

»Wir zögern noch, uns mit Frau Fichtner in Verbindung zu setzen. Der Verlust damals – daran hatte sie schwer zu tragen. Und wir wissen ja auch nicht, ob dieser Fund überhaupt etwas mit ihr und ihrem Mann zu tun hat.«

Krammer nickte. Verständlich. Er würde ebenso handeln, wenn er an Baumgartners Stelle wäre. Man konnte nicht wissen, was eine solche Nachricht bei der Frau auslösen würde. Ob sie wieder neue Hoffnungen triggern würde. Oder alte Ängste.

Noch einmal schaute Krammer die Dachse eingehend an. Es handelte sich um zwei ausgewachsene Exemplare, die sich eng aneinanderschmiegten, so als wollten sie etwas beschützen. Ohne die aufgerissene Flanke im Fell des einen Tieres wären sie nie auf den Inhalt aufmerksam geworden.

»Und dieses Ding hatte hier jemand vergraben? Es lag nicht bloß herum?«, hakte Krammer noch einmal nach.

Baumgartner zuckte die Schultern. »Es war nicht sonderlich tief vergraben. Aber diese Verbindung zu dem Fichtner …«

Von selbst waren die Dachse jedenfalls nicht unter die Erde gekommen. Und ein Versteck brauchte nur derjenige, der etwas zu verbergen hatte. Warum aber waren die Tiere nicht einfach auf dem Recyclinghof entsorgt worden? Warum hier? Und wieso hatte sich jemand so viel Mühe gemacht? Immerhin waren sie gleich doppelt versteckt gewesen: in einem Sack, unter der Erde.

Ohne die Erdarbeiten wäre dieser womöglich nie gefunden worden.

»Könnte das Ganze mit dem Bau zu tun haben?«, mutmaßte Krammer. »Vielleicht gefällt den Anwohnern nicht, was hier entstehen soll. Oder wer herziehen will.«

»Möglich«, meinte Baumgartner nachdenklich. »Ach, ich weiß ja auch nicht. Vielleicht interpretieren wir da auch viel zu viel hinein. Deshalb habe ich auch gezögert, in der Sache zu fahnden. Es wird aktuell kein Säugling vermisst. Und du weißt, wie schlecht es um Personal bestellt ist. Außerdem schlägt eine Suche immer Wellen. Die Gegend ist ein Feriengebiet. Maria Larch sogar ein Wallfahrtsort, direkt am Tiroler Jakobsweg … Der Tourismus hat in den letzten Jahren ohnehin genug zu kämpfen gehabt.«

Auch das konnte Krammer begreifen. Noch lag kein Hinweis auf ein Verbrechen vor. Nur eine vage Vermutung.

»Ich würde die DNA-Analyse abwarten«, sagte er. »Und du hattest gemeint, dass es noch mehr von diesen Tierpräparaten gibt?«

»Ja. Eine ganze Reihe. Der Fichtner hat immer wieder Vögel und Tiere präpariert, die zur Bergwelt der Gegend gehören. Die meisten sind im Tiermuseum zu sehen.«

»Die Werkstatt, in der er die Präparate hergestellt hat, die würde ich mir gerne genauer ansehen. Wenn er auch Exponate verkauft hat, gibt es dort bestimmt Unterlagen, wer diese Dachse erworben hat. Vielleicht waren sie in Privatbesitz, und es geht gar nicht um den Fichtner. Das würde ich zuallererst versuchen, auszuschließen.«

Noch während er das sagte, erschien es ihm wie eine hohle Phrase. Er musste Baumgartner recht geben: Irgendetwas war seltsam an diesem Fall – auch wenn er nicht benennen konnte, was es genau war.

»Ist auch überprüft worden, ob der Fichtner sich vielleicht ins Ausland abgesetzt hat?«

Baumgartner nickte. »Die Fotos von ihm und seinem Sohn sind natürlich ganz offiziell an alle Stellen gegangen. Es gab aber keinerlei Hinweise, dass sie irgendwo noch einmal aufgetaucht sind. Ihre Spur verliert sich an diesem Wanderparkplatz. Und außerhalb von Tirol ist keine einzige Meldung eingegangen.«

Ganz langsam ließ Krammer noch einmal seinen Blick über die Tierformation auf der Holzplatte wandern. Wie kam man bloß darauf, ein Tier derart auszustaffieren? Dann zog er sein Handy hervor. Ihn interessierte, was Szabo davon hielt.

»Darf ich?«, fragte er, und Baumgartner nickte.

Krammer schoss mehrere Fotos. Von dem Tisch, jedem einzelnen Kleidungsstück und zuletzt von den Dachsen. Er hielt die Kamera dicht davor, um den Riss in der Flanke des Fells zu fotografieren, musste aber wieder zurücktreten, weil sich das Bild nicht scharf stellte. Zuletzt machte er noch eine Aufnahme des unversehrten Exemplars. Dieses Mal zoomte er heran. Dieser Dachs hatte bedrohlich sein Maul geöffnet. Krammer bückte sich, um es noch aus einem anderen Winkel anzusehen, denn etwas sah seltsam aus: Die Zähne des Dachses hatten eine sonderbare Stellung. Vermutlich hatte die Wucht der Baggerschaufel das angerichtet.

»Was ist?«, fragte Baumgartner, dem nicht entgangen war, dass Krammer etwas beschäftigte.

»Hast du zufällig ein Taschenmesser dabei? Ich brauche etwas mit einer schmalen Spitze.«

Baumgartner ging zu den anderen Beamten und kehrte mit einer Pinzette zurück. »Geht es damit?«

Vorsichtig schob Krammer das metallene Werkzeug zwischen den Vorderzähnen durch und griff zu. Und wirklich: Er hatte sich nicht getäuscht. Ein winziger Zettel kam zum Vorschein, der wie ein zusätzlicher schiefer Zahn gewirkt hatte.

Baumgartner zog sich Handschuhe über und faltete das Papier vorsichtig auseinander. Nur vier Worte standen mit Bleistift geschrieben darauf: Das ist Gottes Strafe.

Die beiden Beamten wechselten einen Blick.

»Besorg mir doch bitte die Akte über Fichtner«, sagte Krammer nur. Dann wandte er sich ab und trat aus dem Zelt.

Hinter ihm ragte die Bergkette auf, die er noch vor einer Woche bestiegen hatte. Die Walderalm besuchte er regelmäßig, sie gehörte zu seinen liebsten Ausflugszielen. Von dem Grundstück aus hatte man die perfekte Sicht über das gesamte Tal.

Doch plötzlich sah er die dichten Wälder mit anderen Augen. Was war wohl sonst noch hier im Unterholz verborgen?

4.

Alexa saß noch immer reglos am Küchentisch und starrte in den großen Baum vorm Fenster, dessen nasse Zweige sich leicht im Wind wiegten.

Seit Brandl gegangen war, kämpften die widersprüchlichsten Gefühle in ihr. Einerseits war sie gerührt, denn seine Fürsorge hatte echt gewirkt, und sie wusste, dass es nicht viele Chefs von seinem Kaliber gab. Das hieß auch, dass sie sich künftig mit jedem Problem an ihn würde wenden können.

Andererseits hatte sich die Nachricht wie ein gut platzierter Tiefschlag angefühlt – und ihr war kurz die Luft weggeblieben. Auch jetzt spürte sie noch ein hohles Gefühl in der Magengrube.

Seit dem ersten Tag im Polizeidienst hatte Alexa immer bloß funktioniert, stets bestrebt, ihr Bestes zu geben. In jeder Situation. Nicht einen Tag hatte sie krankheitsbedingt gefehlt. Und so manchen Urlaubstag ließ sie verfallen.

Brandls Kritik kratzte mächtig an ihrem Selbstbild, denn ihre Motive in der von ihm angesprochenen Situation waren völlig selbstlos gewesen. Ihr Handeln war zweifelsohne gewagt gewesen, aber nur so hatte sie Huber die Möglichkeit verschaffen können, Verstärkung anzufordern. Ansonsten hätte es eine Schießerei gegeben, die sowohl für die Beamten als auch für die Geiseln gefährlich gewesen wäre.

Natürlich hatte sie sich im Nachhinein gefragt, ob sie richtig gehandelt hatte. Doch egal, wie oft sie alles durchkaute: Sie würde immer wieder genau dasselbe tun. Schließlich konnte niemand sagen, wie die Geschichte ohne Krammers heiklen Einsatz ausgegangen wäre, und er hatte ebenso waghalsig und riskant gehandelt wie sie selbst.

Damit war auch nicht auszuschließen, dass sie aus eigener Kraft noch einen Weg hätte finden können, den Täter zum Aufgeben zu bewegen.

Sie dachte an den jungen Mann, den er kurz vor seiner Festnahme erschossen hatte. An seinen Blick, während er es tat. Ohne Bedauern. Ohne Zögern. Eiskalt.

Rasch schüttelte sie das Bild ab, wischte sich mit den Händen übers Gesicht. Dann stand sie abrupt auf, lehnte sich an die Spüle und begann, Brandls Tasse abzuspülen.

Solche Erlebnisse gehörten eben dazu. Das hatte sie immer gewusst. Ihr Job hatte nun einmal auch eine dunkle Seite. Jeder Einsatz hatte mit Gewalt, Verletzung und Tod zu tun. Wer das nicht abkonnte, durfte den Dienst bei der Polizei nicht antreten. Und schon gar keine Laufbahn bei der Kripo einschlagen.

Sie dachte an ihre Erleichterung, als die junge Frau, die sie mit ihrem eigenen Körper geschützt hatte, sich unter ihr bewegte. Das Mädchen war zwar verletzt und traumatisiert. Aber es hatte überlebt. Letztlich zählte nur das.

Natürlich verfolgte sie diese Geschichte noch in ihren Träumen. Doch auch das würde mit der Zeit vergehen.

Eines war Alexa nach dieser Erfahrung allerdings klargeworden: Ihr eigener Tod schreckte sie nicht. Das war vielleicht die Erkenntnis, die sie am heftigsten berührte. Hier hatte Susanna, ihre Mutter, offenbar gute Arbeit geleistet. Sie hatte immer wieder erwähnt, dass Sterben ein Teil des Lebens war. In jedem Herbst, wenn die Blätter von den Bäumen fielen, hatte sie davon gesprochen. Ein unabänderlicher Kreislauf, der zur Natur gehörte. Nur wann das Ende eintrat, war Schicksal.

Alexa hatte diese Einsicht stärker gemacht. Sie wollte nicht furchtsam durchs Leben gehen und vor lauter Angst jedes Risiko vermeiden. Wachsam zu bleiben, war wichtig. Natürlich. Die Dinge sorgfältig zu durchdenken. Nur war dafür in diesem konkreten Fall einfach keine Zeit gewesen. Dass Huber heil aus der gefährlichen Situation herauskam, war ihr vor allem anderen wichtig gewesen. Er hatte als Familienvater eine völlig andere Verantwortlichkeit als sie. Und damit war klar, wer das höhere Risiko trug.

Sie seufzte.

Zu schade, dass ihr Kollege, den sie hatte schützen wollen, ihr Handeln nun offenbar als riskant oder sogar als bedrohlich empfand.

Sie ging zurück zum Tisch und nahm einen Schluck von dem abgestandenen, kalten Kaffee. Genau darüber hatten ihre Ex-Kollegen in Aschaffenburg gerne ihre Scherze gemacht: dass sie vermutlich jede Plörre trinken würde, selbst wenn die Tasse schon seit dem Vortag dort stand.

»Koffein ist Koffein«, hatte sie dann lachend geantwortet.

Spontan griff sie zu ihrem Handy, scrollte durch ihr Fotoalbum und sah sich Bilder von ihrer vorigen Dienststelle in Aschaffenburg an. Sie blieb an den Schnappschüssen der letzten Weihnachtsfeier hängen, worauf sie glitzernden Haarschmuck und alberne blinkende Mützen trugen. Sie hatten Anfang Dezember im Hof des roten Backsteingebäudes eine Holzhütte und Stehtische aufgebaut. Trotz der eisigen Kälte harrten sie bis nach Mitternacht draußen aus, genossen bei kitschiger Weihnachtsmusik Glühwein und Bratwürste.

Sie legte ihr Handy weg und schaute aus dem Fenster.

Damals hatte sie ihren festen Platz im Team gehabt. Warum fiel es ihr so schwer, hier Fuß zu fassen? Gerade Huber gab ihr immer wieder Rätsel auf. Oder könnte ihr etwa ein anderer Kollege diesen Alleingang vorhalten? Aber es war schwer vorstellbar, dass Stein oder Ott, Biberger oder Schlappner etwas damit zu tun hatten. Sie waren nicht dabei gewesen, konnten die Situation ja im Grunde gar nicht beurteilen, kannten die Details nur aus Hubers Erzählungen.

Oder war sie betriebsblind? Wollte etwas nicht wahrhaben? War die Stimmung vielleicht noch schlechter, als sie geglaubt hatte? Im Krankenhaus hatte sie niemand besucht, nur ein riesiger Genesungsstrauß war gekommen. Bislang hatte sie das nicht hinterfragt, aber jetzt …

Alexa rief Krammers Nummer auf. Vielleicht sollte sie ihn um Rat fragen? Er war älter als sie und hatte auch schon in verschiedenen Dezernaten gearbeitet. Außerdem kannte er Huber.

Kurz zögerte sie noch, dann wählte sie beherzt. Sie merkte, wie nervös sie war. Im Umgang mit ihm war sie noch immer unsicher und hielt deshalb instinktiv Abstand. Sie konnte selbst nicht recht verstehen, warum. Einerseits war es ein Geschenk, ihren Vater doch noch kennenzulernen, aber da es so spät und ohne Vorwarnung passiert war, blieb es andererseits eine echte Herausforderung. Auch für ihn.

Gut funktionierte es, wenn sie über die Arbeit sprachen. Das war bekanntes Terrain, und bisher waren die wenigen Gespräche, die sie geführt hatten, immer wieder darauf hinausgelaufen.

Nach dem dritten Klingeln sprang Krammers Mailbox an. Enttäuscht legte sie auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Im Dezernat wollte sie ihn nicht mit ihren Problemen stören. Sicher würde er sich melden, sobald es seine Zeit zuließ.

Alexa sah sich in dem mehr als spärlich möblierten Raum um. Na schön. Da sie offenbar nichts an ihrer Situation ändern konnte, war es das Beste, sich abzulenken.

Sie würde zu Ikea nach Brunnthal fahren und ihre Einkäufe später über den Lieferservice bringen lassen – denn viel tragen durfte sie mit ihrer Verletzung nicht. Aber sie konnte wenigstens sechs Gläser, etwas Geschirr, Besteck, Kerzen und Grünpflanzen besorgen. Außerdem gab es dort Sachen, die sie in die Kühltruhe packen konnte.

Eigentlich sollte sie zwar nicht Auto fahren, solange sie die Orthese trug, aber das eine Mal würde sie sicher nicht umbringen.

Sie hatte schon versucht, den Arm ohne sie zu bewegen – was für eine Weile gut funktionierte. Sie ging ins Schlafzimmer, legte das Ding ab und zog sich ein frisches Shirt an. Wenn sie zuvor ein Schmerzmittel einnahm, würde sie den Weg bestimmt ohne die Orthese schaffen. Vierzig Minuten, länger würde die Fahrt nicht dauern. Dann konnte auch niemand feststellen, dass sie etwas tat, was nicht in Ordnung war.

Oskar streckte sich, gähnte und trottete schwanzwedelnd auf sie zu. Er hatte schon gespürt, dass Bewegung in sie kam.

»Einen Moment noch, du Ungeduldiger. Ich muss erst Line eine Nachricht hinterlassen.«

Denn es half ja nichts. Egal, wie unwohl sie sich damit fühlte: Je schneller sie Brandls Forderung nachkam, desto eher wäre sie wieder im Dienst. Rasch schickte sie eine WhatsApp an ihre Freundin Line, die eine psychotherapeutische Praxis in München besaß und in ihren ersten Fall vor ein paar Wochen involviert gewesen war.

Als sie gerade zu Oskars Leine und dem Schlüsselbund greifen wollte, klopfte es an der Tür.

»Nanu? Hier geht es ja heute zu wie im Taubenschlag«, entfuhr es ihr erstaunt.

Oskar lief zur Tür, bellte einmal laut, dann wedelte er mit dem Schwanz. Alexa musste grinsen. Wie ein Wachhund wirkte er nicht gerade. Wenn sie daran zurückdachte, wie er sich noch vor kurzem im Haus seines vorherigen Besitzers aufgeführt hatte, war er mittlerweile zu einem echten Schmusetier mutiert.

Instinktiv rechnete sie mit Huber. Vielleicht hatte er doch den Anstand, ihr zu erklären, wie seine Sicht der Dinge war.

Beherzt öffnete sie.

Für einen Moment fehlten ihr die Worte, als sie erkannte, wen sie vor sich hatte.

»Hallo«, sagte er bloß und zog die Schulter hoch. So als wäre es völlig normal, dass er auf ihrer Türschwelle stand. Dabei war es alles andere als das. Nur langsam begriff Alexa, dass er es wirklich war: Jan. Ihr früherer Partner aus Aschaffenburg.

5.

Als Krammer am Mittag den Flur des Landeskriminalamtes in Innsbruck betrat, standen sämtliche Türen weit offen, und lautes Stimmengewirr schlug ihm entgegen. Er erkannte einen Kollegen aus einem anderen Ermittlungsbereich, der in Szabos Büro verschwand.

Krammer beeilte sich, in das Zimmer von Elly Schmiedinger zu kommen. Sie konnte ihm sicher sagen, was hier gerade im Gange war. Er staunte nicht schlecht, als dort nicht Elly, sondern Roza Szabo blass und zusammengesunken hinter dem Schreibtisch saß. Die Sekretärin stand dicht neben ihr und redete beruhigend auf sie ein.

»Was ist passiert?«, fragte er ohne Umschweife und warf die Akte aus Hall achtlos auf den Schreibtisch.

»Keine Sorge, Bernhard, wirklich. Gottlob ist noch mal alles gut ausgegangen«, informierte ihn Elly. »Roza war so umsichtig und hat das Ding gar nicht erst geöffnet.«

Sie tätschelte Roza die Schulter, die ihr mit einer ruppigen Bewegung zu verstehen gab, dass sie derlei Gesten nicht mochte.

Krammer war nicht klar, wovon Elly sprach. Mit fragendem Blick sah er seine Kollegin an.

»Eine Briefbombe«, erklärte diese ohne Umschweife. »Direkt adressiert und als vertraulich gekennzeichnet. Deshalb landete sie bei mir auf dem Tisch. Wie gesagt: Es kam mir komisch vor, weil kein Absender draufstand. Und obwohl nichts passiert ist, lassen sich die Kollegen nicht davon abhalten, mein komplettes Büro auf den Kopf zu stellen, bevor ich weiterarbeiten darf. Das alles ist natürlich übertriebener Quatsch, aber du weißt ja, wie die sind …«

Szabo verdrehte die Augen, und Elly, die schräg hinter ihr stand, schüttelte nur den Kopf.

»Direkt an uns, sagst du? Meinst du etwa …« Er zog sich einen Stuhl heran und nahm darauf Platz. Gerade hatte er versucht, Roland Perski hinter sich zu lassen, und jetzt das. Krammer hätte seine Drohung doch ernst nehmen sollen. Dass auch Szabo zu seinen potenziellen Opfern gehören konnte, war ihm nicht in den Sinn gekommen.

»Nein«, erwiderte Szabo scharf, die zu ahnen schien, welcher Gedanke Krammer zu schaffen machte. »Schlag dir das aus dem Kopf, Bernhard. Auf dem Umschlag stand nicht dein, sondern mein Name.«

Sie schaute ihm direkt in die Augen, das Kinn energisch nach vorne geschoben. Aber Krammer ließ sich von ihrer Attitüde nicht täuschen. Er konnte sehen, dass sie nur schauspielerte. So locker, wie sie vorgab, war sie nicht. Das Erlebte steckte ihr in den Knochen. Aber da war noch etwas anderes, das ihn aufmerken ließ. Er wurde das Gefühl nicht los, dass sie ihm irgendetwas verschwieg.

Schon senkte sie den Blick und rieb sich die Hände. Sicher glaubte sie, er habe nicht bemerkt, dass sie zitterten.

»Alles sauber«, meldete in dem Moment einer der Kollegen. »Du kannst jetzt wieder rüber, Roza. Wir werden die Post bis auf weiteres zuerst bei uns unten durchleuchten, wenn das für dich in Ordnung ist.«

Szabo stand auf und nickte. »Wenn es unbedingt sein muss. Ist zwar vermutlich nicht nötig, denn dieser Gschüttelte hatte ja jetzt seinen Spaß. Aber wenn ihr meint, dann gehen wir auf Nummer sicher.« Mit diesen Worten stand sie auf und verließ das Zimmer.

Krammer wechselte einen Blick mit Elly, die eine scheuchende Bewegung mit den Händen machte und ihm bedeutete, Roza zu folgen.

Als er kurz darauf geräuschvoll in das Büro seiner Kollegin trat, sah sie nicht einmal auf.

»Was die immer für eine Unordnung machen. Da bin ich doch jetzt wieder mindestens eine Stunde beschäftigt, bis ich das alles sortiert habe!« Sie wedelte demonstrativ mit einer Akte herum, aus der eine Seite herauszurutschen drohte.

»Findest du nicht, wir sollten erst einmal in Ruhe darüber reden, was heute passiert ist?«, fragte Krammer und schloss die Tür hinter sich.

»Jetzt fang du nicht auch noch an! Was wollt ihr nur alle? Das Ding war etwas unförmig und wesentlich dicker als ein normaler Brief. Obendrein sah der Umschlag so aus, als wäre er schon einmal benutzt worden. Da habe ich ihn lieber bei den Kollegen öffnen lassen. Das war alles. Basta.«

Krammer ließ sich auf einem Stuhl gegenüber nieder und sah Szabo zu, wie sie die Akten von einer Seite des Schreibtischs auf die andere schob. Ohne jedes System.

»Und was hast du heute gemacht?«, fragte sie leichthin, als er weiter hartnäckig schwieg. »Wieder irgendwelchen Phantomen auf der Spur?«

Nicht nur die Frage, auch der leicht bissige Unterton ließen Krammer aufmerken, denn beides passte nicht zu Roza.