Grenzsteine der Entwicklung. Manual - Renate Berger - E-Book

Grenzsteine der Entwicklung. Manual E-Book

Renate Berger

0,0

Beschreibung

Im Leitfaden zu den Grenzsteinen der Entwicklung finden sich alle Hintergrundinformationen zur richtigen Anwendung des Beobachtungsinstruments. Die Grenzsteine der Entwicklung sind ein Screeningverfahren zur schnellen und gezielten Entwicklungsbeobachtung und -dokumentation für Kinder von 6 Monaten bis 6 Jahren. Das Instrument gibt Auskunft darüber, ob sich ein Kind in den neun Entwicklungsbereichen altersgemäß entwickelt oder in welchen Bereichen ein Kind die definierten Entwicklungsnormen nicht erfüllt.  Die Grenzsteinbögen ermöglichen auch eine einfache Dokumentation der gezeigten Fähigkeiten/Fertigkeiten eines Kindes.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 86

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlagkonzeption und -gestaltung: Verlag Herder

Satz: Arnold & Domnick, Leipzig

Herstellung: Plump Druck & Medien GmbH, Rheinbreitbach

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem Papier

E-Book Konvertierung: Newgen publishing

ISBN (Print) 978-3-451-39565-9

ISBN EBook (ePub) 978-3-451-83115-7

ISBN EBook (PDF) 978-3-451-83113-3

Inhalt

Vorwort

1 Hintergrundinformationen zu den Grenzsteinen der Entwicklung

1.1 Grundlegende Gedanken zur Entwicklungsbeurteilung

1.2 Entwicklungskonzept(e)

1.3 Das Grenzsteinkonzept

1.4 Das Entwicklungsscreening für Fachkräfte

2 Praktische Anwendung der Grenzsteine der Entwicklung

2.1 Der Aufbau der Grenzsteinbögen

2.2 Grundregeln für das Ausfüllen der Grenzsteinbögen

2.3 Wann werden die Grenzsteinbögen eingesetzt?

2.4 Auswertung der Grenzsteinbögen und nächste Schritte

3 Erläuterungen zu einzelnen Entwicklungsbereichen und Items

3.1 Hinweise zu den einzelnen Entwicklungspfaden

3.2 Hinweise zum besseren Verständnis einzelner Items

Glossar

Literatur

Anhang

Grenzsteinbögen

Vorwort

Kinder entwickeln sich individuell, höchst unterschiedlich und reagieren dabei adaptiv auf die Umwelt und die Vorbilder der Kultur, in der sie aufwachsen. So sehr wir in unserer Gesellschaft die Individualität und Einzigartigkeit eines jeden Menschen auch preisen mögen, legen wir doch in vielen Momenten, gleichsam einem „Nadelöhr“, extrem strenge Kriterien an und verknüpfen damit Werturteile und Lebensprognosen.

Die Grenzsteine der Entwicklung sind ein einfach zu benützendes, systematisch strukturiertes und valides Handwerkszeug, um punktuell oder im Entwicklungsverlauf eine rasche Einschätzung der wichtigsten Entwicklungsbereiche eines Kindes in einem bestimmten Alter gewinnen zu können.

Die Grenzsteinbögen erfassen in neun Altersbereichen zwischen 0;6 und 6;0 Jahren essenzielle Entwicklungsziele der Körpermotorik, der Hand-Fingermotorik, der Sprache und des Sprechens, der Kognition, der sozialen Kompetenz, der emotionalen Kompetenz, der Ich-Entwicklung und der Selbstständigkeit.

Wie ist es möglich, so vielen Entwicklungsdimensionen und einem so breiten Altersspektrum gerecht zu werden? Sie werden sehen, dass jeder Grenzsteinbogen gleich aufgebaut ist. Die Entwicklungsbereiche sind unterlegt mit altersspezifischen Entwicklungszielen, die alltagsnah gewählt sind. Aufgrund der Konzeption der Grenzsteinitems als valide Zeitmarker, zu denen die allermeisten sich unauffällig entwickelnden Kinder diese Grenzsteine (schon längst) erfüllt haben, ergeben sich Warnhinweise, denen stets nachzugehen ist. Die Auswahl und Zusammenstellung der Items der Grenzsteinbögen basieren auf langjährigen Erfahrungswerten aus der praktischen Arbeit sowie der wissenschaftlichen Forschung. Wichtig ist, sich stets bewusst zu sein, dass mittels der Grenzsteinbögen „nur“ eine Art Such- oder Screeningfunktion erfüllt wird. Die Ergebnisse sind kein Entwicklungstest und führen auch nicht automatisch zu Diagnosen. Sie bilden nicht die Vielfalt und Qualität der kindlichen Entwicklungswege ab. Sie haben lediglich eine Warnfunktion, die allerdings ernst zu nehmen ist.

Bei der Umsetzung der Grenzsteine der Entwicklung in praktikable Beobachtungsbögen war es stets ein großes Anliegen, der individuellen kindlichen Entwicklung als solcher mit Respekt zu begegnen und jedem Kind und jeder Familie Achtung und Wertschätzung zu erweisen. Daher ist es mir in diesem Manual wichtig, auch auf grundlegende Fragen und Überlegungen zur Entwicklung und Entwicklungsbeurteilung einzugehen, die der Umgang mit Kindern und Familien bei der Bewertung der kindlichen Entwicklung zwangsläufig mit sich bringt. In den Kapiteln 1.1 und 1.2 klingt an, wie viele Facetten die Thematik Entwicklungsbeurteilung und damit eng verbunden die eigene Sicht auf die kindliche Entwicklung in sich bergen, die bewusst oder unbewusst in Ihre/die Arbeit mit den Grenzsteinbögen einfließen werden.

Die Grenzsteinbögen liegen nun in einer Version für Kinder bis drei Jahre (0;6 bis 3;0 Jahre) und einer Version ab 3 Jahre (3;0 bis 6;0 Jahre) vor.

Sie haben damit ein Instrument in Händen, das Sie als Fachpersonen ohne einen Vorbereitungs- oder Trainingskurs in die Lage versetzt, die Entwicklung von Kindern strukturiert zu beobachten, Eltern ergänzend zu befragen und die Ergebnisse Ihrer Beobachtungen zu dokumentieren. Ohne großen zeitlichen und technischen Aufwand gelingt es, Kinder, die sich auffällig oder langsam entwickeln, nicht zu übersehen.

Das Manual bietet Ihnen auch Hintergrundinformationen zum Grenzsteinkonzept (siehe Kapitel 1.3 & 1.4) und unterstützt Sie mit umfassenden konkreten Hinweisen zur praktischen Anwendung der Grenzsteinbögen (siehe Kapitel 2.1–2.4).

Die Kapitel 3.1 und 3.2 sind als Nachschlagewerk gedacht, wenn sich beim Arbeiten mit den Grenzsteinbögen oder im Gespräch mit Eltern oder Fachkolleg:innen Fragen zu den einzelnen Entwicklungsbereichen oder auch zu einzelnen Items ergeben.

Ich wünsche Ihnen bei der Anwendung viel Freude, neue Erkenntnisse und/oder die Bestätigung Ihrer Einschätzungen sowie zahlreiche schöne Momente mit den Kindern, die Sie spielerisch beobachten.

1 Hintergrundinformationen zu den Grenzsteinen der Entwicklung

Bevor Sie in den Abschnitten 1.3 und 1.4 Ihr Wissen über das Grenzsteinkonzept vertiefen und sich mit seinem Ansatz als Suchinstrument oder Entwicklungsscreening für Fachkräfte vertraut machen, ist es mir ein großes Anliegen, Sie zunächst ein wenig einzustimmen in die vielen Perspektiven, die mit dem Thema Entwicklungsbeurteilung und damit automatisch mit der jeweiligen Entwicklungsvorstellung, dem Entwicklungskonzept, das Sie kennen/dem Sie anhängen, verknüpft sind.

1.1 Grundlegende Gedanken zur Entwicklungsbeurteilung

Die Entwicklung eines Kindes zu erleben, an ihr teilzuhaben – privat wie beruflich – ist für viele Erwachsene eines der spannendsten und mitreißendsten Erlebnisse im Lauf ihres Lebens. Entwicklung ist stets eine Reise, die Reise eines Individuums, das von der Genetik seiner Eltern und Vorfahren geprägt ist, und das in seinen individuellen Genen neue Kombinationen erfährt, die zudem – bereits im Mutterleib – durch äußere Einflüsse neue Prägungen erhalten. Der individuelle genetische Bauplan ist schon ganz früh in Kontakt mit der individuellen Umwelt des Kindes. Denken Sie an unterschiedliche Töne, den Herzschlag der Mutter, Sprachen, Musik, an unterschiedlichste Bewegungsaktivitäten der werdenden Mutter, an verschiedenste Geschmäcker, die das Kind über das Fruchtwasser erreichen.

Auf der Basis der biologischen Reifungsprozesse, die einem zeitlichen wie strukturellen Ablauf unterliegen und durch die individuelle Genetik geprägt sind, beginnt das Kind von Anfang an zu lernen, Reize aufzunehmen und Erfahrungen zu machen, sich zu bewegen und aktiv zu sein, in Wechselwirkung mit der eigenen individuellen Persönlichkeit das Gedächtnis aufzubauen und ein Handlungsrepertoire zu entwickeln. Die persönlichen Begabungen, das eigene angelegte Temperament zeichnen sich ab. Die sich durch Reifungsprozesse bildenden ▸ neuronalen Netzwerke werden beeinflusst von dem individuellen Input der Erfahrungen, variieren und differenzieren sich. Nicht nur ein neues Leben ist geschaffen, eine individuelle Persönlichkeit reift heran und entwickelt sich. Auch deshalb bezaubert uns jedes Kind neu!

Wie kommen wir nun unter diesen Voraussetzungen überhaupt auf den Gedanken, Entwicklung beurteilen zu wollen oder zu müssen? In fast allen Kulturen werden Kinder als die Zukunft gesehen, teilweise konkret als Versorger und Beschützer für die „Alten“, teilweise als Sinn des Lebens. In den modernen Gesellschaften fungieren Kinder häufig auch als Aushängeschild für ein erfolgreiches Leben der Eltern, als Attribut von Erfolg.

Eltern möchten, dass es ihr Kind leicht hat und gewappnet ist, damit es ihm später einmal gut oder besser (als den Eltern) geht. Sie wünschen sich, dass das Kind im Kontakt mit anderen Menschen Anerkennung erfährt, sich gut behaupten kann, Freunde gewinnt, nicht ausgeschlossen wird. Und Eltern denken so schon sehr früh daran, wie es sein wird, wenn ihr Kind die Kita, die Schule besucht, später eine Ausbildung macht, im Beruf steht, selbst eine Familie hat …

In diesem Zusammenhang ist es naheliegend, dass sich Eltern von Anfang an Gedanken über die gute/richtige/erfolgreiche Entwicklung ihres Kindes machen, dass sie sich fragen: „Entwickelt sich mein Kind normal?“, „Entwickelt sich mein Kind gut?“, vielleicht sogar „besonders gut?“ Und auch: „Was kann/muss ich als Mutter oder Vater dafür tun?“ „Wo kann ich/wie kann ich die Entwicklung meines Kindes unterstützen, es fördern?“ Die Flut der Entwicklungs- und Erziehungsratgeber ist Ausdruck dessen; dazu gehören auch Internetportale und vieles mehr. So bleibt es nicht aus, dass pädagogische Fachkräfte und andere Fachpersonen, die in der frühen Kindheit tätig sind, mit Fragen zur Entwicklung, zum Entwicklungsstand, zur Entwicklungsprognose konfrontiert sind. Mütter und Väter fragen sie nach ihrer Einschätzung, wollen in der Regel Bestätigung und Sicherheit erfahren.

Die Entwicklungsbeurteilung von jungen Kindern ist keineswegs eine einfache Aufgabe. Die kindliche Entwicklung hat viele Dimensionen und ist sehr komplex; ob sie altersgemäß oder „normal“ verläuft, lässt sich nicht einfach an einigen Messparametern festmachen. Vorhersagen zum weiteren Entwicklungsverlauf sind aufgrund der zahlreichen Faktoren, die die kindliche Entwicklung ausmachen und beeinflussen, außerordentlich schwierig.

Um Entwicklungsverzögerungen oder Entwicklungsstörungen wie auch Krankheiten, die mit Entwicklungsauffälligkeiten einhergehen, nicht zu spät zu erkennen, ist es wichtig, Kinder mit Auffälligkeiten in der Entwicklung nicht zu übersehen. Das Ziel des möglichst frühen Entdeckens, also dieses präventiven Ansatzes, besteht darin, dass Entwicklungsbeeinträchtigungen und Folgeschäden der Entwicklungsstörung oder Krankheit gar nicht erst auftreten. In der Regel gilt, dass eine möglichst frühe Entdeckung von Entwicklungsbeeinträchtigungen die Bekämpfung der Ursachen oder deren Kompensationsmöglichkeiten verbessert und somit zumindest das Ausmaß der Entwicklungsstörung oder deren Folgen reduziert, in manchen Fällen auch das Auftreten einer Entwicklungsstörung gänzlich verhindern kann.

Andererseits ist es gleichermaßen wichtig, Eltern und Kinder nicht mit nur scheinbar auffälligen Beobachtungen zu beunruhigen. Kind und Eltern mit nicht erforderlichen diagnostischen Maßnahmen oder nicht notwendigen Interventionen, wie unnötigen Therapie-, Förder- und Beratungsmaßnahmen, zu belasten, stört die Entwicklung eines Kindes. Die entspannte, vertrauensvolle Interaktion zwischen Eltern und Kind, die idealerweise von Zutrauen und Selbstsicherheit geprägt ist, wird durch Sorgen und Ängste irritiert. Zudem ist bekannt, dass es sehr lange dauern kann, bis ein geäußerter Verdacht oder eine Verdachtsdiagnose, die sich dann nicht bestätigt, wieder aus den Köpfen der Eltern verschwindet. Es besteht die Gefahr, dass sich negative Gedanken, Befürchtungen, Zweifel und ängstliches Beobachten des Kindes über lange Zeit halten.

In diesem Zusammenhang ist zweierlei festzuhalten:

Entwicklungsbeurteilung, erst recht eine ungünstige, trifft alle Eltern und Bezugspersonen von Kindern tief. „Kinder sind uns ganz nah am Herzen“, sage ich bei solchen Gelegenheiten manchmal und meine damit, dass alle Emotionen von Eltern, wenn es um Fragen der Entwicklungsbeurteilung ihres Kindes geht, erst einmal verständlich sind.

Auch den Fachpersonen fällt es manchmal schwer, Entwicklungsauffälligkeiten oder Entwicklungsstörungen anzusprechen, unangenehme Sachverhalte auszusprechen, vor allem wenn es sich „doch um so ein nettes Kind“, um „so eine nette Familie“ handelt. Manchmal beschönigen die Fachkräfte dann, relativieren die Botschaften, senden ambivalente Mitteilungen oder werden ganz sachlich, teilen ihre Beobachtungen „knallhart“ mit, weil sie ihnen selbst so unangenehm sind oder sie sich vor den erwarteten Emotionen, Widerständen oder Ausflüchten mancher Eltern fürchten und schützen wollen.

Entwicklungsbeurteilung ist nie banal. Sie hat stets menschlich und fachlich eine hohe Komplexität.

Im Folgenden geht es nun um die fachlichen Herausforderungen der Entwicklungsbeurteilung in der frühen Kindheit: Warum ist es so schwierig, zu wissen, was (noch) normal ist und wo der Übergang zu Auffälligkeiten beginnt? Gibt es diese Grenze überhaupt? Und wie kann sie definiert oder gefunden werden?

1.2 Entwicklungskonzept(e)

Das (innere) Bild von kindlicher Entwicklung entspricht bei den meisten Menschen in der westlichen Welt einem Stufenmodell von Entwicklungsschritten (Meilensteinen), die einem festgelegten, zeitlich geordneten Ablauf folgen, in dem eine Reifungsstufe auf der vorherigen aufbaut und zur nächst höheren fortschreitet (lineares, ▸ hierarchisches Entwicklungsparadigma).