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Die Anthologie 'Große Klassiker für die Weihnachtsferien' bietet eine umfassende Sammlung von über 280 Romanen, Erzählungen und Gedichten, die sich durch eine beeindruckende Vielfalt an literarischen Stilen und Themen auszeichnen. Diese Werke, illustriert und sorgfältig zusammengestellt, stammen von einigen der bedeutendsten Autoren der Literaturgeschichte wie Charles Dickens, Selma Lagerlöf und Oscar Wilde, sowie anderen literarischen Größen. Durch diese breite Palette an Stimmen wird eine faszinierende literarische Reise durch unterschiedliche Epochen und Kulturen ermöglicht, die besonders während der reflektiven Zeit der Weihnachtsferien zum Nachdenken und Genießen einlädt. Die Autoren dieser Sammlung, die aus verschiedenen historischen und kulturellen Hintergründen stammen, prägen durch ihre individuellen literarischen Beiträge wesentlich das kollektive Verständnis der Anthologie. Von den tiefgründigen märchenhaften Erzählungen der Brüder Grimm bis hin zu den scharfsinnigen sozialkritischen Essays von Kurt Tucholsky und Walter Benjamin, spiegeln die Werke eine Vielzahl von literarischen Bewegungen und Kulturepochen wider. Diese Diversität bietet den Lesern eine einzigartige Möglichkeit, die literarische Evolution und die damit verbundenen gesellschaftlichen Veränderungen nachzuvollziehen. 'Große Klassiker für die Weihnachtsferien' ist eine unverzichtbare Anthologie für jeden Literaturbegeisterten, der die Tiefe und Weite der klassischen Literatur innerhalb eines Bandes entdecken möchte. Das Werk fördert den Dialog zwischen den verschiedenen Epochen und Stilen und bildet eine Brücke zwischen Tradition und Moderne. Diese Sammlung ist daher nicht nur eine Bereicherung für die persönliche Bibliothek, sondern bietet auch wertvolle Einsichten und eine Quelle der Inspiration während der festlichen Zeit.
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Ein dichter Nebel lag drei Tage über dem Waldland, dann kam die scharfe Kälte, und nun hat der Wald sein schönstes Weihnachtskleid angezogen. Wie feierliche Kandelaber sind die alten Schirmtannen, die oben auf der freien Höhe stehen, nur daß sie ihren Kerzenschmuck nach unten hängen. Tief bis auf den Boden senken sich ihre Äste unter der schweren Last, die nun ein heimliches Nest bilden, von dem man sich denken möchte, daß darunter irgend ein frierendes Häslein oder Reh ein Obdach fände. Die Birken sind mit tausend und aber tausend Kristallperlen behangen, und an ihr feines Gefieder hat sich der Rauhreif angesetzt, wo ein Blattknöspchen auf den kommenden Frühling wartet, daß es läßt, als wollte der Baum mitten im Winter seinen Mai haben, aber einen silbernen. Jedes Möslein am Weg, der Dornstrauch dort, aus dessen kristallenem Gezweig noch die roten Beeren hervorleuchten, alle haben sich in köstliche Festgewänder geworfen. Wie zierlich und fein steht der Distel ihr Silberkrönlein, wie ist aus dem geduckten Schlehenstrauche das Meisterstück eines Elfensilberschmieds geworden! Ganz still ist's, und nur zuweilen geht ein feines Klingen durch den Wald, und ein Seufzen, wenn ein Zweig einen Teil seiner Last, die ihm zu schwer geworden ist, abschüttelt. Die Buchen sind ganz dicht geworden, und auf den Weg, über dem sie wieder, wie im Sommer, doch nun aus edlem Weiß, Silber und Kristall, den gotischen Dom bilden, fällt ein wunderbares gedämpftes Licht von dem fünften nebelgrauen Himmel, der doch ein mattes Sonnengold ahnen läßt. Der Haselbusch hat sich mit breiten silbernen Bändern behängt, die in seltsamen Bogen und Windungen seine Zweige verbinden. Spinnfäden sind's, und wie würde sich die emsige Spinnerin, die nun längst wie ein totes welkes Blättlein über ihren noch schlafenden Kindlein hängt, verwundern, wenn sie sehen könnte, was aus ihrem Gespinst geworden. Fliegt ein Vogel auf, so stiebt ein Wölkchen von silbernen Sternen, und wie sie fallen, so liegen sie auf dem Weg und schmücken auch ihn, der sonst so nackt und braun ist.
Zwischen den Schirmtannen hervor, welche die Höhe umstehen, kommt auf den weißen Buchendom zu ein großer Mann geschritten, in waldmäßigem Lodenwams, einen verschabten grünen Filzhut auf dem krausen braunen Haar. Unter dem alten Hut leuchten in die Pracht hinein ein Paar graublaue Augen, und wenn an dem Mann einem zuerst nichts als seine ungewöhnliche Länge und mächtige Breite auffallen mag, so tut's ein Blick in diese Augen, denn es sind die Augen derer, die sehen. Als saugten sie es in sich, dieses Bild des Waldwegs, mit den silberangehauchten Säulenreihen der Buchenstämme, ferne durchleuchtet von dem matten Opal des Himmels. »Augen, meine lieben Fensterlein... Trinkt, o Augen, was die Wimper hält, von dem goldnen Überfluß der Welt!« Diesmal ist's ein silberner Überfluß. Dort steht er an der mächtigen Buche, und es umschließt ihn das Schweigen und die feierliche Stille, und es ist, als hielten die Bäume und Sträucher den Atem an; als müßte etwas werden, etwas Wunderbares, etwas Geheimnisvolles, etwas, das den gewöhnlichen Lauf des Geschehens unterbricht. Und das feine Klingen von fern und nah und das Seufzen geht durch die Stille, als hörte man das Herz des Waldes schlagen.
Könnte es nicht doch sein, daß der Schleier zerriß nur für einen Augenblick, der Schleier, der uns Menschen von der Welt, die uns umgibt, scheidet, die wir doch fühlen, wenn wir einmal still geworden sind? Von der Stille, die am liebsten von den nächtlichen Sternen herabsteigt oder im Walde auf uns niedersinkt, der unsern Vätern ein heiliger Ort war, wo die Götter wohnten. Waren sie denn so töricht, diese Alten? – Ach warum bist du so scheu geworden, du feines braunes Reh dort? Wie sind die Kinder der Welt von einander getrennt und fern, wie einsam, wie sterneneinsam das Herz darin; nicht Tier, nicht Pflanze kennen dich, sie scheuen sich vor dir, und doch treibt der gleiche rote, sanfte Strom seine Wellen durch dein Herz wie durch das des Tieres dort. Und den Eichbaum, den vielhundertjährigen, der seine vom Blitz in wilden Sturmesnächten gestreiften Arme wie Riesenschlangen windet, den liebst du! Wie ein Freund ist er dir, den du von Kindheit gekannt und mit scheuer Verwunderung an dunkeln Herbstabenden betrachtet hast, wenn du hinter dem Vater drein gingst. Wenn er eines Morgens geborsten am Boden läge, würdest du um ihn trauern wie um einen guten alten Freund. Aber was weiß er von dir? Einsam geht der Mensch dahin zwischen dem, was um ihn lebt und stirbt, sich freut im Mai und im Winter seine silbernen Träume träumt.
Der Mann starrt auf den Weg und sein Ende, wo er sich in dem duftigen Schleier der Birken wendet, als müßte etwas von dort kommen, gerufen von der brennenden Sehnsucht, die die Einsamkeit gebiert; aber nur ein kleines Dirnlein hastet dort vorbei, in einen alten braunen Schal eingewickelt, dessen Ende hinten nachschleppt und allerlei Waldanhängsel, Dornen, gefrorene Moosfetzen, nach sich zieht. Sehr eilig hat es die Kleine, und nun verschwindet sie hinter den Haselsträuchern. Dort geht's aber auf eine dachgähe Halde, und der einzige Pfad hinunter ist eine Eisbahn. Mit ein paar langen Schritten ist er zwischen den Sträuchern.
»Halt! da kannst du nicht hinunter.«
Ein Knacken, ein leiser Kinderschrei, der seltsam die Stille durchschneidet.
»Halt dich! Halt dich an einem Zweig, ich hole dich schon.«
Halb schleifend, halb rutschend kommt er hinunter, und da auf einem Blätterhaufen in einer Mulde zusammengeweht liegt ein braunes Häufchen. Und wie er mit einer Hand an einem Zweige hängend nach ihr greift, hebt sie ein kalkweißes, erschrockenes Gesicht.
»Da faß die Hand, ich tu dir doch nichts zuleid! Fürchte dich doch nicht. Hast du dir weh getan?«
»Nein;« sehr kläglich, sehr erschrocken kommt's heraus.
»Nun, so gib die Hand!« Sie schüttelt.
»Wohin willst du?« Sie deutet mit dem eingewickelten Köpfchen nach der andern Bergseite hin, wo der Wald steil in starrender Pracht wieder ansteigt.
»Dort geht kein Weg. Woher kommst du?« Keine Antwort. »Gehörst du nach Berklingen?«
»Nein.«
»Nicht? Und die Landessprache kennst du auch nicht, sonst würdest du ›Na‹ sagen.«
Ein fremdes Kind also. Und verlaufen muß es sich haben. Denn im ganzen Wald sind jetzt keine Holzfäller mehr; die haben heut schon Feierabend gemacht und sind zu den kleinen spitzgiebeligen Häusern gegangen, wo die Kinder schon warten, bis der Vater den Tannenbaum in das grüne »Gärtlein« setzt. –
»Hast du zu deinem Vater gewollt?« Das Schütteln ist nun sehr energische Abwehr. »Also gewiß nicht zu dem,« brummt er. Nun läßt er den Zweig los, und mit einigem Straucheln und Gleiten kommt er zu dem Nestchen, wo sich das Kind duckt, als sähe es sich nach einer Fluchtgelegenheit um, und nicht los kann, weil das eisige Dorngeranke der Brombeeren es festhält. Und nun macht sich's mit einem Ruck los, daß die ganze Schleppe mit dem Waldanhängsel abreißt. Aber da hat er sie auch schon erfaßt, und so sehr sie sich sträubt und flattert wie ein Vöglein, das man in der Hand hält, so bringt er sie doch mit vieler Mühe herauf, und nun steht sie zitternd und schneeblaß auf dem Weg. Da greift er in seine Tasche und zieht einen großen rotbackigen Apfel heraus und reicht den als Friedenspfand mit einem guten Lachen hin.
»Da nimm und sage, wohin du willst, so zeig ich dir den Weg, du wunderliches kleines Fetzenmadämchen.« Denn der braune Schal ist ziemlich übel aus den Dornen gekommen. Aber sie will den Apfel nicht, und der wandert wieder in die Tasche zurück. Aber der Apfel, oder vielleicht ein Blick in die blauen Augen mußten doch eine Brücke geschlagen haben.
»Ei woher hast du den feinen Nasenrücken? Und was hat dein linkes Beinchen getan, daß es frieren muß und nur das rechte eine Gamasche hat?«
»Sie gingen nicht zu. Und es ist auch gar nicht kalt.«
Es ist das erste Wort, und sie spricht allerdings nicht die Landessprache.
»Und wohin gehst du?«
»Nirgends hin!«
»So, nirgendshin. Da geh ich nämlich auch hin, dann haben wir einen Weg.«
Und er nickt ihr ermunternd zu, steckt die Hände in die Hosentaschen und schlendert neben ihr her, behält sie aber vorsichtig im Auge, daß sie nicht mehr entwischen kann. Und zögernd folgt sie ihm, als wäre es doch gut, auf dem Weg zum Nirgendwohin-Land einen Gefährten zu haben, eine kleine wunderliche Gestalt in dem zerfetzten Tuch; die Stiefel tragen bis oben hinauf Spuren eisiger und lehmiger Wege; am rechten Bein eine falsch zugeknöpfte Gamasche, am linken keine, dafür aber ein großes Loch im Strumpf, durch das ein weißes Knie schimmert. Und wie er so neben ihr hergeht, steigt ein deutlicher Armeleutegeruch aus dem Schal auf, ein Geruch nach selten gelüfteten Stuben, auf dem Zimmerofen gekochtem Sauerkraut und hundert andern unbestimmbaren Dingen. Aber der Nasenrücken ist sehr fein geformt und fast stolz, die Augen lang mit breiten Lidern, die so zart sind, daß, wenn sie die senkt, die Augensterne durchschimmern.
»Also durchgegangen bist du!«
Sie schreckt zusammen, und ja! steht so deutlich auf dem erhobenen Gesichtchen. Da lacht er wieder sein gutes Lachen.
»Wenn die Leute ins Nirgendsland wollen, sind sie meistens von irgendwoher gekommen, wo es ihnen nicht gefallen hat.« »Und ich geh auch nicht mehr zurück.«
»So arg haben sie dir's gemacht?«
»Nein, nicht arg. Weißt du, das kann man nicht sagen.«
So zutraulich ist sie nun schon geworden. Und eine Weile wandern sie miteinander in dem verzauberten Wald, und er wartet mit dem feinen Gefühl für Kinderseelen, das manche Menschen haben, die wissen, daß man durch Fragen das Kind von seinem Gedankenpfädlein oft nur abirren macht, und daß das Vertrauen am ehesten durch ein freundliches Zuwarten gewonnen wird. Doch ihre Schritte werden immer zögernder und schleppender, und als da am Weg ein Reisighaufen liegt, freilich auch in einem Eiskleid, so setzt sie sich darauf und sagt sehr artig und mit der Feinheit eines gut erzogenen Mägdleins:
»Ich danke sehr, ich bleibe hier.«
»Müde?«
Er setzt sich ihr gegenüber auf einen Steinhaufen und schlägt die langen Beine übereinander: »Ist vielleicht nun der Apfel gefällig, kleines Fräulein?«
In den Augen leuchtet's auf, und eine kleine Hand streckt sich zögernd aus dem Fransengewirr nach dem Apfel aus, und ein feines Freudenrot steigt in ihre Wangen. »Gut ist er.«
Und nun erzählt sie. »Mir hat das Nähröschen einmal auch einen geschenkt und ich habe ihn in mein Bett gesteckt und nachts gegessen, wie alle fort waren. War das nicht lieb von dem Nähröschen? Es hat rote Haare und wohnt in dem kleinen Haus, vor dem im Sommer die hohen roten Blumensäulen stehen, und hat neun Geschwister, und wenn sie abends heimkommt, macht sie denen noch alle Kleider.«
»Ein treffliches Nähröschen! Und wo ist das Häuschen, vor dem im Sommer die Blumensäulen – das sind wohl Malven – stehen?«
»Zuerst kommt ein grünes Feld, darauf sind weiße Sterne und gelbe Krönchen, wenn die Sonne freundlich ist, und dann kommt man an die steilen Bäume, die hinaufstarren und die seufzen.« »So wär's am besten, wir machten uns jetzt auf die Beine und gingen zu dem Nähröschen. Die hat gewiß noch einen Apfel, denn ich habe keinen mehr. Und das ist ein kalter Sitz und das Stiefbein friert.«
Aber sie schüttelt wieder. »Ich will hier bleiben. Ich bin ja sonst den ganzen weiten Weg umsonst gegangen.«
Und nun strahlt das volle süße Kindervertrauen aus den erhobenen, sanften Augen. »Ich will auch nicht mehr zurück und will warten, bis die Nacht kommt, und Hunger habe ich keinen mehr, weil du mir den Apfel gegeben hast.«
»Die Nacht willst du da bleiben und fürchtest dich nicht! Du hast etwas Gutes vor. Weißt du denn nicht, daß die Leute, wenn die große Kälte kommt, einschlafen und nicht mehr aufwachen?«
»Ich werd schon nicht einschlafen. Ich warte ja! Sieh doch die Bäume da am Weg und die weißen Schwertchen und die Krönchen und die silbernen Fransen, und die Perlenschnüre und die Bänder! Warum haben die sich so angezogen? Die warten alle, und daß etwas kommt, das wissen die ganz gut. Und vorher ging ein Reh vorbei, das sah mich an und wußte es auch.«
»Das fühlst du auch, du? Du kleines Seelchen! Wie heißt du denn?«
»Ich habe viele Namen, aber keiner ist der rechte. Und bei Nacht kommt mir, ich wisse den rechten, und am Morgen habe ich ihn wieder vergessen! ›Arme Kleine,‹ sagt mein Vater zu mir. Aber so will ich nicht heißen. Und ich bin fortgegangen: daß es aber der rechte Weihnachtswald ist, habe ich erst gesehen, wie ich drin war.«
Da beugt er sich vor und hebt das Geschöpflein trotz dem strengen Duft des Tuchs auf seine Knie und schlägt seine Lodenjacke um das eine kalte Bein mit dem großen Loch im Strumpf. Nun fürchtet sie sich gar nicht mehr und nestelt an seinen braunen Hirschhornknöpfen herum.
»Weißt du, das mit dem Christkind, das die schönen Sachen bringt, das ist alles erlogen. Es steht alles im Katalog. Puppen und Wagen und Soldaten und alles. Und wenn ein rechtes Christkind wäre, so wüßt es, daß ich keine neuen Puppen will, die gar nichts von mir wissen und mich nicht kennen.«
»Die alten kennen dich wohl?«
»Wenn ich sie doch abends immer ins Bett lege und nie auf einem Stuhl lasse! Aber vor Weihnachten gehen immer die alten Puppen fort, und es bekommen sie die bösen Kinder, und seh ich sie dann wieder, dann haben sie schmutzige Kleider, und die Lilla, die mit den schönen Locken, die hatte nur noch ein Auge und der Arm hing ihr herunter. Und nun spiel ich nicht mehr mit Puppen.«
»So verekelt haben sie dir's, armes Seelchen!«
Aber sie muß weiter an ihrem Faden spinnen. »Und das rechte Christkind, das weiß, was einen freut, das kommt doch nicht zu mir. Deshalb bin ich herausgekommen. Hör, wie der Baum seufzt. Und wenn's ein Christkind gibt, so muß es hierher kommen. Und wenn man einschläft und muß nie mehr zurück und sich auslachen lassen, weil man so ein Dummes ist und die rechten Worte immer nicht sagen kann, die alle andern Kinder gleich wissen, und es käme das Christkind vorbei, und läutete so fein mit seinen Glöckchen... Hörst du's nicht? Seit ich im Wald bin, hör ich's und bin ihm nachgegangen, so weit, so weit, daß ich gar nicht mehr zurück kann, weil es viel zu weit ist. Und wenn ich einschliefe, so käme meine Mutter heraus und holte mich, die liegt in einem silbernen Sarg und hat mein kleines Brüderlein im Arm. Und das darf immer bei ihr liegen, wenn ich lernen muß und wenn ich ganz allein in meinem Bett liege und nur leise weinen darf, daß es keiner hört. Und vielleicht nähme sie mich dann in den andern Arm. Und ich wollt schon bei ihr in dem silbernen Sarg bleiben. Da könnten die lachen; ich hörte nichts mehr, denn es ist eine dicke eiserne Tür über dem silbernen Sarg und ein Siegel darauf, und kein Mensch darf herein.« »Und das Lachen, das tut dem armen Seelchen so weh, wenn es die rechten Worte nicht findet?«
»Weißt du das denn nicht? Dich lachen sie doch auch alle aus!«
»Mich! Ja kennst du mich denn?«
»Du bist der Ruinengraf. Und warum gibst du den Mäusen, den netten kleinen, die sich hinsetzen können wie rechte Leute, und aus den Händchen essen, warum gibst du denen nichts? Mir hast du doch gleich den Apfel gegeben?«
»So – den Ruinengrafen nennen sie mich! Nicht übel, es ist immer gut, wenn man seinen Namen weiß,« brummt er. »Den Ruinengrafen! Und was für wunderbare Dinge du weißt! In einem silbernen Sarg liegt deine Mutter, du Armes! Und wohin gehörst du nun? Und warum geb ich den Mäusen nichts?«
»Ich höre manchmal, was sie in der Nähstube reden, die geht in den Lindenbaum, und da hab ich eine Treppe hinauf. Und die Margarete, die dick ist und wie ein Herr ein kleines Bärtchen hat, sagt, es wäre eine Schande, daß du in dem Geklüft wohntest, und du wärest so arm, daß die Mäuse mit verweinten Augen einem entgegenliefen, wenn man an deine Mauer käme.«
Nun lacht er laut auf, erschütternd und gewaltig dröhnt es aus der mächtigen Brust auf, ein urgermanischer Ton ist das in der verzauberten Waldstille. Das Seelchen erschrickt fast; dann läutet plötzlich ihr feines klingendes Lachen, wie wenn ein Vogel mit seinem Flügel eine Harfensaite berührte, daß die ein weniges klänge.
»Nein, die haben's zu arg gemacht – und auf die Mäuse will ich achten, daß sie ihr anständiges Futter kriegen.«
»Ich hab dich dann gesehen, wie du mit deinem Knecht gegangen bist, der aussieht wie der Kaliban in dem roten Buch, und du hast mir so leid getan, weil du so arm bist und so groß wie kein anderer, und nicht einmal die kleinen Mäuse bei dir satt kriegen. Aber nun ist's nicht wahr! Die lügen oft.« Wohin mag doch das vermummte Kind gehören, dessen Mutter in dem silbernen Sarg liegt? Nicht in das kleine Städtchen, so weit her kann sie nicht gekommen sein. Ihr Deutsch klingt fremdartig und zuweilen ein wenig stockend, als ob es nicht die Sprache sei, die sie immer spreche. Welch eine Woge des Schicksals mochte das arme Seelchen in das Waldland verschlagen haben? Die Waldleute sind ein wanderlustiges Volk. Kein Haus in dem uralten, noch umwallten Städtchen oder in den heimeligen Dörfern, das nicht ein Glied über See hätte. Sie haben dann allerhand Schicksale, diese Waldleute, kommen zu Geld und Ehre und verlieren auch beides wieder. Aber sie sieht nicht nach dem Menschenschlag aus. Er könnte es jetzt wohl aus ihr herauspressen, wohin sie gehört, aber es ist gar zu schön, in dem verzauberten Wald auf das feine Märchenstimmchen zu hören. Und er sollte doch die feinen Linien kennen, diese langen Lider, es ist wie ein Rätsel, das sich ihm jeden Augenblick lösen kann. Und er wird sie ja sicher nach Hause bringen. Vielleicht tut's den Ihrigen, die so wenig das arme Herz kennen, gut, wenn sie sich ein kleines absorgen. Und über dem keimt in seinem Herzen eine ferne, schwache Hoffnung auf. Vielleicht ist's ein armes Verlassenes unter Fremden, denen nichts an dem Seelchen liegt. Aber gleich schilt er sich einen Träumer. Kinder, die unter allen Umständen an Weihnachten einen neuen Puppensegen – »aus dem Katalog« – über sich ergehen lassen müssen, gehören nicht armen Leuten. Da legt sie ihr eingewickeltes Köpfchen an seine Brust: müde ist sie und so froh, als ob ihr das Reden von ihrem Leid schon einen Stein vom Herzen genommen hätte. So geborgen, als schließe der weiße Ring der Bäume in ihrem feierlichen Schweigen sie ein und beschlösse sie für immer und immer, und vielleicht kommt das Christkind doch.
Und es fängt der zartgraue Himmel an, sich hinter dem zierlichen Gegitter der Zweige, die so dicht und heimlich stehen, und von denen ein so weiches Licht herabkommt, sacht zu färben. Ein blasses Rosa zuerst. Und wie stehen sie nun gegen den Rosenteppich da, die Äste und Zweige, und das ganze Netzwerk von Kristall und weißem Flaum! Und immer röter und herrlicher wird die Purpurwand, und wunderbare blaue, violette und graue Töne steigen aus dem Weiß auf. Lautlos sehen die beiden in die himmlische Herrlichkeit. Und das Seelchen hält fast den Atem an, denn nun muß es kommen. Woher, weiß es auch. Dort, wo der Weg sich wendet, gerade in die Glut hinein, da hat die schwere Silberlast ein Buchenstämmchen herabgezogen, daß es im Bogen über den Weg hängt. Da durch muß es kommen. O wie der unauslöschliche Kinderglaube aus den grauen Augen leuchtet! Kommt nicht auch das Klingen immer näher? Das braune Tuch ist bedeckt mit Silbersternchen, daß es wohl Aschenbrödels Kleid von der Mutter Grab her sein könnte. Ihre Pupillen weiten sich, daß die graue Iris nur einen schmalen Streifen um die Schwarze bildet, sie gleitet herunter, sie faßt ihn an der Hand und zieht ihn mit sich fort. Da unter den herabhängenden Tannen tief unten ein goldenes Feuer, ein Bogen, wie ein ungeheures, loderndes Flammentor. Die Himmelstür! Weit offen steht sie und gerade auf sie zu führt die gotische Silberhalle, die herrlichste Prachtstraße der Welt. Nun ist's offenbar, darauf haben sie gewartet, die Bäume, die Kräutlein im Silberkranz, das Reh, der Vogel, der immer vorausflog mit dem roten Käpplein. Fest aneinander geschmiegt stehen sie, das Kind legt seine Ärmchen um den herabhängenden Arm des Mannes. Und ein feines goldenes Band schlingt sich von dem einen der zwei Herzen zum andern, ein Band, gewoben aus jenem Gold des Himmelstors. Und über seine Hand, an die sich das Kinderköpfchen schmiegt, fällt plötzlich ein weiches, sanftes Gewoge. Er wendet seine halbgeblendeten Augen, die noch in feurigen Ringen überall das Bild des goldenen Tores hinwerfen, nach ihr. Das Tuch ist abgefallen und um das erhobene, von seliger Erwartung und scheuem Entzücken erleuchtete Angesicht wallt eine Flut von blaßgoldenen Haaren. Und einer der feurigen Ringe legt sich um das Köpfchen, daß es davon umgeben wird und sein Herz ein leiser Schauer trifft, als berühre es der Himmlischen einer. Dann versinkt das Tor, noch ein letztes Gluten am Himmel, das den Wald mit tausend und tausend Rosen behängt – und nun steigen graue Schatten auf; wie Gespenster werden die Bäume; der Eichbaum dort, windet er nicht seine Schlangenarme? Die Stunde, die einzige, ist vorüber.
Und doch nicht vorüber, denn das Mägdlein, das mit seiner blaßgoldenen Mähne aussieht wie ein aus seiner braunen Hülle geschlüpfter Schmetterling, sagt mit seinem hohen feierlichen Silberstimmchen: »O, bist du nicht froh, daß doch alles wahr ist! Und daß wir das Christkind gesehen haben!«
»Hast du's gesehen?« fragt er fast scheu.
»Sein Tor hab ich gesehen und seinen Himmel, und nachher hingen überall rote Kränze. Die haben die Engel heruntergeworfen. Hast du die Rosenkränze, die so brannten und so schön waren, nicht gesehen? Sie hingen doch auf den Bäumen, und der Strauch dort hat sieben goldene Kronen gehabt.«
»Ich sah sie, und du hattest auch ein Krönlein, Seelchen.«
»Ich hatte auch eins! Hab ich's immer noch?«
»Nun ist's vergangen.«
»Sieh, wie die Bäume nun grau werden und sich einwickeln in lauter Schleier, weil sie nun schlafen wollen. Und ich bin so müd. Ich muß weinen, ich bin ganz müd. Du, ich hab mich überfreut!«
»Überfreut hast du dich?«
»Weißt du, wenn man so starke Freude hat, das tut doch weh.«
»Seelchen, komm, wir müssen eilen, ich trage dich.«
Er reißt sich das Lodenwams herunter, daß er in seinen weißen Hemdärmeln dasteht, und wickelt sie darin ein und nimmt sie auf seine starken Arme.
»Kannst du denn kein kleines Mädchen in deiner Ruine brauchen, ich esse nicht viel. Du mußt aber niemand herein lassen, daß man mich nicht sieht. Denn sonst holen sie mich. Weil die mich haben müssen, wenn ich auch nur ein Mädchen bin und es ein Jammer ist, daß die Mutter nicht mich mitgenommen hat und das Brüderlein leben geblieben ist.« »Die müssen dich haben!« Er schaut auf das weiße Gesichtchen, das in seinem Goldgewoge auf seiner Schulter liegt. – Die seinen Linien der Nase, die ein wenig zu großen Augen: das Rassegesicht – – der Braunecker. – –
»Prinzessin! Ja, um Gotteswillen! Wie lang sind Sie schon fort! Ja, sucht denn kein Mensch nach Ihnen?«
»Ja, warum sagst du denn nun Sie. – Dann muß ich's auch sagen. Ich hab kein Du, kein einziges Du, wenn Vater fort ist.«
Armes Prinzeßchen, armes einsames Seelchen, das er nun in seinen Käfig zurückbringen muß. So vertrauensvoll schlingt sich das Ärmchen um seinen Hals, während er mit langen Schritten dahineilt. Wohl wußte er, daß in dem alten Schloß, das mit seinen dicken Türmen in das lieblichste Tal hinabsieht, das einzige Töchterlein des Fürsten wohnt, der nur zu den hohen Festen und den Jagden nach seinem alten Stammsitz zurückkehrt. Aber es war von dem Kinde immer nur mit einem gewissen Achselzucken die Rede gewesen, so daß er sich ein vielleicht schwachsinniges Geschöpf vorgestellt hatte, das in seinem armen Dasein die bitterste Enttäuschung des alten Hauses sei. Die Fürstin und zwei Söhnlein, ein dreijähriges und ein wenige Tage altes, waren vor zehn Jahren innerhalb einer Woche an einer schweren Diphtherie gestorben. Geheiratet hatte der Fürst bis jetzt nicht wieder, und doch würde es sein müssen, denn der alte Stamm stand nur auf seinen zwei Augen. Aber warum wimmelt jetzt der Wald nicht von Jägern und Hunden, warum ertönen die Sturmglocken aus den Dorfkirchen nicht, wie man es immer tut, wenn irgendein Kind, das vielleicht seinem Vater das Essen in den Schlag gebracht hat, nicht zurückgekehrt ist. Seelchen, warum suchen sie denn nicht! Drei Stunden weit ist sie freilich gegangen, und das mochte ihr niemand zugetraut haben. Und mit Schrecken dachte er, wie es wohl gekommen wäre, wenn es ihn nicht in den Wald gezogen hätte heute, ob nicht sein einsames Herz von der Herrlichkeit da draußen so erfüllt werden könne, daß es den bitteren Hunger nach einer einzigen menschlichen Seele vergäße.
»Schläfst du, Seelchen?«
»Nein, es ist so schön, weil du mich trägst, und du bringst mich doch zu deiner Ruine! Wie das Schneewittchen über den sieben Bergen. Du bist freilich kein Zwerg, sondern schier ein Riese, und du kannst auf alle heruntergucken, und so lang will ich auch wachsen. Und stark bist du und brauchst dich im Dunkeln nicht zu fürchten.«
»Vielleicht fürcht ich mich doch.«
»Jetzt?«
»Nein, jetzt nicht. Aber soll dein Vater kein Kind mehr haben?«
»Du hast auch keins.«
»Jedes Kind bleibt bei seinem Vater.«
»So muß ich zurück! O sag's nicht. Ich will nicht. Ich bleibe da, und wenn auch die Bäume noch so schrecklich sind in ihren weißen Tüchern. So sind gewiß tote Leute, so steif und mit weißen Tüchern. O das träumt mir, das träumt mir. Aber ich bleibe hier. Nun haben sie alle einen Zorn und alle reden zugleich, und ihre Stimmen sägen und ich darf meine Ohren nicht zuhalten. Und das Tuch hab ich ganz zerfetzt.«
»Wie du reden kannst, Seelchen, und du meinst, du habest die rechten Worte nicht! Warum sagst du das nicht deinem Vater, deinem lieben Vater!«
»Wann denn? Ich muß immer so artig sein, wenn er da ist. Und das mußt du doch wissen, daß es nicht artig ist, wenn man sich über Miß Whart verjammert.«
»Seelchen, dein Deutsch ist wunderbar, ganz dein eigen. Und du sprichst wohl englisch mit der einen und französisch mit der anderen?«
»Mademoiselle ist nach Anvers in die Ferien, und Miß Whart hat Migräne, und Fräulein Braun – aber das ist ein großes Geheimnis, ich sag dir's nur, weil du's nicht weitertratschest, – sie ist zu Karl gegangen.« »So, zu Karl.«
»Der heiratet sie gewiß einmal, und dann kauft sie sich ein Plüschsofa. Daß sie sich nicht schämen muß, wenn die andern Frauen bei ihr Visite machen. Und das muß jeder anständige Mensch haben.«
Aber sie erschrickt in tiefster Seele, denn er hat gewiß kein Plüschsofa. Und es könnte ihm weh getan haben. Und sie küßt ihn schnell auf sein Ohr, das ist am nächsten und ist auch nicht so bärtig. »Ich meine nur Frauen, weißt du.«
»Laß das, Seelchen,« sagt er fast streng, »und sag, wie du fortgekommen bist: sie wird dich doch nicht zu dem Karl genommen haben.«
Ach, nun hat er es doch übel genommen und er hat sicher kein Plüschsofa.
»Nein,« erzählt sie gang verschüchtert weiter, »die Babett sollte mit mir spielen, aber zu der kam ihre Mutter, die wohnt weit weg, und die weinte und erzählte viel, es kam eine Kuh und ein Jude darin vor. Wie die Leute reden, das versteh ich nicht so recht. Und darf's auch nicht lernen, sagt Fräulein Braun: Es ist gemein.«
Es klingt, wie wenn er etwas brummte, – wie ›dumme Gans!‹ klingt's.
»Nun weiter!«
»Da ging die Babett und wollte der Mutter etwas bringen, das in einem Buche ist, wo man Geld dafür bekommt, und es war eine große Freude dabei. Für die Mutter, nicht für die Babett. Und die Mutter ging und ihr Tuch ließ sie da. Und da war's, wie wenn mich etwas packte und nach dem Tuch hinzöge. Und da wickelte ich mich darin ein, wie's die Waschfrauen machen, wenn sie im Regen kommen. Eine Gamasche hab ich nur angebracht, dann hab ich Angst bekommen und bin schnell die Dienertreppe hinunter. Und es begegnete mir niemand. Dann bin ich durch den Park gegangen, und ein Gärtner hat mir ›Vogelscheuche‹ nachgerufen, dann kam ich ans Wach. Es war aber keine Brücke da, so bin ich übers Eis gegangen.« »über das Wach gegangen!«
»Es war ganz schön. Das Wasser lief unten, und es gluckste, und es lachte einer heimlich da unten, und ein Fisch schoß vorbei, und ein großes Loch war auch da, um das ging ich herum ...«
So, nun weiß er, warum niemand hier suchen geht. Das Wach ist nur ganz dünn gefroren und hat Stellen, an denen unterirdische Quellen aus dem Boden kommen, wo auch im härtesten Winter das Eis nicht tragt. Und er möchte an einen Engel glauben können, der das Kind auf dem Todespfad geleitet hat. Und er sieht im Geist das Flüßchen zwischen seinem Wald und den Wiesenufern, unter der trügerischen Eisdecke, und die vielen Männer, die jetzt mit Fackeln und Stangen nach einem kleinen, halb erstarrten Körper suchen. Und der Fürst muß heute abend kommen. Mit dem Achtuhrzug. Und die müssen ihn mit der schrecklichen Nachricht empfangen. Und der Mann, der schon so viel verloren hat, was muß er leiden an diesem fürchterlichen heiligen Abend. Mit seinen längsten Schritten eilt er dahin. Aber es ist eine Stunde in der Nebelnacht bis zu seiner Ruine, von der aus er erst Nachricht geben kann. Das zarte Kind muß bald unter ein Obdach kommen. Und dem Fürsten wird es auch so lieber sein, als wenn er seine Tochter aus einer Bauernstube abholen muß. Der Pfarrherr ist unbeweibt, wunderlich und menschenscheu, studiert jetzt seine Predigt, wird gar nicht wissen, was er mit dem hereingeschneiten Gast tun soll. Und der Nebel schließt sie immer dichter ein. Kennte er nicht jeden Tritt hier, so wäre es schlimm bestellt ums Heimkommen. Und er macht sich bittere Vorwürfe, daß er nicht gleich geeilt hatte.
Aber das Kind will jetzt von ihm wissen, so viel, so viel. Mit dem sicheren Instinkt der Kinder hat sie herausgefühlt, daß sie einen Freund gefunden hat.
»Warum wohnst du in einer Ruine, warum bist du so arm? Bist du auch das Christkind suchen gegangen?«
Und im Weiterschreiten erzählt er ihr von sich. Erst zögernd, denn er ist es fast ungewohnt, von sich zu reden, dann mehr für sich selbst, wie es sehr einsame Menschen tun, wenn sie einmal ihr Herz öffnen. Von dem großen Brande, der in einer Nacht das alte Schloß, welches sein Vater an einen reichen, jagdlustigen Herrn vermietet hatte, zerstört hat.
Wie sein Vater und er Offiziere waren; beide in demselben Regiment. Und wie der alte Oberst es nie verwinden konnte und sich schwere Vorwürfe machte, daß er das Schloß vermietet, um seinem Sohn das Dienen in Berlin möglich zu machen. Und wie sie beide es nicht übers Herz bringen konnten, die Trümmerstätte, die die Heimat so vieler ihres Blutes gewesen war, wiederzusehen. Und wie der Vater starb und er so allein war und in kleinen nordischen Grenzstädten stand, wo die Wolken tief herabhängen und die Walnüsse bereits Südfrüchte geworden sind. Und wie er malte. Zuerst die grauen Wolkenzüge über den nordischen Ebenen und dann, aus der Erinnerung, das Bild des verlorenen Vaterhauses. Und wie alles, was nicht Farben und Malleinwand war, immer mehr ein bitteres Elend wurde und Verbannung und ein nagendes Heimweh nach dem Waldland. Das Heimweh, das die Seele mit grauen Fäden bespinnt und zusammendrückt und von dem nur reden kann, wer es einmal gekannt. Das Heimweh, das nach jedem Stein der Heimat schreit, das nach den fremden Wänden schlagen möchte. Das immer wieder dem Herzen die trauten Bilder vorhält. Wie es war, als die Halde im bittersüßen Duft der Schlehen lag, am ersten heißen Apriltag. Wie der Schloßbrunnen rauschte, in dem sich zuweilen Vogelgetön und die Sonntagsmundharmonika des Stallburschen verfing, daß es an seiner Steinschale ein wunderliches Echo fand, daß es gewiß auf der ganzen Welt keinen solchen singenden Brunnen mehr gab. Wie die Abendsonne auf dem alten Gemäuer lag und aus den Fenstern so viel goldene Augen machte, die ins Waldland hinausblickten. Bis das Bild aus Ton und Farbe und Duft gewoben vor dem Auge steht, daß Kasernenhofmauern und die grauen Ebenen und die Sturmwolken, oder die mitleidlose Sonne an den klarkalten Tagen, die alle Linien starr macht und so unbarmherzig die bittere Kahlheit zeigt, nicht mehr zu ertragen sind. Und wie er plötzlich dort Schluß gemacht. Weil – nein, das sagt er dem Kinde nicht, daß da ein kleiner Revolver lag und nur die Hand eines treuen Burschen den Punkt unter der Geschichte verhinderte. Und wie er nach Berlin auf die Akademie ging und malte.
Von was er lebte, konnte er schier selbst nicht sagen. Von dem Ertrag seiner Jagd, die er an den Fürsten verpachtet hatte; von dem, was sein Wald zuweilen abwarf, und (wenn das sein Vater noch hätte wissen können!) vom Tapetenzeichnen. Und wie ihm keine Bitterkeit des Deklassierten erspart war. Und wie seine Länge, »der Herr Graf«, der »Leutnant a. D.« und die Härten seiner so ganz allein erworbenen Malweise alle schlechten Witze der langhaarigen Kunstgenossen entfesselten. Wie die nicht Ruhe gaben, bis er einen der windigsten und frechsten Gesellen am Kragen packte und mit ausgerecktem Arm zum Fenster hinaushielt in den Regen, wie der sich auch wand und krümmte. Und das Wohnen in billigen, entlegenen Quartieren, und die ungeheure fürchterliche Einsamkeit, die nirgends qualvoller und entsetzlicher sich aufs Herz legt als in einer Millionenstadt...
Schon längst hat er vergessen, daß ihm jemand zuhört. Das Kind ist wohl eingeschlafen, es rührt sich nicht mehr. Aber das ist ein Irrtum. Das Kind ist hellwach und nimmt jedes Wort in sein feines Herz auf, wo alles unvergessen liegen und, wenn die Stunde kommt, wieder heraufsteigen wird zu jedermanns Verwunderung. Und das phantastische Köpfchen dichtet Bilder dazu, himmelweit entfernt von der Wirklichkeit, aber doch wahrhaftig, mit der innern Wahrheit der Dinge.
Und die Kunst ist eine strenge Herrin, und nur selten noch wird ihm die Seligkeit des Gelingens geschenkt. Und wie an einem stickigen Sommerabend, als aus dem Hinterhof die Luft wie ein glüher Brodem voll unguter Düfte heraufstieg, keifende Weiberstimmen, gröhlender Gesang, das jämmerliche Weinen eines verlassenen Kindes die Musik dazu gemacht, und es über ihn kam mit Riesengewalt. Nur noch einmal den Duft des Heus einatmen, wie es der Abendwind auf weichen Schwingen aus dem Tal heraufbringt, nach dem Schloßberg. »Ja, bin ich denn hier angeschmiedet, ist das noch Menschentum oder ist's ein Höllenkäfig, in den wir da zusammengesperrt sind?« In der Nacht noch, nur mit dem, was er gerade hatte, ist er davongegangen. Von Würzburg an reist er wie ein Handwerksbursche. Und wie er davon spricht, ist's nicht viel anders, als es wohl seine Vorfahren, die mit Kaiser Friedrich in der Wüstenglut hungerten und brieten, oder mit den Niederländern in den spanischen Befreiungskriegen im überschwemmten Land halb wie die Frösche lebten, den aufhorchenden Frauen und Kindern am heimatlichen Herde erzählt haben mochten.
»Und nun das Glück. An einem Regentag komm ich heim; es tropft mir von den Bäumen auf den Kopf und es rauscht und gluckst, und die alten Wolkenfrauen ziehen ihre Schleppen über das Wiesental. Und wie die Linden duften! Es war mir lieb, daß ein Regenschleier die leere Stelle ein wenig verhüllte, wo ehemals das steile dunkle Dach zwischen den Bäumen stand. Es war Abend geworden, und ich dachte: jetzt steigst du noch ein wenig auf dem Schutt herum, daß es dir am Morgen nicht mehr so schrecklich ist. Ich hole mir die Schlüssel beim Förster, denn die Tore stehen ja noch. Der hat eine große Freude und tut mächtig geheimnisvoll. Es knarrt das alte Tor mit dem Ton, den ich so oft im Traum gehört, es ist ganz wie ehemals. Einen Augenblick muß ich noch die Augen zumachen und die Zähne zusammenbeißen vor dem, was kommt, denn jetzt müßte dort die Palaswand aufsteigen, die beiden Hunde hervorstürzen, ich müßte des Vaters Stock hören. Aber wie ich aufschaue, ist's doch wieder ganz anders als ich gedacht. Der Wald hat schon wieder ein wenig Besitz genommen, dort an der Mauerwand rauscht noch unversehrt der Brunnen, ein später Amselschlag hat sich darin verfangen, und er klingt und klingt. Ein wilder Rosenstrauch hängt über dem Brunnen, und eine der Linden lebt auch noch, ohne Krone zwar, an einer Seite kahl, aber die andere hat die treue, gute mit tausend gelben Büschlein behängt. Und es riecht nach Heimat. Der Förster führt mich durch einen Steinwall, den er selbst geschichtet hat, zu einer Stelle, wo herabgestürzte, halb verkohlte Balken ein Dach gebildet haben. Eine rohe Bretterwand, dahinter eine Tür. Die Hofstube tut sich auf. Dort saßen in früheren Zeiten die Knechte, und der ganze große und hohe Raum mit seinen vier tiefen Fensternischen ist unversehrt. Die Fenster verdeckt freilich der Schuttberg. Damals, jetzt nicht mehr. Der grüne Kachelofen steht noch da, der Tisch, die langen Bänke, altes Zinnwerk. Daneben ist noch eine Kammer, wo in früheren Zeiten der Knecht, der die Feuerwache hatte, sich aufhielt. Und da stand noch ein uraltes Bett und ein grünglasiertes Waschbecken. Davon habe ich zuerst Besitz ergriffen, habe mir das am singenden Brunnen gefüllt und mit seinem Wasser mir viel, sehr viel vom Herzen gespült. Und obgleich der Förster, der dies alles im letzten Winter, als er einer Fuchsspur nachging, entdeckt und geheim gehalten hatte, es nicht dulden will, so bin ich die Nacht dageblieben.«
»O, ich will den singenden Brunnen hören. Nimm mich mit zu dir.«
»Ja, hast du denn das alles gehört, Seelchen, nun, dann hör auch auf mein Geheimnis. Ich dachte, du schliefest. Wenn es die Leute hörten, wie würden sie über den verrückten Ruinengrafen lachen. In der ersten Nacht schon, wie ich da auf dem alten Knechtsbett lag, habe ich's gewußt. Wer eine solche Heimat hat wie ich, die so vielen lebendigen Herzen einst das Höchste war, um die sie geblutet haben in vielen Schlachten, in deren Frieden ihre Kindlein spielten, in deren Schatten sie sich zur letzten Ruhe legten, der darf sie nicht verlassen, ihr nicht untreu werden, muß an seinem Teil und so gut er es kann, sorgen, daß die, die nach ihm kommen, das köstliche Gut bekommen, das ihm die Alten hinterlassen. Der Thorsteiner, der vor achthundert Jahren mit seinen Bauern die Steine zu dem festen Haus zusammentrug, hat es auch hart gehabt. Vielleicht nicht so hart wie der letzte, der da auf dem Knechtsschragen liegt. Vielleicht. Und wenn er jetzt da hereinschritte, durch die Türe, mit seinem harten braunen Gesicht unter der eisernen Sturmhaube, möcht ich mich nicht unter seinem Blick winden müssen. Und darum ist mir nicht eine Stunde wohl geworden in meiner Haut, von da an, wo ich wußte, daß die Dohlen und Turmkrähen über ihren zerstörten Nestern herumflattern. Sie haben nach mir verlangt, die Väter, und mir keine Ruhe gelassen, und sind hinter mir drein auf der Ebene geritten, wo die Wolken so tief herabhängen. Und wenn ich zwischen den Vorortbahnen und ihren hundert Lichtern und dem Menschengewühl der armen Heimatlosen im Berliner Norden herumstieg, haben sie an mein Herz gestoßen, daß es mir klar wurde, warum die so ruhelos sind, so verbittert, so unstät, so pflichtlos oft. Weil das deutsche Herz nach einer Heimat schreit. Hat es keine mehr, an der noch die Sitten, die Taten, die Leiden der Alten hängen, so muß es suchen gehen und wird unruhig und füllt sich mit allerhand, was es hin und her reißt und nimmer satt werden läßt.
Und ich baue sie wieder auf, meine Heimat. Manchen Kampf darob habe ich mit dem alten Herrn gehabt. Denn zuerst da sollte es wieder werden, wie es gewesen ist mit seinem Turm und Wall und Ecken und Winkeln. Aber der alte Herr unter seinem eisernen Sturmdach lacht mich grimmig aus. Von der Million, die ich dazu brauchte, und ob ich die mit Tapetenzeichnen zu verdienen gedenke, redet er nicht. Brauchst du denn eine Festung? Bilde dir nicht ein, daß du könntest mit allen Rissen und Plänen, die du machen magst, – was wir konnten. Wir bauten, weil wir nicht anders konnten. Und gegen wen willst du in deinen Wällen Geschütz auffahren? Gegen die Hollacher? Da versank der schöne Traum, und ich habe ihm auf meinem Schragen wie ein Bub nachheulen müssen. So wird's nun eben ein festes gutes Haus. Und wenn ich mich darum mein Lebtag nicht besser betten kann als auf dem Knechtsschragen. Und zuerst habe ich mit meinen zwei Händen angefangen und dabei das Berliner Elend hinausgeschwitzt. Der erste Herr von Thorstein wird auch seine Schultern angestemmt haben, wenn ein gar zu schwerer Stein das letzte Eck am Schloßberg heraufkam. Woher wären denn die meinen so breit? Und heutzutage, wo die Kinder schon mit dem Rundreisebillett im Steckkissen ankommen, muß es auch noch Leute geben, die wissen, wo sie hingehören und für was sie leben und vielleicht sterben müssen.«
»Aber du baust dein Dach wieder dorthin, wo der Himmel so leer ist zwischen den Bäumen, daß du wieder hinsehen magst,« flüstert ein halbträumendes Stimmchen.
Er erschrickt fast, so gut hat sie aufgemerkt. Nun, bis morgen wird sie alles vergessen haben.
Und jetzt blinkt plötzlich ein goldenes Licht durch das weiße Gegitter eines Holunders. Der lange Thorsteiner klopft an einen Fensterladen, ein Frauenkopf fährt heraus. Von ihrer ungeheuren Nachricht ist die Gute so bedrängt, daß sie es sofort, eh sie noch weiß, was er will, weitergeben muß.
»Wissen Sie's schon, Herr Graf, drüben die Prinzessin, das Arme, das nicht so recht im Kopf ist, ist ertrunken im Wach. Seit vier Uhr suchen sie's mit Stangen und Fackeln.«
»Unsinn, Frau Scheiterlein, schnell packe Sie Peterles Strümpfe und Sonntagsschuhe in einen Korb und komme Sie zu mir, aber schnell.«
Und schon ist er mit seinen langen Schritten weiter. Wieder eine Reihe hoher Bäume, dann eine Mauer. Und nun kommt's. Dem Kinde, das sich vor der Stimme der Frau ganz in seine Hüllen verkrochen hat, klopft das Herz. Denn nun kracht und brummt und stöhnt das Tor.
»Der singende Brunnen, du!«
Aber der schläft. Durch graues Gestein, ein Lichtlein schimmert, ein hoher großer Raum tut sich auf, aus dem eine wohlige Wärme und ein köstlicher Duft ihnen entgegenschlägt. Ein herrlicher, großer Tannenbaum auf einem Aufbau von Moos und Steinen, und darunter etwas Wunderbares, das das Kinderherz höher schlagen macht.
Nun läßt er sie heruntergleiten. Ein langer Kaliban steht vor seinem Herrn, den er ansieht wie ein treuer Hund, der jede Bewegung vorauszuberechnen scheint. Zwei Schriftstücke bedeckt der Haus- und Schloßherr mit langen, eiligen Zügen.
»Wenn du's gewinnen kannst, vor acht Uhr, Märt!«
Und mit eiligen Schritten verschwindet der Bursche und läßt gerade noch die Frau Scheiterlein mit Peterles Strümpfen ein.
»Nun, Frau Scheiterlein, wie fühlt Sie sich als dame d'honneur?«
Die Frau macht eine wilde Armbewegung, und mit einem Schwall von ihm unverständlichen Worten wird das Kind in den Salon geleitet, der in einer der vier Fensternischen bequem Platz hat, wo sie mit vielem Protest zwar – weil sie voll Stacheln seien – Peterles Strümpfe anziehen muß, während er im Nebenraum seine Toilette macht. Sie wird nicht eleganter dadurch. Peterles Schuhe erweisen sich als zu drückend und werden unnötig erfunden, Peterles Strümpfe stehen von selbst.
Und nun erhebt sich die schwierige Frage: »Frau Scheiterlein, was kann Sie kochen?«
Ein Zündhölzchen flammt und unter einer Teemaschine hüpft ein blaues Flämmchen. Frau Scheiterlein kann vielerlei kochen, Pfannkuchen, Eierschmarren; aber sie empfiehlt einen guten, festen Kindlesbrei als in allen schwierigen Lebenslagen das beste für hoch und nieder. Bei hoch macht sie einen kleinen Knix. Dann geht sie ab, und man hört bald draußen ein Feuer knistern.
Aus dem braunen Tuch, das zum Verlüften hinausbefördert wird, hat sich ein sehr, sehr schmächtiges Mägdlein in einem blausamtenen Hänger mit altem Spitzenwerk am feinen Hälschen geschält. Aber es könnte anhaben, was es wollte, man sieht nur die wallende Mähne vom blassesten Gold, die zu beiden Seiten des Gesichts herabfällt. »Wenn du so dick sein wirst wie die Haare, Seelchen, so ist's recht. Nun gibt's bald eine Schale Tee.«
Aber sie will gar nichts. Auf den blassen Wangen brennen rote Flecken und die Augen leuchten vor Verlangen. Ach sie ist in des rechten Christkinds Reich gekommen, da unter dem Baum ist etwas so unglaublich Schönes! sie hüpft auf ihren grauen dicken Strümpfen dorthin. Aber er hält sie zurück. »Einen Augenblick, Seelchen, mach fest die Augen zu.«
Da steht sie, vielleicht zum ersten Male in ihrem armen, kleinen Leben ein erwartungsvoll seliges Kind. Und es hat sich doch von jeher der ganze Segen der so hoch entwickelten deutschen Spielwarenindustrie über sie ergossen. Und nun klingen alle Weihnachtsglocken zugleich in ihrem Herzen zum erstenmal, und sie macht krampfhaft die Augen zu, so fest, daß sie noch die feinen Händchen ballen muß. Ein Streichhölzchen knistert und ein feiner köstlicher Wachsduft erfüllt den Raum. Augen auf! Da steht der Baum im Glanz seiner zehn Kerzen, denn einen andern Schmuck trägt er nicht. Und darunter erglänzt im sanften rötlichen Schein das Wunderwerk. Eine Krippe, aber nicht ein Stall, sondern aus grauem Steinwerk erbaut, eine Ruine, eine Steinplatte als Dach, die Ritzen mit Moos gefüllt. Und durch eine Rubinglasscherbe, die zwischen die Steine eingelassen ist, von oben in sanftes Rosenlicht getaucht, die heiligen Gestalten. Aus farbigem Wachs modelliert von den glücklichsten Künstlerhänden. Ein tiefer Atemzug des Entzückens!
»Das Christkind! Liegt so mein Brüderchen in meiner Mutter Arm im silbernen Sarg?«
Denn unter dem Rosenlicht liegt so sanft und lieblich ausgestreckt auf einem Bettchen von seidenweichen Disteldaunen Maria, ihr Kind im Arm. Sie schläft, das rundliche rosa Köpfchen ist an ihre Brust geschmiegt, und mit der einen Hand hält sie, wie den köstlichsten Wiegenvorhang, ihr weiches gelbes Haar um das schlummernde Kind. Über die beiden beugt sich, mit dem schönsten Ausdruck beglückter Liebe und treuer Sorglichkeit, Joseph. Auf dem Pfädlein, das durch Moos und graue Flechten hinaufführt zu der Öffnung, wandern ein Knabe und ein zerlumptes Mägdlein. Ein graues Wachseselein und eine biedere breite rotbraune Kuh sehen aus einem Verschlägchen heraus.
Das Kind kniet vor den Herrlichkeiten auf dem Boden und schaut und schaut. Und der lange Thorsteiner hinter ihr sieht mit der gleichen Kinderfreude auf sein Werk.
»Ein Engelreigen gehörte wohl auch noch dazu, aber ich bin nicht zurecht gekommen mit dem Federvolk. Wo denen wohl die Flügel herauswachsen?«
»Hast du das gemacht?«
»Siehst du, es war freilich eine große Zeitverschwendung. Aber etwas muß der Mensch zu Weihnachten bekommen. Die letzten Jahre gab's nichts, und es war ein Weihnachtselend, wie es nicht an die größte Wand zu malen ist. Aber jetzt bin ich Hausherr und werde mich doch nicht mir gegenüber lumpen lassen. Und siehst du, das hat mir wohlgetan, es ist wie bei Dürer, das Kind der Welt liegt auch in einer Ruine.«
Nun singt die Teemaschine. »O laß mich da, ich muß immer nach der Maria sehen,« flüstert sie, und auf einem alten Wollteppich kauernd, feiert sie die wonnigsten Weihnachten. Der Hausherr hat sich in seiner ganzen gewaltigen Länge auf den Boden ausgestreckt, eine dampfende Teeschale neben sich, ein Urbild des Behagens. Wie das Kind so zusammengekauert sitzt, fallen seine glänzenden Haare fast auf den Boden, die Ellenbogen stützt sie auf die Knie, und schaut und schaut, kaum daß die Teetasse dazwischen zu Ehren kommt.
So ist in ihrem immergleichen Dasein noch kein Tag gewesen, so wundervoll und so lang, als könnt er nie enden. In Wirklichkeit ist's kaum sieben, und mit einem Blick auf seine Uhr berechnet er, ob es noch gelingen kann, mit der guten Nachricht vor der schlimmen zu kommen. Wohl kaum.
»Du, Harro! Für wen hast du das gemacht?«
»Nun, für mich und meine Kinder.«
»Du hast doch keine und du brauchst keine.« »So, brauch ich keine?«
»Sieh die schöne Maria; wenn die Kinder kommen, dann lärmen sie und fassen an; und gehen sie fort, so hat gewiß die liebe Kuh nur noch drei Beine.«
»Meinst du, ich könnte nicht Ordnung halten in der Bande?« und er reckt einen langen, Respekt gebietenden Arm aus.
»Du brauchst keine Kinder, du hast ja mich.« Halb ängstlich, halb trotzig sagt sie's.
»Dich hab ich nur noch eine Stunde, Seelchen.«
Es ist ein Schatten über die Weihnachtsfreude gekommen.
»Eine Stunde noch, dann hoff ich, daß dein Vater da sein wird, dein lieber Vater.«
Sie zuckt zusammen, und eine feine finstere Falte steht auf ihrer Stirn: »Du hast nach ihm geschickt.«
»Sie sind in Angst um dich.«
»O, nun wird er böse sein, wie im Leben nicht! Und dann sagt er, was er immer sagt: ›Sie hat mir immer nur Kummer und Sorge gemacht, die arme Kleine.‹«
»Nein, das wird er nicht mehr sagen. Du machst ihm jetzt Freude. Seelchen! nun hast du ja die rechten Worte gefunden.«
»Hab ich?«
»Die richtigen Worte, mit denen man alles sagen kann, was man lebt!«
»Ist das, weil du mir den rechten Namen gegeben hast? O sag ihm, daß ich Seelchen heiße; aber wenn ich nicht dabei bin, mußt du's tun. Oh, du bist klüger als alle anderen: sag mir schnell, weiß Maria schon, wenn sie das Kindlein hält in ihrem lieben Arm und es zudeckt mit ihrem Haar, – wenn ich ein Kindlein habe, mache ich es auch so, daß die bösen Leute nicht einmal hereinsehen können, – weiß sie, was mit dem Kindlein wird?«
»Nein, das weiß keine Mutter.«
»Meine auch nicht, sonst hätte sie mich mitgenommen. Und dann wird er groß, und die Menschen tun ihm Leids an. Und ist es wahr, daß sie hat dabei stehen müssen und sehen, wie sie ihn tot machen?«
»Seelchen, komm, nicht weinen! Du hast zu viel erlebt heute.«
Sie sieht ihn mit ihren sanften Augen verwundert an, über ihre schmalen Wangen rinnen noch die Tränen.
»Ja, mußt du denn nie weinen, wenn du daran denkst?«
Es ist ganz still in der großen Stube, nur in den Tannen knistert's, es fällt ein Wachs herunter und die Wachslichter, die so schnell vergehen, neigen sich schon. Das Kind wartet nicht auf Antwort. Es sieht hinein in den Rosenschein, auf die schlafende Maria und das so süß geborgene Kindlein. Es ist jene Stille, die so selten ist in unserer hastenden und jagenden Welt voll guter und voll schlimmer Werke. Jene Stille, in der unsere Seele zur Harfe wird, worin sich die Töne der Ewigkeit verfangen. Und es webt sich fester und fester, das goldene Band aus der Himmelspforte im kristallenen Wald. Und weil er eine Künstlerseele in sich trägt, die in Bildern und Tönen denkt, so sieht er im Geiste wieder die Prachtstraße, die nach der Himmelstüre führt, und das Seelchen, das Sonnenkränzlein auf dem Haupt, geht ihm voran, und dort steht im goldenen Glanz das himmlische Vaterhaus, das für ihn die Gestalt der eigenen für immer verlorenen Heimat trägt. Und davor in dem allerherrlichsten Bilde, das uns der Sohn von der Gottesliebe gemalt, der Vater, der ausschaut nach dem wegemüden, dem sündenbestaubten und heimwehkranken, dem verlorenen Sohn. Ein tiefer Seufzer hebt die breite Brust, und indem er sich löst, hat seine Seele den ersten Pfeil ihrer Sehnsucht nach dem ewigen Ziele gesandt.
Und nun kommt die Scheiterlein herein, den dampfenden Brei in buntglasierter Schüssel; das Seelchen bekommt nur ein paar Löffel hinunter. Zuviel ist heute auf sein kleines Herz eingestürmt.
»Nimm mich in deine Arme, ich will noch in die Krippe hineinsehen.« Eine kurze Weile sehen die großen grauen Augen in die erlöschende Glut, dann schließen sie sich, ein Traum wirft seinen bunten Mantel um das Seelchen.
Ganz von ferne klingt in seine farbigen Bilder hinein die wohlbekannte Stimme: »Meine Kleine, meine arme Kleine, wer hätte ihr das zugetraut!«
»Papa,« flüstert sie... und dann schießt das Traumboot wieder mit dem Seelchen an vielen seltsamen Gestaden vorbei, bis es Halt macht an einem grauen Morgenufer.
Vor dem langen Kaliban in seiner Wolljuppe, der eben mit der Schneeschippe einen Weg bahnt schnurgerade vom Tor zur Ruine, steht ein schokoladebrauner Lakai mit einem Billett und schnarrt: »Sogleich abgeben.« Der Kaliban nimmt das Billett in seine hornenen Riesenhande und geht zu der Türe und damit sofort ins Innerste des Thorsteiner Schlosses. Der Haus- und Schloßherr hantiert an seiner Staffelei mit farbigen Kreiden auf einem großen grauen Tonbogen. Auf seiner Stirne entsteht eine senkrechte Falte, als er den Brief liest. Es ist eine in die liebenswürdigsten Worte gekleidete Einladung zu der heutigen Weihnachtsbescherung... »Meine Kleine scheint Ihr Kommen sehr zu erhoffen.« Der lange Thorsteiner dreht die Karte in grimmiger Verlegenheit in den Händen. »Donnerwetter.... mein alter grünschwarzer Rock da drüben!« Seine Hand fährt in seinen kurzen braunen Lockenschopf. »P. S. Wir werden nach der Bescherung ganz unter uns sein ...« Und zwischen den Zeilen sehen ihn bittende Augen an. »Da ist nichts zu wollen,« murmelt er, »... trotz dem Schwarzgrünen.« Und mit seinen langen Schritten eilt er hinaus in den Hof, wo der Schokoladebraune, mit der dieser Menschenrasse eigentümlichen Mischung von Verachtung und Herablassung, sich mit dem Kaliban zu verständigen sucht. Vor der hohen Gestalt des Grafen schnellt er aber sofort in seine korrekte Haltung zurück.
»Melden Sie Seiner Durchlaucht, daß ich kommen werde.«
Denn der Thorsteiner gibt sich nicht unnötig mit Papier und Tinte ab. Kaum ist der Schokoladene verschwunden, so ruft er mit Donnerstimme:
»Märt, die Kiste 4 + 6.« Was den musikalischen Brunnen zu einem beifälligen Gemurmel veranlaßt. Denn Kaliban ist schwerhörig.
Früher, als sein Übel sich noch nicht so fühlbar machte, war er Bursche gewesen bei des Grafen Vater, dann war er Bauernknecht geworden, und obgleich ihn seine Herren wegen seiner Riesenkräfte und seiner treuen Arbeit wohl schätzten, hatte seine zunehmende Schwerhörigkeit es ihm immer schwerer gemacht, mit seinen Mitknechten auszukommen. Er wurde gehänselt, oder kam sich so vor, – ein kleines rotköpfiges Minele wollte nur Spott mit seiner scheuen Liebe treiben, und so wäre er, den seine Riesenkräfte und sein schnell auflodernder Zorn fast zu einem gefährlichen Menschen machten, schier in eine schlimme Sache hineingekommen.
Eines Abends, als er in der halbdunkeln Scheune saß, neben dem letzten noch nicht abgeladenen Heuwagen, und zu seinem immer mehr umsponnenen Ohr die gedämpften Stimmen der Knechte und Mägde drangen, wie sie schäkerten und lachten, und er die hohe Stimme des roten Minele und die krähende des schönen Beckenkarl und dazu seinen Namen zu verstehen glaubte, da hatte sich sein einsamer dumpfer Schmerz plötzlich in einen aufsteigenden heißen Zorn verwandelt.
An dem Abend war er nicht zum Nachtmahl erschienen, und die Nacht hatte ihm einen furchtbaren Traum gebracht. Die Hecke mit den alten Eichenknüppeln, einen Menschen auf dem Gesicht in einer roten Lache liegend, daneben steht seine alte Mutter mit der schwarzen Florhaube, das große silberbeschlagene Gesangbuch im Arm, ganz so, wie sie ihm sein Erinnerungsguckkasten am liebsten zeigt, und hebt entsetzt ihre Hände auf.
Am andern Morgen hatte er seinen Dienst gekündigt mit so wilden Gebärden, daß der Bauer den unheimlichen Menschen trotz der dringenden Arbeit hatte ziehen lassen. Er war dann in seine Heimat gegangen, obgleich er das alte Mütterlein nur an dem Hügel mit dem schwarzen Holzkreuz darauf besuchen konnte, und hatte getaglöhnert. Ein finsterer und unzugänglicher Geselle, dem die Kinder scheu aus dem Wege liefen.
Da war er eines Tages im Holzschlag dem Sohn seines früheren Herrn begegnet, der mit seiner Staffelei vor einer Waldwiese saß. Der hatte ihn sofort erkannt und ihn freundlich angeredet. Die Stimme erweckte die schönsten Erinnerungen aus seiner Dienstzeit, wo er noch ein ganzer Mensch, ein vorzüglicher Soldat gewesen war. Wenige Tage darauf erschien er nach Feierabend in der Ruine und begann an einem Steinhaufen abzutragen, Schutt auszulesen und ihn in den tiefen Graben zu werfen. Als der Graf heraustrat, grüßte er militärisch und fuhr in seiner Arbeit bis zum Dunkelwerden fort. Eine Belohnung wollte er nicht dafür annehmen, da es nach Feierabend sei. So war er eine Zeitlang gekommen, kaum daß er einen Trunk oder ein Stück Brot dafür annahm. Es schien ihm zu genügen, daß er nur in der Nähe eines Menschen war, der ihn in seiner früheren guten Zeit gekannt.
Nun hatten aber bald einige günstig angebrachte Entwürfe den Herrn in den Stand gesetzt, für einige Zeit einen eigenen Taglöhner halten zu können. Da zimmerte sich der Märt aus noch wohlerhaltenen Balken, wie sie zuweilen doch aus dem Schutt hervorkamen, eine kühne spindelige Treppe vom Schutthügel aus bis zu einer Mauerlücke im Bergfried, die er verbreiterte, so daß er sich mühsam hineinzwängen konnte. Die Wendeltreppe führte noch hinauf zu einem Stübchen, in dem ein Taubenschlag gewesen war. Dort richtete er sich ein mit einem weißen Taubenpärchen, das er zärtlich liebte. In diesem etwas luftigen Ort hauste er nun, und an Sonntagen hämmerte, klopfte und bastelte er daran herum. Die Tauben bekamen ihr gesondertes Quartier; die Fensterluken aus alten bleigefaßten Scheibenstücken, die sich in Resten noch vorfanden, ergaben eine primitive Verglasung. Dann schaffte er, nicht ohne lebensgefährliche Turnkünste, sein Bett, seine Truhe, ein handgroßes Spiegelchen und ein großes gerahmtes Bild hinauf. Das Bild stellte ihn dar, wie er in kühner Haltung mit erhobenem Säbel auf einem prachtvollen Schimmel dahersprengte. Sein etwas windschiefer Dickkopf in Photographie auf den Halskragen geklebt. Dies war sein größter Schatz außer dem silberbeschlagenen großen Gesangbuch seiner Mutter, das er in ein rotes Taschentuch gewickelt in seiner Truhe geborgen hatte. Das Bild wurde mit großer Mühe an der rauhen Wand befestigt, Bett und Truhe aufgestellt, und die Einrichtung war im Rohen fertig. Der Graf warnte ihn freilich, er werde von da aus viel weiter an seine Arbeitsstätte haben, aber der Märt meinte, er wolle nur noch im Winter, wenn nichts mehr in der Ruine zu schaffen sei, in den Holzschlag gehen und sein frei Quartier in der übrigen Zeit mit Arbeit wett machen.
Zuerst wollte es dem Thorsteiner angst werden, wie er auch noch einen zweiten Menschen erhalten sollte, aber es mußte doch eine merkwürdige Kraft liegen im Heimatboden: hatte er in Berlin sich kaum selbst erhalten können, so trug es jetzt schon, daß zwei Menschen lebten und der Thorsteiner seinem Märt einen Knechtslohn auszahlen konnte.