Grusel-Thriller 04: Heimkehr - Thomas Tippner - E-Book

Grusel-Thriller 04: Heimkehr E-Book

Thomas Tippner

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Beschreibung

Nach Hause kommen ist eine Qual für Ben.Er muss sich seiner Vergangenheit stellen. Einer Vergangenheit, die ihn aus seiner Heimat vertrieb und hoffen ließ, die schrecklichen Ereignisse von einst vergessen zu können.Dann kamen die Träume, die Erinnerungen, die nackte Angst und das Wissen, dass er damals etwas übersehen hatte.Der Feind lebt noch, und Ben kehrt zurück, um endlich Ruhe finden zu können

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Thomas TippnerHEIMKEHR

In dieser Reihe bisher erschienen:

3401 Jörg Kleudgen & Michael Knoke Batcave

3402 Ina Elbracht Der Todesengel

3403 Jörg Kleudgen & E. L. Brecht Der Fluch des blinden Königs

3404 Thomas Tippner Heimkehr

3405 Melanie Vogltanz Die letzte Erscheinung

Thomas Tippner

Heimkehr

Ein Grusel-Thriller

Diese Reihe erscheint als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2021 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckRedaktion: Eric HantschTitelbild: Rudolf Sieber-LonatiUmschlaggestaltung: Mario HeyerSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-957-7Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!

Prolog

Ich kehre zurück, dachte Ben Jonson unweigerlich, und dieser Gedanke begann ihn innerlich zu lähmen. An den Ort, an den ich niemals zurückkehren wollte. Ich muss wahnsinnig geworden sein.

Als er glaubte, sich langsam wieder zu beruhigen, sein Herz nicht mehr wie wild in seiner Brust hämmerte und der harte Druck im Magen besser zu ertragen war, kam die Panik mit aller Macht zu ihm zurück, denn in dem dämmrigen Grau des beginnenden Tages sah er einen aufragenden Hausgiebel vor sich.

Nie im Leben hatte er ernsthaft gedacht, dass allein der Anblick einer sich nur verschwommen vor dem flimmernden Morgenlicht abzeichnenden Hausfassade ihn so in Angst versetzen könnte. Hätte man ihm vor vier Jahren gesagt, dass der Gedanke daran schon ausreichen würde, um ihm die Knie weich werden zu lassen, hätte er denjenigen ausgelacht. Er hätte seinem Gegenüber die schwieligen, rauen Hände in den Nacken gelegt und fest zugedrückt, während er seinem Gesprächspartner genau gegenübersaß. Dabei hätte er sein gewinnendes, bei den meisten Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung Vertrautheit auslösendes Lächeln aufgesetzt und mit einem leicht spöttischen Unterton gefragt: „Was meinst du damit? Ich soll Angst haben vor ein paar Dachziegeln und einem einfachen Haus? Ach komm, hör auf. Was für ein Blödsinn. Man hat nur vor etwas Angst, was man nicht kennt!“

Was falsch war.

Lächerlich.

Es war genauso falsch, wie anzunehmen, dass Unternehmer ernsthaft daran interessiert waren, das Beste für ihre Angestellten zu wollen, oder dass irgendjemand Macht aufgeben und an schwächere, unterprivilegierte Menschen abgeben würde.

Quatsch.

So war es auch mit der Angst.

Sie verschwand nicht, wenn man wusste, was auf einen wartete.

Ganz im Gegenteil! Sie vermehrte sich und steigerte sich letzten Endes zu einem kaum zu berechnendem Faktor und ließ einen glauben, langsam, aber sicher wahnsinnig zu werden.

Ben fürchtete sich nicht nur vor dem, was er nicht kannte, er hatte vor allem Angst. Ehrliche, offene Angst, die ihm den Magen herumzudrehen drohte und ihm so in die Glieder fuhr, dass er sich wie gelähmt fühlte.

Dazu kam noch, dass er seine eigenen vor Kurzem erst gedachten Worte ab absurdum führte, da sie sich ablösen ließen von einem anderem, ehrlicheren, ihn erdrückenden Gefühl der inneren Spannung. Heute würde er sagen: „Man hat das Gefühl, jeder Muskel im Körper entspannt sich und man scheißt oder pisst sich unweigerlich in die Hose, ohne etwas dagegen tun zu können“, und dabei seinem Gegenüber fest in die Augen schauen.

So fest, wie ich auch dem Grauen in die Augen geschaut habe, als es begriff, dass ich die eigentliche Gefahr war. Dass ich es war, der zwei seiner Gehilfen ausgeschaltet hat.

Ich …

Bens Gedanken brachen abrupt ab. Er blinzelte, als er begriff, dass ein Schatten über ihn gefallen war. Dass jemand vor ihm stand, ihn betrachtete und dann mit bissig klingender Stimme sagte: „Endstation. Alle Fahrgäste müssen aussteigen. Auch Sie!“

Ben schaute erschrocken in die Höhe. Er starrte auf den dicken vollbärtigen Mann, der sich vor ihm aufgebaut hatte, und bekam keinen Ton heraus.

„Komm schon“, befahl der Fahrer. „Mach, dass du rauskommst.“

„Ist das hier Two Rivers?“, fragte Ben heiser, wobei er nicht glaubte, dass irgendjemand in seiner Nähe auch nur eines seiner Worte verstehen konnte.

„Klar.“

„Mist!“

Der Busfahrer fixierte Ben kurz, machte einen ungelenken, humpelnden Schritt rückwärts und deutete dann den schmalen Gang entlang. „Da ist der Ausgang!“

Ben, den es unfassbare Überwindung kostete, sich von seinem Platz zu erheben und seinen Blick über das vor ihm liegende, weitläufige Städtchen schweifen zu lassen, das im morgendlichen Dämmerlicht des beginnenden Tages so friedlich aussah, hätte sich am liebsten übergeben. Er wollte nicht zurück, er wollte nicht wieder in die gierigen, sich nach seinem Tod sehnenden, gelb funkelnden Augen blicken. Nicht wieder hinabsteigen in seine Erinnerungen, die er die letzten vier Jahre unten in Texas so mühsam begraben hatte, unter Alltagslasten und einem Neuanfang.

Allein das Wissen, dass er gleich die MainStreet hinauf­gehen und von dort aus zur Flussbrücke gelangen würde, ließ ihn weiche Knie bekommen. Die stille Vorahnung, was mit ihm geschehen würde, wenn er seinen Blick über den Fluss schweifen ließ, ließ seinen Magen verkrampfen.

Ich kehre zurück, dachte er erneut. An den Ort, an den ich niemals zurückkehren wollte.

Ich bin …

1

… so glücklich wie noch nie zuvor in meinem Leben, dachte Ben, während er zu der auf der Parkbank sitzenden, ein Buch auf ihren Knien ruhenden Tara White schaute. Zu jener dunkelblonden, schlanken Frau, die ihn schon vor sechs Jahren auf der High School schier um den Verstand gebracht hatte … die es schaffte, all seine Gefühle in heiße, glühende Funkenflüge zu verwandeln, wenn sie ihn nur anschaute, aus ihren grünen, hell schimmernden Augen … die nur lächeln musste, um Ben debil grinsen zu lassen … die ihn erst gestern Abend, als er sie durch das offene Fenster seines alten Pick-ups gesehen hatte, durch ein Winken beinahe einen Unfall bauen ließ.

Alles um ihn herum war plötzlich in einem rosaroten Schleier der Verliebtheit versunken, sodass er den sanft abbremsenden Van vor sich gar nicht bemerkte. Erst als er in einer unendlich langsamen Kopfbewegung seine Konzentration wieder auf die Straße lenkte, war er wie ein Verrückter auf die Bremse gestiegen. Er hatte das Knirschen des Blechs und das Krachen der Stoßstangen innerlich schon hören können.

Nur um dann, als der Wagen mit einem Ruck zum Stehen kam, von Mister Rogers einen Vogel durch die Rückscheibe gezeigt zu bekommen, der, als die Ampel wieder auf Grün schaltete, anfuhr und sich auf den Weg in Richtung Heimat machte.

Ben, der klopfenden Herzens hinter dem Lenkrad seines Wagens gesessen hatte und nicht wusste, ob sein Herzschlag wegen des Beinah-Unfalls so rasend schnell schlug oder wegen Taras Aufmerksamkeit, hatte das Gefühl, dass ihm die Knie nachgeben würden und dass er es nicht schaffen würde, auf Tara zuzugehen, die Hand zum Gruß zu heben und sie leise mit einem Hi zu begrüßen.

Als er von seinem besten Kumpel Kenny gehört hatte, dass Tara wieder in Two Rivers lebte, hatte ihn allein die Tatsache den Boden unter den Füßen weggerissen. All seine mühsam niedergerungenen Gefühle, all die mit ihr in Verbindung gebrachten vergrabenen Hoffnungen waren sofort wieder an die Oberfläche gespült worden und hatten ihn glauben lassen, dass es die letzten sechs Jahre gar nicht gegeben hatte. Dass er damals nicht wie vor den Kopf geschlagen gewesen war, als er mit dem Fahrrad um die Ecke ihres Hauses gebogen war und gesehen hatte, wie ihr zur Fettleibigkeit neigender Vater ihren Schreibtischstuhl auf die Laderampe eines gemieteten LKWs gehievt hatte.

„Steh da nicht so dumm herum und starr Löcher in die Luft“, hatte Mister White gesagt, als er Ben entdeckt hatte, der gerade einige Lieferungen für die ortsansässige Apotheke ausgefahren hatte. „Hilf uns mal lieber. Wir können noch eine starke Hand gebrauchen!“

„O … okay“, hatte er stammelnd geantwortet, als er sich aus dem Sattel seines Fahrrads geschwungen hatte und schwankenden Schrittes auf den dicken Mann zugegangen war, auf dessen ausgewaschenem T-Shirt sich unter den Armen deutliche handtellergroße Schweißflecken abgezeichnet hatten. „Ziehen Sie um?“

„Sieht ganz so aus, was?“, brummte White, nahm einen Karton entgegen und schob ihn über die Ladefläche zu seinem Kumpel, der eingeteilt worden war, alle ihm gereichten Gegenstände im Inneren des LKWs zu platzieren. „Meine Frau hat gerade den großen Wurf gemacht. Hat ne Beförderung ergattert. Für uns geht es deshalb nach Chicago. Wer hätte das gedacht!“

„Und Tara?“

„Die kommt natürlich mit. Was denkst du denn? Kann sie gleich gucken, ob sie nen anständigen Platz an irgendeinem College dort bekommt!“

Von da an war für Ben alles aus gewesen. Er hatte noch zwei Kartons, die ihm gereicht worden waren, zu Mister Whites Kumpel getragen und dann weinerlich gesagt, dass er nun die restlichen Medikamente austragen müsse.

Tara selbst hatte er nur zwei Mal flüchtig am Wohnzimmerfenster vorbei huschen sehen, dicht gefolgt von ihrer aufgeregten und angespannten Mutter.

All das ging ihm jetzt durch den Kopf, während er auf Tara zuging, sie betrachtete und fand, dass sie noch schöner war als jemals zuvor. In dem warmen gleißenden Sonnenlicht, in dem sie gerade förmlich badete, hatte sie etwas Verträumtes an sich. Das Buch auf ihren Knien, die nackt waren, wie Ben erregt feststellte, las sie vertieft, als er mit einem beinahe schon winselnd klingenden „Ha … ha … hallo“, auf sie zuging und sich wünschte, sein Mund wäre nicht so furchtbar trocken.

„Hey“, begrüßte sie ihn, musterte ihn kurz und fragte dann: „Alles gut bei dir?“

„Klar!“

Sie lachte glockenhell auf und wischte sich eine in die Stirn gefallene Haarsträhne zurück, bevor sie meinte: „Hätte nicht gedacht, dass du wirklich kommst.“

„Wenn du rufst, kann ich nicht anders!“

Sie schmunzelte und rückte ein Stückchen beiseite, sodass Ben sich neben sie auf die Bank setzen und die Beine ausstrecken konnte. Alles, was er sich bis eben ausgemalt und überlegt hatte, war plötzlich wie weggeblasen. Jetzt gab es in ihm nur noch diese unglaubliche Nervosität, die ihn glauben ließ, gleich einen Herzinfarkt bekommen zu müssen, weil er tatsächlich neben Tara saß.

Neben jenem Mädchen, das ihm damals, vor sechs Jahren, das Herz gestohlen hatte. Jetzt, wo er neben ihr Platz nahm und ihren angenehmen Geruch nach Jasmin einatmete, kam es ihm so vor, als würden unzählige nächtliche, feuchte Träume endlich Wirklichkeit werden.

„Es ist wirklich lieb von dir, dass du dir Zeit für mich nimmst“, begann sie, während sie das Buch fest umklammerte und so hielt, dass Ben einen Blick auf den Einband werfen konnte.

Es war Robert Louis Stevensons Die Schatzinsel.

„Wenn du meine Hilfe brauchst, komme ich doch gern her“, murmelte er, noch immer verärgert, dass seine Zunge so unangenehm an seinem Gaumen klebte.

Sie lächelte wieder. „Das ist lieb von dir.“

„So bin ich eben“, versuchte er locker zu klingen, begriff aber, dass er alles war, nur nicht der bei jeder Gelegenheit einen coolen Spruch parat habende Ben.

Ich bin so steif wie ein Brett, dachte er erschrocken, während er bemerkte, wie Tara sich zu ihm wandte, ihn aufmerksam musterte und dazu ansetzte zu sprechen. Doch dann überlegte sie es sich anders und fiel in ein merkwürdiges, belastendes Schweigen. Nicht ein Gedanke will mir kommen. Kein vernünftiger zumindest, schränkte er ein und fragte sich im nächsten Moment, was Tara wohl von ihm wollte.

Warum hatte sie ihn hierher bestellt, obwohl sie sich in den letzten Jahren komplett aus den Augen verloren hatten?

Die wenigen SMS, die sie sich damals geschrieben hatten, waren ebenso schnell in Vergessenheit geraten wie die dann folgenden WhatsApp-Nachrichten. Er hatte ihr zwar irgendwann seine neue Handynummer geschickt und ihr geschrieben, dass er sich freuen würde, wenn sie sich mal bei ihm melden würde, hatte darauf aber niemals eine Antwort erhalten.

Und jetzt das.

Eines Tages hatte sein Handy geklingelt, und bei dem Blick auf das Display hatte Ben verwundert festgestellt, dass es Tara war, die ihn anrief.

Und jetzt sitze ich neben ihr auf einer Bank, mit Blick auf den West-River und kann mein Glück kaum fassen. Ich sitze neben der schönsten Frau, die ich kenne, weiß aber eigentlich gar nichts von ihr.

Dieser Gedanke war es, der Ben seinen eben verloren gegangenen Mut wieder ein wenig zurückbrachte und der ihn sich trauen ließ, zu fragen: „Was … was … gibt es, worüber du mit mir sprechen willst?“

Tara versteifte sich augenblicklich.

Sie schlug die Augen nieder, leckte sich über die vollen, zum Küssen gemachten Lippen und setzte an zu sprechen, doch dann versank sie wieder in ein dumpfes abweisendes Grübeln.

„Ist es vielleicht doch nicht so wichtig, worüber du mit mir sprechen wolltest?“, fragte er schließlich, nachdem zwei LKWs polternd über die West-River Brücke gefahren waren und er in der Ferne Mrs. Shining sah, die in Richtung Walmart humpelte.

„Doch, doch“, meinte sie hastig und fragte dann: „Kennst du das Gefühl, wenn du etwas loswerden willst, was dir förmlich unter den Nägeln brennt, du es dann aber nicht in die richtigen Worte packen kannst?“

Er zuckte mit den Schultern und wollte zuerst antworten. Nein, das weiß ich nicht, denn ich rede immer so, wie mir der Schnabel gewachsen ist, doch dann bemerkte er wieder die Trockenheit in seinem Hals.

In deiner Nähe weiß ich einfach nicht, was ich sagen soll. Du machst mich zu einem hirntoten Affen, der sich am liebsten auf dem Rücken legen will, in der Hoffnung, niemals wieder von irgendjemanden angesprochen zu werden, weil das Ganze nur peinlich werden kann.

Dieser Gedanke nahm noch einmal an Fahrt auf, als er merkte, dass er gerade nichts anderes tat, als dämlich zu grinsen, und nicht wusste, wie er dieses Grinsen wieder abstellen konnte.

Du schaffst es, mich mit einem einzigen Blick fassungslos zu machen.

Überall wo ich hinkomme, liegt mir nichts anderes auf den Lippen als ein „Hey, schön dich zu sehen. Ich habe gehört, dass dein Vater wieder zurück ist. Wie geht es dir dabei?“, oder „Das Bier hier ist für mich, dass da für meinen Kumpel und der Sekt ist für die nette junge Dame, die mich so freundlich anlächelt.“

Ich habe bisher noch jede Situation zu nehmen gewusst.

Jede.

Hier aber … benehme ich mich wie ein Idiot.

„Es war ein Fehler, dich anzurufen“, erwiderte Tara plötzlich, umklammerte Die Schatzinsel fester und erhob sich mit einem Ruck von ihrem Platz.

„Warum?“

„Nicht so wichtig. Aber es ist toll, dass du dir die Zeit genommen hast und deine Pause für mich geopfert hast. Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder!“

„Tara!“

Ben, der bisher noch in jeder Lebenslage und in jeder unüberschaubaren Situation gewusst hatte, wie er sich zu verhalten hatte, fühlte sich hier plötzlich wie in einem dunklen Raum. Einem Raum, ähnlich jenem, in dem Edgar Alan Poes Hauptfigur in Die Grube und das ­Pendel erwacht war und einfach nicht begreifen konnte, wie er dorthin gekommen war und wie er wieder von dort verschwinden konnte.

„Es tut mir wirklich leid. Ich melde mich irgendwann wieder bei dir!“

„Aber …“

Sie winkte ab. „Schon gut. Vergiss einfach, dass ich mit dir reden wollte.“

„Hä?“, antwortete er, drehte die Handinnenflächen verwirrt nach außen und rief ihr hinterher: „Wie soll ich das …“

A

„… vergessen können, wenn der Penner mir noch dreißig Dollar schuldet. Alter, Mann, der Typ versucht, mich um mein Geld zu bescheißen! Bin einfach zu freundlich zu solchen Pennern. Hätte ich das Paket bloß nicht schon abgeschickt.“

Ben, der schweren Schrittes den Bus verlassen hatte und nur flüchtig den Blick hob, während er über den kleinen ZOB huschte und hinüber zu dem telefonierenden Kerl schaute, hasste die auf ihn einstürzenden Erinnerungen.

Wie er Tara hinterhergeschaut und nicht geahnt hatte, was für merkwürdige Schicksalswindungen sie später erneut aufeinandertreffen lassen würden.

Während er den dunstigen Nebelschleier betrachtete, der vom East River aufzog und sich fächerartig an den Uferböschungen ausbreitete und langsam auf die Häuser zukroch, in denen nur vereinzelt Lichter brannten, und diese wabernd umschlossen, wurde ihm bewusst, dass er sich gegen diese Flashbacks einfach nicht wehren konnte. Es war ihm unmöglich, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, der ihn nicht in die Vergangenheit führte.

Der nicht mit dem Finger auf ihn zeigte und ihm zuraunte. Du bist schuld an dem ganzen Dilemma.

Du hast damals alles falsch gemacht.

Du bist schuld daran, dass hier niemand vergessen kann.

Dass du nicht vergessen darfst!

Ben zuckte zusammen, als er den telefonierenden Mann sagen hörte: „Im Irgendwo in einem Kaff im Nirgendwo. Scheiße Mann, wir waren nur zu viert im Bus, und keiner sah aus, als wollte er hier aussteigen!“

Nachdem er den Kragen seiner Daunenjacke höher geschlagen hatte, hob er den Blick und schaute durch das dämmerige Licht des Morgens zu dem Mann, der mit dem Handy am Ohr dastand, die linke Hand in der Tasche seiner Lederjacke vergraben.

So merkwürdig es auch war und so seltsam es auch klang, der Mann tat Ben gut. Nicht, weil er etwas an sich hatte, was Ben an frühere, ungezwungenere Zeiten erinnerte. Was ihm an dem Mann gefiel, war das Fremde. Das Wissen, dass er dem Unbekannten ins Gesicht sehen konnte, ohne von Erinnerungen überflutet zu werden, oder er sich mit ihm auf schuldhafte Art und Weise verbunden fühlen musste.

Was Ben normalerweise mit sorgenvoller Miene in die Zukunft blicken ließ, war hier nicht vorhanden. Er musste keine Angst haben, dass der Mann ihm ärgerlich entgegentreten und mit harten Worten von ihm verlangen würde, dass er verschwand.

Ben hörte, wie der Mann sagte: „Der nächste Bus kommt in zehn Minuten. Ich hoffe, dass ich dann etwas arbeiten kann. Wir hören uns!“ Danach trat er auf die Straße. Als er die Mitte erreichte, kam ihm ein unangenehmer, ihn beinahe in die Knie zwingender Gedanke. Lass dich doch einfach von dem nächsten heran rasenden LKW überfahren. Bleib stehen und warte. Mach keine Bewegung mehr. Noch ist es dunkel. Deine Kleidung ist schwarz. Er wird dich erst sehen, wenn es zu spät ist.

Wenn du Mut hast, dann bleibst du stehen.

„Das wäre feige“, murmelte er leise, während er in der Ferne die Doppelscheinwerfer eines schweren Last­wagens aufblitzen sah, der aus Westen kam und zum Highway wollte. Er versuchte, den durch seinen Kopf schießenden Gedanken zu ignorieren.

Doch das gelang ihm nicht.

Ganz und gar nicht.

Während er weiter in den anbrechenden Morgen huschte, wurde ihm bewusst, dass es gar nicht seine ­eigenen Gedanken waren, die ihm gerade durch den Kopf gingen … dass nicht er dachte und fühlte, sondern ER es war, der ihn aufzuhalten versuchte … dass ER gerade dabei war, die damals in Ben gelegte Saat aufgehen zu lassen.

ER kann aber nicht mehr leben, dachte Ben gequält und hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

Ich habe ihm schließlich mitten ins Gesicht geschossen. Ich habe gesehen, wie die Kugel unterhalb seines Kiefers in den Schädel eingedrungen und an seinem Hinterkopf wieder ausgetreten ist.

Scheiße, Mann, ich habe gesehen, wie das gott­verdammte Gehirn des Bastards sich fächerartig an der Wand verteilt hat.

Trotzdem bin ich jetzt hier, dachte er erneut und fand, dass der gerade an ihm vorbei donnernde LKW plötzlich doch eine verlockende, ausgesprochen lohnende Alter­native zu dem war, was ihn hier in Two Rivers erwartete.

Besonders in dem Moment, als er die Stimme hörte.

Ihre Stimme.

Nur mit dem Unterschied, dass sie jetzt nicht mehr freundlich und nett klang, sondern heiser, verbraucht und voller Wut und Zorn.

„Was willst du hier, du …“

2

„… bist aber früh. Ich habe noch gar nicht mit dir gerechnet. Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen?“, fragte ihn Alice, als sie die Tür ihres Elternhauses öffnete und den Kopf nach vorne beugte, um ihre langen, roten, lockigen Haare mit einem Handtuch abzutrocknen.

„So ähnlich, ja.“

„Du kannst natürlich gern reinkommen“, sagte seine Kollegin und gab die Tür frei, indem sie in den schmalen Hausflur trat, von dem zwei große, geräumige Zimmer abgingen, und der geradewegs auf die unordent­liche Wohnküche zuführte, „wenn es dich nicht stört, dass meine Eltern gerade Football gucken.“

„Überhaupt nicht.“

„Dann kannst du gern mein Gast sein.“