Edgar Wallace - Neue Abenteuer 06: Die verlorenen Mädchen von London - Thomas Tippner - E-Book

Edgar Wallace - Neue Abenteuer 06: Die verlorenen Mädchen von London E-Book

Thomas Tippner

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Beschreibung

Junge Mädchen verschwinden aus Londons Heimen und tauchen später bei stadtbekannten Kriminellen auf. Pommeroy und seine Verlobte Gloria gehen diesen mysteriösen Vorfällen nach und kommen einem Geheimbund auf die Spur.

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In dieser Reihe bisher erschienen

1901 Dietmar Kuegler Der unheimliche Pfeifer von Blending Castle

1902 Dietmar Kuegler Die goldenen Mönche

1903 Thomas Tippner Im Bann des Erlösers

1904 J. J. Preyer Der Spieler

1905 Reiner F. Hornig Das Geheimnis der toten Augen

1906 Thomas Tippner Die verlorenen Mädchen von London

1907 Thomas Tippner Die Flussratten von London

1908 Thomas Tippner Der Kreis der Verschworenen

1909 Reiner F. Hornig Das Erbe des Magiers

Die verlorenen Mädchen von London

Edgar Wallace - Neue Abenteuer

Buch 6

Thomas Tippner

Als Taschenbuch gehört dieser Roman zu unseren exklusiven Sammler-Editionen

und ist nur unter www.BLITZ-Verlag.de versandkostenfrei erhältlich.

Bei einer automatischen Belieferung gewähren wir Serien-Subskriptionsrabatt.

Alle E-Books und Hörbücher sind zudem über alle bekannten Portale zu beziehen.

Copyright © 2022 Blitz Verlag, eine Marke der Silberscore Beteiligungs GmbH, Mühlsteig 10, A-6633 Biberwier 

 Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Umschlaggestaltung: Mario Heyer

Logo: Mark Freier

Satz: Gero Reimer

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN: 978-3-95719-076-5

1906 vom 25.08.2024

Inhalt

1. Süßwassermatrose

2. Ein junges Mädchen und eine alte Dame

3. Gespräche mit Männern

4. Junge Leute und Rätsel

5. Ein Treffen im Dunkel der Nacht

6. Tote

7. Angst um das eigene Leben

8. Dummheiten und Rettung

9. Wer sind die Mädchen?

Über den Autor

Kapitel1

Süßwassermatrose

Die Arbeit bei der Wasserschutzpolizei setzte Eugen Miller extrem zu. Nicht nur, dass er sich seit gut zwei Jahren fast jede Nacht um die Ohren schlug, er ertrug die Dienste auch einfach nicht mehr. Sie machten ihn vollkommen fertig und laugten ihn aus. Wenn er morgens erschöpft ins Bett fiel, wusste er schon genau, dass er schlecht schlafen würde, und wenn er die Augen am späten Mittag oder am frühen Nachmittag wieder öffnete, kam es ihm vor, als würde ein tonnenschweres Gewicht auf seiner Brust lasten und ihn unnachgiebig tiefer in die durchgelegene Matratze drücken.

Eugen gähnte.

Er schaffte es kaum noch, die Augen offen zu halten. Der bleiche, durch die dicht am Himmel entlang ziehenden Wolken fallende Mondenschein glitzerte auf der Themse. Die Wellen klatschten in einem monotonen, immer wiederkehrenden Rhythmus gegen den Bug des Schiffes. Der auffrischende Wind kroch Miller unangenehm unter die Uniform und ließ ihn fröstelnd die Schultern heben. Er seufzte leise und verfluchte innerlich seine momentane Situation.

Nicht nur, dass er immer nachts arbeiten musste und dadurch all seine Freunde, vor allem aber Sue vernachlässigte – was ihm am meisten zusetzte, war, dass er heute auch noch mit dem faulen und nichtsnutzigen Mike Behrs arbeiten musste. Ein aufgeblasener, wichtigtuerischer Blödmann, der meinte, alles und jeden herumkommandieren zu können. Ein unangenehmer und absolut widerlicher Kerl, dem Eugen am liebsten aus dem Weg ging. Auch wenn das bedeutete, dass er die ganze Nacht draußen am Bug des Schiffes stehen musste, um die eiserne, eiskalte Laterne zu bedienen und ihren Schein geradlinig über das dunkle, unruhige Wasser der Themse leuchten zu lassen.

Das Einzige, was ihn bei all der Trübsinnigkeit aufrecht hielt, war der kurze, intensive Gedanke an Sue gewesen, der ihm ein Kribbeln im Bauch bescherte.

Sie war das Mädchen, das ihm seit nunmehr zwei Jahren die Treue hielt. Die ihn stets aufmunterte und ihm gut zusprach, wenn er erschöpft und immer noch müde erwachte und sein Schicksal verfluchte, bei der Wasserschutzpolizei arbeiten zu müssen.

„Du weißt, wofür du das machst“, sagte sie ihm dann immer, wenn er an der Bettkante saß, den Kopf in den Händen vergrub, und sich nichts lieber wünschte, als seine ins Stocken geratene Karriere wieder aufnehmen zu können.

„Ja“, brummte er dann.

„Also sei froh darüber.“

Er lächelte dann immer pflichtbewusst, schaute in das schneeweiße, von roten Sommersprossen dominierte Gesicht seiner Sue und fragte sich, womit er so viel Glück verdient hatte, so eine Frau an seiner Seite haben zu dürfen. Eine Frau, die hundert andere Männer glücklich machen könnte. Bessere Männer ... reichere Männer ... Männer, die in den letzten vier Jahren nicht unentwegt die falschen Entscheidungen getroffen und dadurch ihren Weg aus den Augen verloren hatten.

Doch Sue hatte sich bewusst für ihn entschieden. Als er vor dem Pub gestanden und in die Ferne geschaute hatte, voll und ganz in der verlorenen Hoffnung gefangen, es bei dieser tollen Frau ein für alle Mal versiebt zu haben, hatte sie nach seiner Hand gegriffen.

Sie war tatsächlich zu ihm gekommen, hatte seine aufgeplatzte Lippe vorsichtig mit einem Taschentuch abgetupft und ihm ins Ohr geflüstert: „Du musst dich meinetwegen nicht schlagen. Schon gar nicht mit Bruce.“

Er hatte nichts darauf erwidert.

Was hätte er auch schon sagen sollen?

Dass Bruce es verdient hatte, weil er unfassbar herablassende Sprüche und eine Geste gemacht hatte, die klargemacht hatte, was er mit Sue anstellen wollte, wenn sie erst einmal den Weg in sein Bett gefunden hatte?

Es war Eugen unmöglich gewesen, Sue nicht zu verteidigen. Dass sich danach direkt eine Horde von Bruce’ Freunden auf ihn stürzen würde, nachdem er Bruce einen heftigen Schlag gegen die Brust versetzt und gesagt hatte: „So redest du nicht über Sue“, hatte er ja nicht ahnen können.

Wie so vieles andere auch nicht.

Er hatte mal wieder seinen Impulsen nachgegeben und dadurch nicht nur einige unangenehme Schläge und Tritte gegen Kopf und Brust eingesteckt, sondern war auch im hohen Bogen aus der Kanzlei geworfen worden, in der er gearbeitet und in der er vorgehabt hatte, innerhalb der nächsten zehn Jahre Partner zu werden.

All seine Träume und Hoffnungen waren dahin.

Bis auf Sue, dachte er, während sein Blick weiterhin gelangweilt und teilnahmslos dem Lichtstrahl über das raue Wasser der Themse folgte. Er sah das langsam an ihnen vorbeiziehende Ufer und die gemauerte Kaianlage des Hafens nur schemenhaft. Genauso wie die Schuppen und Lagerhallen im Herzen Londons und die unzähligen Kneipen, Wirtshäuser und heruntergekommenen Kaschemmen, in denen noch heruntergekommenere Gäste ihren Platz in der Nacht fanden, um den Frust des Tages mit einem Ale herunterzuspülen.

Bei dem trüben Anblick, der sich ihm bot, waren die Gedanken an seine Sue das Einzige, was sein Herz erwärmte. Unwillkürlich musste er an jenen schicksalhaften Tag zurückdenken, als er seinem Kanzleikollegen und zugleich dem Sohn des Inhabers einen Hieb verpasst hatte.

Sie hat mir nicht nur das Blut von der aufgeplatzten Lippe getupft und mir Mut zugesprochen, sie hat mir auch einen sanften Kuss auf die Wange gehaucht und mir eine verschwitzte Haarsträhne aus der Stirn gestrichen.

Außerdem hat sie mir gesagt, dass sie es nett fand, dass ich mich für sie eingesetzt habe, und dass sie weiß, dass ich alles für sie tun würde.

Aber mich ihretwegen schlagen, sollte ich mich bitte niemals wieder. Es machte nämlich zu viel kaputt ... nicht nur Karrieren, sondern auch Menschen.

Nachdem ich meine Arbeit verloren und keine neue in irgendeiner anderen Kanzlei finden konnte, hatte sie mir vorgeschlagen, dass ich mich doch nach etwas ganz Neuem umsehen sollte. Ich sollte nach einer Chance suchen, die es mir ermöglichte, die Schulden begleichen zu können, die ich wegen der Pferdewetten angehäuft hatte.

Warum habe ich nur mit dem Glücksspiel angefangen?, fragte er sich jetzt und gab sich dann selbst die Antwort. Weil es jeder in der Kanzlei getan hat. Wirklich jeder. Alle haben sie gewettet, es war schließlich genügend Geld vorhanden.

Man hat jeden Monat viel mehr verdient, als man verloren hat.

Bis man seine Arbeit verliert ... und einem die Schulden plötzlich über den Kopf wachsen.

Doch Eugen wollte jetzt nicht weiter an die Vergangenheit und an seine Verfehlungen denken. Er wollte nicht daran erinnert werden, wie er seine Karriere und sein Leben ruiniert hatte.

Du hast immer noch Sue, dachte er sanft lächelnd und wollte sich für dieses Glück am liebsten selbst auf die Schulter klopfen, als seine Gedanken plötzlich ins Stocken gerieten. Im ersten Augenblick dachte er, dass er sich geirrt hatte, und dass die immerwährenden, das Boot zum Schwanken bringenden Wellen seine Blicke verzerrt hatten und ihm nur irgendeine Lichtreflexion dort hinten am sandigen Kai den regungslos und halb im Wasser liegenden Körper vorgaukelten. Aber als er seine Augen zusammenkniff, seine Stirn runzelte und sein Herz wie wild in seiner Brust zu hämmern begann, wusste er, dass er sich nicht getäuscht hatte ... dass weder die Wellen noch das Mond- oder Scheinwerferlicht seinen müden und nur noch auf Sparflamme laufenden Sinnen etwas vorgemacht hatten.

Dort lag tatsächlich jemand.

„Mike“, rief er über seine Schulter hinweg gegen den leise pfeifenden Wind an. „Lass die Maschinen stoppen!“

„Wie bitte?“, erklang es brummend, übellaunig und verschlafen aus der warmen Kabine.

„Maschinen stopp!“

„Warum?“

„Tu es einfach!“, rief Eugen und richtete den Scheinwerfer erneut auf die Stelle, wo er den Körper entdeckt hatte ... von dem am Sandstrand auslaufenden Wellen umspült und in einem grotesken, ekelerregenden Tanz gefangen, der die leblosen Arme immer wieder dazu brachte, sich zu heben und zu senken, als wolle die Person ihnen auf obskure Art und Weise zuwinken.

„Hast du etwas gesehen?“

„Ich habe etwas gefunden“, antwortete Eugen und schluckte schwer, als ein Ruck durch das Boot ging.

Als sie sich dem regungslos im Wasser treibenden Körper näherten, begann Eugen seine Arbeit noch mehr zu verabscheuen, als er es sowieso schon tat. Leichen bedeuteten nämlich meistens Ärger ...

* * *

Ärger, den Ebenezer Pommeroy durchaus nachvollziehen konnte. Denn der aus der Themse gezogene Mann bot ihnen keinerlei Hinweis auf seine Herkunft, geschweige denn auf seine Identität.

Pommeroy, der seit dem Erlöser-Fall innerhalb von Scotland Yard den Ruf genoss, aus den unmöglichsten Fällen das Maximale herauszuholen, wusste in diesem Fall beim besten Willen nicht, wo er ansetzen sollte. Er konnte weder mit dem Gesicht des Mannes noch mit dessen Tätowierungen, geschweige denn mit dem Inhalt seiner Taschen etwas anfangen.

Das Einzige, was ihm ein wenig Mut machte und ihn glauben ließ, so etwas wie eine winzige Spur zu haben, war die Kleidung des blonden Mannes gewesen. Denn er hatte ein Hemd mit einem breiten Kragen getragen, festes, mit Nägeln und breiter Ledersohle versehenes Schuhwerk, und noch dazu hatten sie gut zwanzig Meter entfernt im Wasser treibend eine Matrosenmütze gefunden.

Alles deutete also darauf hin, dass er es hier mit einem Matrosen von einem der zahlreichen Frachter zu tun hatte, die London seit Jahren anliefen und Tonnen an Fracht in die, die Welt beherrschende, Metropole spülten.

Was Pommeroy allerdings verwirrte, war, dass weder die Mütze noch die Kleidung zu einer der in London registrierten Gesellschaften gehörte. Die Mütze war vom Wasser aufgeweicht und um ihre Stabilität gebracht worden, während das Hemd klatschnass vom Körper des Toten geschält worden war, doch beides hatte weder einen in London bekannten Schnitt noch die entsprechende Farbe aufgewiesen.

Selbst die Stiefel stammen augenscheinlich nicht aus einer der zahlreichen Fabriken, dachte Pommeroy, während er in der kühlen, beinahe schon eisig kalten Leichenhalle vor der Leiche stand und sich ein Taschentuch vor die Nase hielt, um den ihn umgebenden Gestank fernzuhalten. Die in und um London herum aus dem Boden geschossenen Fabriken produzierten alle einheitliche Waren.

Diese Schuhe hingegen sind handgefertigt und beinahe schon edel. So, als habe der Mann ordentliches Geld verdient.

Als Matrose?, fragte Pommeroy sich dann, da er wusste, dass die Heuer der Seeleute in den letzten Jahren und besonders wegen des gerade einmal vier Jahre zurückliegenden Börsenkrachs empfindlich geschrumpft war. Solche Schuhe, aus gegerbtem Leder, mit genagelten Sohlen und eisernen Verschlüssen, fand man nicht in den zahlreichen Läden, die schnell und billig produzierte Waren veräußerten. Diese Schuhe waren von einem Könner seines Fachs hergestellt worden. Die hätte er sich nur dann leisten können, wenn er nebenbei noch Geld verdient hätte.

War er ein Schmuggler gewesen?

Ein in Ungnade gefallenes Mitglied der Flussratten?

Dieser Gedanke war ihm unweigerlich gekommen, da die berüchtigte Bande aus Schmugglern, Halsabschneidern und Schlägern sich wie die Pest in ganz London ausgebreitet hatte. Es verging nicht ein Tag, an dem bei Scotland Yard nicht ein Hinweis einging, wo das Versteck der berüchtigten Bande lag.

Das Problem an der ganzen Sache war allerdings, dass, sobald sich Pommeroy oder einer seiner Kollegen der Sache annahm und den Hinweisen nachgingen, sie entweder ein heruntergekommenes Haus vorfanden, in dem sie ärmliche, vor Dreck starrende Menschen mit erschrocken und erstickt klingenden Stimmen fragten, was sie denn verbrochen hatten, oder einfach nur verlassene Lagerhallen.

Pommeroy war bewusst, dass er es mit einer hohen Vernetzung vieler krimineller Organisationen zu tun hatte. Menschen, die alles daransetzten, die vom Königshaus und der Regierung geschaffenen Gesetze und Zölle zu umgehen.

Als er den vor ihm auf dem Tisch liegenden Toten betrachtete, regte sich plötzlich etwas in dem hochgewachsenen, schlanken Pommeroy, das er nicht genau definieren konnte. Es war ein merkwürdiges Gefühl des Zweifels, ob die Theorie, die er sich gerade zusammensponn, wirklich passte.

Es kam ihm so vor, als würde er etwas übersehen.

Die blasse Haut des Toten wies Leichenflecken und Anzeichen deutlicher Unterkühlung auf.

„Ein Messerstich“, murmelte er überrascht, als er sich, das Taschentuch noch fester vor Nase und Mund pressend, vorbeugte und die Wunde in der rechten Hüfte des Opfers betrachtete. „Und zwar von einer doppelschneidigen Klinge.“

Pommeroy verdrängte den in sich aufsteigenden Ekel, die kalte Haut des Toten an der Stelle zu berühren, wo das Messer in seinen Körper gedrungen war.

Denn Wundränder konnten viel darüber aussagen, wie die Waffe in den Körper gedrungen und das Opfer verletzt hatte. Waren sie rissig und zerfetzt, war von einer stumpfen Klinge auszugehen, oder die Tat war von einer ungeübten Hand ausgeführt worden, die von dem ihr durch Haut, Rippen und Eingeweiden entgegengebrachten Widerstand überrascht gewesen war. Außerdem konnte er durch die Wunde eine Vermutung anstellen, wie lange es gedauert hatte, bis das Opfer seinen Verletzungen erlegen war.

In diesem Fall war der Stich gezielt durchgeführt worden, so, als habe der Mörder ganz genau gewusst, was er zu tun hatte, während der Tote anscheinend keinerlei Widerstand geleistet hatte.

Bedeutete das, dass der Tote seinen Mörder gekannt hatte?

Das war gut möglich.

Hatte der Tote nicht mit einem Angriff gerechnet?

Vielleicht nicht.

Was Ebenezer außerdem auffiel, war, dass es an dem Körper des Toten keinerlei Quetschungen, Schürfwunden oder Prellungen gab, noch nicht einmal irgendwelche Blutergüsse, die auf ein mögliches Handgemenge hindeuteten.

Es schien so, als wäre der Tote tatsächlich das Opfer einer schnell und tödlich verlaufenden Attacke geworden.

Also gab es doch keinen Zusammenhang mit den Flussratten?, fragte er sich, da er sich an die letzten drei Morde zurückerinnerte, die seine Kollegen in diesem Zusammenhang gehabt hatten. Die Opfer dieser Organisation waren allesamt deutlich sichtbar zusammengeschlagen und zur Schau gestellt worden. Einer Warnung gleich, dass jeden das gleiche, schmerzhafte und tödliche Schicksal ereilen würde, wenn man nicht das tat, was die Flussratten von einem verlangten.

Ebenezer richtete sich nun wieder auf und schaute über die Schulter hinweg zu dem gerade durch die Tür getretenen McMordock, in seinem langen, ehemals weißen, aber nun verschmutzen Kittel. Er war ein ehemaliger Wärter aus dem Krankenhaus, der meist auf der Station mit psychisch kranken Menschen gearbeitet hatte.

McMordock, der untersetzt, kahlköpfig und von einer Pommeroy erschreckenden Grobschlächtigkeit beseelt war, sagte jetzt, ohne den Kopf zu heben: „Wir haben etwas in den Schuhen gefunden.“

„In den Schuhen?“, fragte er verwirrt.

McMordock nickte, hielt ein noch immer nasses Stück Papier in den Händen und erklärte: „Ich bin auch nur durch Zufall darauf gestoßen. Es war eine kleine Tasche in dem Leder eingenäht. Sah aber nicht so aus, als wäre das nachträglich gemacht worden. Sieht mir ganz so aus, als wäre das bewusst so geschustert worden.“

„Was ist das für ein Stück Papier?“

McMordock zuckte mit den Schultern und reichte ihm den Zettel. „Man kann es kaum noch lesen. Sehen Sie selbst. Ich bin allerdings nicht der Beste darin, etwas zu entziffern. Buchstaben haben mir schon immer Probleme bereitet.“

„Danke.“

Pommeroy nahm das Stück Papier vorsichtig entgegen, und legte es, nachdem er sich nach einer passenden Unterlage umgesehen hatte, auf einen kleinen ungenutzten Beistelltisch.

Er erkannte gleich, dass es sich dabei um edles, handgefertigtes Papier handelte, da es den Wassermassen so viel Widerstand geleistet hatte, dass die Tinte darauf zwar zerlaufen, aber nicht gänzlich unlesbar geworden war. Auch wenn es keinen Briefkopf gab, der darauf schließen ließ, von wem der Brief verfasst worden war, konnte er wenigstens einige Wörter entziffern, die niedergeschrieben worden waren.

Er konnte den Namen Andrew in der oberen Zeile erraten, ebenso wie die Worte Dank, Mühen, und dass Informationen sofort weitergegeben werden sollten an einen Telegrafen namens Spike, Spider oder Spleen.

„Unser Andrew war kein armer Mann“, meinte Pommeroy daraufhin, mehr zu sich selbst als zu McMordock.

Der dickliche Mann fragte daraufhin verwirrt: „Andrew? Wer soll das sein? Der kalte Bursche hier?“

„Vermutlich“, murmelte Pommeroy.

„Wie kommen Sie darauf?“

„Der im Brief Angesprochene wurde Andrew genannt.“

„Was, wenn der Tote den Brief von jemandem geklaut hat?“

„Warum sollte er ihn dann in einer Geheimtasche in seinem Schuh verstecken?“, wollte Pommeroy wissen.

„Na, um den Brief zu schützen natürlich!“

„Aber vor wem?“

„Vor dem, der ihn getötet hat.“

„Hmmm“, meinte Pommeroy und schüttelte den Kopf. „Wenn er eine geheime Botschaft hatte überbringen wollen und dabei abgefangen worden ist, wäre er doch bestimmt komplett ausgezogen und durchsucht worden, nachdem er umgebracht worden ist. Man hätte ihn nicht angezogenen in die Themse geworfen. Ich glaube daher nicht, dass er eine geheime Botschaft überbringen wollte. Nein, der Brief war für ihn bestimmt gewesen und er wollte ihn an einem sicheren Ort bei sich tragen, damit er nicht verloren geht.“

„Sie sind der Inspektor ...“

„Oberinspektor“, verbesserte Pommeroy seinen Gesprächspartner.

„Sie sind der Oberinspektor“, sagte McMordock grinsend und beendete seinen eben begonnenen Satz, „und daher haben Sie viel mehr Ahnung von diesen Dingen als ich.“

„Manchmal sind es aber gerade die einfachen Blicke eines Laien, der etwas erkennt, das einem Wissenden verborgen bleibt.“

„Wenn Sie meinen, Insp... Oberinspektor, dann werde ich mal mit meinem Argusauge glänzen und Ihnen verraten, dass mir der Kalte hier keinerlei Kopfzerbrechen bereitet, weil ich mir sicher bin, dass er dem organisierten Verbrechen angehört.“

„Ach tatsächlich?“

McMordock nickte. „Ja, denn es gibt eine bestimmte Tätowierung auf der ansonsten so makellosen Haut des Toten.“

„Wo denn? Ich habe keine gesehen. Weder am Handgelenk noch auf dem Handrücken. Ebenso wenig auf der Fußsohle oder an einer seiner Waden.“

„Sie gehen oft vom einfachsten Weg aus, doch manchmal müssen Sie Hand anlegen, um sehen zu können, was ich gesehen habe.“

„Nun sagen Sie schon, wo haben Sie die Tätowierung entdeckt?“

McMordock griff, ohne mit der Wimper zu zucken, zwischen die Beine des Toten, zog sie auseinander, sodass sie ein V bildeten, und deutete dann auf die linke Leiste des Opfers.

Pommeroy beugte sich wieder vor.

Ganz klein und so versteckt, als wäre es der Tätowierung peinlich, sich auf der Haut der Leiche zu befinden, war dort eine kleine Ratte zu sehen, die aussah, als würde sie in ihren Pfoten den Leberfleck halten, der sich dort befand.

„Also gehörte er doch zum organisierten Verbrechen“, murmelte Pommeroy.

„Der Bursche gehörte wohl zu den Lumpen, die das Gewässer rund um den Hafen unsicher machen.“

„Hmmm“, meinte Pommeroy.

„Das ist nicht gut, oder?“

„Ich werde mir Gedanken zu dem Ganzen machen müssen“, flüsterte Pommeroy und fragte sich während eines kurzen Anflugs von Hilflosigkeit, wie er diesen Fall jemals lösen sollte.

Denn er hatte nicht das Gefühl, auch nur eine Spur in irgendeine Richtung zu haben.

* * *

Gloria Samfield quälte sich zu einem Lächeln.

Der unangenehme Druck in ihrem Magen und das ständige, bittere Aufstoßen setzten ihr schon seit Tagen zu. Nicht nur, dass sie sich dabei wie ein wiederkäuendes Rindvieh vorkam, wenn sie merkte, wie die beißende Magensäure in ihr aufstieg und sie zu einem lauten Rülpser zwang, sie schämte sich auch zusehends für ihre außer Kontrolle geratenen Körperfunktionen. Sie hatte das unstetige Gefühl, dass ihr mühsam erworbener Respekt in der Redaktion immer mehr abhandenkam, wenn sie wieder einmal: „Entschuldigen Sie bitte, das wollte ich nicht“, sagen musste.

Das wollte und konnte sie nicht zulassen.

Dafür hatte sie zu hart und zu viel gearbeitet, als jetzt alles von ihrem unzuverlässigen Körper über den Haufen werfen zu lassen.