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Doktor Watson erhält von Mrs Hudson eine erschütternde Nachricht: Sherlock Holmes ist spurlos verschwunden. Watson nimmt die Spur seines Freundes auf.In England geschehen bestialische Morde. Was steckt hinter diesen grausamen Taten?Zwei neue Fälle mit dem größten Meisterdetektivs aller Zeiten.
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Seitenzahl: 162
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DIE NEUEN FÄLLE DES MEISTERDETEKTIVSSHERLOCK HOLMES
In dieser Reihe bisher erschienen:
3001 – Sherlock Holmes und die Zeitmaschine von Ralph E. Vaughan
3002 – Sherlock Holmes und die Moriarty-Lüge von J. J. Preyer
3003 – Sherlock Holmes und die geheimnisvolle Wand von Ronald M. Hahn
3004 – Sherlock Holmes und der Werwolf von Klaus-Peter Walter
3005 – Sherlock Holmes und der Teufel von St. James von J. J. Preyer
3006 – Dr. Watson von Michael Hardwick
3007 – Sherlock Holmes und die Drachenlady von Klaus-Peter Walter (Hrsg.)
3008 – Sherlock Holmes jagt Hieronymus Bosch von Martin Barkawitz
3009 – Sherlock Holmes und sein schwierigster Fall von Gary Lovisi
3010 – Sherlock Holmes und der Hund der Rache von Michael Hardwick
3011 – Sherlock Holmes und die indische Kette von Michael Buttler
3012 – Sherlock Holmes und der Fluch der Titanic von J. J. Preyer
3013 – Sherlock Holmes und das Freimaurerkomplott von J. J. Preyer
3014 – Sherlock Holmes im Auftrag der Krone von G. G. Grandt
3015 – Sherlock Holmes und die Diamanten der Prinzessin von E. C. Watson
3016 – Sherlock Holmes und die Geheimnisse von Blackwood Castle von E. C. Watson
3017 – Sherlock Holmes und die Kaiserattentate von G. G. Grandt
3018 – Sherlock Holmes und der Wiedergänger von William Meikle
3019 – Sherlock Holmes und die Farben des Verbrechens von Rolf Krohn
3020 – Sherlock Holmes und das Geheimnis von Rosie‘s Hall von Michael Buttler
3021 – Sherlock Holmes und der stumme Klavierspieler von Klaus-Peter Walter
3022 – Sherlock Holmes und die Geheimwaffe von Andreas Zwengel
3023 – Sherlock Holmes und die Kombinationsmaschine von Klaus-Peter Walter (Hrsg.)
3024 – Sherlock Holmes und der Sohn des Falschmünzers von Michael Buttler
3025 – Sherlock Holmes und das Urumi-Schwert von Klaus-Peter Walter (Hrsg.)
3026 – Sherlock Holmes und der gefallene Kamerad von Thomas Tippner
3027 – Sherlock Holmes und der Bengalische Tiger von Michael Buttler
3028 – Der Träumer von William Meikle
3029 – Die Dolche der Kali von Marc Freund
3030 – Das Rätsel des Diskos von Phaistos von Wolfgang Schüler
3031 – Die Leiche des Meisterdetektivs von Andreas Zwengel
3032 – Der Fall des Doktor Watson von Thomas Tippner
3033 – Der Fluch der Mandragora von Ian Carrington
3034 – Der stille Tod von Ian Carrington
Thomas Tippner
SHERLOCK HOLMESDer Fall des Doktor Watson
Basierend auf den Charakteren vonSir Arthur Conan Doyle
Diese Reihe erscheint als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2022 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckRedaktion: Jörg KaegelmannTitelbild: Mario HeyerLogo: Mark FreierVignette: iStock.com/neyro2008Satz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-231-8Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!
Die Nachricht von Mrs. Hudson erschreckte mich zutiefst.
Ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen, als ich meine Arzttasche schloss, meiner Patientin beruhigend die Hand auf die ihre legte und zu ihr sagte: „Machen Sie sich keine Sorgen, Sie werden wieder gesund.“ Dabei verschwieg ich keineswegs, dass sie mit ihrer angegriffenen Lunge nicht mehr so hart arbeiten, geschweige denn in der feuchtnassen Umgebung ihres jetzigen Wohnortes verweilen sollte.
Dennoch war ich davon überzeugt, dass ihr Lungenleiden sich dahin gehend verbessern würde, würde sie ihrem Mann an die Küste folgen und dort ihren Lebensmittelpunkt einrichten.
In dem Moment, als ich meine Hand wieder wegnahm und meine Worte meinen Mund verließen, hörte ich die Stimme des Dienstmädchens, das leise, beinahe schüchtern fragte: „Doktor Watson?“
„Der bin ich“, bestätigte ich, während meine Patientin hustete und erschöpft den Kopf ins weich aufgeworfene Kissen sinken ließ.
„Ihre Frau hat sich gemeldet“, meinte die junge Frau, deren blonde Haarsträhnen lockig unter der Haube hervorlugten. „Sie sollen sich umgehend bei ihr melden. Sie hat Nachricht von einer Mrs. Hudson erhalten.“
„Mehr nicht?“
„Mehr nicht, nein.“
„Ich danke Ihnen.“
Mit diesen Worten verabschiedete ich mich, nahm mir noch ein wenig Zeit, um noch einmal der kranken Frau zu versichern, dass es ihr bald besser gehen würde, und nahm dann die bereitstehende Droschke, um Richtung Heimat aufzubrechen.
Dort empfing Mary mich mit einem kummervollen Gesichtsausdruck. Als ich sie fragte, was denn los sei, reichte sie mir nur ein kurz gehaltenes Telegramm, in dem stand:
Holmes ist fort STOPP
Es gab Krawall STOPP
Mache mir Sorgen STOPP
Mrs. Hudson STOPP
„Wieso hast du mich erst hierherkommen lassen und mich nicht gleich informiert?“, fragte ich vorwurfsvoll, während das Gesicht meiner Frau sich verschloss.
„Ich dachte mir, dass nicht jeder erfahren soll, dass Holmes verschwunden ist.“
„Wie kommst du darauf, dass er verschwunden ist?“, wollte ich wissen, während ich spürte, dass die Sorge in mir emporstieg und sich ein flaues, unangenehmes Gefühl in meinem Magen ausbreitete.
„Holmes ist fort sagt mir genau das“, hielt Mary mir entgegen. „Ich dachte, wenn irgendwer erfährt, dass Holmes verschwunden ist, könnte er sich dazu genötigt fühlen, Spekulationen anzustellen. Du weißt doch, wie die Leute von der Presse sind.“
„Das weiß ich“, nickte ich.
Immer wieder hatte Holmes in der Vergangenheit mit Reportern zu tun, die mit ihm sprechen wollten, um eine Story, wie sie es nannten, präsentieren zu können. Eine Story, die es ihnen ermöglichte, Auflagenzahlen zu erhöhen und mehr Geld zu verdienen. Holmes aber hatte bisher allen Anfragen eine Absage erteilt und sich mit aufdringlichen Exemplaren der schreibenden Zunft wortgewaltig auseinandergesetzt.
Er lebte nach dem Grundsatz: Je weniger die Leute über ihn wussten, desto besser wäre es für sein Geschäft.
Gerade jetzt, wo wir nicht wussten, was die kryptische Nachricht von Mrs. Hudson bedeutete, war ich erleichtert darüber, wie umsichtig und weitschauend meine Mary auf das Telegramm reagiert hatte.
So nickte ich ihr zu und flüsterte mehr, als dass ich redete: „Du hast recht. Wir wissen noch gar nichts und ein Extrablatt können wir uns nicht leisten.“
Mary stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte mir einen Kuss auf die Wangen. „Sei vorsichtig, ja? Bitte.“
Ich erwiderte den Kuss, drückte meine Frau und versicherte ihr: „Ich werde vorsichtig sein!“
Ihre Angst, mir könne etwas passieren, nahm von Mal zu Mal zu, wenn ich mich dazu aufmachte, in die Baker Street aufzubrechen. Was ich verstehen konnte. Die letzten Fälle, die Holmes und ich gemeinsam erlebt und gelöst hatten, waren jedes Mal mit der Gefahr verbunden gewesen, unser Leben zu verlieren.
Was ich diesmal nicht hoffte.
Und doch ...
... eine dunkle Wolke aus Unwohlsein begleitete mich, als ich meinen Bowler aufsetzte, vor die Tür trat, die Hand hob und nach einer Droschke winkte, die gerade in meine Straße einbog und geradewegs auf mich zukam. Eine Wolke, wie ich mit einem fröstelnden Gefühl der Angst feststellte, die so dunkel über mir schwebte, dass ich mir sicher war, auf mich wartete ein Abenteuer, das mich mehr kosten konnte, als mir lieb war.
„Wie gut, dass Sie endlich da sind“, begrüßte Mrs. Hudson mich, die Arme weit ausgebreitet, um mich zu umarmen. „Ich dachte schon, Sie haben mein Telegramm nicht bekommen.“
Meine ehemalige Haushälterin, die ihre knochigen Arme um mich schlang und mich an ihren sehnigen, dünnen Körper presste, war den Tränen nahe. Ich hatte schon gesehen, als ich aus der Droschke stieg, wie blass sie war. Ihr sowieso schon zu Hagerkeit neigendes Gesicht war eingefallen. Ihre Lippen waren blutleer und zu zwei weißen Strichen zusammengepresst.
Als sie mich losließ, schaute ich ihr in die dunklen Augen und wollte wissen, was denn passiert sei.
Dazu entschuldigte ich mich, dass ich noch bei einer Patientin gewesen war und mich Mrs. Hudsons Nachricht erst spät erreichte.
„Sie haben ja auch andere Verpflichtungen“, sagte sie tonlos.
„Aber sagen Sie doch: Was ist vorgefallen, dass Sie mich gerufen haben? Wieso ist Holmes fort?“
„Wenn ich das wüsste“, wimmerte sie, während sie die Stufen zu ihrem Haus hinaufging und mir die Tür freigab, damit ich in den fein säuberlich gewischten Hausflur treten konnte. Die Treppe zu meiner ehemaligen Wohnung lag in einem nachmittäglichen Dämmerlicht. „Es war ein Krawall, den können Sie sich nicht vorstellen, Doktor. Ich bin in der Nacht aus dem Schlaf geschreckt und dachte erst, Mister Holmes würde wieder einmal aus Langeweile Initialen irgendeiner Persönlichkeit oder eines Verbrechers in die Wand schießen. Sie wissen ja, wie er manchmal ist, wenn er mit sich und seiner Zeit nichts anzufangen weiß.“
„Das weiß ich nur zu gut“, nickte ich. „Was ist noch geschehen?“
„Ich hörte dann Stimmen, die durch das ganze Haus hallten.“
„Stimmen? War er nicht allein?“
Sie schüttelte den Kopf. „Wenn ich mich nicht verhört habe, nicht. Er sprach mit jemandem. Ganz laut, im Ton eines Streites.“
„Und wie verschwand er?“
Mrs. Hudson blinzelte. Sie fasste sich an die Stirn, wischte sich eine grau gewordene Haarsträhne hinters Ohr, und stützte sich gegen den Türrahmen. Besorgt wollte ich wissen, wie es ihr ging und ob ich ihr helfen könne. Mrs. Hudson verneinte. „Ich will hier ja keine Szene machen. Aber die Sorge.“
„Ich verstehe“, meinte ich und fragte: „Wie ist er denn nun fortgekommen und wie hat der Krawall sich noch geäußert?“
„Er hat lauthals gestritten, da bin ich mir sicher. Denn er rief: Beweise? Natürlich habe ich Beweise!“
„Und dann?“
„Dann ging etwas zu Bruch“, versicherte sie mir. „Ich habe es ganz deutlich gehört. Daraufhin folgten mehrere, schwere Schritte, zwei Flüche von Mister Holmes und ein anderer rief: Die will ich sehen.“
Mein Kopf schwirrte.
Ich versuchte mir vorzustellen, was heute in der Nacht vorgefallen war.
So aufregend das alles klang und meine überschäumende Phantasie dazu brachte, mir Hunderte und Aberhunderte von Bildern durch den Kopf zu jagen, versuchte mein Verstand, mich selbst zu beruhigen. Ich merkte, wie zwei Seelen in meiner Brust kämpften. Auf der einen Seite war es der Autor, der anfing, Satz für Satz zu formulieren. Der darauf aus war, eine Geschichte zu Papier zu bringen, die den Leser fesselte und dazu anhielt, weiter und weiter und immer weiter zu lesen.
Andererseits war da die Sorge in mir, die sich um meinen Freund drehte. Deshalb rief ich mich selbst zur Ruhe, sagte mir, dass ich erst alles mit eigenen Augen sehen musste, um zu verstehen, was heute Morgen in der Früh hier vorgefallen war.
Aus dem Grund fragte ich: „Ist noch etwas geschehen?“
„Nur das Poltern auf der Treppe und das Verschwinden von Mister Holmes.“
„Sie waren schon im Zimmer oben?“
Sie nickte: „Aber da ist er ja nicht. Ich habe doch gesehen, wie er im Dämmerlicht des frühen Morgens verschwand.“
„Das haben Sie?“
„Ich bin der Meinung, dass er das war.“
„Ich werde nach oben gehen“, sagte ich erneut und hoffte inständig, dass ich oben im Zimmer einen Hinweis finden würde, der mir eindeutig und unmissverständlich sagte, was hier oben passiert war.
Ich merkte, während ich mich mit zitternden Knien der in den ersten Stock führenden Treppe zuwandte, wie mich ein schlechtes Gewissen einholte.
Ich hätte schneller sein müssen, sagte ich zu mir selbst, während ich die Hand nach dem Handlauf ausstreckte und den Fuß anhob, um ihn auf die erste Stufe zu setzen. Dann wären die Spuren womöglich frischer gewesen und ich könnte schneller und eindeutiger von ihnen ablesen.
Ich hätte ...
Was hättest du?, fragte mich eine zweifelnde, eine mich unwohl machende Stimme. Deine Patienten allein gelassen?
Dich um nichts anderes gekümmert als um Sherlock Holmes?
John, hör dir selbst einmal zu. Du kannst nicht auf Holmes aufpassen. Du hast dich bewusst dafür entschieden, nicht immer bei ihm zu sein. Du hast geheiratet! Du hast eine Praxis. Dein Schwerpunkt hat sich verlagert.
Das alles willst du jetzt infrage stellen, nur weil du nicht so schnell reagiert hast, wie du es gerne wolltest?
Mach dich nicht lächerlich.
Während ich hin- und hergerissen war, was richtig und was falsch war, kämpfte ich gleichzeitig mit meinem Verlangen, eine Stütze für Mrs. Hudson zu sein. Sie stand noch immer schwer an den Türrahmen gelehnt und schluckte mühselig. Die, wohl aus meiner Mimik lesend, winkte plötzlich ab und meinte: „Gehen Sie nur rauf. Ich folge Ihnen, sobald ich mich erholt habe.“
„Danke“, sagte ich, drehte mich zu der Treppe zurück und wollte wissen: „War die Gestalt, die das Haus verlassen hat, in Begleitung?“
Sie schüttelte den Kopf. „Das weiß ich eben nicht. Ich bin doch aus dem Schlaf hochgefahren und wusste mit der Situation nichts anzufangen. Ich hatte mir gerade meinen Überwurf angelegt, als ich schon die Schritte auf der Treppe hörte. Als ich zum Fenster ging, um nachzusehen, wer mein Haus verließ, sah ich nur das, was ich Ihnen eben erzählt habe.“
„Danke Ihnen“, sagte ich ungelenk und entschied mich dazu, hinauf in unsere damals gemeinsam bewohnte Wohnung zu gehen.
Erinnerungen wehten mir ebenso durch den Kopf, wie das beklemmende Gefühl der Furcht, was mich in dem Zimmer da oben erwarten würde.
Als ich die Hand nach der Klinke ausstreckte, ich diese sanft herunterdrückte, schloss ich die Augen.
Ich wollte in aller Ruhe, mit aller Sachlichkeit in den Raum treten, in dem sich, laut Mrs. Hudson, eine Tragödie abgespielt hatte.
Als die Tür aufschwang und ich das im Halbdunkel daliegende Zimmer mit meinen Blicken zu durchdringen versuchte, begriff ich erst nach dem zweiten oder dritten Blinzeln, was sich mir da zeigte. Es war nicht das übliche Chaos, in dem Holmes lebte. Nicht sein Sessel, in dem er zu sitzen pflegte, um den Eintretenden zu mustern und zu beobachten. Auch war es nicht der auf dem Tisch ausgebreitete Papierstapel. Es war die vor dem Fenster stehende, in einen langen Mantel gehüllte Gestalt, dir mir sofort auffiel.
Eine Gestalt, die sich langsam zu mir herumdrehte, während ich die Tür ganz aufstieß und die letzte Stufe nahm, die mich in die Wohnung führte.
„Kommen Sie auch endlich“, hallte es mir dumpf entgegen. „Ich hatte gehofft, dass Sie eher eintreffen.“
„Lestrade!“, entfuhr es mir, als ich in die Wohnung trat. „Was tun Sie denn hier?“
„Mich mit einem Fall beschäftigen“, entgegnete der Inspektor von Scotland Yard, der geradewegs auf mich zukam und mir freundschaftlich die Hand entgegenstreckte. „So wie Sie auch.“
„Aber ...“
„Die gute Mrs. Hudson ließ nach mir rufen“, entgegnete mein Freund, der nicht über weichgeschnittene, sondern messerscharfe Gesichtszüge verfügte, „nachdem Sie sich nicht auf ihr Telegramm gemeldet haben. So dachte ich mir, hierherzukommen, auch wenn meine Zeit kostbar ist und ich mich mit mehreren Fällen gleichzeitig beschäftigen muss.“
Ich schmunzelte und drückte die Hand Lestrades erleichtert, nachdem ich sie ergriffen hatte. Dabei schaute ich in das Gesicht eines Mannes, das, egal wohin man schaute, unentwegt spitz zusammenlief.
Mehr als einmal hatte ich bisher versucht, die Gesichtszüge meines Freundes zu beschreiben.
Und so schwer es mir fiel, so unangenehm es mir auch war, ich konnte nicht anders, als ihn mit einem Nagetier zu vergleichen.
In solchen Momenten wie diesen wünschte ich mir, ein Künstler zu sein, der stechende Gesichtsmerkmale sanft mit Ton modellieren konnte, oder ein Poet, der es, ohne mit der Wimper zu zucken, schaffte, einen Menschen so zu beschreiben, wie seine Seele war, und nicht sein äußeres Erscheinungsbild. Ich aber war weder das eine noch das andere. Deshalb blieb mir nichts anderes zu sagen als: Nein, Lestrade war alles andere als ein attraktiver Mann.
Ich hatte schon mehrmals versucht, diesen Abschnitt hier zu schreiben, ohne dass es mir möglich war, unserem liebenswerten Freund nicht etwas Nagetierhaftes zu unterstellen. So leid es mir tat, aber die hervorstechende Nase, die spitzen Lippen und das deutlich hervorstechende Kinn ließen ihn wie eine kleine, graue Maus aussehen, mit der Lestrade ansonsten allerdings überhaupt nichts gemein hatte.
Aber sah man ihn nur aus der Ferne, in seinen bis zu den Knöcheln reichenden Mantel gehüllt, den kleinen Bowler auf dem Kopf, den Schnurrbart über den Lippen und den leicht nach vorne gebeugten Oberkörper, war man versucht, an seinem Rücken einen haarlosen, bis zum Boden reichenden Schwanz zu suchen. Und das, was das Aussehen meines Freundes noch unterstrich, waren seine beiden Schneidezähne, die leicht nach vorne versetzt und auch dann noch zu sehen waren, wenn er die Lippen geschlossen hielt.
Er war aber ein so herzensguter und liebenswerter Mensch, den ich zu gerne an meiner Seite wusste. Sobald er bei mir war, hatte ich nicht das Gefühl, hilflos zu sein. So war es in unzähligen Fällen gewesen, die Lestrade mit Holmes und mir gemeinsam löste. So hoffte ich inständig, dass er es mir nicht verübelte, dass ich ihn so beschrieb, wie ich ihn sah.
Ihn hier jetzt zu hören und vor ihm zu stehen, entlockte mir ein Lächeln, das er erwiderte. Mit der Hand fuhr er sich unter den Bowler, um sein lichtgewordenes Haupthaar mit gespreizten Fingern zu durchfahren.
„Eine verflixte Angelegenheit“, meinte er und schaute sich in dem Zimmer um, durch das auch meine Blicke schweiften.
„Das können Sie laut sagen. Haben Sie schon einen Anhaltspunkt, was hier vorgefallen sein könnte?“
„Keinen blassen Schimmer“, gab Lestrade zu und deutete auf die hier herrschende Unordnung. „Bis auf dass die Violine zerbrochen ist, auf der Holmes gerne spielte, habe ich nichts entdeckt, das mich unruhig werden lassen würde, dass hier ein Verbrechen stattgefunden hat.“
„Seine Violine ist zerbrochen?“
„Wenn ich es doch sage. Da, sehen Sie!“
Lestrade drehte sich von mir weg und deutete auf die neben Holmes’ Sessel liegende zerschlagene Violine.
Ich schluckte, als ich sie betrachtete und mich nach ihr bückte. Als meine Fingerspitzen das zersplitterte Holz berührten, durchzuckten mich wieder Bilder und Abläufe, die mich glauben ließen, zu sehen, wie Holmes sein heiß geliebtes Instrument ergriff, um sich einem Angreifer entgegenzustellen.
„Als habe er damit zugeschlagen“, wisperte ich.
„Das will ich meinen.“
„Dann müssen wir hier noch mehr finden“, gab ich zu bedenken und schaute mich in dem Zimmer um.
Die auf dem Tisch liegenden Papiere waren allesamt mit Zahlen und Tabellen beschrieben. Zahlen, die mich an eine Art Auflistung eines Geschäftskontos erinnerten.
Ob das der Grund war für die Verteidigung?
Ich überflog alles und murmelte schließlich, nachdem ich das fünfte Blatt angehoben hatte: „Das sind Holmes’ Konten.“
„Ist das der Beweis, den er anführen wollte?“, fragte Lestrade und bewies mir, dass er ebenso wie ich die gleichen Schlüsse zog.
„Vielleicht.“
„Und was ist das da?“, wollte Lestrade wissen, als er auf den Wandschrank zuging, auf dessen offenen Getränkeschubladen mehrere kleine Schüsselchen standen, aus denen ebenso Stiele von Mörsern hervorlugten, wie auch ein stechender Geruch aufstieg.
„Seine Experimente“, meinte ich geistesabwesend, während mein Blick auf einen kleinen, fein säuberlich aufgehäuften Stapel Zeitungspapier schweifte. Bilder auf der Titelseite fielen mir ebenso ins Auge wie die Anordnung der einzelnen Blätter. Während Lestrade meinte: „Holmes und seine Experimente. Was er damit immer bezwecken will“, ging ich in die Knie und sah, dass Reginald Mustgrave auf dem Bild zu sehen war, das mir ins Auge gesprungen war.
Er stand da, die Hände – würdevoll – hinterm Rücken verschränkt. Dabei zierte weder ein Lächeln noch ein gewinnender Ausdruck der Hoffnung sein warm geschnittenes Gesicht. Er sah ganz anders aus, als es die Überschrift generierte, die lautete: Lord Mustgrave holt sich Hilfe vom berühmten Detektiv.
Die Unterschrift gab zu verstehen: Angeblicher Schmugglerring soll ausgehoben werden. Lord Mustgrave ist hoffnungsvoll, dem Verbrechen in seiner Grafschaft endlich ein Ende zu bereiten.
Wer mit dem berühmten Detektiv gemeint war und wer es sein sollte, der den hier aufgeführten Schmugglern das Handwerk legen sollte, war mir klar. Darum hob ich die Zeitung an und wandte mich an meinen Freund, der mit sich selbst kämpfte, ob er nun einen Finger in die Schälchen tauchen sollte oder nicht.