6,49 €
Aufgewachsen in einer Motorradgang, war das Leben von Tek und Jamie von Geburt an von Gewalt, Drogen, Schmerz und Angst geprägt. Zu zukünftigem Anführer und Stellvertreter geboren, scheint ihr Leben in allen Bereichen vorbestimmt, aber die beiden Männer verbindet weit mehr. Ihre tiefe Liebe könnte ihren Tod bedeuten, doch der unstillbare Hunger nach Nähe lässt weder Tek noch Jamie los. Als sich ihre Lage zuspitzt, bleibt ihnen nur die Flucht – und die unerwartete Zuflucht im "Guards of Folsom", wo sie das erste Mal so akzeptiert werden, wie sie sind... Band 4 der "Guards of Folsom"-Reihe. Buch ist in sich abgeschlossen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 328
Deutsche Erstausgabe (ePub) August 2017
Für die Originalausgabe:
© 2014 by SJD Peterson
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Roped«
Originalverlag:
Published by Arrangement with Dreamspinner Press LLC, 5032 Capital Circle SW, Ste 2, PMB# 279, Tallahassee, FL 32305-7886 USA
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2017 by Cursed Verlag
Inh. Julia Schwenk
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,
des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit
Genehmigung des Verlages.
Bildrechte Umschlagillustration
vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock
Satz & Layout: Cursed Verlag
Covergestaltung: Hannelore Nistor
ISBN-13: 978-3-95823-651-6
Besuchen Sie uns im Internet:
www.cursed-verlag.de
Aus dem Englischen von Gabby Jacob
Liebe Leserin, lieber Leser,
vielen Dank, dass Sie dieses eBook gekauft haben! Damit unterstützen Sie vor allem die Autorin des Buches und zeigen Ihre Wertschätzung gegenüber ihrer Arbeit. Außerdem schaffen Sie dadurch die Grundlage für viele weitere Romane der Autorin und aus unserem Verlag, mit denen wir Sie auch in Zukunft erfreuen möchten.
Vielen Dank!
Ihr Cursed-Team
Klappentext:
Aufgewachsen in einer Motorradgang, wurde das Leben von Tek und Jamie von Geburt an von Gewalt, Drogen, Schmerz und Angst geprägt. Zu zukünftigem Anführer und Stellvertreter geboren, scheint ihr Leben in allen Bereichen vorbestimmt, doch die beiden Männer verbindet weit mehr. Ihre tiefe Liebe könnte ihren Tod bedeuten, doch der unstillbare Hunger nach Nähe lässt weder Tek noch Jamie los. Als sich ihre Lage zuspitzt, bleibt ihnen nur die Flucht – und die unerwartete Zuflucht im „Guards of Folsom“, wo sie das erste Mal so akzeptiert werden, wie sie sind...
Widmung
Geboren aus Blut und Gewalt und dem Verstand von S.A. McAuley.
Liebe dich, Boo!
Das Leben ist bekannt für eine Reihe an Konstanten: Gewalt, Wut, Drogen, Sex, Tod, Liebeskummer, Schmerz, Angst und, die geläufigste von allen, Hunger. Fortwährender Hunger. Nicht die Art, die mit Nahrung befriedigt werden kann, sondern die, die aus der Lebenslage geboren wird. Die Art von Hunger, die ihre Klauen nicht nur in den Bauch schlägt, sondern die sich auch im Herzen niederlässt, den Verstand verzehrt. Tiefer – der Hunger, der die Seele umkreist und in sie vordringt. Hunger nach mehr, nach etwas Besserem, Sichererem. Immer knapp außer Reichweite – lechzend – ausgehungert.
Es ist ein Teil von mir.
Von dem, was ich bin.
Geboren aus Blut und Gewalt ist Hunger mein Schicksal.
Dennoch können die kleinsten Dinge die Richtung eines Lebens ändern. Ein ungeplanter Umstand, eine zufällige Handlung – eine Verbindung –, ein Zufallsereignis wie ein Blitzeinschlag und das Schicksal ist übertrumpft.
Jamie ist mein Blitzeinschlag.
Tek Cain
Ein Kind ist geboren, als Tonklumpen in die Welt gebracht. Jede Hand, die es berührt, kennzeichnet es, formt es, schafft Leben. Einige dieser Hände sind talentiert, formen den Ton, der sich langsam auf der Scheibe dreht, in wunderschöne Formen, fließende Linien – Kunst. Andere, weniger talentierte Hände gleiten ungeschickt über den Ton, während sie immer und immer wieder versuchen, der Figur etwas Gutes und Ganzes hinzuzufügen. Tastende Finger mit guten Absichten hinterlassen ihre Unvollkommenheit. Und dennoch tragen diese Mängel, diese Fehler irgendwie zu der Einzigartigkeit, und ja, zu der Schönheit des Kunstwerkes bei.
Dann gibt es Hände, die nur beschmutzen und zerstören wollen. Sie graben ihre Finger in den feuchten Ton, schaffen tiefe, hässliche Abdrücke, verstümmelte Schlammklumpen ohne Gestalt, ohne Zweck und Form. Doch die Scheibe dreht sich weiter; neue Hände fangen an, den Ton in etwas wie Ordnung zu verwandeln, talentierte Hände, gute Hände. Der Ton kann nie wieder so sein, wie er ursprünglich war, er wurde unwiderruflich verändert, doch Kunst und Schönheit kann noch immer geschaffen werden.
Als ich dreizehn war, war ich von allen drei Arten von Händen berührt, geformt und gestaltet worden. Unzählige Male wurde ich von Fingern berührt, deren einziger Zweck es war, zu beschmutzen und zu zerstören. In meinem jungen Leben hatte ich Böses gesehen, wurde von Bösem berührt und geformt, aber es hatte immer neue Hände gegeben.
Gute Hände.
Talentierte Hände.
Jamies Hände.
Tek Cain
Sommer der Unschuld
Gunner Cain zog den Arm zurück, zielte sorgfältig auf das Fenster im zweiten Stock und ließ den Kiesel fliegen. Er wartete. In den Schatten der Sträucher verborgen, die das Haus im Cape Cod-Stil säumten, fühlte Gunner das Herz in seiner Brust schlagen, Sekunden waren wie Stunden. Komm schon, komm schon, komm schon. Wenn er noch einmal erwischt wurde, wie er aus dem Haus schlich, würde ihm sein Stiefvater mit einem Stiefel in den Arsch treten. Schlimmer, sie würden all die Action verpassen. Gunner trat von einem Fuß auf den anderen und seine Kiefermuskeln zuckten, während ihn Nervosität und Aufregung nicht stillhalten ließen.
Mit einem Schnauben griff Gunner nach unten und hob eine Handvoll kleiner Steine auf, zog den Arm zurück und –
Das Fenster wurde geöffnet und ein Kopf mit zotteligem braunem Haar erschien, gefolgt vom mürrisch dreinblickenden Gesicht seines besten Freundes, James Ryan. Fast jeder nannte ihn James, Jim, Jimmy oder Junior, doch Gunner nannte ihn Jamie. Gunner war der Einzige, der ihn Jamie nennen durfte.
»Gunner?«
»Ja«, flüsterte er, ließ die Steine auf den Boden fallen und wischte sich den Dreck an seiner Jeans ab. »Ich bin's. Schieb deinen Arsch hier runter.«
»Auf keinen Fall«, sagte Jamie kopfschüttelnd. »Das letzte Mal, als ich mich von dir hab überreden lassen rauszuschleichen, konnte ich eine Woche lang nicht sitzen.«
Verdammt, sein Freund konnte dramatisch sein wie eine Gruppe feiger Mädchen. »Es war nur ein Tag, du Weichei«, zischte er. Gunner rollte mit den Augen. Er hatte seine eigenen Schwierigkeiten beim Sitzen gehabt, nachdem ihm sein Stiefvater mit einem Gürtel den Arsch aufgerissen hatte, doch er würde sich davon nicht abschrecken lassen. »Jetzt komm runter. Ich will dir was zeigen.«
»Was?«
Gunner antwortete nicht, verschränkte einfach nur die Arme vor der Brust und klopfte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. Jamie zögerte, wirkte unsicher, doch Gunner hatte keine Zweifel, dass Jamie kommen würde. Und er sollte sich besser beeilen, sonst würden sie die ganze Show verpassen.
Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, sah Jamie nach hinten und flüsterte dann: »Ich treff dich hinten auf der Veranda.«
Gunner lächelte und trat in die Schatten zurück. Er ging um das Haus herum, darauf bedacht, nicht gegen die Mülltonnen zu stoßen, und lugte um die Ecke. Überzeugt, dass die Luft rein war, ging er zur Veranda und wartete.
Mit nur einem leisen Quietschen der Angeln der Fliegengittertür trat Jamie in einem weißen T-Shirt, Laufshorts und seinen Tennisschuhen in der Hand aus dem Haus. Er warf Gunner einen verärgerten Blick zu, sprang dann aber von der Veranda, um die Treppe zu vermeiden – die Stufen knarrten zu laut.
»Wenn wir erwischt werden, werd ich dich grün und blau schlagen«, knurrte Jamie und band sich die Schuhe zu.
Gunner zerzauste Jamies widerspenstige Locken. »Wir werden nicht erwischt. Du machst dir zu viele Sorgen.«
Jamie schlug nach ihm, doch Gunner zog die Hand außer Reichweite – und drehte sich um. Er musste sich auf die Lippe beißen, um nicht über den ungläubigen und stechenden Blick zu lachen, den Jamie ihm zuwarf.
»Das hast du letztes Mal auch gesagt«, beschwerte sich Jamie leise.
Sobald Jamie seine Sneakers zugebunden hatte, griff Gunner nach dessen Shirt, zog daran – »Komm schon!« – und fing an zu laufen.
Gunner rannte durch den Garten, Jamie direkt an seinen Fersen. Sie sprangen über den niedrigen Zaun, der Jamies Garten von dem des Nachbarn trennte. Über Hausfriedensbruch mussten sie sich keine Gedanken machen. Die wenigen Häuser in dieser ländlichen Gegend von Chatom in Kalifornien gehörten Clubmitgliedern – Rocco Lundy, Gunners Stiefvater und Präsident vom hiesigen Chapter des Crimson VIII Motorradclubs, regierte mit eiserner Hand – und Außenseiter waren nicht willkommen.
Gunner wurde nicht langsamer – zuversichtlich, dass Jamie mithalten würde –, bis das Clubhaus in Sicht war. Von außen sah es wie jede andere Hinterwäldlerkneipe aus: verwitterte Schindelverkleidung, mit Neonlicht beleuchtete Bierschilder in stark getönten Fenstern, ein Kiesparkplatz auf der Vorderseite voller Trucks, Muscle-Cars und Harleys – vielen Harleys. Es waren die Geschäfte, die innerhalb der Wände abgeschlossen wurden, die Dinge, die im hinteren Teil stattfanden, abgesichert durch ein System, das dem von Fort Knox Konkurrenz machte, die diesen Ort anders machten. Es war ein Ort, den Gunner Cain als Einzelkind eines Tages regieren würde, genau wie sein Großvater, sein Vater und sein Stiefvater jetzt.
Am Heck eines verrosteten Ford blieben sie stehen und hielten sich geduckt. Gunner atmete schwer, während ihm der Schweiß über die Stirn lief. Mit dem Unterarm wischte er ihn ab. Gunner warf Jamie einen kurzen, prüfenden Blick zu. Auch er atmete schwer und die Neonlichter des Clubs ließen den Schweiß an seinen Augenbrauen in einer Vielfalt von Farben glitzern. Er sah okay aus, nervös, unsicher und mit großen Augen, aber okay. Gunner nickte zufrieden. Jamie war seine Verantwortung, eines Tages würde er als seine rechte Hand an Gunners Seite stehen. Es war seine Aufgabe, Jamie zu beschützen, und außerdem sicherzugehen, dass der Kerl ein wenig Spaß hatte. Jamie konnte manchmal ein kleiner Schwarzseher sein.
Gunner legte einen Finger an die Lippen, um Jamie daran zu erinnern, still zu sein, dann nickte er in die Richtung, in die sie gehen würden. Geduckt liefen sie hinter den Fahrzeugen entlang, während sie den Weg über den Parkplatz zur Hinterseite des Clubs hinter sich brachten. Dort hinten gab es ein einsames Fenster – Gunners Ziel.
Er hockte sich unter das Fenster, deutete darauf und brachte seine Lippen dicht an Jamies Ohr. »Sully bereitet sich für eine Show vor.«
Sully, dessen richtiger Name Claude war, hatte den Spitznamen aufgrund der Tatsache erhalten, dass seine Lebensaufgabe seit Kindesalter an war, jede Frau, die seinen Weg kreuzte, zu beschmutzen und zu beflecken. Innerhalb des Clubs war Sex öffentlich, nur wenige Dinge wurden als Tabu angesehen, doch Sully trieb es bis zum Äußersten. Er war ein kranker und perverser Bastard.
Jamie drehte den Kopf, sodass sich ihre Nasen praktisch berührten, und starrte Gunner an. »Dafür hast du mich aus dem Bett geholt?«, zischte er.
»Willst du nicht wissen, was du tun musst, wenn du deine erste Schlampe fickst?«
»Sicher, aber nicht von Sully. Der Kerl ist wirklich widerlich«, flüsterte Jamie. Offensichtlich angeekelt verzog er die Nase.
»Du musst alles lernen, Jamie«, informierte Gunner ihn. »Musst lernen, was Schlampen mögen und was nicht.«
Mit den Händen am Fenstersims richtete sich Gunner weit genug auf, um durch das kleine Loch zu spähen, das er in das schwarze Vinyl gemacht hatte, das das Glas bedeckte. Als er erkannte, was dahinter in dem düsteren Schlafzimmer vor sich ging, riss er geschockt die Augen auf. Nackte Körper, männliche wie weibliche, waren in einem Durcheinander aus Gliedern verschlungen. Es erinnerte ihn an ein Nest aus Würmern, glitschig und umeinander gewickelt, was es schwer machte zu erkennen, wo der eine Körper endete und ein anderer begann. Der einzige Unterschied war, dass dieses Knäuel Arme, Beine und Gesichter hatte. Ein Kerl stieß hart gegen einen großen, schwabbeligen Hintern, ein anderer hatte seinen Schwanz zwischen großen Titten und stieß hart zu, während er das Mädchen an den Haaren gepackt hielt, und wieder ein anderer hatte den Kopf zwischen den Beinen eines Mädchens. Zungen, Lippen, Finger, intimere Stellen, es war… Gunner war sich nicht sicher, was er fühlte, doch hauptsächlich war es Verwirrung.
»Sieh's dir an und sag mir, was du denkst«, sagte er zu Jamie und trat zur Seite, um ihm Platz zu machen.
Sein bester Freund zögerte, doch er tat, worum ihn Gunner gebeten hatte. Es war zu dunkel, um Jamies Gesichtsausdruck sehen zu können, um beurteilen zu können, was er von dem Anblick hielt. Hinzu kam, dass Jamies Blick Richtung Fenster ging und er den Kopf abgewandt hatte, sodass es auch nicht geholfen hätte, wenn es heller gewesen wäre. Jamie ließ ihn nicht lange zappeln.
»Ihh! Das sieht wie ein Nest aus komischen Schlangen mit Körperteilen aus«, klagte Jamie.
»Sprich leiser«, schimpfte Gunner flüsternd. Doch Jamies Kommentar war dem, was Gunner zuerst gedacht hatte, so ähnlich, dass er grinsen musste.
Gunner drehte sich zur Wand und rutschte daran hinunter. Dann zog er die Knie an und schlang seine Arme darum. Jamie setzte sich in der gleichen Position neben ihn. Eine Weile sagte keiner der beiden etwas. Sie hatten bereits andere Clubmitglieder dabei beobachtet, wie sie Frauen vögelten. Cole, Roccos erster Leutnant, war für seine Ich-mach's-überall-und-zu-jeder-Zeit-Einstellung mehr als bekannt und kümmerte sich wenig darum, wer anwesend war oder ihn beobachtete. Gunner und Jamie hatten ihr Bestes getan, das Kichern zu unterdrücken, indem sie ihre leuchtend roten Gesichter mit den Händen bedeckt hatten, endeten jedoch normalerweise hysterisch lachend in einem anderen Raum.
Dennoch war die Szene, die sie gerade mit angesehen hatten, weder lustig, noch rief sie eine Erektion hervor. Gunner schielte zu seinem Freund, doch in dieser Haltung, die Jamie eingenommen hatte, konnte Gunner nicht sagen, ob Jamie eine hatte.
Gunner lehnte sich näher an Jamies Ohr und flüsterte: »Hast du einen Ständer?«
Energisch schüttelte Jamie den Kopf.
»Kein Kribbeln, gar nichts?«, fragte Gunner.
»Nichts«, gab Jamie zu. »Ich will sowas nicht machen müssen. Es war…«
»Seltsam?«
»Ich wollte eklig sagen«, entgegnete Jamie.
Die Abneigung in seiner Stimme brachte Gunner zum Kichern. »Ich präsentiere dir Sully.«
Beide wurden still, während sie ihre Köpfe aneinander lehnten. In letzter Zeit hatte Gunner oft an Sex gedacht. Na ja, vielleicht nicht an diese schwitzige und grunzende Art von Sex – Jamie hatte recht, das war irgendwie ekelig. Allerdings gefiel Gunner der Gedanke an Berührung und Küsse. Im Club gab es immer viele Mädels. Sie stellten sich den Mitgliedern zur Verfügung und Gunner bezweifelte nicht, dass sie sich eines Tages auch ihm und Jamie zur Verfügung stellen würden. Jedoch hatte ihm Rocco, seit er klein war, eingebläut: Egal, was er tat, er durfte denen gegenüber, die er anführte, niemals Schwäche zeigen.
Wenn es um Mädels ging, hatte Gunner kein Selbstvertrauen. Irgendwie… ekelten sie ihn auch an. Er mochte weder den dichten, strengen Gestank von übermäßig süßem Parfum, der an ihnen klebte, noch die Farbe in ihren Gesichtern, und ganz besonders mochte er die schmierigen, knallroten Lippen nicht, gegen die er seine eines Tages würde drücken müssen. Gunner erschauderte voller Abscheu.
Ein Anführer ist immer selbstbewusst.
»Weißt du«, sagte Gunner und brach damit die Stille. »Wir sollten üben.«
»Was üben?«, fragte Jamie.
»Du weißt schon…« Gunner zuckte mit den Schultern.
»Das da drin?«, quiekte Jamie und deutete mit dem Daumen über seine Schulter. »Auf gar keinen Fall!«
»Schhh«, erinnerte Gunner seinen Freund. »Nicht das, aber vielleicht sollten wir… ich weiß nicht… mit Küssen anfangen?«, schlug er zögernd vor. »Wir werden nächsten Monat dreizehn. Es wird Zeit, dass wir anfangen, über sowas nachzudenken.«
»Ich weiß, wie man küsst«, grollte Jamie.
»Wirklich?«
Jamie nickte.
»Deine Oma zu küssen, zählt nicht, du Idiot«, schnaubte Gunner und schubste Jamie mit der Schulter an. »Ich rede von richtigem Küssen. Du weißt schon, mit einer Braut. Mit Zunge. Du musst üben.«
»Wen sollten wir dazu kriegen, mit uns zu üben?«
Gunner dachte einen Moment über Jamies Frage nach. Sie kannten keine Mädchen, die in einem ähnlichen Alter wie sie waren. Da sie zu Hause unterrichtet wurden, waren die meiste Zeit über nur Erwachsene um sie herum. Sully hatte ein paar Mädchen, die ab und zu im Club waren, aber das waren kleine Kinder. Gunner konnte sich niemanden vorstellen außer…
Als er eine Entscheidung getroffen hatte, drehte er sich zu seinem Freund. »Wir müssen miteinander üben.«
»Was?«, keuchte Jamie.
»Wir müssen«, beharrte Gunner. »Es gibt niemand anderen, und auf gar keinen Fall kann ich's zulassen, dass 'ne Braut mehr weiß als ich. Wir sind Männer, Jamie. Wir müssen das Kommando übernehmen. Und das können wir nicht schaffen, wenn wir keine Ahnung haben, was wir tun.«
Jamie starrte ihn an. In der Dunkelheit war es schwer, Jamies Gesichtsausdruck zu lesen, aber er kannte seinen Freund gut genug, um zu wissen, was er dachte. Jamie dachte immer über alles nach – sorgte sich zu viel, analysierte und erörterte jeden Scheiß. Selten tat er irgendetwas spontan. Das war der Grund, warum Jamie Gunner so sehr brauchte; um sicherzugehen, dass er hin und wieder spontane, dumme Dinge machte. Es war außerdem Gunners Job – nein, seine Pflicht – sicherzustellen, dass Jamie bereit war, an seiner Seite zu stehen, wenn Gunner Präsident wurde.
Mit diesem Gedanken im Hinterkopf, der ihn antrieb, packte Gunner Jamies Gesicht mit beiden Händen und presste ihre Münder aufeinander. Jamie spannte sich an, zog sich jedoch nicht zurück. Dadurch ermutigt neigte Gunner den Kopf vor und zurück, ihre Lippen rieben aneinander. Es gefiel ihm, wie sich Jamies Mund an seinem anfühlte: warm, weich. Versuchsweise streckte er die Zunge raus, schmeckte einen Hauch von dem Minzkaugummi, das Jamie immer im Mund hatte, und Gunner mochte es. Er wollte mehr schmecken und schob die Zunge an Jamies Lippen vorbei.
Jamie küsste ihn nicht wirklich zurück und blieb angespannt, doch er öffnete den Mund und erlaubte Gunner, ihn mit Lippen und Zunge zu küssen. Verdammt. Gunner hatte keine Ahnung, was zur Hölle er hier tat, er mochte es, mochte den Geschmack und das Gefühl von Jamies Mund. Er mochte es, wie es ihn innerlich kribbelig werden ließ, so als hätten Schmetterlinge in seinem Bauch abgehoben und würden nun durch seinen Körper fliegen, während ihre Flügel ihn von innen kitzelten.
Gunner erkundete Jamies Mund, leckte über seine Zähne und das Zahnfleisch, und als seine Zungenspitze über Jamies Gaumen glitt, erschauderte sein Freund und gab einen Laut von sich, den Gunner noch nie zuvor von ihm gehört hatte. Der Geschmack von Jamies feuchtem, warmen Mund, der verlockende Laut, der von seinem Freund kam, das Kribbeln in seinem Bauch, all das vermischte sich zu einer Hitze, die Gunners Körper hinabrauschte und sich einnistete zwischen dem Bund seiner Jeans und…
Keuchend riss sich Gunner los. Das Herz hämmerte ihm schmerzhaft in der Brust, pumpte das Blut so schnell durch sein System, dass er es in den Ohren rauschen hörte. »Ich, äh… ich…« Gunner leckte sich über die Lippen, konnte Jamie noch immer schmecken und die Hitze wurde stärker. »Ich… Wir…« Mit dem Handrücken wischte er sich über den Mund. »Wir sollten nach Hause«, platzte es aus ihm heraus, er sprang auf die Füße und gab sein Bestes, den Körper vor seinem Freund abzuschirmen. »Los geht's!«
Jamie den Rücken zugewandt führte er sie über den Parkplatz, während sie den Autos auswichen und sich in den Schatten hielten. Er wollte rennen, aber irgendwie schaffte er es sich zurückzuhalten. Er war sich Jamie hinter sich bewusst, musste seinen Freund nach Hause bringen. Langsam, leise, vorsichtig, wiederholte er immer wieder in seinem Kopf. Auf gar keinen Fall wollte er jetzt erwischt werden. Wie sollte er erklären…?
Langsam, leise, vorsichtig.
In dem Augenblick, da sie die Baumgrenze erreichten, verfiel Gunner in einen Sturmlauf, während er dabei kleinen Büschen und Bäumen auswich, seine Füße auf den Waldboden trommelten und er sich der vertrauten Präsenz hinter sich bewusst war. Jamies Haus kam in Sicht. Im Laufen scannte Gunner es ab; kein Licht im Innern, Stille. Er hüpfte über den kleinen Zaun, landete in Jamies Garten und wurde nahe der Veranda langsamer, drehte sich jedoch nicht um.
»Wir sehen uns morgen«, warf er leise über die Schulter, verschwand um die Ecke des Hauses und floh mit einem erleichterten Seufzen in den Schutz der Dunkelheit.
Gunner hatte seinen Job erledigt; er hatte Jamie zurück nach Hause gebracht, ohne gesehen zu werden, sein Freund war sicher. Zu seiner großen Erleichterung hatte er das geschafft, ohne den riesigen Ständer preiszugeben, den er bekommen hatte, als er Jamie küsste.
Mit den Händen fuhr er sich übers Gesicht, dann blickte er sich um, um sicherzustellen, dass ihn niemand sehen konnte, bevor er an seinem Körper nach unten schielte. Nope, er träumte nicht. Zur Hölle. Ein Ständer? Ein gottverdammter Ständer, weil ich Jamie geküsst hab?
Die besten Absichten einer Person werden ständig von anderen zunichte gemacht. Das Böse sieht immer zu, sucht, wartet. Es macht Jagd auf schwache Gemüter und kalte Herzen. Leise sucht es sich einen Weg durch die kleinsten Öffnungen, eine gequälte Seele, einen Anflug von Zweifel. Das Böse ist ein Krebsgeschwür, das sein Gift an alles weitergibt, das es berührt. Manche umarmen das Böse, finden Gefallen daran, werden ein Diener, eine Pest. Andere sitzen passiv daneben, halten das Böse für notwendig und helfen dadurch, dass es begangen wird.
Ich hab einmal etwas von Bodhidharma gelesen. Der ignorante Verstand mit seinen unendlichen Qualen, Leidenschaften und Sünden findet seinen Ursprung in drei Arten von Gift. Habgier, Zorn und Irrglaube.
Mein Gift war der Irrglaube.
Tek Cain
Prospects
Jamie stand draußen vor der Tür zum Sitzungssaal – ein Ohr gegen das Holz gepresst, während er angestrengt lauschte, was hinter der Tür gesagt wurde. Die Stimmen waren dumpf, doch Jamie konnte genug von dem Gespräch aufschnappen, um zu wissen, dass sie über sein und Gunners Schicksal diskutierten.
Der Crimson VIII Motorradclub wurde ursprünglich von Patrick – alias Gunner – Cain gegründet. Patrick war Kanonier bei der 101. US-Luftlandedivision im Zweiten Weltkrieg gewesen, und aus dem englischen Wort für Kanonier – gunner – war schließlich sein Spitzname entstanden. An Orten wie den Stränden der Normandie und den Schützengräben von Carentan und Bastogne hatte er gelernt, was wahre Loyalität und Aufopferung bedeuteten. Die ursprünglichen vier Mitglieder waren alle Veteranen gewesen und der Club war in Gedenken derjenigen benannt worden, die den Krieg nicht überlebt hatten. Crimson, die blutrote Farbe, stand für das Blut der Gefallenen, das sie bis zum letzten Tropfen für die Verteidigung und Aufopferung vergossen hatten.
Jamie kannte die Geschichte gut. Sie war Teil seines Lebens gewesen, ebenso wie sie die seines besten Freundes Gunner – Patricks Namensvetter und Urenkel – gewesen war, seit dem Tag ihrer Geburt. Tatsächlich waren sie am gleichen Tag geboren worden; in die Welt gesetzt an einem Freitag, den 13. im Juli. Jamie hätte der Ältere der beiden sein sollen, doch nachdem Gunners Dad durch Schüsse aus einem vorbeifahrenden Auto getötet worden war – ein Kopfschuss –, hatte seine Mom frühzeitige Wehen bekommen. Blut, Gewalt und Tod geleiteten ihn und Gunner in ihr Dasein.
Seit dem ersten Tag in der gemeinsamen Kinderwiege waren ihre Leben durchgeplant gewesen. Gunner würde regieren und Jamie würde den Regenten beschützen – eine Aufgabe, über die er sich seitdem große Sorgen machte. Während im Club noch immer Loyalität und Aufopferung hochgehalten wurden, hatte er sich schon vor langer Zeit von seinen ursprünglichen Wurzeln gelöst. Drogen und Waffen zu schmuggeln – und Sex und Gewalt –, darauf lag nun das Hauptaugenmerk.
»Sie sind noch nicht mal achtzehn.«
Jamie war sich nicht sicher, wessen Stimme das war, doch offensichtlich war es jemand, der nicht glücklich darüber war, dass er und Gunner Prospects, Anwärter zur Vollmitgliedschaft, wurden.
»Sie sind keine normalen Prospects von der Straße. Wir reden hier von Gunner und Jamie.« Roccos tiefer Bariton war unschwer zu erkennen. »Sie sind verdammt noch mal für diesen Club geboren.«
»Das stimmt«, bestätigte jemand.
»Dann stimmen wir darüber ab«, sagte Rocco. »Alle, die dafür sind?«
Einer nach dem anderen, Jamie zählte elf von dreizehn Mitgliedern, stimmte dafür, dass er und Gunner Prospects wurden. Jedes Aye ließ Jamies Herz schneller schlagen und am Ende schwitzte er und war atemlos.
»Heilige Scheiße«, murmelte Jamie. Er und Gunner waren offiziell Prospects. Die jüngsten überhaupt! Gunner. Er musste Gunner anrufen.
Jamie stürzte aus dem Club, stieß beinahe ein Mädchen um, das gerade hereinkam. »Sorry«, entschuldigte er sich, ohne langsamer zu werden. In seiner Tasche fischte er nach seinem Handy, zog es heraus und klappte es auf – dann wählte er, während er sich hinter das Steuer seines Trucks setzte.
»Heilige Scheiße«, wiederholte er. Prospects! Er und Gunner waren verdammte Prospects.
»Ich hoffe für dich, es ist wichtig«, zischte Gunner durchs Telefon. Er klang atemlos und gereizt.
»Warum? Seit wann muss ich einen wichtigen Grund haben, um dich anzurufen?«, murrte Jamie.
»Oh… Ähm, Jamie, ich bin hier sozusagen beschäftigt.«
»Was zum Teufel machst du?«, fragte Jamie argwöhnisch.
Jamies Argwohn verwandelte sich in Wut, als er eine weibliche Stimme im Hintergrund schreien hörte: »Oh mein Gott. Ernsthaft, Gunner! Du musstest jetzt ans Handy gehen?«
Etwas hatte sich in Jamie verändert, als Gunner ihn vor über drei Jahren geküsst hatte. Oder vielleicht hatte sich gar nicht so sehr etwas verändert, viel eher war er sich über etwas klar geworden. Während Gunner da draußen versuchte, jede Braut, die auf Erden herumlief, zu vögeln, erwischte sich Jamie dabei, wie er nachts zu Hause von glatter Haut über einer strammen, muskulösen Brust fantasierte. Es war das Einzige, das er mit seinem besten Freund nicht teilte. Er konnte es nicht. Es gab keine Homos im Club. Sully und seine Dragqueens und Orgien zählten nicht. Er war ein Freak und das war kein Titel, den Jamie zulassen würde – Freaks waren keine Leutnants.
»Ich war sozusagen mitten im Vögeln…« Gunners Stimme war gedämpft, als würde er das Handy mit seiner Hand bedecken. »Wie war dein Name noch gleich?«
Es erklang ein unmissverständlich empörter Schrei einer Frau und mit ihm löste sich Jamies Wut in Luft auf. Was für eine Braut Gunner auch immer in seinem Bett hatte, sie schien ihm offensichtlich nichts zu bedeuten. Jamie verspürte immer noch das nagende Gefühl von Eifersucht; er konnte nicht anders. Doch zu wissen, dass sie Gunner nichts bedeutete, ließ Jamie weiterhin die Illusion, dass Gunner nur Mädchen vögelte, weil es von ihm erwartet wurde, und nicht, weil er es wollte. Dass er lieber mit ihm zusammen wäre und ihm einzig und allein Jamie wirklich wichtig war.
»Hey, beruhig dich, Baby… Leg das hin…«
Jamie kicherte, als Gunners Grunzen in der Leitung erklang. Offenbar konnte Miss Unbekannt verdammt gut zielen. Jamie klemmte sich das Handy zwischen Ohr und Schulter, startete den Motor und lächelte, während er das Drama genoss, das am anderen Ende der Leitung stattfand.
»Komm schon, Baby, sei nicht sauer. Hey! Wo gehst du hin?« Gunners flehender Stimme folgte ein lautes Knallen, das verdächtig nach einer zugeschlagenen Tür klang. »Fick dich, Schlampe! Bruder vor Luder«, schrie Gunner.
Jamie lachte laut auf und zog das Handy vom Ohr weg, als Gunner fluchte und schrie.
»Das ist nicht witzig, du Arschloch.« Gunners Stimme war nun viel klarer – anscheinend hatte er das Handy wieder am Ohr und sprach jetzt zu Jamie.
»Du hast recht«, stimmte Jamie zu und fuhr los. »Es ist urkomisch!«
»Ich hasse dich«, grummelte Gunner.
»Nein, tust du nicht. Jetzt pack deinen Schwanz weg und hör zu. Ich hab Wahnsinnsneuigkeiten.«
»Beug dich vor, Schlampe, und ich pack ihn weg. Und zwar direkt in deinen verdammten Arsch«, knurrte Gunner. »Würde dir recht geschehen, du bist Schuld an meinen blauen Eiern.«
Jamie schüttelte über die Äußerung seines Freundes den Kopf. Wenn du nur wüsstest. Doch er sprach es nicht laut aus, stattdessen scherzte er: »Du bist ein kranker Scheißkerl. Außerdem vergisst du, dass ich deinen Schwanz gesehen hab – er würde nicht reichen.«
»Ja, ja, ja. Also was gibt's so Wichtiges, dass du mir meinen Fick versaut hast?«
»Wir haben die Stimmen. Wir beide sind die jüngsten Prospects, die jemals dem Crimson VIII beigetreten sind.«
»Ich scheiß mich an, wirklich?« Gunner johlte. »Hey, das muss gefeiert werden. Schieb deinen Arsch hier rüber! Ich hab einen Sixpack hier und die Nummer von Miss Unbekannts Freundin. Zeit zu feiern!«
»Bin schon auf dem Weg.«
Jamie legte auf, warf das Handy auf den Beifahrersitz und trat aufs Gaspedal. Das wurde zu einer fantastischen Nacht. Er und Gunner würden nicht nur offizielle Clubmitglieder werden, er hatte auch verhindert, dass sein Freund diesen heißen Körper mit irgendjemand anderem teilte. Während er fuhr, stimmte er summend und mit einem Lächeln im Gesicht in die Musik ein. Für die Farbe von Gunners Eiern fühlte er sich nicht im Geringsten schuldig.
So viele Dinge können an einer Person ganz leicht verändert werden: die Haarfarbe, der Glaube, politische Ansichten, Bildung, der Job und die Kleidung, die sie trägt. Der Mensch hat einen freien Willen. Man kann sich entscheiden, ein guter Mensch, ein schlechter Mensch oder irgendetwas dazwischen zu sein. Ob man Kinder haben will, heiraten, kämpfen oder weggehen will – die Optionen sind zahllos. Doch egal, wie viele Veränderungen wir durchmachen, wie viele Masken wir tragen, wir können weder ändern, noch verbergen, wer wir im Kern sind – unser wahres Ich. Klar, Gelüste können unterdrückt, aber Verlangen nicht ausgerottet werden.
Viel zu lange habe ich versucht, das Leben von jemandem zu leben, der ich nicht bin. Doch jetzt erkenne ich, dass ich nicht gelebt habe. Ich habe existiert.
Tek Cain
Abzeichen und Schlampen
Gunner stand nach der heißen Dusche nackt und tropfnass vor dem Ganzkörperspiegel und betrachtete sein Spiegelbild. Achtzehn. Er sah ganz sicher wie ein Erwachsener aus. Er war wie sein Vater gebaut. Groß, bereits über eins neunzig und er wuchs immer noch. Wenn er so groß wie sein Vater wurde, würde er die zwei Meter knacken. Obwohl er bereits gut definierte Beine, eine breite Brust und kräftige Arme hatte, arbeitete er jeden Tag daran, seine Muskeln durch strenges Gewichtheben weiter auszubilden. Sein längeres, blondes Haar und der dazu passende Kinnbart verstärkten nur noch den Eindruck, dass er älter aussah. Gunner fuhr sich mit der Hand über den Kinnbart und lächelte, als er sich daran erinnerte, wie ihm Jamie lachend gesagt hatte, dass er wie ein Badass-Jesus aussah. Seine Stimmung verfinsterte sich und das Lächeln verschwand, als er darüber nachdachte, was er und Jamie heute Abend tun würden. Heute Abend würden sie vollwertige Mitglieder des Crimson VIII werden.
Die letzten zwei Jahre hatten Gunner das letzte bisschen Unschuld genommen. Als Prospect hatte er Scheiße gesehen und getan, auf die er nicht stolz war, doch er erinnerte sich daran, dass es nötige Übel gewesen waren. Als er den Treueeid geleistet und die Kutte angezogen hatte, hatte er geschworen, sein Blut bis zum letzten Tropfen für den Club zu geben. Loyalität und Aufopferung waren sein Credo. Das Gewicht der Aussage zeigte sich bereits in seinen Augen, es war der gleiche Ausdruck, den er in Jamies grünen Augen gesehen hatte: der Verlust der Unschuld.
Nachdem er sich vom Spiegel abgewandt hatte, nahm er sein Handtuch und fuhr sich über die Haare, dann über den Körper. Er warf es auf den Boden und schnappte sich seine Jeans vom Bett. Schwerfällig zog er sie über die feuchte Haut, gefolgt von seinem T-Shirt. Über seinen Aufzug für die abendlichen Festlichkeiten machte sich Gunner keine großen Gedanken. Er hatte vielen Partys zur vollen Mitgliedschaft beigewohnt, die alle darin geendet hatten, dass neu eingeführte Mitglieder innerhalb weniger Stunden betrunken und nackt waren. Er zweifelte nicht daran, bald in der gleichen Verfassung zu sein. Mit genug Alkohol im Blut würde es ihn dieses Mal vielleicht nicht kümmern. Würde er es vielleicht zur Abwechslung mal genießen.
Gunners Schlafzimmertür flog auf, ließ ihn zusammenfahren und instinktiv nach seiner Waffe greifen.
»Bereit zu gehen?«, fragte Jamie und trat mit einem breiten Grinsen in Gunners Zimmer.
»Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du verdammt noch mal anklopfen sollst?« Gunner knurrte und setzte sich auf die Bettkante, ehe er nach seinen Turnschuhen griff und hineinschlüpfte.
»Ähm…« Jamie legte den Kopf zur Seite und sah für einen Moment nachdenklich aus. »Ungefähr eine Million Mal«, erwiderte er feixend.
»Wenn du weiter so bei Leuten reinplatzt, endest du eines Tages noch mit einer Kugel in deinem smarten Arsch.«
»Okay, dann wirst du das hier brauchen«, kicherte Jamie. Er setzte sich neben Gunner, sodass sich ihre Schultern berührten, und hielt ihm eine Pappschachtel mit einer billigen, roten Schleife darauf entgegen. »Hier!«
»Was ist das?«, fragte Gunner stirnrunzelnd.
»Eine Bombe. Jetzt mach das verdammte Ding auf«, schnaubte Jamie.
Gunner nahm die Schachtel entgegen, während er Jamie noch immer anstarrte. Er war ähnlich wie Gunner gekleidet, trug eine zerschlissene Jeans und weiße K-Swiss-Turnschuhe, doch während Gunners Shirt schwarz war, war das von Jamie dunkelgrau. Außerdem waren sie beinahe gleich groß; Jamie war mit seinen eins fünfundneunzig etwas größer, aber ihre Muskelmasse war fast identisch. Der größte Unterschied zwischen ihnen war ihre Haarfarbe; Gunners Haare waren schmutzig blond, Jamies dunkelbraun, beinahe schwarz, so wie sein Bart. Und Gunners Augen hatten eine gewöhnliche, langweilige, braune Farbe; Jamies Augen hingegen zeigten den umwerfendsten Blauton, den Gunner je gesehen hatte. Doch er würde nicht im gleichen Gedankengang an Jamie und den Begriff umwerfend denken. Diese Gedanken waren gefährlich.
Gunner lenkte seine Aufmerksamkeit zurück auf die Schachtel, drehte sie um, studierte und schüttelte sie. Was auch immer dort drin war, verursachte ein schweres, dumpfes Geräusch.
»Würdest du das verdammte Ding einfach öffnen? Wir müssen noch zu einer Party.«
Gunner rollte leicht mit den Augen und öffnete die Schachtel schließlich. »Heilige Scheiße! Wo zur Hölle hast du die gefunden?« Er johlte. In der Schachtel lag eine TEC-9, eine halbautomatische Handfeuerwaffe, genau die Waffe, auf die er schon mit fünf ganz versessen gewesen war.
»Sully hat sie mir besorgt«, erklärte Jamie stolz. »Der Mistkerl macht tatsächlich manchmal auch was anderes als ficken.«
Vorsichtig nahm Gunner die Halbautomatische in die Hand und warf die Schachtel beiseite. Die Waffe lag gut und schwer in seiner Hand, als er mit den Fingern über den kühlen Stahl glitt. Er nahm sie richtig in die Hand, zielte auf die gegenüberliegende Wand und prüfte das Visier.
»Fuck, ich liebe sie. Danke.«
»Sie passt zu dir«, murmelte Jamie.
Gunner ließ die TEC sinken und drehte das Gesicht zu Jamie. Etwas in der Stimme seines Freundes hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen; noch merkwürdiger war die Röte auf Jamies Wangen und die Art, wie er den Blick abwandte.
»Was hat dieser Blick zu bedeuten?«, fragte Gunner.
»Welcher Blick?«, fragte Jamie, ohne Gunner anzusehen.
Er legte die Waffe auf den Nachttisch und drehte sich auf dem Bett um, damit er Jamie ansehen konnte. »Der da«, sagte er und deutete auf Jamies rote Wangen. »Wir haben keine Geheimnisse, also spuck's aus.«
»Es ist nichts.«
»Gut, dann sag's mir«, verlangte Gunner und stieß Jamie mit der Schulter an.
»Ich hab drüber nachgedacht, dass es ein guter Spitzname für dich wäre, du weißt schon, Tek, denn du bist mehr als nur eine simple Waffe.« Jamie zuckte mit den Schultern, während die Farbe in seinem Gesicht noch dunkler wurde. »Es ist irgendwie dumm, ich weiß.«
»Tek«, wieder Gunner. »Das gefällt mir.« Er warf einen Arm um Jamie, drückte ihn kurz und klopfte ihm dann einmal männlich auf den Rücken. »Alter! Das sind zwei verflucht geniale Geschenke. Bester Geburtstag überhaupt!«
Jamies Augenbrauen zuckten nach oben. »Wirklich? Du wirst sie wirklich benutzen?«
»Teufel ja! Sowohl die Waffe« – er nahm sie in die Hand und zielte wieder auf die Wand – »als auch den Namen! Tek klingt nach einem fiesen Arschloch, genau wie ich eines bin.«
»So weit würde ich nicht gehen«, schnaubte Jamie.
»Wie auch immer, Alter. Du weißt, dass es stimmt. Und heute Abend werden wir es beide krachen lassen, wenn wir unsere Abzeichen bekommen und die Schlampen flachlegen.«
»Vulgär bist du auch«, seufzte Jamie und rollte mit den Augen.
»Jep«, sagte Gunner ohne Reue in der Stimme und schlang den Arm um Jamies Schulter. »Jetzt zu deinem Geburtstagsgeschenk.« Er legte die Waffe in seinen Schoß, schnappte sich einen Umschlag vom Tisch und reichte ihn Jamie.
»Oh, cool, ein Umschlag, das hättest du doch nicht machen müssen«, meinte Jamie sarkastisch.
»Sei kein Arsch«, erwiderte Gunner. »Mein Freund, du und ich, wir werden heute unser erstes Tattoo bekommen.«
»Ernsthaft, du schenkst mir zum Geburtstag Schmerzen? Wow, und alles, was ich dir besorgt hab, war eine Waffe.«
»Du kannst es später wiedergutmachen, indem du die erste Runde ausgibst«, neckte Gunner ihn. »Komm, los geht's!«
»Was, jetzt?«, quiekte Jamie.
»Was du heute kannst besorgen…« Gunner löste sich von Jamie und stand auf. Dann schob er die TEC-9 unter sein Kissen; er würde sie später holen. Er konnte es gar nicht erwarten, vor den anderen Jungs mit ihr anzugeben. »Du hast doch keine Angst, oder?«, fragte Gunner und hob eine Augenbraue. »Mach dir keine Sorgen, Baby, ich halt deine Hand.«
Jamie stand auf und steuerte ohne ein Wort auf die Zimmertür zu, doch der Mittelfinger war Antwort genug.
***
Jamie lag auf dem Bauch, den Kopf hatte er auf seine verschränkten Armen gebettet. Schweiß rann über seine Schläfen, sein Magen war aufgewühlt und sein Rücken stand verdammt noch mal in Flammen. Die ersten paar Stunden waren nicht so schlimm gewesen, doch in der vierten und fünften hatte er die Hölle auf Erden durchlitten. Es fühlte sich an, als hätte er einen wirklich schlimmen Sonnenbrand und ein Arschloch namens Christian schlug immer wieder darauf ein. Ein Arschloch, dem er so gerne die Faust ins Gesicht rammen würde, doch er wagte es nicht, sich zu bewegen. Jamie riskierte einen Blick auf Gunner. Der Bastard hatte Kopfhörer aufgesetzt und trug einen seligen Gesichtsausdruck zur Schau, während der Tattookünstler weitere Tinte auf Gunners Rücken ergänzte.
Sie hatten sich beide für den Clubnamen entschieden – Crimson VIII – der Tradition nach in einer Schrift im Gangster-Stil, in einem Bogen von Schulterblatt zu Schulterblatt. Darunter wurde das Clublogo tätowiert – ein Totenschädel, aus dem der Griff einer Klinge ragte und aus dessen Augenhöhlen Blut tropfte – von acht Würfeln umschlossen. Direkt unter dem klaffenden Mund des Schädels waren die Worte All eight in der gleichen Gangster-Schrift geschrieben. Um das Tattoo zu vervollständigen, sollte jedes Mitglied den Kreis mit etwas Bedeutungsvollem in einem umgekehrten Bogen hinzufügen. Jamie hatte sich für Truth & Knowledge entschieden – aus persönlichen Gründen, die er niemals jemandem verraten würde. Gunner hatte Cradle to Grave gewählt, eine passende Aussage, da Gunner in den Club hineingeboren worden war und als sein Anführer sterben würde.
Im Moment kümmerten Jamie allerdings weder Traditionen, noch Clubs oder sonst irgendein Scheiß. Er hatte verdammte Schmerzen, aber nie im Leben würde sie nach außen zeigen. Er wusste, sobald er es täte, würde Gunner die Augen öffnen und ihn erwischen. Seit die Folter begonnen hatte, sah Gunner alle paar Augenblicke nach Jamie.
Jamie biss die Zähne zusammen und hielt den Atem an, als die Nadel über sein Kreuz sägte. Die Bereiche über den hervortretenden Knochen seiner Wirbelsäule waren am schwersten zu ertragen. Spannung machte sich in seinen Muskeln breit, bis er glaubte, zerspringen zu müssen. Sein Kiefer schmerzte, in seinem Kopf pochte es; ein innerer Krieg wütete, sein Verlangen, das Gesicht zu wahren, war nur wenig stärker als das Bedürfnis, vor Schmerzen aufzuheulen, doch er geriet ins Schwanken. Gott, es tat verflucht weh! Als er glaubte, es nicht eine Sekunde länger aushalten zu können, und den Mund bereits geöffnet hatte, um die Worte, die diesen Wahnsinn beenden würde, auszusprechen, wurde er von zwei süßen Worten gerettet, die er seit den letzten fünf Stunden hören wollte: »Alles fertig.«
Mit einem schweren, erleichterten Seufzen schloss Jamie die Augen und sackte erschöpft auf dem Tisch zusammen. Seine Muskeln zuckten, als ein kühles Tuch über seinen Rücken glitt. Verglichen mit dem Feuer der Tätowiermaschine auf der misshandelten Haut, war das Tuch geradezu wohltuend.
»Geht's dir gut, Jamie?«, fragte Gunner.
Jamie konnte nicht einmal die Kraft aufbringen, um die Augen zu öffnen, er brauchte nur einen Moment zum Durchatmen, zwang sich jedoch zu einem leichten Nicken.
»Das war verdammt berauschend!«, verkündete Gunner.
Ja, berauschend… Klar. Schläfrig schlug Jamie die Augen auf, um zu sehen, wie Gunner sich rittlings auf den Tisch setzte, den frisch tätowierten Rücken Jamie zugewandt, doch sein Freund sah mit einem breiten, albernen Grinsen über die Schulter. Er begegnete Jamies Blick und zwinkerte.