Gusti zwischen Hüh und Hott - Lise Gast - E-Book

Gusti zwischen Hüh und Hott E-Book

Lise Gast

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Beschreibung

Obwohl Gusti klare Vorstellungen vom Leben hat und mit grossem Enthusiasmus ihre Ziele verfolgt, muss sie sich eingestehen, dass das Leben für sie Situationen bereithält, über die sie nicht einmal im Traum nachgedacht hätte. Immer wieder durchkreuzt das Schicksal ihre sorgfältig erdachten Pläne und Gusti muss sich ständig neu orientieren. Zum guten Glück ist Gusti ein bodenständiges Mädchen, das auch brenzlige Situationen erfolgreich meistert... -

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Lise Gast

Gusti zwischen Hüh und Hott

Saga

Gusti zwischen Hüh und Hott

German

© 1973 Lise Gast

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711509487

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

1

Ich stand auf dem Kopf und zählte halblaut vor mich hin. Dreiundsechzig, vierundsechzig, fünfundsechzig ... Wenn ich bis hundert kommen sollte, lief die Sache gut aus. Den Kopf hatte ich auf ein Kissen und die Hände auf den Fußboden gestützt und hielt die Beine gestreckt nach oben. Meine Füße beschrieben kleine schwankende Kreise in der Luft. Einundachtzig, zweiundachtzig, drei ... Ruhe, Ruhe. Wenn ich so weit gekommen war, kam ich auch noch bis hundert. Es war lediglich eine Frage des Durchhaltens.

Das hatten wir unzählige Male von Mutter gehört. Es gibt Standardausdrücke bei Mutter, die man, auch wenn man nach außen hin tut, als lächle man darüber, längst akzeptiert und übernommen hat. Nicht nur ich, sondern wir alle. Dazu gehört die Frage des Durchhaltens.

Einundneunzig, zweiund ... Nicht ins Wackeln kommen! Mutter hat schließlich einiges durchhalten müssen im Leben, es ist im Grunde nicht fair, sich über sie lustig zu machen. Wir tun es eigentlich auch nicht, sondern stellen uns nur so, weil es dazugehört. Mutter ist eine solche – nun, Persönlichkeit, in deren Schatten alle ihr Nahestehenden dahinwelken, um es einmal poetisch auszudrücken. Im Grund welkt niemand von uns, wir sind allesamt stramm und bodenständig – wie unsere Mutter.

Hundert! Runter die Beine, hoch den Kopf! Ich richtete mich auf, blies die Luft ab und fuhr mir durch die leicht zerdrückten Dauerwellen. Wenn man so lange auf dem Kopf steht, wie man braucht, um bis hundert zu zählen, soll das Gehirn unwahrscheinlich gut durchblutet und fähig sein, die schwierigsten geistigen Arbeiten zu leisten. Und heute brauchte ich mein Gehirn.

Ich wartete also nicht, bis der heilsame Blutandrang im Kopf wieder verebbte, sondern setzte mich, wie ich war, barfuß im Schlafanzug an den Tisch, spreizte die nackten Zehen und tauchte den Kugelschreiber rief in ein imaginäres Tintenfaß.

Es galt, den Abschiedsbrief an Holger zu schreiben. Holger Nielson, mein Verlobter – ich wußte von ihm nichts anderes, als daß er Schwede, rotblond, Student der Zeitungswissenschaft und achtundzwanzig Jahre alt war. Gesehen hatte ich ihn nie, auch kein Bild.

Diese etwas mysteriöse Verlobung, aus der dieser Brief mich befreien sollte, hatte ihren Ursprung in einem Artikel über Rohkost, den ich eines Tages an eine Zeitschrift geschickt und den Holger gelesen hatte. Eigentlich war er von mir nur übersetzt worden, um mein gelehrtes, perfektes Englisch anzuwenden. Ich bin schließlich alles andere als eine Rohköstlerin und verachte keineswegs ein kerniges Eisbein oder eine Scheibe köstlichen Schinkens. Holger aber las, fühlte eine bestürzende Ähnlichkeit der Seelen und schrieb umgehend in diesem Sinn sehr ausführlich und von Anfang bis Ende Schwedisch, in einer Sprache also, die ich nicht beherrsche. Neugierig geworden, ging ich zu einer Übersetzerin, und dieser Schritt lenkte mich in einen neuen Lebensabschnitt hinein, wie das manchmal so geht.

Diese Übersetzerin ist in Rußland aufgewachsen und hat so viel erlebt, daß man damit mühelos drei Leben ausfüllen könnte. Meine schriftliche Verlobung nahm sie ungefragt für eine wirkliche. Jetzt aber wollte Holger kommen, und wenn er eines Tages wirklich hier auftauchte, würde ich ihn womöglich, nur um die Prinzessin, die ich Mami nannte, nicht zu enttäuschen, auch noch heiraten.

Dies mußte verhindert werden. Ich kenne mich und mein in mancher Hinsicht schwaches Herz, deshalb war es an der Zeit, einen glaubhaften und erfolgreichen Abschiedsbrief zu verfassen. Darum hatte ich so lange auf dem Kopf gestanden, nun sollte mein Gehirn zeigen, was an diesem Rezept stimmt. Irgend etwas Glaubhaftes mußte mir einfallen, weswegen die Verlobung sich in Luft auflöste. Auf keinen, auf gar keinen Fall durfte Holger herkommen. Und daß dies drohte, hatte ich genau im Gefühl.

Ich schrieb also. Dear Holger, it is very, very – ja, was denn nun? Immer kam mir nur „What a pity“ in den Sinn. Was aber hieß „bedauerlich“ in genauer Übersetzung? Nicht traurig oder schrecklich oder schlimm – bedauerlich sollte es heißen. Ich war nun schon so lange in England, daß ich anfing, englisch zu träumen – sollte ich da nicht den haargenau treffenden Ausdruck finden?

Herübergekommen bin ich, weil ich es satt hatte, ewig gegängelt zu werden. Mutter kann es nicht lassen, zu regieren. Ich bin die dritte von sechs Geschwistern, drei Töchtern und drei Söhnen, und studierte in Göttingen, als sie mir eines Tages eröffnete, ich würde von nun an zu Hause wohnen, das sei billiger. Sie habe eine tägliche Fahrgelegenheit gefunden, die nichts koste – wahrscheinlich einen Milchwagen, bei dem ich auf den Kannen sitzen sollte, so jedenfalls vermutete ich. Da gab es bei mir einen Kurzschluß, wie er sich ab und zu einmal einstellte.

„Wer Sprachen studiert, muß im Ausland gewesen sein“, sagte ich und entzog mich Mutters Bannkreis. Für ein Jahr, wie ich sagte. Und dachte. Diese Kanalüberquerung hatte noch andere Gründe. Davon später. Alles paßte gut zusammen, und aus dem einen Jahr wurden mehrere.

„Dear Holger, it is very, very ...“, also wenn es mir englisch nicht einfiel, vielleicht schwedisch. Ich angelte nach dem Wörterbuch, das Holger mir einmal geschickt hatte; es lag quer auf den anderen Büchern, leicht zu finden, und schlug es auf. Bedacht, bedächtig, be ... Bedauerlich, da stand es. Beklaglich, na also!

Ich lachte. Das Wort war mir sofort sympathisch. Ich schrieb es also in den englischen Text hinein, betrachtete es verliebt, überlegte, ob man es nicht mit rotem statt mit schwarzem Stift hätte hinsetzen sollen, nahm einen neuen Briefbogen. Dear Holger, it is ...

Das Telefon. Es läutete oft in diesem sonst eigentlich ziemlich zähfließenden Haushalt, und ich meinte, es würde sich schon jemand finden, der abhob. Mich würde es sicher nichts angehen.

Das aber erwies sich als Irrtum.

„Miß Börggreef“, sie kann meinen Namen, wir heißen Burggraf, natürlich nicht aussprechen, denn sie ist Engländerin. Sie bemüht sich auch nicht. „Come along ...“ Es klang wie immer, wenn sie mich rief, so daß ich sofort kam, nur um den Ruf nicht ein zweites Mal ertragen zu müssen. Sie gehört zum Stamm der Perlhühner, ihre Stimme erregt erst Mitleid und dann Raserei. Auf meiner ersten Station in England, einer Farm – ich verließ sie sehr bald wieder –, hatten wir Perlhühner. Sie kreischten ohne Grund, aber nervenzerreißend. Seitdem hasse ich Perlhühner.

Ich kam also along, widerwillig zwar, aber ich kam. Und mit einem Male hatte ich mein Leben um achtzig Grad gedreht.

Evelyn war am Telefon, Evelyn, die älteste von uns.

„Du mußt unbedingt kommen, ich heirate diese Woche“, hörte ich. Evelyns Redeweise gleicht einem Maschinengewehr, das der Bedienende auf „noch schneller“ gestellt hat, falls es so etwas bei Maschinengewehren gibt. Sie spricht nicht, sie schnurrt, sie rasselt, sie prasselt – unbremsbar, ununterbrechbar. „Freitag Standesamt, Samstag richtige Hochzeit. Es ist ja wohl selbstverständlich, daß alle kommen, höchste Alarmstufe, sozusagen Notdurft.“ Sie meinte Notstand. Evelyn hat die unablegbare Eigenschaft, Sprichwörter, Redensarten oder Fremdwörter grundsätzlich nur verdreht, vertauscht und falsch anzuwenden. Ohne diese Eigenschaften wäre sie einfach nicht sie selbst.

„Sebastian kommt aus Holland, er ist dort in einer deutschen Familie, verdient sich etwas fürs Semester durch Babysitten oder Heimfahren Betrunkener oder so ähnlich, es kann auch sein, daß er Betrunkene beaufsichtigt und Babys heimfährt. Er kommt am Donnerstag, Lindi ist schon hier. Die anderen – ja, zugesagt haben sie alle. Schenken brauchst du nichts, wir sagen euch hier alles, was wir brauchen. Mutter hat das Lokal schon ausgesucht, weil es zu Hause doch etwas eng würde, die alte ‚Sonne‘, aber neue Inhaber. Dort muß man den Wein vom Wirt trinken, Mutter hatte schon welchen gekauft, um ihn mitzubringen, weil das viel billiger ist. Auf zwölf Flaschen bekommt man eine dreizehnte drauf, also umsonst und sozusagen freiwillig, und das hat Mutter verlockt. Nun müssen wir aber den Wein des Lokals trinken, es ist dieselbe Marke, Zeller schwarzer Krötenbrunnen oder so ähnlich, aber was im Laden zweifünfundachtzig kostet, kostet dort neun Mark. Da hat Mutter gesagt, weil Vater doch nicht mehr lebt und die große Rede nicht halten kann, wird sie es tun und gleich mit einflechten, daß nicht so viel Wein getrunken wird, weil er so teuer ist, aber ...“

„Wen ...“, setzte ich an, wurde aber sofort wieder von Evelyns Sprachlawine niedergewalzt.

„Und essen soll man dort sehr gut. Ich glaube ja, daß Essen bei einer Hochzeit zweitrangig ist, wenigstens für die Beteiligten, ich meine für die Leidtragenden ...“

„Wen ...“, versuchte ich, bereits schwächer im Ton.

„... aber den anderen schmeckte es bei Hochzeiten immer besonders, Henkersmahlzeiten sind ...“

„Wen ...“

„Sprechzeit vorbei, du mußt das einsehen und dich kurz fassen, es wird mir zu teuer. Wir holen dich ab, ruf an, wenn du da bist. Also bis spätestens Donnerstag ...“ Klick. Eingehängt. Da stand ich also.

Heute war Montag. Die Woche fing gut an. Ich legte auf, atemlos, erschöpft. Dabei hatte ich das ganze Telefongespräch über nichts gesagt als dreimal „wen“. Wen Evelyn denn nun eigentlich heiratete, hätte ich immerhin gern gewußt. Ich war mit meiner Frage nicht durchgekommen.

Gleichgültig – ich mußte wegfahren, ich hatte einen Grund. Holger kennt meine Heimatadresse nicht. Wenn ich also hier ohne Hinterlassung einer solchen verblühte, war ich außer Gefahr. Hurra! Hurra und Horridoh!

„Ich fahre! Ich fahre! Missis Saylor, ich muß at home, nach Hause! Sie können mir nachweinen! Holger, what a pity, my sister ist marrying, sie heiratet ...“

Nach Hause gab ich keine genaue Nachricht. Sie würden schon merken, wenn ich da war. Lindi hat mir später geschildert, wie es vor der Hochzeit bei uns zuging.

Mutter, die Burgfrau, von uns auch, wenn wir uns über sie ärgern, mitunter das Schloßgespenst genannt – die Herrin also saß in ihrem Wohnzimmer vor dem alten Sekretär und regierte. Wenn man mir sagt, ich sähe ihr ähnlich, so bin ich darüber nicht restlos entzückt, begreiflicherweise. Nicht restlos, zum Teil also doch. Denn obwohl die Herrin in ihren Kurven ausladender ist, als das tyrannische Schönheitsideal unserer Zeit es verlangt, wirkt sie trotzdem noch immer so, daß alle anwesenden Männer aufmerksam werden, sie also nicht übersehen. Pompös, ja königlich in ihrer Haltung, thronte sie vor ihrem Sekretär, sich ihrer Autorität bewußt. Jeder junge Mensch fliegt auf wie der Vogel vom Telefondraht, wenn sie sich erhebt, um den Raum zu verlassen, und alle Türen öffnen sich vor ihr, durch die sie dann rauscht wie durch eigens für sie gebaute Triumphbögen. Ihre Stimme, von Befehlen, Tadeln und Anweisungen leicht angeraucht, hat im Timbre etwas nachgelassen, so daß mancher Telefonpartner, der das erstemal mit ihr spricht, am anderen Ende der Leitung schüchtern bittet: „Ich hätte eigentlich mit Frau Burggraf sprechen wollen.“

„Ein angenehm versoffenes Organ“, nennt Albrecht die Stimme unserer Mutter. Indes: Sie säuft nicht. Sie raucht, aber vom Trinken hält sie nichts, was sie auch auf uns Kinder überträgt. Wir durften von jeher freiwillig auf Alkohol verzichten, da unsere Mutter es tut. Es gab einmal eine Zeit des schlichten Prunks, der relativen Wahrheit und des freiwilligen Zwangs. Letzteren hat die Burgfrau beibehalten.

„Lindi!“

Sogleich näherten sich eilende Schritte. Frau Burggrafs Kinder parieren wie gut abgerichtete Jagdhunde.

Lindi ist Nummer zwei, die zweite Enttäuschung in punkto Stammhalter. Sie schlägt nach irgendeinem verschollenen Urahn, ist groß, größer als wir anderen Schwestern und Mutter, weißblond – vielleicht nicht von Natur aus. Wozu aber gibt es Haaraufheller? Die Industrie will auch leben – und außerordentlich begabt.

Das sind wir anderen nicht, wir halten uns in bezug auf Geistesgaben im schlichten Durchschnitt. Lindi hat zeitig Abitur gemacht und studiert Tiermedizin. Ihre Augen sind im reizvollen Gegensatz zum hellen Haar von einem ausgesprochen schönen Braun. Mutter sah es wieder mit Vergnügen, hingegen mißfiel ihr die Frisur.

„Du solltest dein Haar länger tragen“, meinte sie also, als habe sie Lindi deshalb hergerufen, „es paßt nicht, im Abendkleid mit kurzgeschnittenen Fransen zu erscheinen.“

„Das wird sich bis Samstag nicht machen lassen, außer du kaufst mir eine Perücke“, entgegnete Lindi bieder bedauernd. „Übrigens ist es ja heute wohl so, daß die Mütter die Töchter ermahnen: Laß dir das Haar schneiden, du siehst ja aus wie ein Junge.“

„Als ob Albrecht oder Sebastian es wagen würden, mir mit ungepflegtem Langhaar vor die Augen zu kommen!“

Lindi lachte. „Es könnte ja auch gepflegtes sein. Und bereits die Romantiker trugen ...“

„Ich weiß. Geh und füttere die Hühner“, sagte Mutter abschließend. „Aber sieh zu, daß Hannibal nicht alles bekommt, er ist ein bißchen ...“

„Ein bißchen sehr“, vollendete Lindi vergnügt, „aber ich passe schon auf. Du, Mutsch ...“, sie allein durfte die Herrin so nennen, die anderen hatten ehrfürchtig „Mutter“ zu sagen, und man hörte, wenn man einigermaßen hellhörig war, das „Frau“ vor dem Wort „Mutter“ sehr genau. „Mutsch, ich glaube, Kersten ...“

„Hm?“

Lindi, nicht ganz sicher, ob sie sich zu weit vorgewagt habe, stand mit etwas eingezogenen Schultern zwischen Mutters Sekretär und der Tür, abflugbereit.

„Kersten hat ...“

„Was hat er?“ fragte die Herrin, gleichzeitig gestört – sie addierte gerade eine Kolonne Zahlen – und neugierig. Kersten, ihr Jüngster, nimmt eine Sonderstellung in ihrem Herzen ein, das wissen wir.

„Er hat auch – jedenfalls –, ein Freund von ihm hat mir erzählt ...“

„Was hat er?“ Jetzt klang die Stimme der Altvorderen ausgesprochen warnend, mit einem grollenden Unterton, der an das zum Brüllen ansetzende Knurren einer Löwin erinnerte. Lindi stand auf dem Sprung.

„Locken. Lange. Goldblonde“, flüsterte sie, mit Schauder und Wollust die Reaktion dieser unerhörten Worte abwartend. Und die Reaktion kam. Mutter hob den Kopf.

„Das darf nicht wahr sein ...“ Kurze Atempause. Lindi lief es eiskalt über den Rücken. „Aber bei Kersten – bei ihm sind auch Locken schön.“

Lindi lachte noch, als sie am Hühnergehege ankam.

2

Wir wohnen in einer ehemaligen Arbeiterwohnung eines Gutes, das keines mehr ist. Der Besitzer hat sich, wie es heute viele Bauern tun, auf ein Spezialgebiet beschränkt und sein Land verkauft. Er züchtet Schweine, verkauft Ferkel. Fertig. Auf diesem Gebiet ist er führend. Da er gern frühstückt – frühstücken ist seine Leidenschaft –, hat er seinen ganzen Tagesrhythmus auf diese Mahlzeit zugeschnitten. „Kein Bauer muß vor Tau und Tag aufstehen, wenn er sein Vieh von Anfang an daran gewöhnt“, sagt er, schläft bis acht, frühstückt bis neun und geht dann Füttern. Mutter findet das durchaus anerkennenswert.

Unsere Wohnung besteht aus drei kleinen, mit Urväterhauskram vollgestopften Zimmern in einem Fachwerkhäuschen, einer kajütenkleinen Küche und einem riesengroßen Sitzplatz vor dem Haus, auf dem sich sommers das ganze Leben abspielt. Zum vierten Zimmer, dem mit Ziehkette, um es manierlich auszudrücken, ist es nicht nahe. Mutter pflegt dorthin zu radeln, über den ganzen breiten Gutshof hinweg. Sie besitzt ein sehr schönes Fahrrad, das wir ihr zum fünfzigsten Geburtstag verehrten, ein holländisches, siebenmal verchromtes, das fast von allein läuft.

Außer den drei ziemlich kleinen Zimmern gehört noch ein Trockenboden zu unserem Domizil, der allerdings in einem anderen Gebäude liegt. Dort befinden sich unsere Betten und einige für Gäste. Jedes Bett kann durch einen Vorhang, den man rundherum zuzieht, der Sicht der anderen entzogen werden. Waschen muß man sich in der Waschküche desselben Hauses, wo ein Schlauch die Dusche ersetzt. Wir kennen es nicht anders, haben von je Freunde mitgebracht, die ebenso spartanisch untergebracht werden – sie fanden es immer sehr originell –, und lassen unsererseits Mutter eine ganze Menge Freiheit. Manchmal allerdings meutern wir, wenn sie ihre Fuchtel allzu kräftig schwingt, uneingedenk dessen, daß junge Menschen auch einmal erwachsen werden.

Was hilft’s? „Solange man eine Mutter hat, bleibt man Kind“, ist einer ihrer Kerngrundsätze, und da sie beschlossen hat, neunundneunzig Jahre alt zu werden, sehen wir seufzend ein, daß wir also nie in den Stand der Gnade, sprich Selbstentscheidung, kommen werden.

Lindi ging also Hühner füttern. Mutter hat eine Schwäche für Geflügel, die von keinem von uns geteilt wird. Hühner, das blödeste, was es gibt. Wenn sie klein und niedlich sind, goldgelbe Federbällchen – die Herrin läßt ihre Glucken natürlich selbst brüten –, sterben sie manchmal ohne Grund, sozusagen aus reiner Bosheit, und das gleich in großen Mengen – und als erwachsene Hennen legen sie zwar Eier, die aber kann man müheloser kaufen. Dieses Gegacker und Gerase, dieser Mief, der auch gut gehaltene Hühnerställe erfüllt. Wie gemütlich riecht dagegen ein Kuhstall, wie erregend herb Pferdeausdünstung.

Nein, mit Hühnern können wir uns nicht anfreunden. Man erträgt sie, das aber ist auch alles.

Und Hannibal, der Hahn! Lindi, sonst tierlieb wie wir alle – sie hat aus Tierliebe das Studium der Tiermedizin gewählt, ein Unterfangen, von dem ihr mancher, und das zu Recht, ernstlich abgeraten hat –, kann diesen Gockel nicht ausstehen und verdenkt der verehrten Herrin den Kult, den diese mit ihm treibt. Hannibal ist sicher der schönste, aber charakterlich der abscheulichste Hahn landab, landauf. Nur um seiner Bosheit willen ist sein Hühnervolk in ein Maschenviereck eingeschlossen, was übrigens alle von uns ausnahmslos begrüßen. Früher hatten die Hühner überall Zugang, und das wirkte sich vor allem auf dem Sitzplatz nicht erfreulich aus. Hannibal ist – ja, es läßt sich nicht anders ausdrücken –, er ist menschenwütig, er kann Menschen nicht leiden, er attackiert sie. Er fliegt auf einen zu und hackt nach einem, wenn man das Gehege betritt, reißt einem die Kleider vom Leib und purrt immer wieder wie ein Sturmbock auf einen los. Ohne Waffe kann man seinen Bannkreis überhaupt nicht betreten.

Lindi ergriff also den Stock, der am Tor lehnte, und betrat die Vorhölle.

Sie war eine Zeitlang nicht zu Hause gewesen und hatte sich auch in den letzten Tagen erfolgreich um die Hühnerfütterung gedrückt. Jetzt merkte sie, daß es besser gewesen wäre, sie hätte sich vorher erkundigt. Hannibal schien an Schrecklichkeit zugenommen zu haben. Er raste, kaum daß sie sich zur Tür hereingezwängt hatte, auf sie zu und schlug mit den Flügeln, laut krakeelend. Lindi schützte ihr Gesicht mit dem gekrümmten linken Arm, während sie mit dem rechten den Stock schwang und „Mistbock, elendiger!“ schrie. Sie kämpfte sich bis zum Hühnerhaus durch, riß die Schiebetür auf und ging, um sich schlagend, wieder rückwärts. Erhitzt, erschöpft und mit zerstrubbeltem Haar stand sie endlich wieder außerhalb des Geheges. Das Körnerfutter kann man ja durch das Drahtgitter werfen. Aber herausgelassen müssen die Hühner werden, Hannibal übernachtet stets im Freien innerhalb des Geheges auf einem Baum, daher vielleicht seine Schönheit.

Denn wunderschön ist er, da besteht kein Zweifel. Sein dunkles Gefieder glänzt wie Metall, und der gebogene Schwanz schillert in allen Farben. Lindi stand eine Weile, betrachtete ihn und überlegte, ob er wohl auch so wild und angriffslustig wäre, wenn er nicht so schön aussähe. Sie hatte die Erfahrung gemacht, daß Menschen, die schön waren oder sich schön fanden, manche Eigenschaften entwickelten, die sich normale nie leisten würden. Arroganz zum Beispiel oder ...

Hui, kam Hannibal geflogen, auf sie zu, die hinter der ebenfalls mit Maschendraht bezogenen Eingangstür stehengeblieben war, und hakte sich mit den Füßen in den Draht, auf halber Höhe hängend, um wütend nach ihr zu hacken. Sie trat einen halben Schritt zurück. Woher kam diese Bosheit? Hatte der Mensch diesem Tier nicht immer das Futter gebracht, dafür gesorgt, daß es einen Unterschlupf, Auslauf, genügend Damen zur Gesellschaft hatte? Stimmten hier vielleicht die Hormone nicht? Darauf ist ja manches zurückzuführen, jedenfalls in der Wissenschaft. Wenn bei einem von uns Geschwistern etwas wie Angriffslust oder auch nur Widerstand Mutter gegenüber zu spüren wäre, so würde diese das nie auf gestörte Hormone, sondern immer auf simple Unausstehlichkeit zurückführen. Ach ja, unsere Burgfrau.

Lindi bummelte zurück, langsam, einen Fuß nachdenklich vor den anderen setzend. Sie hatte jetzt Hannibal ganz vergessen und dachte an einen Menschen, an einen schönen Menschen. Einen schönen, jungen, einen Menschen männlichen Geschlechts. Und sie hatte das Gefühl, daß sie sich, wenn dieser ihr jetzt mit oder ohne Maschendraht vors Gesicht käme, ähnlich benehmen würde wie der wüterige Hahn: ihm ins Gesicht springen und auf ihn loshacken, wo es auch hinträfe. Haut den Lukas, gib ihm Saures, Blut muß fließen ...

Ach, ach, ach, was nützte es, sich in solchen Träumen zu ergehen? Er war nicht hier, und wäre er es, so würde sie sich nicht so benehmen, wie sie es sich jetzt rachsüchtig ausmalte, ganz abgesehen davon, daß Frauen, die wütend werden, sehr an Charme einbüßen. Da werden Weiber zu Hyänen – nein, danke, ohne mich, es ist eine Frage des Geschmacks.

Sie hatte ihn geliebt. So, daß ihr Herz lostrommelte, wenn sie ihn nur von weitem sah, daß sie kaum sprechen konnte, wenn er sie anredete. Nichts war zwischen ihnen gewesen, als daß sie ihn liebte und er eines Tages sagte, ganz unbefangen, so wie etwa ein anderer über eine Automarke oder die Bundesliga spricht: „Für mich kommt natürlich nur ein reiches Mädchen in Frage. Bei meinem Aussehen kann ich das erwarten. Ein reiches, und hübsch und gescheit muß es natürlich auch sein. Darunter tue ich es nicht.“

Es war nicht die Tatsache, daß sie selbst nicht reich war und niemals sein würde, auch nicht allzu hübsch und gescheit. Das alles war es nicht. Aber daß er es fertigbrachte, so etwas zu sagen, nicht im Spaß, im Ernst.

O ja, das tat weh. Liebe tut weh. Denn sie liebte ihn immer noch, obwohl sie ihn verachtete, verachten mußte ob dieser seiner Einstellung. Ihr Herz war nicht gebrochen, nicht im anatomischen Sinn, o nein. Sie fühlte es deutlich klopfen, der Puls war weder beschleunigt noch matt, der Appetit gut (leider, im Hinblick auf die erstrebte schlanke Linie), und geschlafen hatte sie heute nacht wie ein Bauer, der seine Ernte wieder goldschwer in die Scheuer eingebracht hat. Dennoch ...

Die Liebe. Ein alter, übrigens sehr reizender, kluger und belesener Herr hatte uns einmal gesagt: „Wieviel Unheil und Kummer, wie viele Verbrechen und Tragödien entstehen durch die Liebe. Zur Fortpflanzung ist sie zwar nötig, aber wäre es nicht besser, der Mensch pflanzte sich durch Teilung fort?“ Er sagte Deilung, denn er stammte aus Sachsen. Es klang hinreißend.

Wir hatten ihn angestarrt, sein freundliches, faltendurchriffeltes, geliebtes Gesicht, seine grauen Augen. In ihren Winkeln saß ein verstecktes Lächeln, man fühlte es mehr, als man es sah. Ich nahm den alten Herrn, was ich noch nie getan hatte, spontan um den Hals, drückte mein Gesicht an seine Brust, während ich den Kopf schüttelte, wild, daß der feine alte Herr beinah ins Wanken kam.

„Nein. Nein. Nein. Was wäre die Welt ohne die Liebe?“