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Es wird zwar viel diskutiert über Werte und Tugenden, doch in unserem Alltag helfen uns diese abstrakten Debatten kaum weiter: Viele Menschen fühlen sich überfordert zu entscheiden, welches Verhalten »richtig« wäre.
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Seitenzahl: 173
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Herzlich willkommen bei uns in der Redaktion! Lieber Herr Schweinehund, danke, dass Sie sich die Zeit für dieses Interview zum Thema Werte und Tugenden genommen haben. Und damit sind wir auch schon bei unserer ersten Frage: Wie kommt es eigentlich, dass Sie als Schweinehund zu solchen Themen überhaupt Stellung nehmen, wo doch jeder weiß, dass Ihre Absichten alles andere als tugendhaft und werteorientiert sind? Oder liege ich mit dieser Annahme falsch?
Nein, keineswegs. Damit haben Sie unsere Natur richtig erkannt. Schon wenn wir das Wort Tugend oder Werte hören, sträuben sich uns alle Borsten. Es bedarf eines langen Lern- und Wandlungsprozesses, einen von uns in diesem Sinne »bekehren« zu wollen. Und ich sage Ihnen ganz offen: Ganz bekehrt bin auch ich noch nicht. Allerdings habe ich begriffen und erfahren, dass das Leben lustvoller und erfüllter ist, wenn der Mensch Tugenden und Werte auf behutsame Weise integriert und lebt. Und zwar nicht nur für ihn, sondern auch für seinen inneren Schweinehund, also für uns. Meinem Menschen ist dies gelungen, trotz aller meiner anfänglichen Sabotageversuche, und es geht uns beiden – das können Sie mir glauben – mittlerweile wesentlich besser. Denn Wohlgefühl, körperlich wie auch seelisch, ist nun mal auch unser Ziel. Insofern geht es auch uns darum, gut und richtig zu leben, und nur aus diesem Grunde stehe ich Ihnen auch für dieses Interview zur Verfügung.
|8|(Und mit einem Lächeln fügt er hinzu:) Mag sein, dass wir das »richtig« manchmal anders verstehen – wir wollen das Leben halt »richtig« genießen.
Herr Schweinehund, in Ihren Büchern haben Sie uns schon viel über schweinehündische Eigenarten verraten. Heben Sie nun den moralischen Zeigefinger?
Nein, ganz im Gegenteil. Wir Schweinehunde reagieren empfindlich auf erhobene Zeigefinger. Das vorliegende Buch ist keine Moralpredigt. Es kann den Menschen vielmehr helfen, sich über ihre Wertvorstellungen klar zu werden, und ihnen zeigen, wie sie diese zusammen mit ihrem inneren Schweinehund leben können. Und ich sage Ihnen ganz klar: nur zusammen, denn wenn sie es alleine versuchen, werden sie an unseren Sabotageakten scheitern.
Warum aber sollte man sich überhaupt mit seinen Wertvorstellungen beschäftigen?
Eine gute Frage. In der Tat verfügen die meisten Menschen über Wertvorstellungen, ohne dass sie sich darüber viele Gedanken machen. Diese Wertvorstellungen sind wohl in unserer Kultur verankert, man lernt sie schon als Kind kennen. Wenn die Menschen ihre Wertvorstellungen aber nicht reflektieren, sind sie durch uns Schweinehunde relativ leicht vom Pfad der Tugend abzubringen.
Wie das? Sie sagten doch gerade, dass die Menschen auch ohne Nachdenken eine Vorstellung von dem haben, was gut und richtig ist.
Ja, das haben sie. Wenn wir Schweinehunde sie aber in einer konkreten Situation verführen wollen, können sie uns nur entgegenhalten: »Das macht man nicht!« Es fehlen ihnen die wirklich guten Argumente.
|9|Argumente?
Richtig. Es lässt sich klar und logisch zeigen – wie dieses Buch es auch tut –, warum ein gutes und richtiges Leben das bessere Leben ist. Zumindest meistens.
Welche Situationen sind es denn, in denen der Schweinehund angreift?
Die Liste der Tugenden ist so lang wie die der Verführungen. Wir Schweinehunde sind von Natur aus eher faul und nicht besonders mutig. Wir suchen in erster Linie den Genuss, und dabei sind wir manchmal egoistisch und rücksichtslos. Wir greifen nach jedem Vorteil, der sich uns beziehungsweise unserem Menschen bietet, und prinzipiell ist uns jedes Mittel recht, wenn es nur den gewünschten Zweck erfüllt. Sie können sich selbst ausmalen, was das in der Praxis bedeutet.
Gute Menschen kommen in den Himmel, die bösen überall hin – lautet ein leicht abgewandelter Spruch. Warum sollte irgend jemand so dumm sein, auf seinen Vorteil zu verzichten?
Das habe ich mich früher auch gefragt, bis ich erkannt habe, dass der tugendhafte Mensch auf lange Sicht der erfolgreichere ist, und wahrscheinlich auch der glücklichere.
Unmöglich. Das müssen Sie mir erklären.
Es mag zunächst naiv klingen. Und bestimmt gibt es auch Fälle, in denen unehrliche Menschen Erfolg und Glück erlebt haben. Aber denken Sie sich die Sache einmal umgekehrt. Wer ist wohl erfolgreicher: wer klug, diszipliniert und mutig zur Tat schreitet, oder wer sich dumm anstellt und überdies maßlos und feige ist? Diese Frage mag aus meinem Munde verwundern.
In der Tat: eine extreme Gegenüberstellung.
Allerdings. Doch geht es hier um nichts anderes als um die Kardinaltugenden: Klugheit, Tapferkeit, Maßhalten – und nicht zuletzt die Gerechtigkeit.
|10|Klingt wie eine altmodische Zusammenstellung.
Das mag wohl sein, aber auch eine klassische! Die Kardinaltugenden sind logisch miteinander verbunden – die eine ist nicht ohne die andere zu haben – und bilden gewissermaßen den Sockel, auf dem weitere Tugenden aufbauen. Beispielsweise ist Ehrlichkeit ohne Gerechtigkeit nicht denkbar, Zuverlässigkeit nicht ohne die Tugend des Maßhaltens, Hilfsbereitschaft nur mit Tapferkeit. Ist Ihnen das zu altmodisch, dann denken Sie an die Nachhaltigkeit. Dieser Wert steht zurzeit sehr hoch im Kurs und ist ohne Maß und Klugheit nicht zu haben. – Oh je, irgendwie kann ich immer noch nicht ganz glauben, dass ich solche Worte spreche.
Ich auch nicht. Allerdings klingen sie mir auch ziemlich theoretisch.
Mag sein. In der Praxis zeigen sich die individuellen Tugenden aber sehr konkret darin, wie die Menschen miteinander umgehen, wie sie entscheiden und Aufgaben bewältigen.
Warum nun sollte der Mensch gut und richtig leben?
Ich sage nicht, dass er »sollte«. Wir Schweinehunde mögen es nicht, wenn uns jemand etwas vorschreiben will. Ich sage aber, dass es sich lohnt, über die eigenen Tugenden nachzudenken – und gegebenenfalls an sich selbst zu arbeiten. Das Ergebnis kann eine positive Veränderung der inneren Einstellung sein, ja bei manchen sogar zu innerer Größe führen. Und die Chance, ein sinnvolles Leben zu leben. – So mein lieber Redakteur, jetzt reicht’s aber, sonst überwältigt mich doch noch das Gefühl, meine eigene Natur zu verraten, und auf schlechtes Gewissen stehe ich schon gar nicht. Wenn Sie mehr wissen wollen, so lesen Sie doch einfach das Buch.
Sprach’s – und verschwand schwanzwedelnd und schmunzelnd.
|11|Seit Jahrtausenden formulieren Propheten und Philosophen, dass der Mensch Gutes tun und Böses lassen soll. Welches seine Tugenden sind und was seine Laster. Wie er mit sich selbst und wie er mit anderen umzugehen hat. Und wie ein gutes und richtiges Leben gelingt. Und seit Jahrtausenden scheint sich der innere Schweinehund herzlich wenig um derartige philosophische Überlegungen und noch weniger um die daraus abgeleiteten lebenspraktischen Empfehlungen zu scheren.
Die große Philosophie auf der einen Seite – die humorvolle Figur des inneren Schweinehundes auf der anderen? Der Spagat ist zugegebenermaßen riskant. Aber das Wagnis lohnt sich in zweifacher Hinsicht: Erstens lässt sich mithilfe des inneren Schweinehundes erklären, warum seit jeher zwar viel Kluges über Tugenden gesagt, aber dennoch oft so lästerlich gelebt wurde. Und zweitens lässt sich das Schweinehund-Projekt, das sich mittlerweile über zahlreiche Bücher erstreckt, einen entscheidenden Schritt weiterentwickeln: Ging es bisher hauptsächlich darum, den inneren Schweinehund zu bändigen, weitet sich nun der Blick auf die Konzeption eines gelingenden Lebens insgesamt. Die Frage lautet also nicht mehr nur: »Wie bekomme ich meinen inneren Schweinehund dazu, mit mir zusammen das zu tun, was ich für gut und richtig halte?« Sondern: »Nach welchen Maßstäben möchte ich überhaupt leben? Wie will ich handeln, um diesen Maßstäben gerecht zu werden?«
Damit werden zwei Stränge zusammengebunden, die schon Aristoteles und andere klassisch-griechische Denker kombiniert hatten: begehrensmäßigende Techniken auf der einen Seite und eine Lehre des guten Lebens auf der anderen. »Eine Ethik der Lebensführung besitzt erst dann eine angemessene Gestalt, wenn sie den Übergang von der Selbstbeherrschung zur Tugendhaftigkeit beinhaltet und die Lehre von der Mäßigung der Lüste durch eine Lehre der Tugenden und sittlichen Einsicht vervollständigt«, erklärt denn auch Wolfgang Kersting, Professor für Philosophie in Kiel.
Aber keine Sorge: Sie werden hier nicht mit komplizierten, philosophischen Überlegungen malträtiert und erst recht nicht mit |12|Moralpredigten. (Beides würde Ihren inneren Schweinehund ohnehin nur auf die Barrikaden treiben.) Im Gegenteil: Dieses Buch will Sie dabei unterstützen, gemeinsam mit Ihrem Schweinehund Klarheit über Ihren eigenen, selbst gewählten Wertekanon zu gewinnen und darüber, was es heißt und warum es sich lohnt, »gut und richtig« zu leben.
In Teil I erfahren Sie, warum sich der innere Schweinehund mit der Moral so schwertut und warum es ihm so leichtfällt, uns immer wieder zu kleinen »Schweinereien« zu verleiten. Wenn Sie mögen, können Sie dabei eine Liste der liebsten Laster Ihres Schweinehundes anlegen.
Teil II gewährt Ihnen einen Einblick in die beliebtesten Tummelplätze und bewährtesten Taktiken des inneren Schweinehundes. Sie lernen seine wichtigsten Argumente kennen und die Methoden, mit denen er alle Tugenden kassiert, die uns eigentlich lieb und teuer sind. Hier können Sie Klarheit darüber gewinnen, was Tugenden wie Gerechtigkeit, Integrität, Ehrlichkeit oder Humor eigentlich bedeuten, und welche dieser Tugenden ihr eigener Schweinehund bevorzugt torpediert.
Teil III zeigt Ihnen, wie Sie Ihren eigenen Schweinehund so zähmen, dass Ihnen ein gutes und richtiges Leben leichter gelingt. Hier finden Sie Argumente, mit denen Sie den Schweinehund überzeugen können, warum sich ein solches Leben überhaupt lohnt. Außerdem eine Anleitung dazu, wie Sie Ihren ganz persönlichen Wertekanon aufstellen und umsetzen können. Und zwar zusammen mit Ihrem Schweinehund, und nicht im Kampf gegen ihn. Letztendlich geht es darum, dass Sie diesen revoltierenden Teilaspekt Ihrer Persönlichkeit besser verstehen, besänftigen und schließlich Hand in Hand mit ihm durch ein möglichst gelingendes Leben gehen können.
|14|Jedes Jahr das gleiche Spiel: Steuerberater und Klient brüten zusammen über der Steuererklärung. Wo kann getrickst werden? Wie lässt sich noch mehr herausholen? Was kann unbemerkt an der Steuer vorbeigeschleust werden? Ziel ist, dem Staat möglichst wenig Geld »zu schenken«. »Der Ehrliche ist doch der Dumme«, bellt der innere Schweinehund und reibt sich die Pfoten bei jedem gesparten Cent.
Hat Ihr innerer Schweinehund zustimmend genickt, als Sie die Zeilen auf der vorigen Seite gelesen haben? Wahrscheinlich hat er das. »Steuertrickserei? Das macht doch jeder«, sagt er. So unmoralisch, so falsch oder sogar »böse« kann das also gar nicht sein. Tatsächlich wandeln Sie ja auch die meiste Zeit auf dem Pfad der Tugend. Nur hin und wieder, da schlägt Ihr innerer Schweinehund zu – und plötzlich sehen Sie sich selbst verwundert zu, wie Sie hier ein wenig tricksen und da ein bisschen in Ihre eigene Tasche wirtschaften.
Wer ist er, dieser innere Schweinehund? Er repräsentiert den dunklen Teil Ihrer Persönlichkeit. Den Teil, den Sie am liebsten gar nicht wahrhaben wollen. Und den Sie, wenn Sie ihn bemerken, vehement bekämpfen (zumeist erfolglos). Die humorvolle Figur des inneren Schweinehundes soll Ihnen dabei helfen, diesen Teilaspekt Ihrer Persönlichkeit besser kennen zu lernen – und sich mit ihm zu versöhnen. Schließlich ist es schwer genug, sich mit seinen eigenen Unzulänglichkeiten zu beschäftigen. Und leicht passiert es, dass Sie sich in Selbstvorwürfen ergehen, mit denen Sie sich selbst so frustrieren, dass Sie letztendlich doch wieder alles beiseiteschieben und beim Alten lassen.
Schalten Sie also den inneren Schweinehund als »Buhmann« dazwischen. Er ist es, der Sie mit hinterlistigen Tricks immer wieder vom rechten Pfad abbringt. Dabei will er nur Ihr Bestens: Er sorgt dafür, dass Sie ein möglichst angenehmes Leben haben, Spaß und |16|Genuss erleben, sich Ruhe gönnen können und Anerkennung bekommen – und nimmt dafür auch krumme Wege zum Ziel in Kauf. Dass dies auf lange Sicht oft »nach hinten losgeht«, ist ihm gleichgültig. Denn seine Fähigkeit, umsichtig oder vorausschauend zu handeln, ist absolut mangelhaft ausgeprägt. Er will alles jetzt und sofort, und ist deshalb allen sieben »Hauptlastern« verfallen. Diese sieben sind laut klassischer Theologie die Ursache für die »Sieben Todsünden«, die schnurstracks in die Hölle führen.
Genau diese Lasterhaftigkeit – oder milder ausgedrückt: Charakterschwäche – macht ihn so sympathisch. Etwa so wie den fetten, faulen und gefräßigen Comic-Kater Garfield, der sich mit Haut und allen seinen orangefarbenen Haaren den Lastern Gula (Völlerei, Unmäßigkeit, Maßlosigkeit) und
Acedia (Trägheit, Überdruss, Feigheit) hingibt. Die Leser lieben ihn dafür so sehr, dass er zu einer der erfolgreichsten Comic-Figuren überhaupt avancierte und heute in über 2 500 Zeitungen und Zeitschriften erscheint. Laster faszinieren uns. Nicht zuletzt das ist der Grund für die Popularität von Dagobert Duck – eine Disneyfigur, die der Avaritia (Geiz, Habgier, Habsucht) frönt. Auf Invidia (Neid, Missgunst, Eifersucht) stoßen Sie in einer Vielzahl von Opernstoffen oder in Märchen wie Aschenputtel. Ira (Zorn, Wut, Rachsucht) ist als Zorn des Achill das Leitthema in der Ilias des Homer – und möglicherweise ließe sich auch die Figur des Robin Hood als Vertreter dieses (hier ins Positive gewendeten) Lasters einordnen. |17|In Patrick Süskinds äußerst erfolgreichem Roman Das Parfum dreht sich alles um das Laster Luxuria (Wollust, Unkeuschheit). Und für ihre Superbia (Hochmut, Übermut, Eitelkeit, Stolz) sind Figuren wie Astrid Lindgrens Karlsson vom Dach bekannt – und nicht zuletzt der »Lügenbaron Münchhausen«.
|17|Von »Lastern« und »Sünden« ist im heutigen Alltag kaum mehr die Rede. Tatsächlich bröckeln die Fundamente dieses Teils der christlichen Ethik seit der Reformation. Sie sind aber so tief mit unserer Kultur und Sprache verwoben, dass sie noch immer sehr wirkmächtig sind. Nicht anders ist die Popularität von Geschichten rund um alle denkbaren Laster zu erklären und die Vehemenz, mit der der innere Schweinehund für diese Laster wirbt.
Die sieben Hauptlaster
Gula: Völlerei, Unmäßigkeit, Maßlosigkeit
Acedia: Trägheit, Überdruss, Feigheit
Avaritia: Geiz, Habgier, Habsucht
Invidia: Neid, Missgunst, Eifersucht
Ira: Zorn, Wut, Rachsucht
Luxuria: Wollust, Unkeuschheit
Superbia: Hochmut, Übermut, Eitelkeit, Stolz
Wenn der innere Schweinehund etwas soll, will er erst recht nicht. Deshalb tut er sich auch mit der christlichen Moralphilosophie so schwer, die vor allem vom »Sollen« spricht. Der gläubige Mensch soll Gutes tun und Böses unterlassen – die »Zehn Gebote« schreiben ihm vor, worauf es in seiner Beziehung zu Gott und zu anderen Menschen ankommt. Vor allem sagen sie ihm, was er nicht soll: Du sollst nicht töten, nicht ehebrechen, nicht stehlen und kein falsches Zeugnis ablegen. »Die Gebote liefern keinen positiven Leitfaden für unser Handeln«, erklärt Kurt Bayertz, Professor für praktische Philosophie an der Universität Münster. »Wir haben es nicht mit Vorschriften zu tun, die uns sagen, welche Ziele wir in unserem Handeln verfolgen (…) sollen, sondern mit Vorschriften, die unserem Handeln Grenzen setzen.«
Viele Menschen sehen Gebote durch folgende Brille: Sie werden von einem Gott erlassen, den man sich als Gesetzgeber vorzustellen hat. Dazu kommen Moraltheologen und Prediger, die mit erhobenem Zeigefinger beispielsweise verkünden, was man in der Fastenzeit nicht essen, welche Art von Sexualität man nicht leben und was man sonntags nicht tun darf. Bei einer solchen Sichtweise geht natürlich der innere Schweinehund fast automatisch auf die Barrikaden. Umso mehr, als er unzugänglich ist für schwer vorstellbare Versprechungen eines besseren Lebens im Jenseits oder gar für Drohungen mit einer Bestrafung in der Hölle. Mit solchen Konzepten ist der innere Schweinehund nun mal nicht zu bewegen.
|19|Wird Moral heute von vielen Menschen als etwas angesehen, das von außen an einen herangetragen und gegen den eigenen Willen zugemutet wird, das seine individuelle Freiheit durch unangemessene Vorschriften begrenzt, dann handelt es sich wohl um die Moral, die man mit der Kirche des Mittelalters assoziiert. Der Jesuit, Priester und Zen-Meister Niklaus Brantschen fasst diese Fehlvorstellung von Moral so zusammen: »Was ich tue, ist gut, nicht weil es mir und andern guttut, sondern weil es wehtut. Je freudloser ich dabei bin, je mehr ich mich plage und abmühe, umso besser.« Kein Wunder, dass der innere Schweinehund bei einer so verstandenen Moral Reißaus nimmt.
An sich aber ist Moral gar nichts Schlechtes. Sie ist ein Orientierungssystem aus Normen und Werten, das jedem einzelnen Menschen sagt, wie er sich zu verhalten hat und worauf es im Leben ankommt. Ein derartiges System ist in allen Kulturen bekannt und sieht überall in der ganzen Welt grundsätzlich ähnlich aus, zum Beispiel als Goldene Regel: »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.« Eine so verstandene Moral hilft den Menschen dabei, gut und richtig zusammenzuleben. Und bereits Kinder bringen es fertig, die grundsätzlichen Regeln von »Fair Play« selbst herauszufinden – ganz einfach deshalb, weil das gemeinsame Spiel dann besser funktioniert.
Je weiter man historisch zurückgeht – und hier liegt der Grund dafür, dass die Moral insgesamt in Misskredit geraten ist und der Schweinehund sie verabscheut –, desto enger verknüpft sie sich mit dem Mythos oder der Religion. Das heißt: Sie koppelt sich vom historischen Kontext ab, in dem sie entstanden ist, und beansprucht gleichzeitig eine unantastbare Gültigkeit. Sie beruft sich auf die Macht der Tradition und lässt kaum noch eine Diskussion darüber zu, ob die gewählten Maßstäbe vernünftig sind oder nicht.
Diese Diskussion übernimmt die Ethik: Sie setzt der traditionellen Moral ein bewusst entworfenes, neues Wertesystem entgegen. So ist die griechische Ethik genau in dem Augenblick entstanden, |20|als die alten Götter- und Heldengeschichten keine Antwort mehr auf die Fragen nach dem Ziel und Sinn des menschlichen Lebens geben konnten.
Aristoteles, Sokrates und Platon mögen die Vermutung verzeihen, dass ihre inneren Schweinehunde es wesentlich leichter hatten als deren Nachfahren im christlichen Abendland. Im alten Griechenland regierte kein göttlicher Gesetzgeber, der den Menschen unter Androhung härtester Strafen befahl, was sie tun und lassen sollen. Im Mittelpunkt stand vielmehr der einzelne Mensch, erläutert Kurt Bayertz. »Alle Überlegungen werden vom Standpunkt eines Individuums aus gestellt, das sich fragt, wie es sein Leben planen und gestalten soll, damit es ihm gutgeht.« Und zwar hier und jetzt, und nicht erst im Jenseits.
Schweinehund contra Moral
Genau das entspricht der Haltung des inneren Schweinehundes. Er schert sich nicht darum, was die Moral jedermann befiehlt – sondern kümmert sich um die Bedürfnisse seines einmaligen und ganz besonderen Herrchens. Er interessiert sich nicht für allgemeingültige Gesetze, sondern will in jeder Situation neu entscheiden. Er will nicht wie der Moralist einem vorgegebenen Plan folgen, sondern sucht wie der Lebenskönner »nach Rhythmus, Melodie und Stil, um sein Leben zugleich mit innerer Einheit, individualitätsbezeugender Authentizität und zukunftsoffener Spannung zu versehen« – so formuliert es Philosophieprofessor Wolfgang Kersting.
Wir können uns den inneren Schweinehund also als Taugenichts vorstellen (das Wort »Tugend« leitet sich von »taugen« ab), wenn wir ihn nicht gleich als »Amoralisten« hinstellen wollen. Er weiß zwar, was das »Gute« und »Richtige« ist, setzt aber die egoistischen Interessen seines Herrchens an erste Stelle. Er sieht es schlicht und |21|ergreifend nicht ein, dass sein Mensch sich an Regeln halten soll, die nicht seine sind. Natürlich würde er es nicht wollen, dass sein Mensch dies öffentlich zugibt. Wie alle echten Amoralisten agiert auch der Schweinehund überwiegend im Untergrund. »Der strategische Grund dafür besteht darin, dass er anderenfalls mit Sanktionen rechnen muss, die seine Pläne durchkreuzen. Dies macht ihn zum Trittbrettfahrer und Heuchler. Nichts ist irreführender als das von einigen Schwärmern gezeichnete Bild vom Amoralisten als einem fröhlichen Berserker, der unbekümmert, aber offen seinem eigenen Wohl dient. Von Ausnahmen abgesehen ist die Wirklichkeit des Amoralismus ein schäbiges Versteckspiel«, erläutert Kurt Bayertz.
Umgekehrt könnte man die Wirklichkeit des Moralismus als Spiel vor Publikum bezeichnen. Dies zumindest legt eine aktuelle Studie nahe, die zeigt, dass Menschen unter Beobachtung mehr zu spenden bereit sind als solche, die anonym spenden.
Die Anthropologen Terry Burnham (Harvard University) und Brian Hare (Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie) haben gezeigt, welche Rolle der Blick des anderen im Bewusstsein der Menschen spielt. Die Wissenschaftler ließen 96 Freiwillige anonym gegeneinander spielen. Dabei mussten diese entscheiden, wie viel Geld sie spenden wollten. Die Regel: Diejenigen Spieler gewinnen am meisten Geld, die am meisten einzahlen – aber nur dann, wenn die Gegenspieler dies auch tun. Die Versuchspersonen wurden in zwei Gruppen aufgeteilt. Die eine Spielgruppe agierte vor einem »neutralen« Computer, die andere vor Bildschirmen, auf denen wie zufällig ein Roboterkopf mit menschenähnlichen Gesichtszügen zu sehen war. Das Ergebnis war erstaunlich: Die Spieler gaben unter den Augen des Roboters durchschnittlich 30 Prozent mehr Geld als die Kontrollgruppe. Daraus schlossen die Wissenschaftler, dass sich die Versuchspersonen beobachtet fühlten – zumindest unbewusst – und auf Reziprozität hofften. Das heißt: Sie gingen davon aus, dass sie für ihre Spenden belohnt, oder anders |22|herum, dass sie nicht wegen mangelnder Spendenbereitschaft bestraft würden. Nach Einschätzung von Burnham wussten die Teilnehmer zwar, dass es sich lediglich um ein Bild und um ein Robotergesicht handelt, dennoch reagierten tiefere psychische Schichten geradezu reflexhaft auf die großen Augen des Roboters.