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Gute Strategie E-Book

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Beschreibung

Gibt Unternehmen Sicherheit Die Welt verändert sich. Besonders rasant in den Bereichen Technologie, Recht und Politik. Viele Topmanager wissen nicht, mit welchen Strategien sie dieser Unsicherheit begegnen sollen. Unter der Ägide von Barbara Dauner-Lieb und Burkhard Schwenker entstand diese Handreichung praxisnaher Strategieansätze für die unternehmerische Umsetzung. Entscheidend sind ein neues Verständnis von und eine neue Begeisterung für Strategie sowie der interdisziplinäre Ansatz. Eine neue Agenda strategischer Führung - entwickelt an der EBS Universität für Wirtschaft und Recht

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Burkhard Schwenker, Barbara Dauner-Lieb

Gute Strategie

Der Ungewissheit offensiv begegnen

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Die Welt verändert sich. Besonders rasant in den Bereichen Technologie, Recht und Politik. Viele Topmanager wissen nicht, mit welchen Strategien sie dieser Unsicherheit begegnen sollen. Unter der Ägide von Barbara Dauner-Lieb und Burkhard Schwenker entstand diese Handreichung praxisnaher Strategieansätze für die unternehmerische Umsetzung. Entscheidend sind ein neues Verständnis von und eine neue Begeisterung für Strategie sowie der interdisziplinäre Ansatz.

Vita

Burkhard Schwenker ist seit Juli 2015 Chairman of the Advisory Council von Roland Berger. Zuvor war er Vorsitzender des Aufsichtsrats und langjähriger CEO der internationalen Strategieberatung.

Barbara Dauner-Lieb ist Inhaberin des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht, Arbeitsrecht und Europäische Privatrechtsentwicklung an der Universität zu Köln.

Inhalt

Von Burkhard Schwenker: 1 Der Zukunft auf der Spur

2 Leitstern — Von der Kunst, Ungewissheitund Strategie zu verbinden

Von Burkhard Schwenker und Barbara Dauner-Lieb: 2.1 Überblick

Von Burkhard Schwenker: 2.2 Denken im Großformat

Über das Wesen guter Strategie

Das Phänomen der Ungewissheit

Zum Umgang mit Ungewissheit

Das Vermeidbare vermeiden

Das Unvermeidbare gestalten

Zukunftsbilder entwerfen

Tipping Points ableiten und überwachen

Organizational Slack zulassen

Strategie und Struktur verbinden

Was gute Strategie heute ausmacht

Literaturhinweise

Von Burkhard Schwenker: 2.3 Ausbruch aus der Routine

Anforderungen an moderne Strategieprozesse unter Ungewissheit

Der traditionelle Strategieprozess und seine Limitationen

Zu viel Routine

Aktion vor Reflexion

Mangel an Selbstreflexion

Kernelemente eines neuen Strategieprozesses

Strategie ist Chefsache

Der Aufsichtsrat ist gefordert

Interdisziplinarität einfordern

Zentral oder dezentral?

Das richtige Timing

Abweichungsanalysen strategisch denken

Die Hauptaufgaben eines modernen Strategiedepartments

Literaturhinweise

2.4 Ein besseres Bild der Zukunft — Wie man Ungewissheit mit Szenarien einfängt

Wie man gute Szenarien entwickelt

Schritt 1: Zieldefinition

Schritt 2: Wahrnehmungsanalyse

Schritt 3: Trend- und Unsicherheitsanalyse

Schritt 4: Szenarioentwicklung

Schritt 5: Strategiedefinition

Schritt 6: kontinuierliche Kontrolle

Worauf es bei der Entwicklung von Szenarien ankommt

Das richtige Setting für die Szenarioentwicklung schaffen

Die Wahl eines geeigneten Zukunftszeitpunkts für die Szenarioentwicklung

Die Szenariodimensionen richtig ableiten und validieren

Tipping Points erkennen und den Wechsel zwischen Szenarien managen

Szenarien vernetzen

Wie man Szenarien zur robusten Diversifikation nutzen kann

Startpunkt: Unsere Szenariomatrix mit vier Zukunftsbildern

Das Portfoliodesign: Ableitung eines Idealportfolios unter Ungewissheit

Das Portfoliomanagement und die Rolle der Tipping Points

Literaturhinweise

Von Markus Kreutzer und Christian Landau: 2.5 Tools im Stresstest

Zur Rolle strategischer Analyseverfahren

Die Klassiker – immer noch gut und bewährt?

Alte und neue Herausforderungen

Hürden beim Einsatz klassischer Verfahren unter Ungewissheit

Potenzial jüngerer strategischer Analyseverfahren

Realoptionen

Dynamische Fähigkeiten

Einfache Regeln

Jüngste Entwicklungen und Trends

Empfehlungen für die Lehre

Empfehlungen für die praktische Arbeit

Literaturhinweise

Von Arne Buchwald und Ronald Gleich: 2.6 In besonderer Mission

Die Janusköpfigkeit von Überschusskapazität

Reserven »zur besonderen Verwendung«

Art und Rolle von U-Boot-Projekten

Bottom-up-Aktivitäten

Im Auftrag des Mittelmanagements

Top-Management-Initiativen

Fluch und Segen abweichenden Mitarbeiterverhaltens

Mehr Flexibilität und Resilienz

Umsetzungsempfehlungen

Literaturhinweise

Von Diane Robers und Mike Schulze: 2.7 Kreative Zerstörer gesucht

Digitalisierung als Treiber von Ungewissheit

Innovationsmanagement im Spiegel der Zeit

Neue Anforderungen an die Innovationssteuerung

Dynamische Fähigkeiten in der praktischen Umsetzung

Aufspüren von unternehmerischen Gelegenheiten

Ergreifen von unternehmerischen Gelegenheiten

Neuausrichtung der Unternehmensressourcen

Verknüpfung klassischer und agiler Steuerungsansätze

Ungewissheit als Chance

Literaturhinweise

Von Torsten Oltmanns: 2.8 Die Macht der Wahrnehmung

Neue Anforderungen an die Kommunikation von Strategie

Trump und die »Logik des Konflikts«

Implikationen für Unternehmen und ihre CEOs

Ansätze für ein umfassendes Wahrnehmungsmanagement

Literaturhinweise

3 Balanceakt — Der (ungewisse) Rechtsrahmenguter Strategie

Von Burkhard Schwenker und Barbara Dauner-Lieb: 3.1 Überblick

Von Barbara Dauner-Lieb: 3.2 Nicht zu fassen

Strategie und Ungewissheit – (k)ein Thema für Juristen?

Ungewissheit – eine neue Herausforderung?

Recht und unternehmerische Dynamik

Unternehmer und Jurist: Zwei Weltbilder prallen aufeinander

Lücken im unternehmensrechtlichen Diskurs

Anreize für gute Unternehmensführung

Grenzen der Verrechtlichung

Von Tim Florstedt: 3.3 Gefangen im Korsett

Grundsatz und Tragweite der BJR

Handlungsfreiheiten und ihre Einschränkung

Die Corporate-Waste-Doktrin

Verbotene unternehmerische Entscheidungen

Klumpenrisiken

Bestandsgefahren

Wieso Juristen klare Vorgaben vermeiden

Der weite Weg in den sicheren Hafen

Mehr Luft zum Atmen

Literaturhinweise

Von Rüdiger Theiselmann: 3.4 Eine Frage der Agilität

Methodik

These 1: BJR beeinflusst unternehmerische Entscheidungen

These 2: Entscheidungsgrundlagen werden dokumentiert

These 3: Nachträgliche Änderungen der Entscheidungsgrundlagen werden berücksichtigt

These 4: BJR und gute strategische Entscheidungen schließen sich nicht aus

Big Data und die Angemessenheit von Information

Zielkonflikte und ihre Lösung

Literaturhinweise

Von Burkhard Schwenker und Barbara Dauner-Lieb: 3.5 Strategie im Doppelpack

Professionell, aber wenig divers: Zur aktuellen Aufsichtsratspraxis

Aufsicht vs. Beratung: Was der Rechtsrahmen zulässt

Perfektes Teamplay: Unser Idealszenario

Eine vorausschauende Nachfolgeplanung im Aufsichtsrat

Die richtige Vorstandsbesetzung

Das richtige Vergütungssystem

Die richtigen Regeln für die Zusammenarbeit im Aufsichtsrat

Rolle und Bedeutung des Aufsichtsratsvorsitzenden

Doppelte Chance: Ein Plädoyer für das duale System

Literaturhinweise

4 Entdeckungsreise — Ungewissheit ausinterdisziplinärer Sicht

Von Burkhard Schwenker und Barbara Dauner-Lieb: 4.1 Überblick

Von Max Urchs: 4.2 Am Ende der Gewissheit

Wovon wir uns einen Begriff machen können

Die (vergebliche) Physikalisierung der Ökonomik

Der Hovercraft-Effekt mathematischer Modelle

Grenzen rational-induktiver Erkenntnis

Die Dialektik von Ordnung und Chaos

Computertechnologie als Hoffnungsträger

Die Verlockung einfacher Lösungen

Merkmale komplexen Verhaltens

Mut zu Pluralismus und Pragmatismus

Wege zu robusteren Planungsmethoden

Erweiterung des wissenschaftlichen Arsenals

Wider die Scheingenauigkeit

Raus aus dem Elfenbeinturm

Literaturhinweise

Von Marcel Fratzscher: 4.3 Trügerische Sicherheit

Dimension und Wirkung von Prognosefehlern

Ökonomie als Sozialwissenschaft

Dynamik komplexer Ereignisse

»Lucas-Kritik« und rationale Anpassung

Druck der Erwartungen

Fehler, die keine sind

Orientierungspunkt und Denkgerüst

Von Jan-Christoph Rülke: 4.4 Lockruf der Auguren

Motivation und (Fehl-)Anreize

Erwartungen und Verzerrungen

Recht und Grenzen ökonometrischer Modelle

Prognosegüte und Strategieprozess

Von Hanno Beck und Aloys Prinz: 4.5 Gefährliches Kalkül

Was Big Data kann

Vom Umgang mit Erfahrungswissen

Steigende Komplexität, sinkender Nutzen

Was Big Data nicht kann

Maschinen und Moral

Daten richtig nutzen

Wie Störungen sich aufschaukeln

Fallstricke der Datenanalyse

Literaturhinweise

Von Andreas Mojzisch: 4.6 Gemeinsam klüger

Streitfrage: Verbreiterung gleich Verbesserung?

Ausgangslage: »Common Knowledge« und »Hidden Profiles«

Hürden: Was gute Gruppenentscheidungen verhindert

Hürde 1: Schnellschüsse

Hürde 2: Diskussionsverzerrung

Hürde 3: Bewertungsverzerrung

Aufgabenstellung: Wissen poolen, Synergien nutzen

Lösungsansatz: Strategien für bessere Gruppenentscheidungen

Zurückstellen des Präferenzaustauschs

Förderung von Meinungsdivergenz

Kritisch-reflexiver Diskurs und partizipativer Führungsstil

Transaktive Wissenssysteme

Güterabwägung: Pro & Contra Gruppenentscheidung

Literaturhinweise

Von Klaus Burmeister, Christoph Georgi und René Schäfer: 4.7 Zeit der Visionäre

Ziele und Methoden der Zukunftsforschung

Ungewissheit als Gestaltungschance

Vordenker gesucht

Dirigieren und orchestrieren

Eröffnung neuer Strategieräume

Literaturhinweise

5 Neue Horizonte — Eine Agenda für gute Strategie

Von Burkhard Schwenker und Barbara Dauner-Lieb: 5.1 Überblick

Von Burkhard Schwenker: 5.2 Jenseits des Mainstreams

Die Interviews mit Philip Burchard, Jürgen Steinemann, Jochen Zeitz und Roland Koch führte Andreas Lang im April 2017: 5.3 Und wie entscheiden Sie?

Philip Burchard: »Eine klare Zukunftssicht macht erfolgreicher«

Jürgen Steinemann: »Gegenseitiges Vertrauen ist das Wichtigste«

Jochen Zeitz: »Unsere Art zu wirtschaften muss sich ändern«

Roland Koch: »Partei nehmen für Dinge, die man für richtig hält«

Von Burkhard Schwenker und Barbara Dauner-Lieb: 5.4 Strategie unter Ungewissheit

Was bleibt

Postskriptum: Rechtliche Neuorientierung und Umdenken in Studium und Lehre als notwendige Voraussetzungen für »gute Strategie«

Herausgeber

Autoren

Interviewpartner

Register

1 Der Zukunft auf der Spur

Aufruf zu einem zeitgemäßen Strategieverständnis

Von Burkhard Schwenker

Dieses Buch ist ein Plädoyer für gute Strategie. Es will Begeisterung für Strategie (wiederer-)wecken und Anleitung geben, wie ein planvolles, wohlüberlegtes, langfristig orientiertes Vorgehen gelingen kann, auch wenn die Zukunft immer ungewisser wird. Es will zeigen, dass die Antwort auf Ungewissheit nicht im Verzicht auf Strategie liegt, sondern darin, wieder zu dem zurückzufinden, was gute Strategie von Anfang an ausgemacht hat: eine kritische Reflexion der Zukunft und eine aktive Einflussnahme auf das, was sein soll.

Motiviert zu diesem Buch hat uns die immer weiter verbreitete Meinung, dass sich Strategie heute überlebt habe, dass die Zeit durchdachter und sorgfältig geplanter Unternehmensstrategien endgültig vorbei sei. Weil es heute um Flexibilität gehe statt um langfristige Pläne. Weil Schnelligkeit und das »Patching« von Geschäftsmodellen heute mehr zählten als unternehmerische Überzeugungen. Weil sich die Welt viel zu schnell verändere, um überhaupt noch planen zu können.

Dass die Zweifel an Strategie und Planung berechtigt sind, zeigen schon wenige Beispiele: Wer hätte vor nur wenigen Jahren gedacht, dass die Digitalisierung unsere industrielle Kompetenz infrage stellt und zu immer neuen Geschäftsmodellen führt, die wir uns vor kurzem nicht einmal vorstellen konnten. Oder dass grüne Technologien unseren Wachstumskurs bestimmen. Dass wir Sanktionen gegen Russland einleiten. Oder ganz aktuell: der Wahlsieg Donald Trumps, der Brexit, die Flüchtlingskrise, die Lage im Nahen Osten, der IS-Terror, der Ölpreisverfall, die wirtschaftliche Schwäche Chinas, die Volatilität der Kapitalmärkte – die Liste mit Beispielen für Entwicklungen, die uns unerwartet treffen oder für Prognosen, die sich immer schneller überholen, ließe sich nahezu beliebig fortsetzen. Joachim Ringelnatz (1883–1934) hat recht: »Sicher ist, dass nichts sicher ist. Selbst das nicht!«

Wenn wir ehrlich sind, sind unsere Zukunftsprognosen immer weniger verlässlich; weder Richtung noch Geschwindigkeit von Veränderungen lassen sich heute vorhersagen. Unsere Welt wird undurchschaubarer und vieldeutiger; Trendextrapolationen sind kaum mehr möglich, Zusammenhänge sind nicht mehr eindeutig, Bedrohungen nicht immer gleich erkennbar. Anders gesagt: Wir müssen heute unter Ungewissheit entscheiden, denn es fehlt uns nicht nur am Wissen über die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen; es bleibt eben auch verborgen, welche Ereignisse überhaupt eintreten können. Mit erheblichen Konsequenzen für unser Planungs- und Führungsverständnis: Wenn Trends nicht mehr verlässlich sind, helfen uns Zahlen als Entscheidungsgrundlage nur bedingt weiter; wenn uns Zahlen nicht mehr weiterhelfen, müssen wir uns auch von der Idee verabschieden, jede Entscheidung quantifizieren zu wollen.

Der Umgang mit Ungewissheit stellt uns also vor große Herausforderungen – und er fordert unser Denken über Strategie und strategisches Management massiv heraus. Denn wir erleben ja jeden Tag aufs Neue, dass unsere Planungsinstrumente versagen, dass die (Management-)Regeln, die wir gelernt haben, nicht mehr greifen. Haben die Zweifler also recht – ist es besser, Strategie über Bord zu werfen und andere Wege zu versuchen? Folgt man der aktuellen Diskussion in Wissenschaft und Praxis, scheint das der Fall zu sein: Die einen versuchen, strategisches Denken durch immer komplexere Algorithmen und Big-Data-Anwendungen zu ersetzen. Die zweiten setzen auf die vom amerikanischen Militär vorgedachten Light-Footprint-Konzepte: Flexibel bleiben, sich nicht festlegen und tunlichst vermeiden, Ressourcen langfristig zu binden. Und die dritten versuchen, durch Regulierung und rechtliche Regelungen das Unbeherrschte doch noch beherrschbar zu machen – die staatlichen Anforderungen an Compliance und Risikomanagement sind sprunghaft angestiegen, flankiert durch teilweise existenzbedrohende Haftungssanktionen.

Aus unserer Sicht führt keine dieser Richtungen zum Ziel. Die einen werden feststellen, dass Ungewissheit eben doch ungewiss bleibt – trotz Big Data. Und schlimmer noch: Wenn Google uns vorschlägt, was wir fragen und wonach wir suchen sollen, dürfen wir uns nicht wundern, dass es immer wieder eine dominante Logik gibt, der wir folgen sollen und die uns jeden Spielraum für erfolgreiche Differenzierung nimmt. Die zweiten werden feststellen, dass »sich nicht festlegen« zur Beliebigkeit führt – und man sich die Chance darauf nimmt, einen großen Wurf zu schaffen. Und die dritten bringen Führungskräfte in eine Situation, sich einerseits mögliche Risiken nicht einmal vorstellen zu können, und andererseits rechtlich verpflichtet zu sein, keine unbeherrschbaren Risiken einzugehen.

Dieses Buch versucht, einen Kontrapunkt zu setzen. Denn wenn die Zukunft ungewiss ist, kommt es doch umso mehr darauf an, denkbare Zukunftsbilder zu entwerfen, sie zu reflektieren, zu durchdenken, kreativ vorteilhafte Optionen daraus abzuleiten und Strukturen und Prozesse darauf auszurichten – also genau das zu tun, was gute Strategie schon immer ausgemacht hat.

Allerdings muss sich Strategie – oder strategisches Denken – weiterentwickeln, um mit der Herausforderung der Ungewissheit umgehen zu können: Sie muss interdisziplinärer werden und auf Unvorhergesehenes reagieren können; Planungs- und Budgetprozesse müssen anders aufgesetzt und verzahnt werden; unternehmerische Intuition und ein tiefes Geschäfts- und Technologieverständnis werden immer wichtiger. Hinzu kommt: Planung, Entscheidung und Umsetzung müssen heute überlappend gedacht werden; anders als früher haben wir heute nicht mehr die Zeit, Strategien in Ruhe zu entwickeln, dann zu entscheiden und schließlich umzusetzen. Was heute zählt, ist der Mut, die Umsetzung einzuleiten, bevor alles zu Ende gedacht worden ist. Und in jedem Fall müssen wir schneller und präziser strategisch denken.

Um diese Themen soll es in diesem Buch gehen. Auf der konzeptionellen Ebene versuchen wir, das Phänomen der Ungewissheit tiefer zu durchdringen und zu zeigen, dass wir ihr nicht hilflos ausgeliefert sind – sondern dass gutes strategisches Denken der beste Weg ist, ihr zu begegnen. Auf der pragmatischen Ebene geht es uns darum, ganz konkrete Antworten auf einige der Fragen zu geben, die aus unserer Sicht für ein modernes Strategieverständnis entscheidend sind:

Wie muss ein guter Strategieprozess gestaltet werden, um Ungewissheit einzufangen?

Wie entwickelt man Zukunftsbilder (oder Szenarien), die auch bei Ungewissheit Orientierung für strategische Entscheidungen geben?

Welche unserer bekannten strategischen Denk- und Analyseinstrumente sind unter den gegebenen Umständen überhaupt noch anwendbar – und wo liegen ihre Grenzen?

Wie erreicht man strategische Flexibilität? Erleben wir eine Renaissance der »Organizational Slacks«? Und wenn ja, wie managt man Überschusskapazität richtig?

Wie kommuniziert man Strategie heute – geht es um gutes Storytelling oder um (selbst-)kritische Reflexion?

Wie findet man ein Gleichgewicht zwischen Regulierung, Compliance und unternehmerischer Entscheidungsfreiheit?

Wie organisiert man das Zusammenspiel zwischen Aufsichtsrat und Vorstand so, dass beide Top-Gremien ein gemeinsames Verständnis über Ungewissheit haben?

Wie setzt man gute Strategie in gute Führung um – oder gute Führung in gute Strategie?

Unsere Antworten auf diese Fragen zeigen, dass gute Strategie auch in ungewissen Zeiten möglich ist. Und mehr noch: dass sie hilft, besser mit Ungewissheit umzugehen – wenn sie bewusst ist (also Ungewissheit akzeptiert), offen und (selbst-)kritisch ist (kein Mainstream), wenn sie tief ist (also Muster erkennt und Zukunftsbilder liefert) und wenn sie mutig ist (also auf ein unterscheidbares Zukunftsbild setzt).

Mit anderen Worten: Was zählt, ist der Mut, einen eigenen strategischen Standpunkt zu haben, die Bereitschaft, vermeintliche Wahrheiten zu hinterfragen und die Fähigkeit, eigene Zukunftsbilder zu entwerfen. Denn Ungewissheit ist nicht nur eine Bedrohung; sie bietet vielmehr auch die Chance auf unerwartet Neues und Besseres, auf Opportunitäten, die mit der richtigen Strategie genutzt werden können. Voraussetzung dafür ist, dass wir aufhören, eindimensional zu denken, und stattdessen unsere Perspektive erweitern,

indem wir Brücken bauen zwischen betriebswirtschaftlichem Denken (wie erreicht man Wettbewerbsvorteile?), volkswirtschaftlichem Denken (wie funktioniert Wachstum?) und juristischem Denken (welche Rahmenbedingungen setzen wir?);

indem wir methodische und inhaltliche Kompetenzen (wieder) nach vorne stellen statt Spezialwissen;

indem wir auf Reflexion setzen und Raum für interdisziplinäres Denken schaffen;

indem wir ein Wertegerüst vorleben, in welchem Reflexion entstehen und Kreativität gedeihen kann: durch Optimismus, Vertrauen, Fairness, Integrität, Verantwortung, Respekt.

Deswegen ist es auch kein Zufall, dass dieses Buch schon im Titel an den Band Gute Führung. Über den Lebenszyklus von Unternehmen (Schwenker/Müller-Dofel, 2013) anschließt, der zu zentralen Fragen der Unternehmensführung unter Ungewissheit Stellung nimmt. Dort wie hier geht es vor allem um eines: interdisziplinäres Denken, exzellentes Managementhandwerk, hervorragende persönliche Fähigkeiten und nicht zuletzt um das nötige Quäntchen Glück, das immer dazugehört. Erfolg lässt sich heute weder berechnen noch erzwingen, und doch gilt unverändert, was schon Seneca (1–65 n. Chr.) wusste: »Glück ist, wenn Vorbereitung auf Gelegenheit trifft.«

Deswegen ist es auch kein Zufall, dass dieses Buch an der EBS entstanden ist, dass unsere Mitautoren aus dem Kreis ihrer Fakultäten und Freunde kommen. Die EBS ist eine unternehmerisch geprägte und unternehmerisch handelnde private Universität. Sie hat alle Höhen und Tiefen des Lebenszyklus durchlaufen und steht ganz exemplarisch dafür, dass es möglich ist, das übliche Phasenschema zu durchbrechen, sich neu zu erfinden und durchzustarten. Durch gute Führung, ausgezeichnetes Management – und durch den Mut, Ungewissheit und Strategie zum Leitthema zu machen.

Dieses Buch ist deswegen mehr als eine konzeptionelle Abhandlung über Ungewissheit und Strategie – es ist ein Statement für die neue EBS, Richtschnur für das akademische und unternehmerische Handeln an der EBS. Zugleich spiegelt es die thematische Bandbreite und die wissenschaftliche Diversität dieser interdisziplinären Universität für Wirtschaft und Recht wider: Alle Beiträge teilen ein gemeinsames Grundverständnis, aber ihre jeweiligen Antworten auf die Herausforderungen für Strategie unter Ungewissheit fallen durchaus unterschiedlich aus.

Die Herausgeber danken allen Mitautoren, die sich unter hohem Zeitdruck mit uns auf die ungewisse Reise gemacht haben, das Wesen guter Strategie neu zu ergründen.

2 Leitstern

Von der Kunst, Ungewissheit und Strategie zu verbinden

2.1 Überblick

Von Burkhard Schwenker und Barbara Dauner-Lieb

Dieses Buch hat ein Leitthema: Ist Strategie (oder strategisches Denken) unter den Bedingungen von Ungewissheit überhaupt noch aktuell? Und wenn ja, wie muss sie ausgestaltet werden, um den neuen Rahmenbedingungen Rechnung zu tragen? In diesem ersten Abschnitt geht es uns darum, dem »Phänomen Ungewissheit« näherzukommen und aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus zu reflektieren, mit welchen Denkansätzen, Prozessen und Instrumenten wir ihm begegnen können. Mit dem Ziel, auch zukünftig gute Strategien zu entwickeln.

Klar ist: Die überwiegend in den beiden letzten Dekaden des vergangenen Jahrhunderts entstandenen Strategiekonzepte tragen nicht mehr. Weder die »Market-based View« noch die »Ressource-based View« (um die beiden wichtigsten Denkschulen zu nennen) noch neuere Ansätze wie »Dynamic Capabilities« oder auf maximale Flexibilität setzende Konzepte wie »Light Footprint« werden der neuen Realität in vollem Umfang gerecht – auch wenn einzelne ihrer Ideen wertvoll sind.

Stattdessen bedarf es des Mutes, scheinbare Gewissheiten infrage zu stellen und zu den Ursprüngen strategischen Denkens zurückzukehren: sich im Sinne von Carl von Clausewitz (1780–1831) und Helmuth von Moltke (1800–1891) eben genau dann ein – immer wieder kritisch zu reflektierendes – Bild von den Handlungsoptionen zu machen, wenn die »Gefechtslage« besonders unklar ist und der »Druck der schwierigsten Bedingungen« herrscht. Dazu brauchen wir:

ein umfassendes Verständnis von Ungewissheit und ihrer Konsequenzen auf Strategie (Kap. 2.2);

einen robusten Prozess, der bewusst Routinen bricht und Strategie zum »Event« macht (Kap. 2.3);

wohldurchdachte Szenarien, die uns ein besseres Bild der Zukunft liefern (Kap. 2.4);

Sensibilität im Umgang mit Werkzeugen, um Fehlschlüsse zu vermeiden (Kap. 2.5);

Überschusskapazitäten und ein neues Verständnis von Effizienz (Kap. 2.6);

immer wieder: den Mut zu kreativer Zerstörung (Kap. 2.7);

die Fähigkeit, Menschen auch in ungewissen Situationen zu Veränderungen zu motivieren (Kap. 2.8).

Mit anderen Worten: In Zeiten der Ungewissheit müssen wir grundlegend über Strukturen, Prozesse und Werkzeuge nachdenken (und uns unserer Erkenntnislücken bewusst sein), wenn wir nicht auf Glückstreffer hoffen, sondern die Zukunft aktiv gestalten wollen. Die Klassiker strategischen Denkens helfen uns dabei nur bedingt weiter. Denn Entwicklungen wie das »Ende nachhaltiger Wettbewerbsvorteile« (Rita Gunther McGrath) oder der Siegeszug der Plattformökonomie sind mit ihnen kaum erklärbar und auch auf makroökonomische, geopolitische oder technologische Disruptionen wissen sie keine umfassende Antwort.

Hinzu kommt ein Weiteres: Ungewissheit ist immer auch eine Gestaltungschance – sie verändert Märkte, sie ermöglicht Differenzierung, sie sortiert den Wettbewerb neu. Also eigentlich gute Zeiten für gute Strategie, die damit umzugehen weiß.

Doch erst ein neuer konzeptioneller Rahmen, so der Ausgangspunkt unseres Buches und der nachfolgenden Kapitel des ersten Abschnitts, macht das Unerwartete für Unternehmen nutzbar. Denn bei der Kunst, Ungewissheit und Strategie zu verbinden, geht es um sehr viel mehr als um bloßes Handwerkszeug. Es geht um breites, tiefes, vernetztes und vor allem offenes, kritisches, mutiges Denken, also neudeutsch gesprochen um das richtige Mindset. Und es geht um ein kulturelles Leitthema, das alle Einheiten und Ebenen eines Unternehmens durchziehen muss, ein gemeinsames Narrativ schafft und Management wie Mitarbeitern ein explizites Zukunftsbild vorgibt. Strategie muss, anders gesagt, zum Leitstern allen unternehmerischen Handelns werden.

2.2 Denken im Großformat

Über die Entwicklung guter Strategien

Von Burkhard Schwenker

Nach dem preußischen Militärtheoretiker Carl von Clausewitz (1780–1831), einem der Urväter unseres klassischen Strategieverständnisses, hat ein strategischer Kräfteeinsatz »in großer Zahl, überraschend, gleichzeitig, konzentriert und koordiniert« zu erfolgen. Das ist unmittelbar einsichtig und hat unser Denken über Strategie nachhaltig geprägt: Die Besetzung einer strategischen Wettbewerbsposition erfordert den Mut, Position zu beziehen, den Anspruch, diese Position (langfristig) durchzuhalten, die Bereitschaft, Ressourcen darauf zu bündeln und die Fähigkeit, dabei planvoll vorzugehen.

Demgegenüber stehen heute die Light-Footprint-Konzepte, die unter anderem das amerikanische Militär begründet hat: Es geht um Flexibilisierung, Vernetzung, Kooperation, Lokalisierung, Modularität – also genau um die Vermeidung »der großen Zahl«, die Clausewitz in den Vordergrund gestellt hat. Genauso einleuchtend, denn wenn sich strategische Konstellationen immer schneller verändern, ist es eine gefährliche Wette, Ressourcen auf ein Ziel zu konzentrieren. Geht sie nicht auf, wird Zeit verloren, Kapital vernichtet, Reputation beschädigt, Vertrauen zerstört.

Zugegeben, diese Zuspitzung überspringt Generationen strategischer Denkrichtungen, bringt aber unsere Kernfrage auf den Punkt: Kann ein planvolles strategisches Vorgehen heute überhaupt noch gelingen, oder liegt der wahre Erfolgsfaktor darin, strategische Planung über Bord zu werfen? Angesichts der abrupten Veränderungen und der zunehmenden Ungewissheit, mit der wir täglich konfrontiert sind, spricht vieles dafür, sich eben nicht festzulegen, sondern flexibel zu bleiben und auf explizite Strategien zu verzichten. Doch die Konsequenzen sind erheblich, denn Strategie gibt uns ein Denkgerüst, schafft Orientierung und liefert uns Zukunftsbilder, die uns helfen, unsere Mannschaften auf ein Ziel einzuschwören. Geben wir sie auf, droht Beliebigkeit, geht Richtung verloren – und vielleicht auch die Chance, durch die große Zahl einen großen Vorteil zu erreichen.

Um diesen Zielkonflikt soll es hier gehen. Ausgehend von dem, was unseres Erachtens schon immer eine gute Strategie ausgemacht hat, wollen wir dem Phänomen Ungewissheit nachgehen und prüfen, ob Ungewissheit tatsächlich dazu führen muss, Strategie über Bord zu werfen. Oder ob das Gegenteil richtig ist: Je ungewisser die Zukunft ist, umso wichtiger wird gute Strategie.

Über das Wesen guter Strategie

Fassen wir alle wichtigen Definitionen, Ansätze und Paradigmen zusammen, die in den vergangenen Jahrzehnten über Strategie oder strategisches Management entwickelt worden sind, so lassen sich bei aller Unterschiedlichkeit zwei universelle Merkmale festhalten. Strategie ist erstens eine besondere Art zu denken: zielorientiert, auf die Zukunft gerichtet, fokussiert, ganzheitlich, unkonventionell. Und zweitens: Strategie bedeutet, sich zu entscheiden – eine bewusste Auswahl zu treffen unter mehreren Optionen. Derartige »strategische« Entscheidungen

legen die grundlegende Ausrichtung eines Unternehmens (oder einer Institution) fest;

versuchen, in der Zukunft liegende Ereignisse zu antizipieren;

sichern Erfolg, das heißt, sie schaffen nachhaltige Wettbewerbsvorteile;

bestimmen Positionierung, Ressourcenzugang und Ressourcenallokation (also die eingangs genannte große Zahl);

definieren die fundamentalen Unternehmensstrukturen (zentral/dezentral, global/regional et cetera).

Abbildung 1: Ein Grundverständnis über Strategie

Mit anderen Worten (vgl. Abb. 1): Strategie ist das planvolle Streben nach Zielerreichung, ausgerichtet an potenziellen Marktchancen und verfügbaren Ressourcen, die kreativ in Wettbewerbsvorteile umgesetzt werden und so zu strategischem Erfolg führen.

Genauso wie sich ein Common Sense über die grundlegenden Merkmale von Strategie finden lässt, tragen wir alle auch ein Grundverständnis über den Prozess von Strategie in uns. Zwar unterscheiden sich die Ansätze hinsichtlich des Einflusses von Lernen, der Bedeutung einzelner Schritte oder der jeweils anzuwendenden Methodik, aber im Kern geht es – und das ist naheliegend! – immer um die folgenden vier Phasen:

Die strategische Analyse, die üblicherweise sowohl externe (Markt, Wettbewerb, Technologie et cetera) als auch interne (Ressourcen, Fähigkeiten et cetera) Faktoren umfasst.

Die Strategieentwicklung, also die Ableitung und Bewertung von denkbaren Alternativen und vor allem: die Entscheidung für eine Alternative.

Die Strategieimplementierung, also die Umsetzung der gewählten Alternative in Prozesse, Strukturen und Systeme, Kommunikation und Training.

Die strategische Kontrolle, also das Abgleichen der Umsetzung mit den Zielen sowie – falls notwendig – die Einleitung von Maßnahmen zur Gegensteuerung.

Bereits dieser kurze Exkurs verdeutlicht den Wert von Strategie: Sie gibt uns ein Denkgerüst, verleiht den Dingen eine innere Logik und verschafft somit allen Beteiligten ein hohes Maß an Orientierung. Oder kurz: Sie vermittelt uns die Prozesssicherheit, nach der wir suchen, wenn wir mit schwierigen unternehmerischen Entscheidungen konfrontiert sind. Gemäß diesem Verständnis von Strategie und ihren Wesensmerkmalen und Prozessen können wir eine Strategie dann als gut bezeichnen, wenn

den Entscheidungen ein klares Zukunftsbild zugrunde liegt, also ernsthaft versucht wird, zukünftige Ereignisse zu antizipieren;

die Ressourcenbasis (Menschen, Ideen, Kapital) und die eigenen Fähigkeiten objektiv beurteilt werden;

die strategischen Maßnahmen geeignet sind, echte Vorteile aufzubauen, zum Beispiel in Form einer einzigartigen Marktpositionierung oder Ressourcenallokation;

eine effektive Implementierung möglich ist, also neue Prozesse, Strukturen und Systeme schnell umgesetzt werden können;

vor allem eines gelingt: die Mannschaft zu begeistern und mitzunehmen.

Selbstverständlich sagen diese Kriterien noch nichts darüber aus, ob eine Strategie auch inhaltlich gut ist. Beeinflusst durch grundlegende Strategiekonzepte wie Erfahrungskurve oder Portfolioansätze und maßgeblich geprägt durch die generischen Wettbewerbsstrategien Michael Porters (Kostenführerschaft, Differenzierung, Fokussierung), haben sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten einige strategische Stoßrichtungen herauskristallisiert, die in der Managementpraxis eine große Rolle spielen (vgl. Abb. 2). Dazu gehören vor allem die »Diversifikation«, die das strategische Denken bis Mitte der 1990er Jahre bestimmt hat, gefolgt von der »Konzentration auf Kernkompetenzen« und den »Shareholder Value«-Ansätzen, der sogenannten »Dekonstruktion der Wertschöpfungskette«, die in der New Economy eine wichtige Rolle gespielt hat, bis hin zum Prinzip der »Konzentration auf Kerngeschäfte«, also alles darauf auszurichten, dasjenige Geschäft mit den größten Stärken und Potenzialen aus- und alle anderen Aktivitäten abzubauen.

Abbildung 2: Dominante strategische Stoßrichtungen

Wie relevant diese strategischen Stoßrichtungen weiterhin sind, zeigen die kürzlich vollzogenen Ab- und Aufspaltungen bei Bayer, RWE, E.ON, der Metro oder auch bei Google – immer wird damit argumentiert, strategische Vorteile zu erreichen, indem man Managementkapazitäten sowie personelle und finanzielle Ressourcen auf ein Geschäft fokussiert. Allerdings lässt sich genauso berechtigt fragen, ob nicht schon bald eine ganz neue strategische Stoßrichtung das strategische Denken bestimmen wird – oder eine alte wieder aktuell wird. Beispielsweise die der »Diversifikation«, weil auch die globalen Wachstumspotenziale in Kerngeschäften früher oder später begrenzt sein werden und deswegen die strategische Herausforderung darin besteht, neue Wachstumsmöglichkeiten zu suchen. Oder die der »Dekonstruktion«, weil die Digitalisierung und die damit verbundenen technischen Möglichkeiten erst heute die richtigen Voraussetzungen schaffen, über Branchengrenzen hinauszudenken und Wertschöpfungsketten radikal neu zu definieren.

Zum Wesen einer guten Strategie gehört also auch zu erkennen, wann ein Konzept oder eine Stoßrichtung nicht mehr passt und den Mut zu haben, im Zweifel gegen die herrschende Meinung der Wissenschaft, der Analysten oder der Medien auf ein neues Konzept zu setzen oder auf ein altes zurückzukommen.

In jedem Fall gibt uns Strategie einen Bezugsrahmen, in dem wir ziel- und handlungsorientiert denken und verantwortungsbewusst entscheiden können. Anders gesagt: Der innere Wert guter Strategie liegt vor allem darin, dass sie uns ein konzeptionelles (und vielfach erprobtes) Denkgerüst anbietet; dass sie uns eine Analytik an die Hand gibt, mit der wir immer wieder auftretende Entscheidungsprobleme lösen können; dass sie zu konkreten Aktionen führt; dass sie uns Orientierung im Tagesgeschäft gibt, denn strategische Ziele helfen uns, unsere Mannschaften und Teams auf eine gemeinsame Richtung einzuschwören.

Das Phänomen der Ungewissheit

Trotz aller Vorteile, die sich mit Strategie verbinden, bleibt ein Unbehagen: Für jede gute Strategie müssen Annahmen über zukünftige Entwicklungen getroffen werden. Aber können wir das heute noch? »Alle Weisheit beginnt mit der Erkenntnis der Tatsachen«, schrieb Cicero (106–43 v. Chr.) den römischen Senatoren ins Stammbuch. Und zu den Tatsachen, die wir heute zu allererst erkennen müssen, gehört, dass wir in einer ungewissen Welt leben.

In unserem täglichen Sprachgebrauch benutzen wir die Begriffe »ungewiss« oder »Ungewissheit« häufig synonym mit Risiko oder Unsicherheit. Aber sie beschreiben völlig unterschiedliche Zustände:

Risiko bedeutet, dass wir sowohl die möglichen Ereignisse wie auch deren Eintrittswahrscheinlichkeiten kennen; zwar müssen wir zwischen Alternativen entscheiden (weil mehrere Entwicklungen möglich sind), aber durch Kenntnis der Wahrscheinlichkeitsverteilung können wir analytisch berechnen, welche Alternative am vorteilhaftesten ist.

Unsicherheit bedeutet, dass wir zwar die möglichen Ereignisse kennen, nicht aber ihre jeweiligen Eintrittswahrscheinlichkeiten. Deshalb können wir analytisch nicht ohne weiteres ableiten, welche Alternative die bessere sein wird. Aber weil die Ereignisse noch bekannt sind, lässt sich zumindest eine Vorstellung davon entwickeln, was sein könnte.

Ungewissheit bedeutet, dass wir gar nicht alle möglichen Ereignisse kennen; wir können also nicht mehr wissen, was sein kann, und somit lassen sich weder Richtung noch Geschwindigkeit von Veränderungen verlässlich vorhersehen.

Die Vorstellungswelt des (berechenbaren) Risikos war immer schon eine Fiktion, mit der wir nur arbeiten konnten, solange unwahrscheinliche Ereignisse auch wirklich unwahrscheinlich waren. Spätestens die Finanzkrise hat uns eines Besseren belehrt. Unsicherheit fordert unser analytisches Instrumentarium heraus, weil wir mit »Outliers« oder »Fat Tails« umgehen müssen (oder, um es mit einem populären Buchtitel aus dem Jahr 2007 zu sagen: mit »Schwarzen Schwänen«). Aber wir haben noch Orientierungspunkte, weil wir die möglichen Ereignisse kennen. Ungewissheit stellt uns nun vor ganz neue Herausforderungen, denn das entscheidungsrelevante Wissen ist unvollständig und ändert sich fortlaufend. Oder wie es John Maynard Keynes (1883–1946) nach dem Schock der Weltwirtschaftskrise im Jahr 1936 formulierte: »[…] our existing knowledge does not provide a sufficient base for a calculated expectation«.

Genau das ist heute Wirklichkeit geworden: Weder der abrupte Atomausstieg in Deutschland, der Wahlsieg Donald Trumps in den USA oder die rasante Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle, noch der Ölpreisverfall oder der Dauer-Niedrigzins, und auch nicht der Ukraine-Konflikt (und damit die Sanktionen gegen Russland) oder der Bürgerkrieg in Syrien mit all seinen Folgeerscheinungen bis hin zu EU-Krise und Brexit waren vorhersehbar – und fordern die Strategie vieler Unternehmen radikal heraus. Bleibt der Ölpreis so niedrig, oder steigt er genauso überraschend wieder an? Überholt uns das Silicon Valley durch die Digitalisierung der Industrie, oder können wir weiterhin auf industrielle Kompetenz setzen? Wann kommt die nächste digitale Innovation, die unser Geschäftssystem infrage stellt? Und wenn sie kommt, woher kommt sie? Gibt es eine Einigung mit Russland, oder bleibt der russische Markt noch lange versperrt? Kommt es sogar zu einer wirtschaftlichen Allianz zwischen Russland und China? Verändert die Präsidentschaft von Donald Trump das internationale Wirtschaftsgefüge nachhaltig, oder wird er über kurz oder lang von seiner Wahlkampfrhetorik abrücken? Und wo entsteht der nächste geopolitische Konflikt, der globale Warenströme unterbricht? Droht am Ende sogar die EU zu zerfallen?

Wenn wir ehrlich sind, können wir nicht mehr wissen, was passiert und wann es passiert. Bedrohungen werden asymmetrisch, Geschäfte hybrid, das Datenvolumen steigt exponentiell und gleichzeitig nimmt die Halbwertszeit des Wissens dramatisch ab. Die Welt ist eben nicht »flat«, wie Thomas L. Friedman im Jahr 2005 behauptet hat; sie wird immer bunter, ambivalenter, komplexer, unberechenbarer und damit ungewisser.

Analytisch geht Ungewissheit mit Emergenz und Nichtlinearität einher, zwei Phänomenen, die wir aus den Naturwissenschaften kennen: Emergenz bedeutet, dass sich Eigenschaften eines Gesamtsystems nicht mehr aus seinen einzelnen Elementen erklären lassen; Nichtlinearität führt dazu, dass schon unscheinbare Ereignisse – sogenannte Tipping Points – ein System zum Einsturz bringen und alle Prämissen infrage stellen können.

Beides zusammen führt zu einer ernüchternden Erkenntnis: Ungewissheit bedeutet faktisch Unplanbarkeit. Mit der Konsequenz, dass wir unser strategisches Planungsinstrumentarium nicht mehr seriös anwenden können – und dürfen, wenn wir keine Fehlschlüsse riskieren wollen. Nur einige Beispiele:

Wenn die Zeitreihe zukünftiger Cashflows ungewiss ist, gibt uns selbst die analytische Brillanz des Capital Asset Pricing Model (CAPM) keine Sicherheit mehr bei der Unternehmens- oder Investitionsbewertung.

Wenn Wachstumsraten nicht mehr extrapolierbar sind, liefert uns die Erfahrungskurve keine verlässlichen Kosteninformationen; es macht für die Produktionseffizienz einen gewaltigen Unterschied, ob ein Markt mit 10 Prozent wächst (dann dauert es sieben Jahre bis zur Verdoppelung) oder ob nur 3 Prozent möglich sein könnten (dann dauert es nämlich 23 Jahre).

Wenn die Erfahrungskurve nicht mehr anwendbar ist, führen Portfoliostrategien zu falschen Stoßrichtungen; aus einem »Star« kann schnell ein »lahmer Hund« werden, wenn sich die Kostendegression nicht schnell genug einstellt.

Wenn nicht mehr klar ist, wie sich Branchen abgrenzen, stoßen die Porterschen Five Forces an ihre analytischen Grenzen.

Diese Auflistung ließe sich beliebig verlängern, bis hinein in einfache strategische Instrumente: Worauf soll sich eine Wettbewerbsanalyse beziehen, wenn wir nicht mehr sagen können, wer unser Wettbewerber sein wird?

Zum Umgang mit Ungewissheit

Wie man mit Führung auf Ungewissheit reagieren kann, haben wir in Gute Führung (Schwenker/Müller-Dofel, 2013) versucht zu skizzieren: durch das Setzen auf Persönlichkeiten statt auf Zahlen oder Pläne; durch Interdisziplinarität (oder einen »breiten Horizont«), um aussagefähige Zukunftsbilder entwickeln zu können; durch eine Rekrutierungspolitik, die auf unterschiedliche Lebenswelten (oder »Ecken und Kanten«) setzt; durch den Mut, trotz aller Ungewissheit einen Standpunkt zu haben und damit Orientierung geben zu können.

Das ist schon nicht einfach, aber für die Unternehmensstrategie sind die Herausforderungen noch weitaus größer. Denn wenn wir Ungewissheit ernst nehmen, ist schon einmal klar, dass

unsere strategischen Analyseinstrumente nicht mehr greifen, weil sie, wie wir gesehen haben, Ungewissheit analytisch nicht beherrschen können;

unsere üblichen Planungs- und Budgetgewohnheiten obsolet sind, weil neue Ereignisse eine Strategie jederzeit aufrollen können;

der Kreislauf aus Beobachten, Orientieren, Entscheiden und Handeln radikal schneller durchlaufen werden muss, um überhaupt aktions- und reaktionsfähig zu bleiben.

Damit ist auch klar, dass ein bloßes Feintunen unserer Instrumente und Prozesse nicht ausreichen wird – wir müssen grundlegend über unseren strategischen Umgang mit Ungewissheit nachdenken.

Eine Denkrichtung dafür geben uns die Politikwissenschaftler Christopher Daase und Oliver Kessler, indem sie danach unterscheiden, ob eine Gefahr bekannt ist und ob wir uns ihrer bewusst sind. Übertragen auf unsere Fragestellung können wir analog danach differenzieren, ob ein Ereignis (oder eine Entwicklung) erkennbar ist oder nicht, und ob wir uns unserer Erkenntnislücken bewusst sind. Daraus entstehen drei für uns relevante Fälle, wenn wir den Glücksfall, also uns zufällig richtig zu entscheiden, ausklammern (vgl. Abb. 3):

Fall 1: Wir wissen, was passieren wird, weil wir die möglichen Ereignisse kennen; dieser Fall muss uns hier nicht weiter interessieren, denn die Handlungsanweisung ist offensichtlich: professionell vorbereiten und den Grundsätzen einer guten Strategie folgen.

Fall 2: Wir hätten wissen können, welche Ereignisse vor uns liegen, wenn wir unseren Job richtig gemacht hätten. Diesen Fall können wir als selbstverschuldete Ungewissheit bezeichnen, die wir durch kluges Vorgehen vermeiden können (vgl. Kap. 2.3).

Fall 3: Wir können nicht erkennen, was passieren wird, aber wir sind uns dessen bewusst. Hier geht es um zukünftige Ereignisse, von denen wir nicht wissen können, dass es sie geben wird, also um die vom damaligen (2002) US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld so bezeichneten »Unknown Unknowns«. Aus unserer Sicht reden wir hier (aber auch nur hier) über objektive (oder echte) Ungewissheit.

Abbildung 3: Ein Rahmenkonzept zum Umgang mit Ungewissheit

Natürlich wissen wir nicht, wie die Gewichte für die drei relevanten Fälle verteilt sind. Aber die Differenzierung macht bereits eines deutlich: Wir sind der Ungewissheit dann nicht hilflos ausgeliefert,

wenn wir uns ständig bewusst machen, dass unser Umfeld ungewiss ist (wir also mit dem Ungewissen rechnen);

wenn wir uns auf Ungewissheit vorbereiten, indem wir unsere Prämissen und Denkrichtungen (oder Paradigmen) systematisch hinterfragen und unsere strategischen Stoßrichtungen ständig auf den Prüfstand stellen;

wenn wir einen Fall durch kluge Prozesse und Analysen (oder: durch gutes und richtig eingesetztes strategisches Handwerkszeug) ausschalten: die selbstverschuldete Ungewissheit.

Das Vermeidbare vermeiden

Ursächlich für die selbstverschuldete Ungewissheit, also für Entwicklungen, die erkennbar gewesen wären, wenn wir unseren Job richtig gemacht hätten, sind einige typische Analyse- und Prozessfehler, die in den vergangenen Jahren in der Verhaltensökonomie (»Behavioral Economics«) intensiv untersucht worden sind. Mit Bezug auf gute Strategie sind dies vor allem:

Falsches Framing, das heißt, wir analysieren den falschen Ausschnitt oder Aspekt – anders gesagt: Wir denken nicht breit genug, um Ungewissheit einzufangen oder uns ihrer bewusst zu werden.

Einseitige Perspektive, das heißt, wir bewerten interne Informationen höher als Markt- oder Wettbewerbsinformationen – weil wir geneigt sind, uns für besser informiert zu halten.

Vermessenheitsfehler, das heißt, wir gehen überoptimistisch davon aus, auch hochgesteckte Ziele (im Unterschied zum Wettbewerb) erreichen zu können.

Bestätigungsfehler, das heißt, wir nehmen nur Informationen wahr, die unseren Erwartungen entsprechen.

Verfügbarkeitsfehler, das heißt, wir analysieren nicht tief genug und setzen zu schnell auf jene Erkenntnisse, die wir gerade zur Hand haben.

Assoziierungsfehler, das heißt, wir vertrauen auf (scheinbare) Plausibilitäten oder auf Korrelationen, deren Annahmen nicht kritisch hinterfragt worden sind.

»Satisficing« (Herbert Simon), das heißt, wir suchen nicht nach der besten Antwort auf Ungewissheit, sondern nach der für alle Beteiligten vertretbaren – also nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner.

Primat der Umsetzung, das heißt, wir konzentrieren uns viel zu sehr auf schnelle Implementierung und vernachlässigen dabei gute Analytik – wer nicht nach schwachen Signalen sucht, findet sie auch nicht.

Falsches Timing, das heißt, nicht veränderte Geschäftsparameter geben den Impuls, über Strategie nachzudenken, sondern der jährliche Planungskalender.

Isomorphismus, das heißt, wir orientieren uns immer wieder an den gleichen Erfolgsbeispielen, greifen auf dasselbe Expertenwissen zurück, folgen dem (brancheninternen) Mainstream – weil uns das Sicherheit suggeriert.

Hinzu kommt ein Weiteres: Strategieentwicklung ist in vielen Unternehmen ritualisiert, findet zu den immer gleichen Zeitpunkten in immer gleichen Settings statt. Anders formuliert: Wo jährlich in austauschbaren Offsite-Meetings in immer denselben inneren Zirkeln über Strategie beraten wird, kommt vermutlich wenig mehr heraus als eine Fortschreibung des Status quo – und schon gar keine Gewissheit über Ungewissheit.

Die Schlussfolgerungen aus dieser einfachen Fehleranalyse liegen auf der Hand: Wir können einen ersten, wichtigen Schritt zum Umgang mit Ungewissheit tun, wenn wir

Ungewissheit zum (kulturellen) Leitthema machen: Wer sich nicht zu sicher fühlt, bereit ist, sich zu hinterfragen, Reflexion fördert und Plattformen für einen kritischen Diskurs schafft, ist besser auf Ungewissheit vorbereitet.

in Analyse investieren: Wer das tragfähigere Zukunftsbild hat, besser Strömungen und schwache Signale erfasst, hat die größere Chance, wichtige Ereignisse frühzeitig zu erkennen.

den Strategieprozess neu gestalten: Wer Strategieentwicklung an Ereignissen festmacht (statt am Planungskalender), sie mit anderen Wissensgebieten vernetzt, sie als Prozess und nicht als Ergebnis versteht, verschafft sich eine höhere Reagibilität.

Klingt beherrschbar, ist in der unternehmerischen Praxis aber nicht leicht umzusetzen. Dabei geht es gar nicht so sehr um die eher technischen Voraussetzungen wie beispielsweise einen neuen Strategieprozess; im Kern geht es vielmehr um Kultur und Führung. Konnten wir früher durch klare Statements zu Strategie, Zielen und Maßnahmen Orientierung und Sicherheit geben, setzt eine Kultur des »vorbereitet Seins« eben auch voraus zuzugeben, dass man irren kann und deswegen andere Meinungen und Vorstellungen ausdrücklich erwünscht sind – ohne den Mannschaften das Gefühl zu vermitteln, dass Führung beliebig wird. Kein einfacher Spagat für Führungskräfte – wie er gelingen kann, werden wir später weiter vertiefen.

Das Unvermeidbare gestalten

Das Bewusstsein für Ungewissheit, gute Analysen und ein neugestalteter Strategieprozess werden uns helfen, Ungewissheit auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Aber sie schließen sie noch nicht aus – »Unknown Unknowns« können immer noch und zu jeder Zeit auftreten. Um echter Ungewissheit kraftvoll zu begegnen, müssen wir Strategie neu entdecken: Anstatt Ressourcen in die detaillierte Durchrechnung langfristiger (und mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald hinfälliger) Strategien zu investieren, müssen wir Strategie wieder kreativer, unkonventioneller und interdisziplinärer denken. Ein Albert Einstein (1879–1955) zugeschriebenes Diktum weist die Richtung: »Manchmal kann das, was zählt, nicht gezählt werden, und das, was gezählt werden kann, zählt nicht.« In einer ersten Annäherung gibt es vier Ansatzpunkte, die uns weiterbringen können:

Zukunftsbilder entwerfen

Zukunftsbilder (oder Szenarien) sind für uns der Schlüssel im Umgang mit Ungewissheit, denn

sie schaffen ein Bewusstsein für Ungewissheit (weil wir analysieren, wie die Welt sein könnte);

sie geben Orientierung nach innen und außen (weil wir begründet über eine Zukunft reden können, die wir erwarten);

sie schaffen ein Denkgerüst, mittels dessen wir Strategie weiter detaillieren können (weil wir eine Vorstellung zukünftiger Rahmenbedingungen erhalten).

Das gilt jedenfalls dann, wenn Szenarien mehr sind als die so häufig vorzufindenden Best-Case-/Worst-Case-Simulationen der immer selben Entwicklungslinien oder Cashflow-Reihen. Anders gesagt: wenn der Anspruch besteht, echte alternative Zukünfte zu entwerfen. Um diesen Anspruch zu erfüllen – und um einen validen Startpunkt für die weitere Strategieentwicklung zu liefern – müssen Szenarien

explizit interdisziplinär angelegt werden und volkswirtschaftliche, technologische und geopolitische Ereignisse einbeziehen – sie müssen breit und tief gedacht werden, um Ungewissheit einzufangen;

eindeutig genug formuliert sein, um unternehmerische Entscheidungen daran zu orientieren – Schwammigkeit hilft uns nicht weiter;

modular und vernetzt konstruiert werden – Ungewissheit erfordert die Fähigkeit, schnell von einem Szenario auf ein anderes umsteigen zu können.

Viele der in der Praxis angewendeten Verfahren zur Entwicklung von Szenarien erfüllen diese Ansprüche nicht. Hinzu kommt, dass – auch deswegen – Szenarioplanung in vielen Unternehmen kein gutes Ansehen hat; sie gilt als kompliziert, zu wenig operationalisierbar und (zu) zeitaufwendig. Welche neuen Ansätze denkbar sind und wie eine szenariobasierte Strategieplanung konkret aussehen kann, werden wir später erläutern (vgl. auch Schwenker/Wulf, 2013).

Tipping Points ableiten und überwachen

Gute Zukunftsbilder helfen uns, Ungewissheit besser zu verstehen und uns darauf einzurichten. Wir müssen uns aber immer noch entscheiden, welches Zukunftsbild Bestandteil unserer Strategie sein soll – und wann unser Zukunftsbild nicht mehr trägt, weil sich die Zukunft anders entwickelt als gedacht. Dafür helfen uns die bereits angesprochenen Tipping Points, also Ereignisse, die einen Wende- oder Umschlagspunkt markieren und ein System (oder unsere Strategie) zum Einsturz bringen können. Zwar ist es nicht trivial, sie zu entdecken, weil wir eine Vielzahl von Variablen und deren Interdependenz berücksichtigen müssen. Moderne Algorithmen zur Mustererkennung sind jedoch in der Lage, sie zu identifizieren. Jedenfalls dann, wenn die unterschiedlichen Szenarien miteinander verknüpft und ihre jeweiligen Annahmen sauber durchdacht und operationalisierbar sind. Der Aufwand lohnt sich: Wer frühzeitig Signale für eine Richtungsänderung erkennt, gewinnt mehr Zeit als der Wettbewerb für notwendige Anpassungen und ist im Vorteil.

Das Monitoring dieser Tipping Points ist aus unserer Sicht die Kernaufgabe eines modernen strategischen Controllings. Statt Planzahlen oder Zielerreichungsgrade abzugleichen, geht es um eine institutionalisierte Reflexion der zugrunde liegenden Entwicklungslinien. Oder in den Worten von Arie de Geus, dem ehemaligen Shell-Planungschef: »Die Fähigkeit, schneller zu lernen als die Konkurrenz, ist vielleicht der einzig wirkliche Wettbewerbsvorteil«.

Organizational Slack zulassen

Dass finanzielle, personelle und intellektuelle Reserven (»Organizational Slack«) in Krisen wichtig sind, wissen wir aus vielen Restrukturierungssituationen.

In der Reaktion auf Ungewissheit gewinnen sie darüber hinaus strategische Bedeutung: Es geht um einen (strategischen) Überschuss an Ressourcen (Kapital, Menschen, Ideen), die wir für das Tagesgeschäft nicht brauchen, die uns aber bei unerwarteten Ereignissen helfen können, um atmungsfähig zu bleiben, Zeit zu gewinnen und Ideen zu generieren (oder besser: schon vorgedacht zu haben).

Das Konzept ist nicht neu, aber durch die Fokussierung auf Effizienz in Vergessenheit geraten – Organizational Slack ist schlecht und muss abgebaut werden. Ungewissheit zwingt uns nun, unser Streben nach immer effizienteren Lösungen zu überdenken – »Slack« ist eben nicht immer schlecht. Auch das ist eine echte Herausforderung: Wie viel Organizational Slack sollen wir zulassen, und vor allem: Wo? Bei der personellen Dimensionierung, in Forschung und Entwicklung, im Vertrieb, auf der Kapitalseite?

In der modernen Managementlehre wird diese Problematik häufig auch unter dem Begriff »Resilienz« diskutiert. Wir werden später im Buch zeigen, welche Konzepte uns hier weiterbringen können und vor allem: wie sie am besten in eine moderne Strategie integriert werden.

Strategie und Struktur verbinden

Wie gut wir uns auch immer mit Zukunftsbildern und Slack auf Ungewissheit vorbereiten – sie bleibt ungewiss und erfordert die Fähigkeit zu einem raschen Strategiewechsel. Eine zeitgemäße Strategie muss also hinreichend flexibel sein, um personelle und finanzielle Ressourcen schnell umwidmen zu können, und gleichzeitig robust genug, um über Mode- und Konjunkturwellen hinweg Richtung und Orientierung zu geben.

Aus dieser Balance zwischen Stabilität und Flexibilität erwachsen eine Reihe von Widersprüchen, mit denen Strategie heute umgehen muss: Vielfalt vs. Einfachheit, Innovation vs. Effizienz, Lernen vs. Routine, Differenzierung vs. Integration, Chaos vs. Ordnung, Netzwerk vs. Hierarchie, Selbstverantwortung vs. Einheit der Leitung. Das setzt einerseits die richtige Führung und (Führungs-)Kultur voraus, bedingt andererseits aber auch Strukturen, die diese Flexibilität ermöglichen. Eine immer wiederkehrende Frage ist deswegen für uns eindeutig geklärt: Angesichts der Ungewissheit folgt Struktur nicht mehr Strategie, und Strategie darf kein Ergebnis der Struktur sein. Bei Ungewissheit ist Struktur immer Bestandteil von Strategie.

Was gute Strategie heute ausmacht

Schon dieser kurze Exkurs hat gezeigt, dass Ungewissheit unser Denken über Strategie ganz erheblich herausfordert – aber auch, dass wir der Ungewissheit nicht ausgeliefert sind. Mit anderen Worten: Auch unter den Bedingungen von Ungewissheit müssen wir Strategie nicht aufgeben, sondern haben die Chance, den inneren Wert guter Strategie, den wir diesen Überlegungen vorausgestellt hatten, zu erhalten. Und mehr noch: Richtig angewandt hilft uns gute Strategie, besser mit Ungewissheit umzugehen.

Allerdings sind die Anforderungen an Strategie erheblich gestiegen: Sie muss bewusst sein (Wissen um Ungewissheit), sie muss offen und kritisch sein (kein Mainstream, kein Isomorphismus, keine Denkfallen), sie muss tief sein (Muster erkennen und Zukunftsbilder liefern), sie muss mutig sein (auf ein eigenständiges Zukunftsbild setzen, gegebenenfalls auch gegen die dominante Logik). Unter den Bedingungen von Ungewissheit sind also die folgenden Elemente entscheidend, damit eine Strategie auch zukünftig gut ist (vgl. Abb. 4):

die sorgfältige Erarbeitung möglicher Zukunftsbilder (oder Szenarien), die uns ein Gefühl für das geben können, was passieren kann;

eine vorurteilsfreie Analyse der eigenen Stärken und Schwächen und der Ressourcen, die zur Verfügung stehen oder mobilisiert werden können;

die Entwicklung klar unterscheidbarer strategischer Handlungsalternativen (denn nichts ist »alternativlos«);

die objektive Bewertung der Alternativen bezüglich der erreichbaren Markt- oder Wettbewerbspositionierung und der Ressourcenallokation beziehungsweise -bindung (wo, wie viele und wie lange);

die Identifikation von Tipping Points, an denen sich rechtzeitig zeigt, ob und wann wir auf ein neues Zukunftsbild umsteigen müssen und ob unsere Strategie adjustiert oder eine neue entwickelt werden sollte.

Kombinieren wir diese Elemente mit der konzeptionellen Logik, die wir aus dem Phänomen Ungewissheit abgeleitet haben – also: das Vermeidbare vermeiden (oder: durch gutes Managementhandwerk selbstverschuldete Ungewissheit ausschließen) und das Unvermeidbare gestalten (oder: durch kluges Nachdenken echte Ungewissheit greifbar machen) –, ergeben sich sieben Leitgedanken, die das Wesen guter Strategie unter Ungewissheit ausmachen:

Abbildung 4: Anforderungen an moderne Strategieentwicklung

Erstens: Strategie erfordert Führung. Dieser Leitgedanke ist nicht neu, wird aber im Umgang mit Ungewissheit essenziell: Ohne die Bereitschaft, sich ständig zu hinterfragen, ohne gewolltes interdisziplinäres Denken, ohne Plattformen für einen kritischen Diskurs wird es nicht gelingen, den Umgang mit Ungewissheit kulturell zu verankern. Anders gesagt: Wenn die Führungskultur nicht auf Ungewissheit ausgerichtet ist, wird es keine Strategie geben können, die mit Ungewissheit umgehen kann.

Zweitens: Strategie erfordert Zeit. Auch wenn es angesichts plötzlicher Umbrüche und der Notwendigkeit, schnell zu reagieren, paradox klingt: Ohne Zeit und Ressourcen für gute Analysen und für Reflexion wird es uns nicht gelingen, aus schwachen Signalen auf Zusammenhänge und unerwartete Entwicklungen zu schließen – und adäquat zu reagieren, wenn sie eintreten. Dies gilt umso mehr, als die investierte Zeit fürs »Vordenken« sich im Krisenfall doppelt auszahlt.

Drittens: Strategie erfordert Methodenkenntnis. Wenn unsere strategischen Instrumente bei Ungewissheit an ihre Grenzen stoßen (oder sogar zu Fehlentscheidungen führen können), kommt es umso mehr darauf an, ihre Annahmen (wirklich) zu verstehen und ihre Ergebnisse und Empfehlungen (richtig) zu werten.

Viertens: Strategie erfordert das richtige Timing. Strategie muss immer dann stattfinden, wenn unerwartete Entwicklungen eintreten – und am besten schon vorher. Deswegen müssen wir die Ritualisierung durch einen festen Planungskalender brechen und das Monitoring der Tipping Points zum Kernelement des Strategieprozesses machen.

Fünftens: Strategie erfordert das richtige Setting. Auch hier geht es um das Aufbrechen von Ritualen. Interdisziplinarität erfordert, dass unterschiedliche Kompetenzen mit »am Strategietisch« sitzen: Think-Tanks, Technologen, Volkswirte, Geopolitiker, Gesellschaftsrechtler, Querdenker et cetera – statt immer nur dieselben Mitglieder des inneren Zirkels.

Sechstens: Strategie erfordert Zukunftsbilder. Wenn unsere Ausgangsannahme richtig ist, dass die Herausforderung guter Strategie vor allem darin liegt, trotz zunehmender Ungewissheit valide Hypothesen über zukünftige Entwicklungen aufzustellen, kommt der Erarbeitung denkbarer Zukunftsbilder höchste Bedeutung zu. Anders gesagt: Der Start- und Orientierungspunkt jeder guten Strategie ist heute ein Set an sorgfältig durchdachten Szenarien.

Siebtens: Strategie erfordert Persönlichkeiten. Aus drei Gründen: weil es um den Mut geht, in ungewissen Situationen überhaupt zu entscheiden (also: auf ein Zukunftsbild zu setzen); weil Strategie echte Führung erfordert (siehe oben); und weil diese Leitgedanken guter Strategie nur dann zum Tragen kommen, wenn sie überzeugend vertreten und vorgelebt werden.

Die Messlatte für gute Strategie unter Ungewissheit liegt also hoch – ob wir all diese Anforderungen erfüllen können, muss sich noch zeigen. Aber der Einsatz lohnt sich, denn sie schafft Orientierung, wo sonst Beliebigkeit droht, und steht für Überzeugungen statt für Opportunismus. Gute Strategie in diesem Verständnis ist auch mit einer positiven Nachricht verbunden: Sie ist weniger bürokratisch, weniger technokratisch, näher an Inhalten, näher an der Zukunft, sie ist breiter und spannender denn je.

Literaturhinweise

C. v. Clausewitz, Vom Kriege, Hg. M. v. Clausewitz, Bd. 1–3, Berlin, 1832–1834

C. Daase, O. Kessler, Knowns and Unknowns in the ›War on Terror‹: Uncertainty and the Political Construction of Danger, in: Security Dialogue Vol. 38/No. 4, 2007, 411–436

A. de Geus, Planning as Learning, in: Harvard Business Review, March 1988, 70–74

T. L. Friedman, The World Is Flat: A Brief History of the Twenty-First Century, New York City, 2005

J. M. Keynes, The General Theory of Employment, Interest and Money, London, 1936

J. G. March, H. A. Simon, Organizations, New York, 1958

D. Rumsfeld, News Transcript U. S. Department of Defense, February 12, 2002, http://archive.defense.gov/Transcripts/Transcript.aspx?TranscriptID=2636

B. Schwenker, M. Müller-Dofel, Gute Führung: Über den Lebenszyklus von Unternehmen, Köln, 2012

B. Schwenker, T. Wulf, Scenario-based Strategic Planning: Developing Strategies in an Uncertain World, Wiesbaden, 2013

2.3 Ausbruch aus der Routine

Skizze eines neuen Strategieprozesses

Von Burkhard Schwenker

Unser Exkurs über Ungewissheit und Strategie (vgl. Kap. 2.2) hat gezeigt, dass gute Strategie auch in ungewissen Zeiten möglich ist. Mehr noch: dass sie uns hilft, besser mit Ungewissheit umzugehen. Dies gilt, wenn sie bewusst ist (also Ungewissheit akzeptiert), wenn sie offen und kritisch ist (also kein Mainstreaming betreibt), wenn sie tief ist (also Zukunftsbilder liefert) und wenn sie mutig ist (also auf ein Zukunftsbild setzt).

Die Antwort auf Ungewissheit liegt demnach nicht im Verzicht auf Strategie, sondern darin, wieder zu dem zurückzufinden, was ihr Wesen ausmacht: Im Kern ist Strategie eine kritische Reflexion der Zukunft und eine aktive Einflussnahme auf das, was sein soll. Ungewissheit fordert unser Denken über Strategie heraus, aber wir können, wie wir gesehen haben, dann strategisch mit ihr umgehen,

wenn wir uns ständig bewusst machen, dass unser Umfeld ungewiss ist, wir uns also niemals (zu) sicher fühlen;

wenn wir uns auf ungewisse Entwicklungen vorbereiten, indem wir unsere Prämissen und Denkrichtungen ständig hinterfragen;

wenn wir die Voraussetzungen dafür schaffen, Strategie kreativer, unkonventioneller und vor allem interdisziplinärer zu denken;

wenn wir in Analyse investieren, also ernsthaft versuchen, schwache Signale als Vorboten von Strukturbrüchen zu erfassen.

Schon diese kleine Aufzählung macht deutlich, dass es bei Ungewissheit nicht nur um unser Denken über Strategie geht, sondern auch um die Frage, wie Strategie konkret organisiert wird: Wer macht sie, wo wird sie gemacht, wann wird sie gemacht? Genau darum soll es hier gehen; wir wollen eine der Eingangsfragen aus Kapitel 1 aufgreifen und skizzieren, »Wie […] ein guter Strategieprozess gestaltet werden (muss), um Ungewissheit einzufangen.«

Dabei werden wir sehen, dass die bekannten Grundelemente guter Strategieprozesse auch bei Ungewissheit Bestand haben. Aber auch, dass sie an einigen entscheidenden Stellen grundlegend verändert werden müssen – was uns die Chance gibt, den Strategieprozess radikal zu vereinfachen und prozessual das zu unterstützen, was gute Strategie in erster Linie auszeichnet: eine besondere Art zu denken – ganzheitlich, der Zukunft zugewandt, zielorientiert.

Anforderungen an moderne Strategieprozesse unter Ungewissheit

Dem preußischen Generalstabschef Helmuth von Moltke d. Ä. (1800–1891) zufolge ist Strategie »die Kunst des Handelns unter dem Druck der schwierigsten Bedingungen«. Unter Ungewissheit liegen diese schwierigsten Bedingungen vor, da wir weder die Richtung noch die Geschwindigkeit von Entwicklungen verlässlich vorhersagen können und nicht einmal sicher ist, ob eine Entwicklung überhaupt eintritt. Aus dieser Sicht trifft, um bei der preußisch-militärischen Denkungsart zu bleiben, Carl von Clausewitz’ Bemerkung über Strategie in besonderer Weise zu: »In einer taktischen Situation kann man zumindest die Hälfte des Problems mit bloßem Auge erkennen, während bei der Strategie alles geschätzt und gemutmaßt werden muss«.

In diesem »Schätzen und Mutmaßen« liegt bei Ungewissheit die besondere Herausforderung für die Organisation von Strategieprozessen: Wie gelingt es, »bewusst zu sein«, also Denkrichtungen und Erfolgsfaktoren ständig zu hinterfragen – ohne die Orientierung zu verlieren? Wie schaffen wir es, offen und kritisch zu bleiben, schneller zu lernen als andere? Wie gelingt es uns immer wieder, »tief« zu sein, schwache Signale nicht nur aufzufangen, sondern richtig zu interpretieren? Mit anderen Worten, um nochmals auf die Unterscheidung zurückzukommen, die wir in Kapitel 2.2 getroffen haben: Wie organisieren wir Strategie so,

dass wir selbstverschuldete Ungewissheit weitestgehend ausschließen (also durch gutes Managementhandwerk tatsächlich alles erkennen, was erkennbar ist);

dass es durch kluges Nachdenken gelingt, echte Ungewissheit greifbar zu machen (also das Unvermeidbare zu gestalten)?

Mit Blick auf den Strategieprozess geben uns die Leitgedanken, die wir dazu formuliert hatten, eine erste Antwort:

Strategie erfordert Zukunftsbilder. Der Start- und Orientierungspunkt einer jeder guten Strategie ist ein Set an durchdachten Szenarien (und ihrer Tipping Points).

Strategie erfordert Zeit. Es braucht genügend Ressourcen für Analysen und Reflexion, um aus schwachen Signalen auf neue Zusammenhänge zu schließen.

Strategie erfordert das richtige Timing. Strategie muss immer dann stattfinden, wenn unerwartete Entwicklungen eintreten – am besten schon vorher.

Strategie erfordert das richtige Setting. Kritische Diskurse und Interdisziplinarität setzen voraus, dass unterschiedliche Kompetenzen mit »am Strategietisch« sitzen. Für die Ausgestaltung eines modernen Strategieprozesses heißt das, sozusagen umgekehrt formuliert: Wir müssen durch eine geeignete Organisation und ein neues Prozessverständnis sicherstellen,

dass die Erstellung von Szenarien oder Zukunftsbildern nicht als gelegentliche intellektuelle Übung angesehen wird, sondern ganz konkret die Strategiearbeit bestimmt – und die Strategieformulierung auf Szenarien basiert (vgl. Kap. 2.4);

dass das Monitoring der Tipping Points eine Kernaufgabe des strategischen Controllings wird und gravierende Veränderungen eine neue Strategie anstoßen – unabhängig vom Planungskalender oder vorgeplanten Sitzungsterminen und Tagesordnungen;

dass (deswegen) die Top-Führungsebene in die Erarbeitung und Analyse der Szenarien und Tipping Points eng eingebunden ist – am besten (wir werden das später diskutieren) im engen Zusammenspiel mit dem Aufsichtsrat;

dass externes Wissen an den richtigen Stellen einbezogen wird, um interdisziplinäres Denken zu fördern und um zu gewährleisten, dass Fähigkeiten objektiv beurteilt werden;

dass im Tagesgeschäft hinreichend Raum für Reflexion geschaffen wird, dass Analyse und Nachdenken geschätzt und gefördert werden – und nicht, wie heute so oft, Aktion vor Analyse geht (was, wie wir sehen werden, eine Degenerierung des ursprünglich »Greenfield«-getriebenen Strategieprozesses darstellt).

Vergleichen wir diese Anforderungen mit den strategischen Planungsprozessen, die wir kennen und gelernt haben, werden wir feststellen, dass sich auf der konzeptionellen Ebene viele unserer Punkte integrieren lassen. Ungewissheit kann prozessual eingefangen werden. Allerdings werden wir genauso feststellen, dass die Art, wie Strategieprozesse heute vielfach in der Praxis umgesetzt werden, diesem Ziel entgegensteht. Im Kern wird es also um die Organisation der Strategiearbeit gehen, an der wir ansetzen müssen.

Der traditionelle Strategieprozess und seine Limitationen

Auch wenn es heute eine Vielzahl unterschiedlicher Prozessbeschreibungen gibt, lassen sich als gemeinsames Merkmal immer wieder die folgenden Phasen herauskristallisieren:

In der (vorgeschalteten) Zielbildungsphase werden die (normativen) Vorstellungen über den zukünftigen Zustand entwickelt – was soll erreicht werden, wofür will man stehen, wie will man sich im Wettbewerb absetzen?

In der Analysephase geht es um die Auseinandersetzung mit externen und internen Faktoren (Märkte, Kunden, Wettbewerber, Technologien, Ressourcen, Fähigkeiten).

In der Strategieentwicklungsphase erfolgt eine Identifikation und Festlegung denkbarer Strategieoptionen und vor allem die bewusste Entscheidung für eine Alternative.

In der Umsetzungsphase wird die Strategie operationalisiert – also der Weg zum Ziel beschrieben – und in (neue) Strukturen und Prozesse überführt.

In der Kontrollphase werden Zieleinhaltung und -erreichung überprüft; mit anderen Worten: Es geht um die Übereinstimmung von Soll und Haben.

Strategiefindung bedeutet also weit mehr als das Festlegen beziehungsweise Ausscheiden von Optionen; sie umfasst den gesamten Prozess von der Umfeldanalyse bis hin zur Ertragsmessung. Abbildung 1 gibt einen (komprimierten) Überblick der wichtigen Elemente, die ein Strategieprozess umfassen sollte.

Abbildung 1: Der traditionelle Strategieprozess im Überblick

Abbildung 1 macht auch deutlich, dass das Phasen- oder Prozessschema konzeptionell »risikoneutral« formuliert ist, das heißt weder Sicherheit noch Ungewissheit unterstellt. Wir können also auch unter Ungewissheit damit operieren, jedenfalls dann, wenn wir sicherstellen, dass

die Problemanalyse immer mit der Entwicklung von Szenarien beginnt und die daraus folgenden Zukunftsbilder die Grundlage von Zielfestlegung und Alternativenentwicklung sind (wir werden das später Strategiedefinition nennen, vgl. Kap. 2.4);

bei der Anwendung des strategischen Analyseinstrumentariums problembewusst vorgegangen und geprüft wird, ob die den Instrumenten zugrunde liegenden Annahmen auch unter Ungewissheit gültig sind (vgl. Kap. 2.5);