Gutes Geld - Philippa Sigl-Glöckner - E-Book

Gutes Geld E-Book

Philippa Sigl-Glöckner

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Beschreibung

»Dieses Buch führt einen weit hinaus aus der eigenen politischen Komfortzone. Aber der Ausflug lohnt sich.« Giovanni di Lorenzo

»Frauen sollen weniger arbeiten als Männer«, »Wir brauchen Arbeitslosigkeit«, »Die Zukunft wird sein wie die Vergangenheit« - das sind tatsächlich die Regeln, nach denen die deutsche Regierung derzeit Entscheidungen über den Staatshaushalt trifft. Damit verspielen wir unsere Zukunft und gefährden die Demokratie. Es ist nicht der Kapitalismus an sich, der im Weg steht. Sondern die angebliche Alternativlosigkeit, die unsere Politik bestimmt. Dieses Buch zeigt, wie es anders geht. Mit gutem Geld für ein selbstbestimmtes Leben, wirksamen Klimaschutz und wirtschaftliche Unabhängigkeit von Diktatoren. Eine Geschichte von sparsamen Eichhörnchen und investierenden Kapitalisten, von Politik-Theater und zufälligen Kennzahlen - und der gefährlichsten Idee, die nie einer hatte.

»Der Staat als Unsicherheitenreduzierer - darum geht es der Autorin bei ihrem persönlichen Gang durch die finanzpolitischen Herausforderungen, vor denen unser Land heute steht. Beworben wird gedankliche Offenheit in Verbindung mit sicherem Gespür für Fragwürdigkeit. So werden die Widersprüche der deutschen Schuldenbremse enttarnt und der Reformbedarf benannt.«
Prof. Dr. Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft

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Seitenzahl: 361

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumEinleitungKapitel 1: It’s jobs, stupid!Beten, Brunch und BaukästenDie Straßen von LiberiaMaterielle FreiheitKapitel 2: Geldflüsse, Macht und gute JobsKeynes’ Nachfrage- und MachtpumpeGedankliche MultiresistenzKapitel 3: Bildung, Bahn und BergführerBildung und BahnEichhörnchen vs. KapitalistBergführerKapitel 4: Die StaatsbilanzStranger ThingsDie Benchmark-AnleiheBiblische Zinsplagen?RisikoabwägungKapitel 5: TechnopolitikDie SchuldenquoteEin ungewinnbares SpielKapitel 6: Die gefährlichste Idee, die nie einer hatteDer Vertrag von MaastrichtDer RegelapparatDie VerselbstständigungKapitel 7: Eine neue FinanzpolitikDie WirtschaftsnutzleistungEine redemokratisierte SchuldenregelTechnopolitische SirenenSparstaat oder Respektrepublik?Gutes GeldDanksagungAbbildungsverzeichnisTabellenverzeichnisAnmerkungen

Über dieses Buch

Wir verspielen gerade unsere Zukunft. Denn eigentlich sollten wir alles daran setzen, dass die nächste Generation eine gute Ausbildung erhält, unsere Unternehmen in einer dekarbonisierten Welt konkurrenzfähig sind und der Kapitalismus sein Versprechen einlöst, allen ein gutes Leben zu ermöglichen. Stattdessen halten wir an quasireligiösen ökonomischen Dogmen fest und finden den Ausweg aus der Alternativlosigkeit nicht. Es wird höchste Zeit den Kapitalismus menschlicher zu gestalten. Denn er vereint Klimaschutz, den Erhalt unserer wirtschaftlichen Grundlage und die Chance auf ein selbstbestimmtes, menschenwürdiges Leben. Ein solcher Kapitalismus verteilt Wohlstand primär über Arbeit und ist Mittel zum Zweck. Wir als Gesellschaft müssen uns nur dafür entscheiden. Packen wir es an!

Über die Autorin

Philippa Sigl-Glöckner ist Expertin für Finanzpolitik und Geschäftsführerin der von ihr mitgegründeten Denkfabrik Dezernat Zukunft. Ziel des Dezernat Zukunft ist, eine Finanz- und Wirtschaftspolitik zu entwickeln, die im Einklang mit den Werten „Würde, Wohlstand und Demokratie“ steht. Zuvor war die Autorin unter anderem im Bundesfinanzministerium in Berlin, dem liberianischen Finanzministerium, bei der Weltbank in Washington und in der Unternehmensberatung in London tätig. Philippa Sigl-Glöckner hält einen BA in Philosophie, Politik und Ökonomie von der Universität Oxford und einen MSc in Informatik vom Imperial College, London. Sie ist stellvertretende Vorsitzende des wirtschaftspolitischen Beirats des SPD-Parteivorstands und wurde für das Young Leaders Programm der Atlantik Brücke ausgewählt. Überdies ist sie gern eingeladener Gast in Talkshows (u.a. Lanz, Phoenix Runde etc.) und veröffentlicht z.B. in der Financial Times, FAZ, Süddeutsche und ZEIT.

Philipa Sigl-Glöckner

GUTESGELD

Wege zu einer gerechten undnachhaltigen Gesellschaft

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2024 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- undData-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Burkard Miltenberger, Berlin

Illustrationen: Tim Brackmann, Berlin

Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille

Umschlagmotiv: © Annette Hauschild/Ostkreuz

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-6449-0

quadriga-verlag.de

lesejury.de

Einleitung

Waren das da drüben in dem großen blauen Haus Einschusslöcher? Und was machte diese Frau hier, die Flugtickets nach Paris haben wollte? Vielleicht sollte ich erstmal eine Steckdose für meinen Laptop finden, first things first. Außerdem hatte ich schon wieder den Namen des Kollegen mir gegenüber vergessen, auf den die Flugticketfrau so intensiv einredete. Schrecklich peinlich ist das, vor allem, wenn man sich gegenübersitzt und ständig in die Augen sieht.

Es war mein erster Tag im Finanzministerium von Liberia, einem kleinen, vom Schicksal ungnädig behandelten Land in Westafrika. Nach zwei Bürgerkriegen war aus dem Mittelschichtland der Cabrio-Fahrer ein afrikanisches Klischee mit SIM-Karten verkaufenden Bretterbuden geworden. Nach Liberia war ich über meinen vorherigen Job bei der Weltbank in Washington, D. C. gekommen. Die Weltbank wurde gegründet, um nach dem Zweiten Weltkrieg den Wiederaufbau zerstörter Staaten zu finanzieren, und ist heute einer der größten Geldgeber von Regierungen in Afrika. Ich lernte viel, die Distanz zu unseren Kunden war aber sehr groß. Wir saßen in einem Glaspalast direkt neben dem Weißen Haus und diskutierten über Staaten, in denen bereits die große Bretterbude als mittelständisches Unternehmen galt. Nach zwei Jahren bei der Weltbank wollte ich lernen, wie es im Inneren der Regierungen aussah, an die wir unsere Kredite vergaben. 2015 bot mir eine Nichtregierungsorganisation den Job in Liberia an. Ich sollte, von ihr finanziert, das dortige Finanzministerium unterstützen. Meine Aufgabe würde es sein, Excel-Tabellen zu erstellen, mit denen die Regierung ihre Kreditaufnahme steuern konnte.

Nun saß ich da, im siebten Stock des in knalligem Gelb und Grün angestrichenen Finanzministeriums, war überwältigt von allem und versuchte, mich an den Namen meines neuen Kollegen zu erinnern. »Hi, Philippa«, rief es da aus dem Korridor. Die Stimme war mir noch nicht begegnet. Ein sehr großer Mann kam zu uns ins Büro. »Wie viele Schulden darf ich dieses Jahr aufnehmen?« Das war dann wohl der Minister. Amara Konneh, Anfang 40, Anzug wie ein westlicher Banker und kein Fan von Metadiskussionen. Eine Antwort hatte ich nicht und versuchte so viel Zeit wie möglich herauszuschlagen, um eine fundierte Analyse erstellen zu können. Bis zum nächsten Nachmittag gab er mir. Immerhin. Und der Kollege gegenüber hieß Saye-Maye. Saye-Maye, der mir mitgebrachten Maniokblatt-Eintopf zum Mittagessen anbot, damit ich lernte, was anständige liberianische Küche war.

Zuhause kramte ich in meinen Uni-Notizen und sah mir das europäische Regelwerk zu Staatsschulden an. Die Sache schien einfacher als gedacht. Eine Schuldenquote, also das Verhältnis der Staatsschulden zum Bruttoinlandsprodukt, dem BIP, von 60 Prozent galt in Europa als nachhaltig, alles darüber als zu hoch. Liberias Schuldenquote lag bei lediglich 20 Prozent des BIPs, da es nach dem Bürgerkrieg einen Schuldenerlass bekommen hatte. Rechnete man ein bisschen herum, war klar, dass Liberias Schulden trotzdem schnell bei 60 Prozent landen könnten. Ich präsentierte dem Finanzminister meine Analyse und argumentierte, dass die Regierung mit der Kreditaufnahme vorsichtig sein solle. Der Schuldenerlass sei schließlich noch nicht lange her gewesen. Ob mir bewusst sei, in welchem Zustand sich das Land befinde, fragte der Minister. Es gebe zur Regenzeit kaum befahrbare Straßen, kein sauberes Wasser, nicht mal in der Hauptstadt Monrovia. Natürlich müsse er mit dem Geld verantwortungsvoll umgehen. Er brauche aber eine gute Begründung, wenn er seinen Landsleuten grundlegende Infrastruktur vorenthalte. Ich solle mir noch einmal genau ansehen, wie man in Europa die maximal zulässige Schuldenquote von 60 Prozent begründete und ob das auch wirklich die richtige Messlatte für Liberia sei.

Minister Konnehs Frage kann man genauso gut für Europa stellen. Wieso sollten sich Staaten in Europa nur bis zu 60 Prozent des BIPs verschulden dürfen? In Deutschland war die Stimmung 2015 miserabel. Die Asylgesuche hatten sich mehr als verdoppelt. Kanzlerin Angela Merkel verkündete, »Wir schaffen das!«, das Land war sich nicht so sicher. Die Umfragewerte der AfD stiegen an. Anstatt den Menschen wenigstens die ökonomischen Sorgen zu nehmen, zu erklären, dass Migration Deutschland nicht in den finanziellen Ruin stürzte, bespielte Finanzminister Wolfgang Schäuble die ganze Sparklaviatur. Im Koalitionsvertrag von 2013 hätte man schließlich vereinbart, ab 2015 keine neuen Schulden zu machen. Außerdem wollte die Regierung die Staatsverschuldung innerhalb von zehn Jahren von knapp über 80 auf weniger als 60 Prozent reduzieren. Das sei elementar für das Vertrauen von Investoren und Verbrauchern, erklärte er im Bundestag.1 Für Schäuble hatte die Einhaltung der Schuldenquote von 60 Prozent höchste Priorität, selbst in diesen unruhigen Zeiten. Es musste etwas Besonderes mit dieser Zahl auf sich haben. Kaum eine andere Messgröße schien so eindeutig gleichbedeutend mit guter Politik. Heute dürften vielleicht noch das Ziel, die Erderwärmung unter 1,5 Grad zu halten, oder die NATO-Quote – also die Vereinbarung, mindestens zwei Prozent des BIPs für Verteidigung auszugeben – ähnlich bekannt sein.

Für dieses Buch habe ich mich auf die Suche nach dem Ursprung der 60-Prozent-Schuldenquote gemacht. Wenn sie schon der Haken ist, an dem die ganze deutsche Finanzpolitik hängt, wäre es gut zu wissen, nach welchen Qualitätskriterien er ausgesucht wurde. 2024 war ein guter Zeitpunkt für die Recherche zu diesem Buch, da die Europäische Kommission im November 2023 die Protokolle der Verhandlungen des Maastricht-Vertrags, des Gründungsdokuments der Europäischen Union (EU), veröffentlicht hatte. 30 Jahre später kann man von den verbalen Boxkämpfen zwischen dem späteren Bundespräsidenten Horst Köhler, damals Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, und dem konservativen britischen Finanzminister Norman Lamont lesen. Er und Köhler stritten sich um allerlei finanzpolitische Fragen, nicht jedoch um die Schuldenquote. Die beiden dürften Jacques Delors, den Präsidenten der Europäischen Kommission und Vorsitzenden der Verhandlungen, fast um den Verstand gebracht haben. Wer aber stritt aus welchen Gründen für die Schuldenquote? Wieso entschied man sich gerade für 60 Prozent? Und was können wir aus der Geschichte der Schuldenquote und der auf ihr aufbauenden Schuldenbremse im deutschen Grundgesetz für die Gestaltung zukünftiger Finanzpolitik lernen?

Ich beschäftige mich nun seit einigen Jahren mit Staatsfinanzen und Finanzpolitik, also Fragen rund um den Staat und das Geld. Wie viel soll er ausgeben und einnehmen, sollte er sich verschulden dürfen und falls ja, wofür? Je länger ich mich mit dem Thema auseinandersetzte, desto stutziger machten mich all die Kennzahlen in den deutschen und europäischen Schuldenregeln. Neben der Schuldenquote von 60 Prozent darf zum Beispiel die Bundesregierung pro Jahr maximal Kredite in Höhe von 0,35 Prozent des BIPs aufnehmen, der deutsche Staat in Höhe von 0,5 Prozent (die jährliche Kreditaufnahme wird auch ›Defizit‹ genannt). Woher kommen alle diese Werte? Ökonomisch lassen sie sich nicht begründen. Die Antworten liegen in der Geschichte; es ist eine Geschichte von Krisenreaktionen, Tugendbeweisen und von Horst Seehofer als Napoleon – mehr dazu später. Vor allem aber ist es eine Geschichte von der gefährlichsten Idee, die nie einer hatte.

Dieses Buch nimmt Sie mit zu den Ursprüngen der Zahlen, die heute die Staatsfinanzen in Deutschland und Europa beherrschen. Es zeichnet nach, wie aus plausiblen, vorsichtig formulierten Richtwerten zur Begrenzung der Verschuldung wuchernde technopolitische Apparate wurden. Deren mathematische Formeln entschieden plötzlich über politische Großfragen, zum Beispiel darüber, wie groß unser Staat sein darf. Früher war das ein heiß umkämpftes politisches Thema, zu dem Parteien verschiedene Positionen hatten. Heute bestimmen die Schuldenregeln. Damit aber nicht genug, die Regeln treffen Entscheidungen, die einen großen Einfluss auf persönliche Schicksale haben können: zum Beispiel, in welchem Maß Frauen erwerbstätig sein sollen oder wie viele Menschen arbeitslos sein müssen. Ja, Sie haben richtig gelesen. Beides steht in unseren Schuldenregeln. Was Frauenerwerbstätigkeit und notwendige Arbeitslosigkeit mit Finanzpolitik zu tun haben und wie man überhaupt auf die Idee kommen kann, Arbeitslosigkeit für notwendig zu erklären, dazu später mehr.

Ich möchte aber nicht nur mit Ihnen in der Geschichte herumreisen und hitzige Verhandlungen und technopolitische Apparate begutachten. Ich mache auch konkrete, umsetzbare Vorschläge, wie wir die Finanzpolitik wieder in den Dienst der Gesellschaft stellen können. Das zu tun, würde sich lohnen; nicht nur, weil es dann ausreichend Geld für gesellschaftlich wichtige Projekte von Kindergärten bis zur Bundeswehr gäbe, sondern auch, weil die Politik endlich ihr großes Versprechen einlösen könnte, nämlich dass alle, die sich Mühe geben, die Chance auf gute Arbeit und ein selbstbestimmtes Leben haben.

Damit Sie mich nicht missverstehen: Die These dieses Buchs ist nicht, dass Politik sich weniger Gedanken um Geld machen sollte. Im Gegenteil: Sie sollte sich wesentlich mehr Gedanken darum machen. Eine Regierung, die ihre Finanzpolitik wieder nach inhaltlichen Zielen ausrichten würde, anstatt mit Hingabe ihre Schuldenkennzahlen zu polieren, hätte viel zu gewinnen.

Zu beschreiben, wie eine gute Finanzpolitik aussieht, setzt die Definition eines gesellschaftlichen Ziels voraus. Denn wer das eigene Ziel nicht kennt, kann unmöglich sagen, ob er auf dem richtigen Weg ist. Kapitel 1: It’s jobs, stupid! beschreibt dieses gesellschaftliche Ziel. Auf einen Satz verkürzt, argumentiert es: Gut ist es, wenn es für alle gute Arbeit gibt. Kapitel 2: Geldflüsse, Macht und gute Jobs erklärt, wie Finanzpolitik und gute Arbeit zusammenhängen. Kapitel 3: Bildung, Bahn und Bergführer sieht sich an, wofür der Staat heute konkret Geld ausgeben sollte, und wieso für diese Ausgaben eine flexible Staatsbilanz vonnöten ist. Kapitel 4: Die Staatsbilanz argumentiert, dass Deutschland zu den wenigen, ausgewählten Staaten der Welt gehört, die eine solche flexible Bilanz bedenkenlos nutzen können. Kapitel 5: Technopolitik legt die Formeln hinter der deutschen Finanzpolitik frei und zeigt, dass die deutsche Politik mit den geltenden Regeln weder auf gute Arbeit abzielen kann noch die Möglichkeit hat, ihre Bilanz nach den gesellschaftlichen Zielen auszurichten. Das Kapitel ist zwangsläufig etwas technisch. Aber es ist wichtig, um genau zu identifizieren, an welcher Stelle unsere Vorstellung von Schuldenregeln, die uns und nachfolgende Generationen schützen sollen, und das aktuelle Regelwerk nicht zusammenpassen. Sollte es Ihnen etwas zu viel Technik sein, blättern Sie vor zu Ein ungewinnbares Spiel. Daringeht es um eine historische Episode, in der die Regeln und das finanzpolitisch Sinnvolle auf besonders hartem Kollisionskurs waren. Diese Zeit weist eine erstaunliche Ähnlichkeit zu heute auf. Kapitel 6: Die gefährlichste Idee, die nie einer hatte, verfolgt zurück, wie es zu all den Zahlen und Formeln in unseren Schuldenregeln kam. Kapitel 7: Eine neue Finanzpolitik schlägt einen neuen Rahmen für die Wirtschafts- und Finanzpolitik und konkrete Reformen der Schuldenregeln vor, die auch tatsächlich umsetzbar wären.

Kapitel 1It’s jobs, stupid!

Die Idee, definieren zu wollen, was eine ›gute‹ Wirtschaft ist, mag Ihnen etwas seltsam vorkommen. Die Gesellschaft sei doch gespalten und die Politik ebenso. Einen Konsens über ein gemeinsames wirtschaftliches Ziel könne es heute gar nicht geben, nur noch eine Wirtschaft, die gut ist für die ein oder andere Interessengruppe. An die Stelle der alten Volksparteien seien längst Klientelparteien gerückt, die die Interessen bestimmter Bevölkerungsgruppen vertreten. Die einen wollen Steuersenkungen, die andere Förderung für ihre Lastenräder und die Dritten die Viertagewoche. Ein gemeinsames Verständnis von ›gut‹ entwickeln zu wollen, das über Parteigrenzen hinausgeht, wirkt angesichts dieser Gesamtsituation womöglich aussichtslos. Aber bevor wir uns alle vorschnell in den Kokon unserer jeweiligen gesellschaftlichen Splittergruppe zurückziehen, könnte es sich lohnen, einmal die fundamentalen Unterschiede zwischen den Mitteparteien herauszuarbeiten. Ich rede nicht davon, ob eine Partei für oder gegen eine bestimmte Wirtschaftspolitik ist, sondern von den grundlegenden Politikzielen, die Parteien zum Beispiel in ihren Grundsatzprogrammen definieren.

Wer in den Grundsatzprogrammen von CDU, CSU, FDP, Grünen und SPD nachsieht, könnte meinen, die fünf Parteien hätten voneinander abgeschrieben. Allen geht es um ›Freiheit‹ und nicht nur das: Auch die Auslegung des Freiheitsbegriffs ähnelt sich. Es geht eigentlich immer um Freiheit als Selbstbestimmung und Entfaltung. Die einen wollen die »Talente und Ideen«2, die anderen die »Talente und Begabungen«3 und die Dritten die »Persönlichkeit«4 des Menschen entfalten. Die besonders sozial Gesinnten setzen auf selbstbestimmte Entfaltung mit »Schwächen und Stärken«5, die besonders Fortschrittlichen auf die Entfaltung von »Frauen wie Männer[n]«6. Ganz so verwunderlich ist dieser politische Konsens nicht. Auch in der deutschen Gesellschaft dürfte breite Zustimmung zu diesen Aussagen bestehen. Schließlich stimmen die allermeisten hierzulande zweierlei zu: Erstens, jeder Mensch hat qua seiner Existenz Menschenwürde. Zweitens, Menschen macht aus, dass sie ihre eigenen Lebenspläne verfolgen können.7 Wir vegetieren nicht nur dahin, jeder von uns will irgendwas. Sie möchten vielleicht der erste Mensch auf einem bestimmten Berggipfel sein, ich dieses Buch fertig schreiben und mein Bruder Schauspieler werden. Nimmt man diese beiden Annahmen – Menschenwürde und Willen – zusammen, kommt dabei heraus, dass die Politik versuchen sollte, jedem Menschen Selbstbestimmung zu ermöglichen. Es gibt in Deutschland also doch einen Konsens über fundamentale Prinzipien. Die entscheidende Frage ist, ob sich von diesem Konsens ein ausreichend konkretes und kohärentes Politikziel für die Wirtschafts- und Finanzpolitik ableiten lässt; ein Politikziel, von dem wir auch wissen, wie wir es erreichen können. Ein solches Ziel zu finden wäre der Jackpot, eine Art Kochrezept für die Weltverbesserung.

Beten, Brunch und Baukästen

Kein solches Kochrezept zu haben ist unbefriedigend. Das lernte ich auf der Kirchenbank von Heilig Blut in München Bogenhausen. Bogenhausen, das ist da, wo die Leute in schönen Häusern leben, ein Audi oder Land Rover vor der Tür steht und man am Wochenende in sein Haus am See fährt. Ich war ungefähr zehn. Im Gottesdienst erzählte der Priester eindringlich und immer wieder von Kindern in Afrika, die hungern mussten. Die Erwachsenen seufzten ob des schrecklichen Zustands der Welt. Wir beteten eifrig dafür, dass es den hungernden Kindern bald besser ginge. Danach fuhren wir heim zum Brunch, ich freute mich besonders auf meine Honigsemmel. Die Kinder in Afrika waren schnell vergessen. Am nächsten Sonntag begannen die Gebetsmühlen von neuem. Um zu denken, dass davon irgendetwas besser würde, musste man schon sehr stark an ›den da oben‹ glauben. Das fiel mir schwer, ich beschloss, später irgendwas mit Weltverbesserung zu machen, zum Beispiel bei Ärzte ohne Grenzen in Afrika anzuheuern. Als Arzt hat man zwar nicht das Rezept für die allumfassende Weltrettung, ich würde aber hoffentlich dazu beitragen können, die Folgen von Hungersnöten und Krankheit zu lindern.

Der Berufswunsch Ärztin hielt nicht lang. Organische Chemie überforderte mich in der 10. Klasse hoffnungslos. Dafür lief es gut bei der Schülerzeitung. Die war damals in der Hand der intellektuellen Jungs aus der Oberstufe, die gefühlt den ganzen Tag zwischen Kant, Big-Band-Proben und Platon hin und her schwebten. Ich verstand von alldem nichts, hatte aber das Buch Schatten der Globalisierung des US-amerikanischen Ökonomen Joseph Stiglitz gelesen. Damit fühlte ich mich eindeutig ausreichend informiert, um eine über mehrere Seiten ausufernde Generalkritik am Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank zu verfassen, die dann tatsächlich in der Schülerzeitung abgedruckt wurde. Stiglitz rezitierend warf ich den beiden Organisationen vor, ganz unterschiedlichen Entwicklungsländern auf Basis eines sehr stilisierten ökonomischen Modells das immer gleiche Reformrezept verordnet zu haben. Ging es nach ihnen, sollten Staaten möglichst schnell privatisieren, ihre Handelsbarrieren abbauen und Kapitalmärkte für ausländisches Geld öffnen. So freigesetzte Marktkräfte würden dann von allein in Wachstum und Wohlstand resultieren. Dass ein effizienter Markt voraussetzungsreich ist, weil er unter anderem einen Rechtsstaat benötigt, der die Marktregeln bestimmt und durchsetzt, wurde oft nicht berücksichtigt. Glaubt man Stiglitz, hat das Vertrauen des IWFs und der Weltbank in stark vereinfachte ökonomische Modelle großen Schaden angerichtet. So sei zum Beispiel die asiatische Wirtschafts- und Währungskrise 1997 und 1998 vor allem auf Empfehlungen des IWFs zurückzuführen.8 Wahrscheinlich hatte ich von der Thematik genauso wenig verstanden wie von organischer Chemie. Der große Einfluss abstrakter Modelle auf konkrete Politik, die den Alltag von Millionen Menschen betraf, war mir aber ungeheuer. Ich entschied mich für ein Studium in Philosophie, Politik und Volkswirtschaftslehre. Meine Hoffnung war, besser zu verstehen, was ein gutes Leben ausmachte, und zu lernen, wie man dieses gute Leben möglichst vielen Menschen ermöglichte.

Ein gutes Leben hatte für mich damals viel mit Freiheit zu tun. Als Eigenbrötlerin, die am liebsten Ski fuhr und Handball spielte, wollte ich wissen, wie alle ihr Leben so leben konnten, wie sie das wollten. Amartya Sen, ein indischer Philosoph und Wirtschaftswissenschaftler mit Legendenstatus (und Nobelpreis), hatte eine plausible Antwort. Geht es nach Sen, brauchen Menschen für Freiheit die Chance, ihren Lebensentwurf selbst zu wählen, und die Fähigkeiten, ihn umzusetzen.9 Falls Ihnen die Formulierung aus den oben erwähnten Freiheitskonzepten der deutschen Mitteparteien bekannt vorkommt, täuschen Sie sich nicht. Sie alle teilen die zentralen Punkte aus Sens Denkschule. Als Staat sicherzustellen, dass Menschen die notwendigen Fähigkeiten haben, um ihren Lebensentwurf umsetzen zu können, ist anspruchsvoll. Es reicht unter diesem Konzept zum Beispiel nicht aus, eine Schule zu bauen. Die Politik hat erst dann die Freiheit erhöht, wenn die Kinder auch erfolgreich die Schule besucht und die Fähigkeiten erworben haben, die sie für ein selbstbestimmtes Leben benötigen. Da für jeden etwas anderes im Leben wichtig ist, der eine gärtnern, die andere um die Welt segeln möchte, weigert sich Sen, generell festzulegen, welche Fähigkeiten für Freiheit wichtig sind. Die einzige Beschränkung der zulässigen Fähigkeiten ist, dass sie zu einem Leben führen, für dessen Wertschätzung Menschen einen Grund haben.10 Nach diesem Kriterium wäre es in Deutschland zum Beispiel keine Einschränkung der Freiheit, jemandem die Karriere als Massenmörder zu verbieten. Sens Freiheitskonzept wirkt weniger wie ein Kochrezept als vielmehr wie ein Baukasten für die große Freiheitsformel. In der Anleitung des Baukastens beschreibt er, nach welchen Prinzipien die Freiheitsformel zusammengebaut werden könnte. Ich war mir nicht sicher, wie gut sich mit diesem Baukasten ein konkretes Politikziel formulieren ließ.

Die Straßen von Liberia

Nach dem Studium wollte ich meine Kindheitsidee, in Afrika zu arbeiten, weiterverfolgen. Zu Hause im Land der Audis und Land Rovers schien mir die Welt in Ordnung, während die Menschen in Afrika weiter hungerten. Etwas zu lernen, das einen in Afrika nützlich machte, war nur gar nicht so einfach. Ich heuerte bei einer Unternehmensberatung in London an, die sich auf Telekommunikation spezialisiert hatte, eine der wichtigsten Industrien in Afrika. Die Chance, an einem Projekt dort arbeiten zu dürfen, war minimal. Sie kam aber tatsächlich. Ich lernte, dass man für den Kongo mehrere Businesspläne brauchte, weil die Regionen so unterschiedlich waren, dass Mobile Money, also Geldtransfer per SMS, recht mühselig war und dass afrikanische Kunden wesentlich weniger zahlten als lateinamerikanische. Mit dieser Erfahrung bewarb ich mich bei der Weltbank. Nach zahllosen erfolglosen Anläufen bekam ich tatsächlich ein Jobangebot von der Institution, die mich seit der Stiglitz-Lektüre faszinierte: Wie konnte die Weltbank, die den moralisch ansprechendsten Auftrag überhaupt hatte, nämlich armen Ländern zu helfen, angeblich so großen Schaden anrichten? Die Bank wirkte auf mich ein bisschen wie die katholische Kirche oder die FIFA. Sie hat ein Betätigungsfeld, das über allem erhaben ist, und schien sich – vielleicht auch deswegen – Handlungsweisen leisten zu können, die in einem anderen Kontext undenkbar gewesen wären. Ich wollte die Bank von innen kennenlernen, um mehr zu verstehen. Die Erfahrung war lehrreich, aber keine durchweg gute: 2014 brach in Westafrika Ebola aus, ein sehr ansteckendes Virus, das bei schlechter Versorgung gut darin ist, die an ihm Erkrankten umzubringen. Die Weltbank schickte mich zu den Vereinten Nationen nach New York und Ghana, um mitzuhelfen, dass das Geld der Bank möglichst schnell bei den Katastrophenhelfern und Ärzteteams vor Ort ankam. Als ich im Krisenstab der Vereinten Nationen anfing, hatte ich erwartet, dass sich alle Beteiligten in internationalen Organisationen darauf konzentrieren würden, die Regierungen und ihre Helfer vor Ort zu unterstützen. Das war weit gefehlt. Unser Kompass richtete sich nicht nach Westafrika aus, die große Bühne war in New York. Im Saal des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen drängten sich die Anzugträger, während die wenigen Mitarbeiter der Weltgesundheitsorganisation vor Ort in Westafrika gleichzeitig Krankenhäuser leiten, bei uns Gelder beantragen und Regierungen beraten sollten. Für Konferenzen, Panels und Studien zum globalen Gesundheitssystem gab es plötzlich viel Geld, in den betroffenen Ländern fehlten aber die notwendigen Mittel, um die Totengräber zu bezahlen. Als mich die vom ehemaligen britischen Premierminister Tony Blair gegründete Nichtregierungsorganisation Africa Governance Initiative 2015 fragte, ob ich das liberianische Finanzministerium vor Ort unterstützen wolle, sagte ich daher mit Freuden zu. Im westafrikanischen Liberia herrschte bis 2003 Bürgerkrieg. Danach war das Land weitgehend zerstört. Sogar die Turbinen des Wasserkraftwerks Mount Coffee hatte jemand gestohlen. Bis heute ist nicht bekannt, wer. Während der Ebolakrise starben in Liberia knapp 5.000 Menschen,11 im Slum von West Point in der Hauptstadt Monrovia stapelten sich im August 2014 die Leichen. Viele dieser Todesfälle wären mit ausreichend Schutzkleidung für medizinisches Personal, mit Infusionen, Straßen und Vertrauen in die Regierung zu vermeiden gewesen.

Im liberianischen Kontext funktionierte Sens Baukasten-Ansatz sehr gut. Die Inputs für die Freiheitsformel zusammenzusuchen war nicht schwer. Es ging um grundlegende Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben, Mobilität, Gesundheit oder den Zugang zu Strom. Inwieweit Menschen über diese Fähigkeiten verfügten, bestimmte vor allem die Existenz von Stromleitungen, Krankenhäusern, Schulen oder Straßen. Was ›keine Straßen‹ in der Praxis bedeutete, konnte ich mir vorher nicht wirklich vorstellen. An einem Wochenende nahm mich eine befreundete Ärztin mit, um ein Buschkrankenhaus im Süden des Landes zu besuchen. Schotterpisten waren eins, Schlammschlunde, aus denen Autos mit Seilwinden herausgezogen werden mussten, etwas anderes. Noch nie hatte ein Allrad-Jeep so mickrig ausgesehen wie zwischen diesen meterhohen Matschbergen. Wenigstens war das Rezept, mittels dessen man in Liberia für mehr Freiheit sorgen konnte, klar. Nur kostete seine Umsetzung weit mehr, als die Staatskasse hergab. Die Kosten der Agenda for Transformation, der von der liberianischen Regierung verabschiedeten Entwicklungsstrategie für die Jahre 2013 bis 2018, überstiegen die jährliche Wirtschaftsleistung des Landes.12 Trotz des Schuldenerlasses war es nicht offensichtlich, wie man dieses Land wieder auf die Füße bringen konnte. Die Verschuldung wuchs schnell an. Der Regierung saßen sowohl die Gläubiger als auch die Bürgerkriegsvergangenheit im Nacken. Manchmal war die näher, als man dachte.

Monrovia liegt auf einer Halbinsel, die in einen Hügel mündet, so als wollte die Stadt ihren Kopf heben. Direkt hinter dem Finanzministerium beginnt der Anstieg. Oben auf dem Hügel stehen die Überreste des Ducor-Hotels. Dort leben obdachlose Jungs, von denen wahrscheinlich einige mit Waffen umgehen können. Die Zeit der Kindersoldaten ist noch nicht so lange her. Heute verdingen sich die Jungs als Fremdenführer, zum Beispiel für meine Freunde und mich. Geht man mit ihnen hoch aufs Dach der Ruine und bekommt die Geschichte des Hotels erzählt, ist das nicht nur sehr eindrücklich, es kann einen auch froh machen. Wer Fremden Führungen gibt, wird schon eine Chance auf eine Beschäftigung haben und liegt immerhin nicht auf Drogen in der Ecke. Aber noch während ich das denke, schlägt die Stimmung um. Plötzlich sind es ein paar mehr, der eine scheint nicht mehr so ganz bei sich. Es fühlt sich eher nach einem Gangsterfilm an als nach einem Ausschnitt aus der Erfolgsgeschichte der liberianischen Entwicklung. Im Film könnte man vorspulen, das würde ich jetzt auch gern. Oder ich hätte zumindest gern die Auflösung, ob ich nur paranoid bin oder die Situation tatsächlich bedrohlich ist. Am Ende bleibt einem nichts anderes übrig, als ein Stockwerk nach dem anderen wieder runterzulaufen. Dann die große Freitreppe. Wir bleiben zusammen, keiner springt mehr mit den Jungs durch die Pfützen. Der Ausgang ist da. Wir müssen nun für unsere Führung zahlen, die Frage ist, was danach passiert. Eine Freundin übergibt das Geld, wir treten sofort den Rückzug an. Die Jungs bleiben, wo sie sind. Wir haben keine Dummheit begangen.

In Liberia zu leben fühlte sich an, als stünde man den ganzen Tag vor einem der überdramatischen, düsteren Ölgemälde von Rubens, die in der Alten Pinakothek in München ganze Wände einnehmen; vor einem Bild, in dem viel zu viel gleichzeitig passierte. Kinder starben an dreckigem Wasser oder Lungenentzündungen. Minderwertige Stromkabel setzten erst kürzlich elektrifizierte Häuser in Brand. Lehrer demonstrierten, um ihr Gehalt ausgezahlt zu bekommen. Polizisten in Kampfanzügen hielten sie von dem Eingang des Finanzministeriums fern. Mit solchen Alltagserfahrungen fiel es erst einmal leicht, sich selbst von der Wichtigkeit der eigenen Arbeit im Finanzministerium zu überzeugen. Dabei vergaß man leicht zu fragen, wie sie dazu beitragen sollte, in Liberia irgendwas dauerhaft besser zu machen. Wie das Land auf die Beine kommen sollte, wusste ich nicht. Es fehlte hinten und vorne am Geld.

Für eine Zeit hatte ich Deutschland und Europa ausgeblendet, das liberianische Rubens-Gemälde beschäftigte mich ausreichend. Irgendwann schaltete ich dann aber doch beim Abendessen die Tagesschau ein. Ich hoffte auf Berichte von der schönen, heilen Welt zu Hause. Deutschland und Europa waren weit weg von den Problemen eines bettelarmen afrikanischen Staats. In Deutschland wurde nicht die Asphaltierung wichtiger Straßen diskutiert, sondern der Bau von Großbahnhöfen. Stuttgart 21 kostet fast das Dreifache des liberianischen BIPs.13 Die Tagesschau tat mir den Gefallen nicht, sie zeigte brennende Straßen in Athen. Die Gewerkschaften hatten zum Protest gegen die Reformauflagen aus Europa aufgerufen. Trotz einer Jugendarbeitslosigkeit von 50 Prozent14 und einem Nullwachstum15 sollte Griechenland weiter sparen und einen einheitlichen Mehrwertsteuersatz von 23 Prozent einführen.16 Deutschland senkt diese Steuer in Krisen auf 16 Prozent.17 Auch ohne Sparprogramm wäre 2015 für Griechenland schon so ein spezielles Jahr gewesen. An seiner Küste kamen mehr Flüchtlinge an als jemals zuvor. Etwas mehr als 850.000 sollten es 2015 insgesamt werden.18 Das entsprach rund acht Prozent der Gesamtbevölkerung. Stellen Sie sich einmal vor, bei uns kämen sieben Millionen Flüchtlinge im Jahr an. Trotzdem verlangte die Bundesregierung von Griechenland, die finanzielle Sparkur über alles andere zu stellen.19

Deutschland selbst kämpfte mit sich und der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin. Merkel hatte am 31. August 2015 erklärt: »Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das.« Die Ehrenamtlichen am Münchner Hauptbahnhof glaubten es noch und versorgten innerhalb von zehn Tagen 67.000 Flüchtlinge.20 Die Stadt war nun nicht mehr nur für Bier, sondern auch für ihre Hilfsbereitschaft bekannt. Allzu lang hielt der Glaube nicht. Schon im Oktober gab die Mehrheit bei einer bundesweiten Umfrage an, dass Deutschland die vielen ankommenden Flüchtlinge nicht verkraften könnte. Die Hauptsorge war das Geld. Drei viertel der Befragten fürchteten, der Staat müsse wegen der hohen flüchtlingsbedingten Ausgaben sparen.21 Die Bundesregierung sparte auch, aber nicht wegen der Flüchtlinge, sondern weil ihr selbst in dieser Situation für die Finanzpolitik kein besseres Ziel als maximale Ersparnisse einfiel. Es wurde der höchste Überschuss seit der Wende, knapp 20 Milliarden Euro.22 Mit ihrem Sparkurs schaffte die Regierung es, Verteilungskonflikte zu kreieren, die es nicht hätte geben müssen: Als ich zwei Jahre später den Sommer in Deutschland verbrachte, erklärte mir eine alte Dame auf der Straße, Schäuble hätte kein Geld mehr für ihre Rente. Das sei alles an die Flüchtlinge gegangen. Vom Juli 2015 bis zum Frühjahr 2016 verdreifachte die AfD in Umfragen ihre Stimmen, damals zum Glück nur auf knapp 13 Prozent.23

2019 sollte die SPD im Europawahlkampf ›#EuropaistdieAntwort‹ plakatieren. Im Winter 2015/16 wirkte es anders. Europa schien die Antwort auf nichts. Der Euro hatte eine erstaunlich zerstörerische Kraft entwickelt. Das gemeinsame Geld brachte sowohl in Deutschland als auch in Griechenland Sparprogramme anstelle von Wachstum und Wohlstand. Anstatt der Politik zu helfen, mit der schwierigen Migrationslage klarzukommen, schuf unser Geld seine eigenen Probleme. So richtig verstand ich es nicht, vor allem nicht, wenn ich Europas Situation mit der in Liberia verglich. Europa war reich, hatte die drittgrößte Wirtschaft der Welt, und trotzdem regierte in einer so schwierigen Situation das Spardiktat. Wieso taten sich das Europa und Deutschland selbst an? Eine implodierende griechische Wirtschaft und deutsche Rentner, die den Verteilungskampf ausriefen, konnten doch nicht im Interesse der Regierung sein. Von außen war das alles schwer nachvollziehbar. Die Hypothese, dass in Berlin und Brüssel böse Menschen saßen, die dem Kontinent bewusst schaden wollten, schien trotzdem wenig plausibel. Ich beschloss, meine Koffer zu packen und nach Hause zurückzukehren, um herauszufinden, ob es für das eigene Land und die EU nicht weniger zerstörerische Politikrezepte gab.

Materielle Freiheit

In Liberia war das Problem klar. Sens Freiheitsformel zeigte an, dass es den Menschen an Straßen und Schulen fehlte. Um den Mangel zu beheben, brauchte die liberianische Regierung Geld, das nicht da war. In Deutschland und Europa schien die Sache komplizierter. Zumindest ich tat mich schwer, mit Sens Formelbaukasten eine Freiheitsformel für Deutschland und Europa zusammenzuschrauben.

Straßen plus Schulen erklärten hier nicht viel der Freiheit beziehungsweise Unfreiheit: Eine gepflasterte Straße vor der Türe und kostenlosen Zugang zu Bildung hatten bei uns die meisten. Die Nachbarskinder unterschieden sich darin nicht von meiner Schwester und mir. Trotzdem schien es, als würden wir im Lauf unseres Erwachsenwerdens mit besonders viel Freiheit ausgestattet werden. Dabei hatten weder sie noch ich zu Beginn unserer Gymnasialzeit besonders herausragende Fähigkeiten, abgesehen von einem außergewöhnlichen Durchhaltevermögen beim Dauerfernsehen. Ich fiel in der sechsten Klasse fast in Mathematik und Latein durch, weil wir nachmittags etwas zu viel Zeit mit Andreas Türck, Arabella und Richterin Barbara Salesch verbrachten. Damals hätte meine Bildungslaufbahn auf einen ziemlich schwierigen Pfad geraten können. Stattdessen bekam ich Nachhilfe. Als meine Schwester und ich im Ausland studieren wollten, konnten wir das tun, ohne nebenher arbeiten zu müssen. Sie konzentrierte sich ganz auf Neuronenfeuer im Gehirn und ich auf all die Dinge, um die es in diesem Buch geht. Als mein erster Job in einer Unternehmensberatung nicht mehr zu dem passte, was ich gerne mit meinem Leben machen wollte, mahnte mein Vater nicht an, dass ich das gute Gehalt beachten sollte. Im Gegenteil, er ermutigte mich zur Kündigung. Meine Schwester und ich waren zumindest nach unserer Talkshow-Phase durchaus fleißig, aber konnten auch zunehmend zwischen verschiedenen Lebensoptionen wählen wie zwischen Wandfarben aus einem Farbfächer: Wir waren finanziell abgesichert und hatten in unseren jeweiligen Berufsfeldern keine schlechte Position, sodass wir im Zweifel immer irgendwie den Job hätten wechseln können. Unsere Freiheit wirkte recht groß im Vergleich zu vielen anderen. Mit Sens Formelbaukasten ließ sich das nicht richtig abbilden. Das Ausschlaggebende für unsere Freiheit war nicht eine Ansammlung von Fähigkeiten. Entscheidend waren unsere gute Position auf dem Arbeitsmarkt und Finanzen, die uns Rückhalt gaben.24

Max Krahé, mein ehemaliger Mitbewohner aus Studienzeiten, hatte schon früher Zweifel an dem Nutzen von Sens Freiheitskonzept für Industrieländer. Seiner Meinung nach war die größte Freiheitseinschränkung für Menschen hierzulande, ihre Arbeitskraft zu Markte tragen zu müssen. Auf dem Arbeitsmarkt, meinte er, gebe es Freiheit, aber auch Macht und Zwang. Und weil Märkte menschengemacht sind, nicht von Gott oder der Natur unveränderlich erschaffen, könne und solle man ihre Beschaffenheit hinterfragen. Dazu hingen die Machtverhältnisse wesentlich von Faktoren ab, die der Einzelne nicht beeinflussen könne, Regierungen jedoch durchaus. Hätte man das Pech gehabt, 2009, im zweiten Jahr der Finanzkrise, auf den Arbeitsmarkt gespült zu werden, hätte das Machtverhältnis mit Arbeitgebern anders ausgesehen als während des Booms der frühen Zweitausender. Eine Freiheitstheorie, so seine Kritik, müsse auf wirtschaftliche Verhältnisse, die Beziehungen zwischen Menschen und die daraus resultierende Macht eingehen, sonst sei sie ein herzlich theoretisches Unterfangen.

Philip Pettit, ein tatsächlich zierlicher irischer Philosoph mit sanfter Stimme, randloser Brille und Professur in Princeton kann erklären, wieso ein kohärentes Freiheitskonzept nicht ohne Analyse der Machtverhältnisse auskommt. Pettit gibt das Beispiel von Ibsens Nora, die mit dem reichen Torvald verheiratet ist. Torvald bestimmt über Nora, erlaubt ihr aber eigentlich alles. Wirklich frei ist sie trotzdem nicht. Sie kann sich zum Beispiel nicht von ihm trennen, hat kein eigenes Geld und darf keine Makronen essen, obwohl sie die so gerne mag: Gleich in der ersten Szene nutzt sie Torvalds Abwesenheit für den verbotenen Kekskonsum. Noras Leben klingt nach dem Handel, den Frauen früher eingegangen sind, den wir heute aber nicht mehr akzeptieren würden. Niemand steht gern unter der Kontrolle eines anderen. Und das ist Pettits Punkt: Freiheit bedeutet in seiner Interpretation, die Kontrolle über das eigene Leben zu haben, also Freiheit als Nichtbeherrschung.25

Laut Pettit ist die Person frei von der Kontrolle anderer, in deren persönliche Entscheidungen sich niemand willkürlich einmischen kann.26 Nicht willkürlich sei die Einmischung, wenn sie im Interesse der betroffenen Person ist. Für Torvalds Makronenverbot gilt das eindeutig nicht. Selbst wenn Nora Diabetes hätte, würden wir es heute nicht für richtig halten, dass ihr, einer erwachsenen, zurechnungsfähigen Person, jemand die Makronen verbietet. Ein Gegenbeispiel ist das Zahlen von Steuern. Ich mag mich nicht darüber freuen, Geld abgeben zu müssen. Es ist aber in meinem Interesse, dass die Polizei die öffentliche Ordnung aufrechterhält, und das erfordert Steuergelder, die die Polizistengehälter bezahlen. Also ist auch die Steuerzahlung in meinem Interesse. Wie sichert der Staat Einmischung nur im Interesse der Bürger? Wenig kontrovers argumentiert Pettit, dass es dazu einen demokratischen Prozess brauche.27 Entscheiden Bürger, die ihr Gegenüber in seiner Menschenwürde ernst nehmen, über die Gesetze ihres Landes, werden sie nicht gegen dessen Interessen agieren.28 Ein demokratischer Staat, der aus Bürgern besteht, die sich gegenseitig schätzen, greift daher nicht willkürlich in das Leben des Einzelnen ein. Dass Bürger sich schätzen, klingt nach einer zusätzlichen Bedingung für Freiheit. Dem ist aber nicht so. Denn würden sie sich nicht gegenseitig schätzen und die Selbstbestimmung jedes Einzelnen für wichtig erachten, gäbe es keinen Grund, Freiheit als Wert überhaupt hochzuhalten.

Demokratie allein reicht nicht aus für Freiheit als Nichtbeherrschung. Auch eine Bill-Gates-Gesellschaft, in der ein Milliardär die Hälfte aller Arbeitsplätze stellt, bestünde den Freiheitstest nicht. Denn selbst im Fall eines netten Milliardärs wären seine Mitmenschen Willkür ausgesetzt. Drohte er morgen, seine Geschäfte in dem betroffenen Staat zu beenden, falls nicht alle auf einem Bein hüpften, würden sie das tun. Schlimmer noch: Dächte er nur laut über die Ästhetik dieser Fortbewegungsmethode nach, würden viele bereits in vorauseilendem Gehorsam handeln. Interpretiert man ›Freiheit‹ als ›Kontrolle über das eigene Leben‹, spielen Eigentumsverhältnisse eine große Rolle. Jeder braucht genug, um frei entscheiden zu können, und keiner darf so viel haben, dass er Macht über andere ausüben kann. Der Urvater von Pettits Denktradition, Jean-Jacques Rousseau, fand sogar, man solle weder Bettler noch Reiche dulden.29 Beide zerstörten die Gesellschaft. Der, der nicht genug hat, kümmert sich erst einmal um das eigene Überleben, bevor er sich für die Interessen der anderen einsetzt. Im Rahmen der liberianischen Präsidentschaftswahl 2023 boten Politiker angeblich 20 US-Dollar und Reissäcke im Tausch gegen Stimmen an.30 Der eine oder andere hat das Angebot sicher angenommen.31 Der, der weit mehr als genug hat, möchte dagegen womöglich seine ökonomische Position mithilfe des politischen Systems absichern. Je unterschiedlicher die materiellen Verhältnisse, desto unwahrscheinlicher ist es, dass Bürger im Interesse der Gesellschaft handeln, anstatt ihre Partikularinteressen zu vertreten. Materiell nicht beherrscht zu werden ist also nicht nur ein Wert an sich, sondern auch eine Voraussetzung, um zukünftige Freiheit zu ermöglichen.32

Wenn jeder genug haben und das aus eigener Kraft erreichen können soll, um weder von Torvald, Bill Gates noch dem Staat kontrolliert werden zu können, braucht es neben der Erfüllung von menschlichen Grundbedürfnissen vor allem eines: gute Jobs für alle ohne einseitige Abhängigkeiten. Das ist ein sehr anspruchsvolles Kriterium, das selbst Deutschland bei weitem nicht erfüllt. Denn auch wenn hierzulande den ganzen Tag über von Fachkräftemangel gesprochen wird, fehlen Jobs. 3,7 Millionen Menschen ohne Job würden gerne arbeiten. 2,6 Millionen davon sind als arbeitslos gemeldet.33 Ist das viel oder wenig? Als die Arbeitslosenzahl 1982 die Zwei-Millionen-Marke überschritt, druckte der Spiegel eine riesige Arbeitslosenwelle auf sein Cover. Anstelle von Gischt spuckte die Welle Menschen aus.34 Um diese Zahl mit heute vergleichbar zu machen, muss man sie auf die aktuelle Erwerbsbevölkerung hochrechnen. Definiert man Personen im Alter von 15 bis 64 als erwerbsfähig, entsprechen die zwei Millionen von 1982 heute 2,6 Millionen Arbeitslosen, also ziemlich genau der aktuellen Arbeitslosenzahl.35 Über die als arbeitslos gemeldeten Personen hinaus würden 1,1 Millionen gerne Arbeit aufnehmen,36 wenn sich die Arbeitsmarktsituation verbessert oder ihre persönlichen Umstände es zulassen. Zu dieser sogenannten ›Stillen Reserve‹ gehören zum Beispiel Personen, die arbeitsmarktpolitische Maßnahmen durchlaufen, Vorruheständler oder Eltern, die ihre Kinder betreuen müssen, aber gerne einer Erwerbsarbeit nachgehen würden. Es gibt zweifellos Engpässe im deutschen Arbeitsmarkt. Trotzdem hat bei weitem nicht jeder, der arbeiten möchte, einen Job.

Hinzu kommt, dass das Gehalt oftmals nicht für den Lebensstandard ausreicht, den wir alle für angemessen befinden. Für Deutschland gibt es bisher keine belastbaren Zahlen für die Kosten eines anständigen Lebensstandards, den wir alle bei genauer Betrachtung für richtig halten würden. Definiert wird lediglich das Existenzminimum, das 2024 einschließlich der Kosten für die Unterkunft für eine alleinlebende Person bei knapp 11.500 Euro pro Jahr liegt.37 Das entspricht weniger als 1.000 Euro pro Monat. Die britische Joseph Rowntree Foundation ermittelt mithilfe von Fokusgruppen das notwendige Einkommen, um im Vereinigten Königreich anständig leben zu können.38 Überträgt man die Zahlen auf Deutschland, entspräche das einem Stundenlohn von knapp 18 Euro bei Vollzeitbeschäftigung.39 Etwas mehr als die Hälfte der Beschäftigten in Deutschland verdienen derzeit mindestens 18 Euro pro Stunde.40 Nun ist diese Statistik auf Basis britischer Daten so krude, dass man sehr vorsichtig mit Schlussfolgerungen sein sollte. Dass hierzulande viele nicht genug verdienen, um sich einen anständigen Lebensstandard zu leisten, dürften die Zahlen aber zeigen.

Zudem haben Unternehmen gegenüber ihren Beschäftigten in vielen Fällen Marktmacht. In städtischen Gegenden gibt es ungefähr drei Arbeitgeber vor Ort für eine bestimmte Beschäftigung. Ausnahmen sind Großstädte wie Berlin oder München, in denen es eher neun oder zehn sind.41 Geht man davon aus, dass es für Menschen nicht ganz einfach ist, umzuziehen, haben viele deutsche Arbeitgeber Marktmacht gegenüber ihren Beschäftigten. Anders ließen sich die Arbeitsbedingungen in manchen Branchen auch nicht erklären: Der Paketbote, der von seinem Auftraggeber überwacht wird, ob er schnell genug die Treppen hochläuft, macht das nicht aus freien Stücken.42

Der Unterschied zwischen Jobs kann sehr fundamental sein. Auf der einen Seite ist der Paketbote. Er zählt die Pakete, die er vor dem Feierabend noch ausliefern muss, und freut sich auf jeden freien Tag. Man würde ihn vermutlich für verrückt erklären, wenn er aus Jux eine Extrarunde ausführe. Ganz anders die Professorin, die endlich diesen kleinen Winkel da hinten im Universum erforschen darf, der es ihr schon immer angetan hatte. Wenn die nie nach 17 Uhr im Labor – oder wo man sonst das Universum so ausleuchtet – anzutreffen wäre, würden die Kollegen schon fragen, was denn mit ihr los sei. Obwohl sie sich eigentlich zurücklehnen könnte, die Professorin ist ja verbeamtet. Was sie leistet, tut sie aus freien Stücken. Diese beiden Arten von Arbeit in einen Topf zu werfen ist analytisch ungefähr so hilfreich wie Impfung und Krankheit gleichzusetzen. Die beiden lösen ähnliche Symptome aus, sowohl die Professorin als auch der Paketbote gehen jeden Tag zur Arbeit und bekommen am Ende des Monats Geld dafür. Die Auswirkung auf den Menschen ist aber eine ganz andere. Während die eine tut, was sie schon immer tun wollte, führt der andere einen Abnutzungskampf, Paket gegen Körper.

Nun sucht nicht jeder Mensch in seinem Job geistige Erfüllung. Die eine möchte denken, der andere gerne mit vielen Menschen reden und die Dritte Autos zusammenschrauben. Ganz gleich, was einem davon zusagt, gibt es Jobs, die erfüllend sind und mit dem Menschen und seiner Physis und Psyche pfleglich umgehen, und solche, die einen kaputtmachen. Oft liegt das auch gar nicht am Job selbst, sondern an den Bedingungen, unter denen gearbeitet wird. Solche Abnutzungsjobs dürfte es eigentlich nicht mehr geben, wenn Pettits Version der Freiheit umgesetzt ist; denn niemand – Masochisten ausgeschlossen – wird freiwillig einen Job machen, der gegen die menschliche Kondition geht.43

Freiheit als Nichtbeherrschung zu definieren ist nicht nur intuitiv, sondern auch ein hilfreiches Konzept für den, der ein politisches Kochrezept schreiben möchte. Es lassen sich nämlich drei ganz konkrete Politikziele davon ableiten: Das erste sind sicher gedeckte Grundbedürfnisse für ein Leben in Menschenwürde. Ist die Erfüllung meiner Grundbedürfnisse bedroht, weil ich zum Beispiel nicht genug zu essen oder die notwendige Gesundheitsversorgung habe, bin ich jedem ausgeliefert, der mir damit hilft oder womöglich gar nur so tut, als würde er mir helfen. Und habe ich keine ausreichende Bildung oder bin krank, kann ich nicht arbeiten. Das wiederum hat Folgen für die Freiheit. Denn die andere, und ich würde argumentieren, entscheidende, Voraussetzung für ein nicht von anderen kontrolliertes Leben ist Arbeit. Verdiene ich meinen eigenen Lebensunterhalt, hänge ich weder von der Gnade einer anderen Person noch des Staates ab. Das zweite Politikziel sind daher ausreichend gute Jobs für alle. Gibt es genug Jobs, bin ich auch nicht der Willkür meines Arbeitgebers ausgesetzt, wir verhandeln auf Augenhöhe. Schließlich könnte ich jederzeit den Job wechseln. Je mehr Geld über Arbeit verteilt wird, desto besser funktioniert tendenziell Freiheit als Nichtbeherrschung, weil große Armut und großer Reichtum zurückgehen. Der Mittellose hat eine Chance, durch die eigene Arbeit zu Geld zu kommen, und der Vermögende wird nicht im Schlaf so reich, dass er den anderen kontrollieren kann. Sprechen wir zukünftigen Generationen die gleiche Menschenwürde zu wie der gegenwärtigen, braucht es noch ein drittes Politikziel: Was immer die Politik macht, sollte nicht die Freiheit zukünftiger Generationen einschränken. Gute Jobs auf Kosten von CO₂-Emissionen erweitern am Ende nicht die Freiheit, sie vergrößern die Freiheit der aktuellen Generation auf Kosten zukünftiger. Das Gleiche gilt für wirtschaftliche Abhängigkeiten von nichtdemokratischen Regimen, die zukünftige Generationen dem Willen von Autokraten aussetzen. Es gibt also für Deutschland ein Rezept mit recht spezifischen Politikzielen, die sich von dem Freiheitsgedanken in den Grundsatzprogrammen der Mitteparteien ableiten lassen. Vermutlich würden die meisten Vertreter der genannten Parteien den drei oben beschriebenen Politikzielen nicht widersprechen. Auch die Wähler sehen es schließlich so. Die Partei, der die größte Kompetenz in der Arbeitsmarktpolitik zugeschrieben wird, gewinnt in der Regel die Bundestagswahl.44 Bill Clintons Slogan während der amerikanischen Präsidentschaftswahl 1992 scheint auch heute noch zu gelten: »It’s the economy, stupid!«45 »It’s jobs, stupid!« wäre noch präziser.46