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Friedrich Haarmann war ein Serienmörder, der wegen Mordes an insgesamt 24 Jungen und jungen Männern im Alter zwischen 10 und 22 Jahren vom Schwurgericht Hannover am 19. Dezember 1924 zum Tode verurteilt wurde. Er wird auch Der Vampir, Der Schlächter, Der Kannibale und Der Werwolf von Hannover genannt. Der Kriminalfall Haarmann diente als Vorlage für Bücher, Verfilmungen, Theaterstücke, Kunstwerke und Lieder. Der Autor verfolgte den Prozess 1925 als Augenzeuge. Er sprach die zwielichtige Rolle der ermittelnden Polizei an (u.a. war Haarmann als Polizeispitzel geführt). Daraufhin wurde er vom Prozess ausgeschlossen. Sein Buch gilt als seriöses zeitgenössisches Werk. Null Papier Verlag
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Seitenzahl: 246
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Theodor Lessing
Haarmann
Der berüchtigste deutsche Serienmörder der Neuzeit
Theodor Lessing
Haarmann
Der berüchtigste deutsche Serienmörder der Neuzeit
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2021 EV: Die Schmiede, Berlin, 1925 1. Auflage, ISBN 978-3-962818-78-4
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Erster Teil
Ort und Zeit des Dramas
Die ersten Leichenfunde
Das Signalement
Elternhaus und Jugend
Auf der Verbrecherlaufbahn
Die Zeit der Revolution 1918/19
Stellung zur Polizei
Die Geschlechtsverbrechen
Zur Seelenkunde
Der Freund
Psychologische Bemerkungen
Hugo
Mordidyll: Neue Straße 8
In der »Roten Reihe«
Die Entdeckung
Das Geständnis
Zweiter Teil – Der Prozess
Das Gericht
Die Anklage
Die beiden Angeklagten
Die Zeugen
Die Art der Tötung
27 Mordfälle
1. Friedel Rothe,
2. Fritz Franke, der Berliner,
3. Wilhelm Schulze aus Coolshorn,
4. Roland Huch,
5. Hans Sonnenfeld,
6. Ernst Ehrenberg,
7. Heinrich Struß aus Egestorf,
8. Paul Bronischewski aus Bochum,
9. Richard Gräf,
10. Wilhelm Erdner aus Gehrden,
11. Hermann Wolf,
12. Heinz Brinkmann aus Clausthal,
13. Adolf Hannappel aus Düsseldorf,
14. Adolf Hennies,
Zwischenspiel – Der Fall Keimes
15. Ernst Spiecker,
16. Heinrich Koch,
17. Willi Senger,
18. Hermann Speichert,
19. Alfred Hogrefe aus Lehrte,
20. Hermann Bock,
21. Wilhelm Apel aus Leinhausen,
22. Robert Witzel,
23. Heinz Martin aus Chemnitz,
24. Fritz Wittig aus Kassel,
25. Friedrich Abeling,
26. Friedrich Koch aus Herrenhausen,
27. Erich de Vries,
Rechtstechnisches
Der Ausschluss der Kritik
Das Todesurteil
Ergebnis
Unser aller Schuld
Nachwort
Anmerkungen
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Dieses Buch erschien zum ersten Mal 1925 unter dem Titel »Haarmann – Die Geschichte eines Werwolfs« im Verlag Die Schmiede in Berlin als Band 6 der Reihe »Außenseiter der Gesellschaft – Verbrechen der Gegenwart«.
Der Autor verfolgte den Prozess 1925 als Augenzeuge. Er sprach die zwielichtige Rolle der ermittelnden Polizei an (u.a. war Haarmann als Polizeispitzel geführt). Daraufhin wurde er vom Prozess ausgeschlossen.
Kein Baum und kein Wald rauscht durch diese Geschichte. Keine Blume und kein Stern blicken tröstend darein. Es handelt sich um das hoffnungslos dunkle Gemälde einer von allen Naturgöttern ausgestoßenen Höhlenmenschheit, welcher auch das Beglückendste und Heiligste, das im Kosmos waltet: die schöpferische Liebesmacht der Natur zu Verbrechen und Krankheit, Laster und Unnatur missraten ist. Nur mit Widerwillen, ja oft mit Ekel bin ich, ganz andersartige Lebensarbeit unterbrechend, der Chronist dieses Stückes »Kulturgeschichte« geworden. Aber erstens wurde ich da hineingedrängt durch ein Gericht, das die Wahrheit zu verschleiern drohte und mithin das ewig gültige Recht zu Gunsten des bloß zeitlich geltenden Rechts zu beugen unternahm. Weil aber die Wahrheit bedroht war, so wurde es fast zur Pflicht, folgerichtig durchzugreifen und den gesamten Rechtsfall klar und sachlich vor die Nachwelt zu bringen. Dazu aber kam ein zweites: In Stadt und Schauplatz gewurzelt, war ich der einzige, der Ort, Zeit, Personen und Zusammenhänge völlig übersehen konnte. Und so wurde es auch von dieser Seite her zur Pflicht gegen die künftigen Geschlechter, den merkwürdigsten Rechtsfall unserer Tage aufzubewahren. Es geschah so, dass dem einfachen Leser alle Vorgänge bildhaft lebendig werden, dass andererseits aber auch für die Wissenschaft: Psychologie, Psychiatrie, Strafrecht und Rechtsethik, das Studium dieses Kriminalfalles wertvoll bleibt. Darüber hinaus aber sehe man in dieser Schrift ein Stück Zeitkritik und Charakterkunde; denn in dieser Hinsicht kann dies Buch gelten als ein sinnfälliges Beispiel zu den Lehren, die ich in »Untergang der Erde am Geist« und »Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen« über Philosophie der Kultur und in der »Symbolik der menschlichen Gestalt« zur Psychologie niedergelegt habe.
Hannover, im Januar 1925.
Theodor Lessing, Dr. med. und phil. Prof. der Psychologie.
Hannover, die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz und der Mittelpunkt der niedersächsischen Lande, liegt an den letzten Ausläufern des deutschen Mittelgebirges, von welchem aus sich die norddeutsche Ebene mit ihren sandigen Kiefern- und Heidebezirken bis fern zur Nordseeküste hinabzieht. Das Flüsschen Leine, vom Eichsfelde kommend und die zwischen Harz und Weserbergen eingesenkte hügelige Mulde Göttingens durchfließend, erreicht unterhalb Elze, zwischen dem Hildesheimer Wald und dem Osterwald hervorbrechend, die kahle norddeutsche Ebene; von Hannover ab macht der Fluss einen Bogen nach Westen und mündet hinter Hudemühlen im Großen Moor. Das »Hohe Ufer«, dort wo der Fluss die Deisterbäche Ihme und Föße aufnahm und in schnellem Laufe die Altstadt durcheilt, hat wohl dem um 1050 zuerst erwähnten Ort den Namen gegeben: »Honovere«. – Eine Stadt im Grünen! Denn ein Waldgürtel, die Eilenriede genannt, 2500 Morgen weit, umzieht die Stadt in weitem Halbkreis und lässt nur nach Süden die Ebene offen, in welche sich die sogenannte Masch (oder Marsch) hineinschiebt, ein wasserreiches, sumpfiges Flachland, an dessen Rand wiederum Waldhügel, genannt Deister (von Dixter-Dichtwald), die Stadt umgrenzen. Wenige europäische Städte haben zwischen 1850 und 1900 so völlig ihr Antlitz verändert. Bis 1866 war Hannover die weltfern-vornehme Residenz der alten englischen Welfenkönige. In dem grünumbuschten Idyll der durch sechshundert Jahre träumenden Niedersachsenstadt schlugen die ersten Lerchen der deutschen Lyrik: Hölty und Bürger, sodann die Frühnachtigallen der Romantik: die Brüder Schlegel; hier grübelten Lichtenberg und Leisewitz, Detmold und Feder, und vor allem der wissensreichste deutsche Denker: Leibniz. Moritz und Iffland sind hier geboren, sowie Hartleben und Frank Wedekind. Als Hannover 1866 durch Bismarck für Preußen annektiert wurde, hatte die Stadt kaum 70.000 Einwohner. Aber in der Zeit nach dem siegreichen Krieg mit Frankreich, zwischen 1870 und 1873, in der sogenannten Gründerzeit, hielt die Industrie machtvoll Einzug, sodass die kleinen lieblichen Dörfer der Umgebung, Hainholz, Döhren, Limmer, List bald zu rußigen Fabrikvororten sich wandelten. Eine Technische Hochschule wurde gebaut; die Deisterkohle geschürft, und vollends änderte sich das Stadtbild, als der schiffbare Rhein-Weser-Leine-Kanal angelegt und in den großen »Mittellandkanal« überführt wurde, gleichzeitig aber die riesigen Kalischätze des Bodens rund um Hannover abgebaut zu werden begannen. Eine einzige Fabrikanlage, die sogen. »Continental«, welche sich mit dem Herstellen künstlichen Kautschuks beschäftigte, machte binnen weniger Jahre aus dem kleinen Vorort Vahrenwald ein fünfzehntausendköpfiges Proletarierviertel. Brauereien, Spinnereien, Wollwäschereien, die Maschinenfabriken von Gebr. Körting und Georg Egestorff und die sogen. Hanomag, eine Wagen- und Waggonfabrik wandelten das jenseits der Ihme gelegene Dorf Linden in eine Fabrikvorstadt von über hunderttausend Beamten- und Proletarierfamilien. Immerhin war diese Entwicklung zu Geldherrschaft und Werkertum, darunter die alte Adels- und Bauernkultur Niedersachsens erstickte, keineswegs ungewöhnlich. Sie war das allgemeine Wesensgepräge des wilhelminischen Deutschlands. Wahres Höllenchaos aber setzte ein, als dies preußische Machtreich zerbrach und eine an Töten und »Requirieren« gewöhnte, im fünfjährigen Weltkrieg verwilderte Jugend, alle Zucht und Form abschüttelnd, in die völlig armgewordene, ausgezogene Heimat zurückkehrte. 14 Millionen Tote! Im Osten Hungersnöte, welche ganze Länderstriche dahinrafften und schließlich dahin führten, dass Eltern ihre Kinder, Kinder ihre Eltern fraßen. Entartung, Verarmung, Verwirrung ohnegleichen. Das deutsche Geld auf dem Weltmarkt so entwertet, dass nur durch das immer neue Drucken und Hinausschleudern immer neuer wertloser Papierfetzen ein trostloses Scheinleben von Tag zu Tag gefristet wurde. In dieser sogenannten »Inflationszeit«, anhebend mit dem Zusammenbruch der deutschen Heere im Weltkrieg und den Stürmen der deutschen Revolution, begann die Bedeutung der Stadt Hannover als eines internationalen Durchgangs- und Schiebermarktes plötzlich zu wachsen. Die Stadt beherbergte um 1918 etwa 450.000 Menschen. Knapp vier Eisenbahnstunden von Berlin, Deutschlands großem Wasserkopf entfernt, knapp acht Stunden entfernt von Köln (wo damals Engländer-, Franzosen- und Belgierherrschaft begann), war Hannover der günstigste Mittelpunkt für das Tausch-, Schieber- und Transaktions-Geschäft, welches Tausende ernährte. Alle Welt lebte von Spekulation. Da Geld nichts mehr galt, und nur Sachwerte das Leben fristen konnten, so wurde aufgekauft, getauscht und gestohlen wie nie zuvor. Und zwischen Berlin, in welches der slawische, wendische, polnische, jüdische Osten einströmte, Amsterdam, wo viel Reichtum abfloss nach Holland und England und endlich Köln, welches nach Belgien und Frankreich die Brücke schlug, lag Hannover aufs günstigste in der Mitte, sodass sich hier aufzutun vermochten hundert neue Gründungen, hundert neue Vergnügungs- und Lasterstätten, die ein schlimmes Händler-, Schieber-, Parasiten- und Schmarotzervolk ins Land brachten, langsam zerfressend die alte bürgerliche Tüchtigkeit und ehrenfesten Solidität der (wie ein großer Dichter sie nannte) »fahlsten unserer Städte«.
An drei Stellen der Stadt erhob sich ein Gauner-, Hehler- und Prostitutionsmarkt ohnegleichen, dessen die Behörden nicht mehr Herr wurden. Zunächst im Bahnhof und auf den ihn umgebenden Plätzen. Hier wurde in der schweren Brotmarkenzeit, wo man Brot, Fleisch und Milch nur in kleinsten Rationen gegen teures Geld und nach stundenlangem »Schlangenstehn« erhalten konnte, unter der Hand ein schwunghafter Handel mit gestohlenem und heimlich geschlachtetem Nutzvieh, auch mit Kaninchen, Ziegen, Hunden und Katzen, mit Kartoffeln, Mehl und mit allerhand gepaschter und verschobener Ware getrieben; vor allem aber mit Kleidern, Wäsche und Schuhen. Hier versammelten sich allnächtlich in den Wartesälen viele Obdachlose, Arbeitslose, Hungrige und Entgleiste.
Geht man vom Bahnhof aus die breite Baumallee der Bahnhofsstraße entlang, so gelangt man nach wenigen Minuten in die Georgstraße, die Herzader der Stadt. Ein weiter Boulevard, lindenüberblüht, voller Beete, Gartenanlagen, Pavillons und Denkmäler. Und dort zwischen dem alten berühmten Hoftheater und den schönen Gartenanlagen des sogenannten Café Kröpcke befand sich um 1918 ein zweites Zentrum der Sittenlosigkeit: der »Markt der männlichen Prostituierten«, deren 500 damals in den Polizeilisten eingeschrieben standen, indes der Kriminaloberinspektor die Gesamtzahl der sogenannten Homosexuellen in Hannover auf nahezu 40.000 veranschlagte. Sie bildeten eine eigene kleine Welt. In einem der schönsten Lokale der Kalenberger Vorstadt, dem sogen. Neustädter Gesellschaftshaus veranstalteten sie Gesellschaftsabende und Bälle, bei denen Knaben und Jünglinge in weiblicher Ballkleidung den Damenflor vertraten. Ein zweiter minder vornehmer Treffpunkt war der alte Ballhof, ein Barocksaal aus der Königs- und Kurfürstenzeit. Und für die allerunterste Schicht gab es in einer der ältesten und verrufensten Straßen der Altstadt, welche »Neue Straße« heißt, ein kleines Tanzlokal, genannt »Zur schwulen Guste«, wo nur auf ein bestimmtes Zeichen hin zugelassen, lesbische Mädchen und gleichgeschlechtlich gerichtete Männer nachts zusammenkamen. Aber das dritte Hauptzentrum alles Luder- und Lasterlebens war die malerische Altstadt, dort wo der Fluss an dem sogenannten Hohen Ufer entlang eine von vielen Brücken überquerte, als »Klein-Venedig« bekannte, uralte Inselstadt bildet: Verfallene Winkel, Jahrhunderte altes Gemäuer, ein trotziger altsächsischer Beguinenturm und ein Gewirr von Giebeln, Fachwerk und baufälligen, noch ans Mittelalter mahnenden Gassen, aus deren Mitte jene Kirche ragt, in welcher Leibniz begraben liegt, sowie der auf dem »Berge«, einer plangemachten Rampe, erbaute maurische Judentempel. Dieser Stadtteil, unmittelbar benachbart dem vom Strom bespülten mächtigen Schloss der Welfen, war einst der vornehmste Stadtteil, ist aber im Lauf der Zeiten, ähnlich der Umgebung des Berliner Schlosses, zum ärmsten Kaschemmen- und Verbrecherviertel herabgesunken. Gleich dem alten Hildesheim, Braunschweig und Goslar das Entzücken für jedes schönheitsuchende Auge, wurde dieses älteste Hannover die Brutstätte lichtloser, armutgelber, in Verfall und Moder atmender, zum Unglück verfluchter Geschlechter. –
Die »Neue Straße« mit dem einstigen Wohnhaus des Herzogs Friedrich Wilhelm von Braunschweig, dem späteren Armenhaus, zieht sich entlang der steilen Uferhöhe des Flusses. Die Hinterwände ihrer dreihundertjährigen Häuser, ihre Erker und Balkone stürzen jäh hinab in den Fluss, über dessen Ufern die grünumbuschten armen Höfe und rührend bescheidenen Gärtchen schweben. Nicht weit davon, dem Judentempel gegenüber, liegt die sogenannte »Rote Reihe«; eine Gruppe müder, einander kaum noch stützender morscher Häuser, in deren einem (dem Mordhaus benachbart) einst der Elektrotechniker Rühmkorff die Induktionselektrizität entdeckte. In diesem schmutzigen Häusergewirr, auf den seit Jahrhunderten ausgetretenen elenden Holzstiegen, in Verschlägen, mehr Käfigen gleich, nur durch dünne Tapetenwände oder Bretterverschläge voneinander abgetrennt, hausten in Deutschlands Elendszeit die Ärmsten der Armen. Die aus dem großen Kriege übriggebliebene Jugend hatte die Lehre begriffen, dass man um eines Rockes, um eines Paar Stiefel willen den Feind töten darf. Und »Feind« ist jeder andere. Auf der »Insel« war Diebesbörse und Hehlermarkt. Hier wurde (in der Sprache dieser Hinterwelt geredet) allabendlich geküngelt und gekütchebücht. Hier wurde Schores geschoben (d.h. Diebesware verhandelt), wurde Rebbes gemacht, wurde manche »heiße Sache gedreht«. Abends, wenn der Mond hing über den morschen Dächern und grauen Schloten und den gespenstigen schwarzen Fluss versilberte, kam die schwere, dürre, zermürbte, zerarbeitete Leidensmenschheit aus ihren alten Kästen hervor und hing und hockte über der stinkenden Lagune, auf der alten Brücke: arme, sorgenschwere, kinderreiche Mütter, müdegewordene, früh verstumpfte Männer. Und dazwischen wimmelte lebensgierig das junge Volk; die Unzahl der Gassendirnen und ihrer Zuhälter, »Nepper«, »Strezer«, »Schoresmacher«, die in der »Kreuzklappe«, im »Kleeblatt«, im »Deutschen Hermann« manche Missetat baldowerten, während die rätselhaften Sterne glitzerten im dunklen Wasser des in sich selbst versumpfenden Stromes.
Am 17. Mai 1924 fanden Kinder, die an der Wasserkunst nahe dem Schloss Herrenhausen spielten, einen Menschenschädel. Am 29. Mai wurde mitten in der Stadt an der Bruckmühle hinterm Leineschloss im Mühlengraben ein feiner Jünglingsschädel angespült. Am 13. Juni klagten die augenlosen Höhlen zweier neuer Schädel zum Licht. Wiederum: der eine im Osten der Stadt bei der Wasserkunst; der andere im Westen neben der Brückmühle. Die gerichtsärztliche Untersuchung ergab, dass es sich handelte um Köpfe junger Menschen im Alter von 18 bis 20 Jahren. Bei dem am 13. Juni bei der Brückmühle gefundenen um den eines 11 bis 13 Jahre alten Knaben. Bei allen Schädeln war festzustellen, dass sie mit einem scharfen Instrument vom Rumpfe getrennt worden waren. Fleischteile fehlten fast völlig oder waren verwest, da die Knochen anscheinend schon lange Zeit im Wasser gelegen hatten. An dem am 13. Juni bei der »Wasserkunst« gefundenen Kopf ließ sich feststellen, dass die Kopfhaut durch einen skalpartigen Schnitt vom Knochen abgelöst worden war. Man riet zunächst darauf, dass die Schädel aus der Göttinger Anatomie stammten, oder dass sie in Alfeld, wo zu jener Zeit eine Typhusepidemie herrschte, in die Leine geworfen waren, oder endlich, dass sie ins Wasser geschleudert wurden, gelegentlich von Gräberschändungen, die im Engesohder Friedhof entdeckt wurden. Keine von diesen Vermutungen bestätigte sich. Dagegen fanden Knaben, die auf einer Wiese in der Döhrener Masch spielten, einen Sack mit menschlichen Knochen, und am 24. Juli wurde in der Feldmark Garbsen abermals ein offenbar vom Körper getrennter skalpierter Schädel aufgefunden, welcher wiederum von einem ganz jungen Menschen stammte. Die vielen Knochenfunde konnten nicht verborgen bleiben. Es bemächtigte sich weiter Volkskreise eine schon lange vorbereitete Schrecksucht. Schon seit Jahr und Tag nämlich war im Volke ein abergläubisches Gerücht im Schwange: »Es gibt in der Altstadt Menschenfallen. Junge Kinder verschwinden in Kellern. Knaben werden in den Fluss versenkt.« Man erzählte, dass in der schweren Notzeit Menschenfleisch auf dem Markt verkauft worden sei. In den Dörfern um Hannover weigerten sich junge Mägde, in die Stadt einkaufen zu gehen. Und die ungewisse Angst vor einem die Gegend unsicher machenden »Werwolf« wuchs von Tag zu Tag. In den Jahren 1918 bis 1924 waren außergewöhnlich viele Menschen vermisst oder verschwunden. Im Jahre 1923 wuchs die Zahl der als vermisst Gemeldeten auf fast 600, und wenn auch die größere Anzahl der Vermissten sich wieder einfand, so blieb doch im Vergleich mit anderen gleichgroßen Städten die Anzahl der Verschwundenen in Hannover ziemlich groß. Die Nachforschung zeigte, dass es sich recht häufig handelte um Knaben und Jünglinge zwischen 14 und 18 Jahren.
Am Pfingstsonntag des Jahres 1924 zogen Hunderte aus Hannover und Umgebung an die »Hohen Ufer«, besetzten die kleinen Stege und Leinebrücken der Altstadt und begannen ein fieberhaftes Suchen nach Leichenteilen und Knochen. Am fünften Juli in der Morgenfrühe wurde, nachdem man noch eine ganze Anzahl menschlicher Knochen gefunden hatte, das ganze Flussbett von der Brückmühle an bis zur großen Leinebrücke am Clevertor abgedämmt und durch Polizeibeamte und städtische Arbeiter gründlich nach Leichenteilen durchsucht. Diese Stelle der Leine liegt mitten in der Stadt. Sie kann von Selbstmördern wegen des dort stattfindenden starken Verkehrs nicht aufgesucht werden. Das Ergebnis war furchtbar. Es wurden über 500 Leichenteile gefunden, deren Untersuchung durch den Gerichtsarzt ergab, dass es sich um die Reste von mindestens 22 Personen handelte, von denen ungefähr ein Drittel im Alter zwischen 15 und 20 gestanden haben mochte. Etwa die Hälfte hatte schon längere Zeit im Wasser gelegen. – An den noch frischen Knochen aber wiesen die Gelenke glatte Schnittflächen auf.
Inzwischen war teils durch das forsch zugreifende Vorgehen des Kriminalkommissars Retz, eines freundlichen jungen Riesen, teils durch eine Reihe merkwürdiger Zufälle die Aufklärung gelungen. Am 23. Juni wurde der vermutliche Täter ins Gerichtsgefängnis eingeliefert. Es war der am 25. Oktober 1879 zu Hannover geborene Friedrich, genannt Fritz, Haarmann; fünfzehnmal vorbestraft; seit 1918 Spitzel im Dienste der Kriminalpolizei; im Übrigen Handel treibend mit Kleidern und Fleisch; seit vielen Jahren auf der Sicherheits- und Kriminalpolizei bekannt als Homosexueller. – Seine Erscheinung warf alle gewohnten Vorstellungen von Mord und Mördern über den Haufen.
Vor uns steht eine keineswegs unsympathische Erscheinung. Äußerlich betrachtet: ein schlichter Mann aus dem Volk. Freundlich blickend und gefällig, zuvorkommend; auffallend gepflegt, sauber und »tipp-topp«. Er ist gut mittelgroß, breit und wohlgebaut und hat ein zwar derbes, grobes aber gleichsam wie blankgescheuertes, klares und offenes Vollmondgesicht mit frischen Farben und kleinen neugierigen und fröhlichen Tieräuglein. Sein Schädel ist rund, zeigt breite fliehende Stirn, schmales Mittelhaupt und eine steile Linie des Hinterhauptes. Die Ohren sind nicht groß, liegen ein wenig unterhalb der Augenhöhe und stehen vom Kopf ab. Auch die Nase ist nicht groß und so wenig auffallend wie das ganze Antlitz. Im Profil nicht unedel, sieht sie doch von vorn betrachtet etwas knollig aus, ist an der Wurzel breit und hat starke witternde Flügel. Der Mund ist klein, frech und dicklippig. Die Zunge, in der Erregung vorschnellend und die Lippen netzend, ist auffallend fleischig; die Zähne sind weiß, stark, scharf und gesund; das Kinn tritt energisch vor. Die Oberlippe schmückt ein kleines englisches Bärtchen, die vollen Wangen sind sauber rasiert. Sein bräunliches Haupthaar, glatt anliegend und links gescheitelt, ist nicht eben voll. Das zwischen braun und grau schillernde Auge ist kalt und seelenlos; aber gerissen und verschlagen und meistens in Bewegung. Der Blick ist suchend nach außen gekehrt; aber vergletschert zu unnahbarer Verschlossenheit, sobald die hysterisch auf- und abflutende Stimmung auf Peinliches festgelegt wird. Merkwürdig aber ist folgender Gegensatz: Diese Physiognomie2 ist auffallend gebunden, ungelöst, und »wie eingespunden im Fasse ihres Ich«. Zugleich aber gibt sich der Mann unerträglich geschwätzig, mitteilungsbedürftig und überbeweglich. Er redet fortwährend auf sein Gegenüber ein; dabei fuchtelt er mit seinen weißen weichlichen Händen und den langen Fingern, an denen er in der Nervosität unaufhörlich zerrt und zupft. An der linken Hand fehlt ihm ein Fingerglied. Er gibt an, dass es bei einer Schlägerei ihm abgebissen worden sei. Auch sein Rumpf ist gut entwickelt; der Nacken ist stark und gemein; Brust und Rücken zeigen wie das Gesäß rundliche weibische Fettpolster. Der Leib ist zwar derb, aber hat etwas vom Weibe. Das Geschlechtsglied ist stark; die Schambehaarung verläuft nicht im spitzen Winkel zum Nabel, sondern im flachen Bogen oberhalb des Schambeines. Die plumpen Füße haben flache Sohlen. Die Stimme, breiig, schleimig und nah am Diskant, erinnert an das Organ alter Frauen. Der ganze Habitus ist »androgyn«. Man möchte sagen: nicht männlich, nicht weiblich, nicht kindlich. Aber männisch, weibisch und kindisch zugleich. Am auffallendsten an dem Mann (leider von den Sachverständigen nicht studiert und nicht einmal beachtet) sind die vielen Automatismen und Stereotypien. (Als »Automatismen« bezeichne ich solche Ausdrucksbewegungen, die unwillkürlich wiederkehren; als »Stereotypien« solche, die allmählich zu Gewohnheit geworden sind.) Automatisch sind z. B. gewisse Bewegungen: eine Art Taperigkeit oder Tatteligkeit des Ganges, sodann (besonders wenn man ihn lobt oder in Verlegenheit bringt) eine fast kokette Schwänzelei mit Gesäß und Unterkörper. Ferner: sobald er müde wird, beginnt er automatisch mit der linken Hand an eine bestimmte Stelle des rechten Mittelhauptes zu greifen, als wenn sich dort ein kranker Fleck befände. Wenn er den Faden verliert (denn er muss wie Sternes Korporal Trim »alle Sachen ganz von vorn erzählen«) macht er eine typische Leckbewegung mit der fleischigen Zunge. Stereotyp ist an ihm jenes ewige Zerren an den Fingern, das Benetzen der Lippen, das Einkneifen der Augenlider, sobald er eine Verteidigungshaltung annimmt. Auch sind alle seine Reden übervoll von stereotypen Redensarten. (Nüch? nüch wahr? Och! Och ne! »Und so weiter, und so weiter!« Auch Unsinn! … Er spricht übrigens auffallend hannoveranisch.) Bestimmte Lieblingsvorstellungen kehren immer wieder. (Z. B., dass alle Jungen in ihn verliebt seien; dass nicht er hinter Knaben, sondern dass die Knaben alle hinter ihm her seien; dass auch die Frauen (die er im Übrigen tief verachtet und gleichsam als Nebenbuhlerinnen empfindet) gern mit ihm »poussieren« möchten.) Obwohl er nicht den mindesten Sinn hat für fremde Rechte und überhaupt keine sozialen (sympathischen, altruistischen; aus Mitleid fließenden) Gefühle hegt, ist er doch durchaus gesellig. Die beiden tiefsten Gefühle seiner Natur sind das Bedürfnis nach Wollust und das Bedürfnis nach Zärtlichkeit. Und sie sind so aneinandergefesselt, wie im Mahabharata der Menschenfresser Hidimba, der Dämon der Blutgier, gebunden ist an seine Schwester Hidimba, die Göttin der zärtlichen Schönheit. Er möchte geliebt, ja er möchte gerne bewundert sein und steckt voll von Beachtungs- und Beeinträchtigungsideen, wobei er mault und schmollt wie ein dummes störrisches Kind, das sich immer benachteiligt wähnt. – Er liebt weibliche Arbeiten, backt, kocht und stopft Strümpfe, raucht aber dabei schwere Zigarren. Immerhin gehört er zum Typus des »Weibmannes« (der sogenannten Tante). Seine Lieblingsgenüsse sind Bohnenkaffee, starke Zigarren und Harzkäse. Im Allgemeinen erscheint er wie ein gar nicht bösartiges, ganz im Augenblick lebendes, völlig eigenbezügliches und durchaus triebhaftes Tier; renommistisch, aber leicht lenkbar. Jede Vorstellung, die man ihm eingibt, hat die Strebung für sein Bewusstsein sofort »Wirklichkeit« zu werden; eben darum ist er vollkommen außerstande, abstrakte, d.h. unbildliche Vorstellungen festzuhalten. Man könnte in dieser Hinsicht sagen, dass sein Verstand weit schlechter entwickelt ist, als seine Vernunft. Dieser »Kurzschluss« zwischen Vorstellung und Wirklichkeit ist so unmittelbar, dass, wenn er z. B. vom Köpfen (»Geköppt werden«) spricht, er bildhaft den Gang zum Schafott und das Fallen des Fallmessers dem Besucher vorahmt; wenn er erzählt, wie er die Leichen zerstückelte, so ahmt er mit den Händen die Schnitte nach; steigert er sich in Sentimentales hinein (»Ich will auf dem Klagesmarkt hingerichtet werden. Auf meinem Grab steht der Spruch: ›Hier ruht der Massenmörder Haarmann.‹ An meinem Geburtstag kommt Hans und legt einen Kranz nieder«), dann kommen ihm sogleich Tränen ins Auge; berichtet er von Geschlechtlichem, dann greift er (selbst im Gerichtssaal) automatisch in die Geschlechtsgegend. Er ist ein Stück Natur; ohne Logik und ohne Moral. Aber auch ohne logische und moralische Heuchelei.
Steckbrief <<<
Die äußere Erscheinung von Lebewesen, insbesondere des Menschen und hier speziell die für einen Menschen charakteristischen Gesichtszüge. <<<
Am 25. Dezember 1921 verstarb, 76 Jahre alt, in Hannover der »olle Haarmann«. Manche Hannoveraner erinnern sich noch an das vermickerte, gnitterische, zänkische, immer übellaunige und übelnehmerische Männlein als an das Urbild eines Krakeelers und misswollenden Pfennigfuchsers. – – Hinter allen »Schürzen« war er her. Abendlich aber randalierte oder prahlte er in den alten Pinten, Kabakken und Kabuffs der Altstadt. Schon sein Vater war Querulant und Trinker gewesen. Und in der Familie gab es ebenso viel Erbbelastete wie in Zolas Familie Rougon-Macquart. Der »olle Haarmann« war in seiner Jugend Lokomotivheizer; hatte aber den Dienst, darin er für unzuverlässig galt, 1886 verlassen, wegen eines angeblich im Betrieb erlittenen Unfalls, wobei sein Lokomotivführer zu Tode kam. Er prozessierte, ein typischer Rentenhysteriker, mit der Eisenbahndirektion, obwohl er eigentlich in ganz behaglichen Verhältnissen leben konnte. Denn durch eine Nutzheirat mit einer sieben Jahre älteren Frau, seiner am 5. April 1901 verstorbenen Ehefrau Johanne, geb. Claudius, waren ihm ein paar Häuser und ein kleines Vermögen in die Hände gekommen, sodass er in der »Gründerzeit« zum wohlhabenden Bürger geworden, fortan auskömmlich zu leben vermochte. – Er war ein wüster, zänkischer, kleinlicher, verschlagener Mensch, und sein unzufriedenes Wesen wurde unleidlicher noch, als er, in reifen Jahren syphilitisch geworden, seinen alten Frauenzimmergeschichten – (bald nach seiner Heirat schon nahm er mehrfach Maitressen ins Haus) – nicht mehr nachgehen konnte … Die Mutter des Mörders war eine einfältige, etwas blöde Person, früh verbraucht, überaltert und seit der Geburt des sechsten Kindes (eben des Triebverbrechers) immer bettlägerig dahinkränkelnd. Von den sechs Kindern wurde der älteste Sohn Adolf ein braver kleinbürgerlicher Werkmeister auf der »Continental«, ordentlicher Philister und Familienvater. Der zweite Sohn, Wilhelm, wurde in jungen Jahren wegen eines Sittlichkeitsdelikts bestraft, begangen an dem 12jährigen Töchterchen eines benachbarten Gastwirts, und auch die drei Töchter, alle drei von ihren Männern früh geschieden, erwiesen sich als leicht aufgeregte, triebbelastete Naturen. Eine der Schwestern, Frau Rüdiger, verstarb in den Kriegsjahren. Mit der zweiten, Frau Erfurdt, konnte der Mörder sich nie recht vertragen, und nur die Schwester Emma, eine Frau Burschel, blieb stets mit ihm verbunden, was aber doch nicht ausschloss, dass auch diese beiden Geschwister zwischendurch miteinander prozessierten, ja, dass der Bruder gelegentlich in dem Zigarrenladen der Schwester Diebstähle und sogar Einbrüche veranstaltete, die er nachher unter Tränen ableugnete oder anderen in die Schuhe schob. – Friedrich (genannt Fritz), Heinrich, Karl Haarmann wurde am 25. Oktober 1879 als jüngstes Kind geboren; die Mutter war damals 41 Jahre alt. Aus der frühesten Jugend wissen wir nur (aus Erzählungen der Geschwister), dass dieses Kind von der immer kränklichen Mutter sehr verhätschelt wurde. – Für den Seelenforscher ist es von Wichtigkeit, dass schon der kleine Knabe in dem Vater eine Art Nebenbuhler sah, welchen er hasste und tot wünschte. Durch das ganze Leben zieht sich diese Feindschaft mit dem Vater. Die beiden beschuldigen und bedrohen einander. Der Vater droht, den Sohn ins Irrenhaus zu bringen, der Sohn will den Vater (wegen eines angeblichen Mordes an seinem Lokomotivführer) ins Zuchthaus setzen. Es kommt immer wieder zu Misshandlungen und Schlägereien. Jeder behauptet, dass der andere ihm nach dem Leben trachte, ihn vergiften wolle, ihn beeinträchtige. Zwischendurch verbinden sie sich aber auch mal wieder zu gemeinsamen Betrügereien oder entlasten einander vor Gericht. Das Verhältnis Haarmanns zur Mutter dagegen ist von immer gleicher Schwärmerei. Sie ist die einzige, von der er Gütiges zu erzählen weiß und stets mit sentimentalen Gefühlen spricht. Im Übrigen ist die Familie heillos zerrüttet. Die Geschwister prozessieren unaufhörlich. Erst um das Erbteil der am 5. April 1901 verstorbenen Mutter; späterhin auch um das väterliche Erbe. Aus den Anekdoten, die wir aus den Kinderjahren Haarmanns erfahren konnten, entnehmen wir zwei Züge: Erstens seine weiblichen (»transvestiten«) Neigungen. Er spielte gern mit Puppen, machte auch weibliche Handarbeiten und wurde in Gesellschaft von Knaben rot und verlegen. Zweitens: seine Neigung, Angst und Entsetzen in seiner Umgebung zu erregen, indem er die Schwestern festband, ausgestopfte Kleiderpuppen auf die Treppe legte, heimlich nachts an die Fenster klopfte und Gespensterfurcht erweckte. Ostern 1886 kam er auf die Bürgerschule 4 am Engelbostelerdamm. Die Lehrer schildern das hübsche Kind als verwöhnt, verzärtelt, still, leicht lenksam, allgemein beliebt und verträumt. Sein Betragen war »musterhaft«; aber alle Leistungen weit unter Durchschnitt. Nachdem er zweimal (1888 und 1890) in der siebenstufigen Schule »sitzengeblieben« war, wurde er 1894 als Schüler der 3. Klasse in der Christuskirche von Pastor Hardelandt konfirmiert. Noch nach einem Menschenalter beklagte er sich bitter darüber, dass er bei dieser Gelegenheit ein altes Gesangbuch getragen habe, während seine Geschwister ein neues bekommen hätten. Er sollte nun Schlosserlehrling werden, erwies sich aber als unbrauchbar, und so gab man ihn mit einem Schub anderer Kapitulanten auf die Unteroffizier-Vorschule Neu-Breisach. Am 4. April 1895 kam er in Neu-Breisach im Breisgau an: ein körperlich gut entwickelter, kräftiger, etwas zu Korpulenz neigender, 16jähriger, gesunder Junge mit hübschem, regelmäßigem aber ausdruckslosem Gesicht. Er war ein guter Turner, ein folgsamer Soldat; aber am 3. September wird er in das Garnison-Lazarett überführt, weil sich plötzlich »Anzeichen von geistiger Störung« bei ihm bemerkbar machten. Es handelte sich um zeitweise Bewusstseinstrübungen (Absenzen) oder um eine Angstneurose. Man führte sie auf eine Gehirnerschütterung beim Reckturnen zurück oder auf einen während der Manöverübungen erlittenen Sonnenstich. Nach 14 Tagen wurde er als gesund entlassen, weil nur vorübergehende Halluzinationen hatten festgestellt werden können. Aber schon am 11. Oktober musste er wiederum dem Lazarett zugeführt werden, weil sich bei ihm erneut eine Störung zeigte, die im Krankenjournal bezeichnet wurde als »Epileptisches Äquivalent«. So wurde er denn am 3. November 1895 als ungeheilt in die Heimat entlassen, nachdem er selbst um seine Entlassung gebeten hatte, »weil es ihm auf der Unteroffizierschule nicht mehr gefalle«. Sein Vater, der 1888 eine kleine Zigarrenfabrik begründet hatte, wollte ihn in dieser beschäftigen, aber da der Junge nicht arbeiten mochte, so kam es nun täglich zu neuen Zänkereien zwischen Vater und Sohn. Inzwischen hatte auch das Geschlechtsleben des Frühentwickelten mächtig eingesetzt. Nachdem (offenbar schon im siebenten Lebensjahr) Geschlechtsvergehen auf der Schulbank den Jungen früh verdorben hatten und ihn zum Verderber für andere Knaben werden ließen, scheint seine erste »Liebeserfahrung« die gewesen zu sein, dass eine in der Nachbarschaft wohnende 35jährige mannweibliche Frauensperson den 16jährigen dazu verführte, nachts über ein Dach hinweg durchs Fenster bei ihr einzusteigen; von da ab setzten dann ein: jene fortwährenden Sittlichkeitsdelikte an kleinen und größeren Kindern, die durch das ganze Leben Haarmanns, man könnte fast sagen Tag um Tag, hindurch gehen (und es bedauerlich machen, dass man diesen Triebirrsinnigen nicht nach dem neunten oder zehnten Triebvergehen ruhig kastriert hat, wodurch alle seine späteren Mordtaten wären verhindert worden). Mitte Juli 1896 wurde ein erstes Strafgerichtsverfahren gegen den 17jährigen eingeleitet, weil er in mehreren Fällen kleine Kinder in Hauseingänge oder in Keller gelockt und mit ihnen unzüchtige Handlungen vorgenommen hatte. Auf Entschluss der Strafkammer wurde am 6. Februar 1897 der Bursche zur Beobachtung seines Geisteszustandes in die Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Hildesheim überführt. Hier wurde bei ihm »Geisteskrankheit« (angeborener Schwachsinn) festgestellt. Er wurde am 25. März 1897 in Hildesheim entlassen und nunmehr von der Polizei als »gemeingefährlicher Geisteskranker« dem städtischen Krankenhaus auf der Bult in Hannover zugeführt. Das Strafverfahren wurde auf Grund des § 51 StGB eingestellt. Im Bultkrankenhaus verblieb der Schwerbelastete bis zum 28. Mai 1897. An diesem Tage wurde er auf Antrag des Magistrats Hannover wieder in die Hildesheimer Irrenanstalt gebracht, nachdem durch das Gutachten des Stadtarztes Dr. Schmalfuß (den ich als besonnenen und gewissenhaften Arzt kannte), unheilbarer Schwachsinn