Haarmann - Theodor Lessing - E-Book

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Theodor Lessing

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Beschreibung

Friedrich Haarmann war ein Serienmörder, der wegen Mordes an insgesamt 24 Jungen und jungen Männern im Alter zwischen 10 und 22 Jahren vom Schwurgericht Hannover am 19. Dezember 1924 zum Tode verurteilt wurde. Er wird auch Der Vampir, Der Schlächter, Der Kannibale und Der Werwolf von Hannover genannt. Der Kriminalfall Haarmann diente als Vorlage für Bücher, Verfilmungen, Theaterstücke, Kunstwerke und Lieder. Der Autor verfolgte den Prozess 1925 als Augenzeuge. Er sprach die zwielichtige Rolle der ermittelnden Polizei an (u.a. war Haarmann als Polizeispitzel geführt). Daraufhin wurde er vom Prozess ausgeschlossen. Sein Buch gilt als seriöses zeitgenössisches Werk. Null Papier Verlag

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Theodor Lessing

Haarmann

Der berüchtigste deutsche Serienmörder der Neuzeit

Theodor Lessing

Haarmann

Der berüchtigste deutsche Serienmörder der Neuzeit

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2021 EV: Die Schmiede, Berlin, 1925 1. Auflage, ISBN 978-3-962818-78-4

null-papier.de/721

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Vor­wort

Ers­ter Teil

Ort und Zeit des Dra­mas

Die ers­ten Lei­chen­fun­de

Das Si­gna­le­ment

El­tern­haus und Ju­gend

Auf der Ver­bre­cher­lauf­bahn

Die Zeit der Re­vo­lu­ti­on 1918/19

Stel­lung zur Po­li­zei

Die Ge­schlechts­ver­bre­chen

Zur See­len­kun­de

Der Freund

Psy­cho­lo­gi­sche Be­mer­kun­gen

Hugo

Mor­di­dyll: Neue Stra­ße 8

In der »Ro­ten Rei­he«

Die Ent­de­ckung

Das Ge­ständ­nis

Zwei­ter Teil – Der Pro­zess

Das Ge­richt

Die An­kla­ge

Die bei­den An­ge­klag­ten

Die Zeu­gen

Die Art der Tö­tung

27 Mord­fäl­le

1. Frie­del Ro­the,

2. Fritz Fran­ke, der Ber­li­ner,

3. Wil­helm Schul­ze aus Cools­horn,

4. Ro­land Huch,

5. Hans Son­nen­feld,

6. Ernst Ehren­berg,

7. Hein­rich Struß aus Ege­storf,

8. Paul Bro­ni­schew­ski aus Bo­chum,

9. Richard Gräf,

10. Wil­helm Erd­ner aus Gehr­den,

11. Her­mann Wolf,

12. Heinz Brink­mann aus Claus­thal,

13. Adolf Han­nap­pel aus Düs­sel­dorf,

14. Adolf Hen­nies,

Zwi­schen­spiel – Der Fall Kei­mes

15. Ernst Spie­cker,

16. Hein­rich Koch,

17. Wil­li Sen­ger,

18. Her­mann Spei­chert,

19. Al­fred Ho­gre­fe aus Lehr­te,

20. Her­mann Bock,

21. Wil­helm Apel aus Lein­hau­sen,

22. Ro­bert Wit­zel,

23. Heinz Mar­tin aus Chem­nitz,

24. Fritz Wit­tig aus Kas­sel,

25. Fried­rich Abe­ling,

26. Fried­rich Koch aus Her­ren­hau­sen,

27. Erich de Vries,

Rechts­tech­ni­sches

Der Aus­schluss der Kri­tik

Das To­des­ur­teil

Er­geb­nis

Un­ser al­ler Schuld

Nach­wort

An­mer­kun­gen

Dan­ke

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Die­ses Buch er­schi­en zum ers­ten Mal 1925 un­ter dem Ti­tel »Haar­mann – Die Ge­schich­te ei­nes Wer­wolfs« im Ver­lag Die Schmie­de in Ber­lin als Band 6 der Rei­he »Au­ßen­sei­ter der Ge­sell­schaft – Ver­bre­chen der Ge­gen­wart«.

Der Au­tor ver­folg­te den Pro­zess 1925 als Au­gen­zeu­ge. Er sprach die zwie­lich­ti­ge Rol­le der er­mit­teln­den Po­li­zei an (u.a. war Haar­mann als Po­li­zei­spit­zel ge­führt). Da­rauf­hin wur­de er vom Pro­zess aus­ge­schlos­sen.

Vorwort

Kein Baum und kein Wald rauscht durch die­se Ge­schich­te. Kei­ne Blu­me und kein Stern bli­cken trös­tend dar­ein. Es han­delt sich um das hoff­nungs­los dunkle Ge­mäl­de ei­ner von al­len Na­tur­göt­tern aus­ge­sto­ße­nen Höh­len­mensch­heit, wel­cher auch das Be­glückends­te und Hei­ligs­te, das im Kos­mos wal­tet: die schöp­fe­ri­sche Lie­bes­macht der Na­tur zu Ver­bre­chen und Krank­heit, Las­ter und Un­na­tur miss­ra­ten ist. Nur mit Wi­der­wil­len, ja oft mit Ekel bin ich, ganz an­ders­ar­ti­ge Le­bens­ar­beit un­ter­bre­chend, der Chro­nist die­ses Stückes »Kul­tur­ge­schich­te« ge­wor­den. Aber ers­tens wur­de ich da hin­ein­ge­drängt durch ein Ge­richt, das die Wahr­heit zu ver­schlei­ern droh­te und mit­hin das ewig gül­ti­ge Recht zu Guns­ten des bloß zeit­lich gel­ten­den Rechts zu beu­gen un­ter­nahm. Weil aber die Wahr­heit be­droht war, so wur­de es fast zur Pf­licht, fol­ge­rich­tig durch­zu­grei­fen und den ge­sam­ten Rechts­fall klar und sach­lich vor die Nach­welt zu brin­gen. Dazu aber kam ein zwei­tes: In Stadt und Schau­platz ge­wur­zelt, war ich der ein­zi­ge, der Ort, Zeit, Per­so­nen und Zu­sam­men­hän­ge völ­lig über­se­hen konn­te. Und so wur­de es auch von die­ser Sei­te her zur Pf­licht ge­gen die künf­ti­gen Ge­schlech­ter, den merk­wür­digs­ten Rechts­fall un­se­rer Tage auf­zu­be­wah­ren. Es ge­sch­ah so, dass dem ein­fa­chen Le­ser alle Vor­gän­ge bild­haft le­ben­dig wer­den, dass an­de­rer­seits aber auch für die Wis­sen­schaft: Psy­cho­lo­gie, Psych­ia­trie, Straf­recht und Recht­sethik, das Stu­di­um die­ses Kri­mi­nal­fal­les wert­voll bleibt. Dar­über hin­aus aber sehe man in die­ser Schrift ein Stück Zeit­kri­tik und Cha­rak­ter­kun­de; denn in die­ser Hin­sicht kann dies Buch gel­ten als ein sinn­fäl­li­ges Bei­spiel zu den Leh­ren, die ich in »Un­ter­gang der Erde am Geist« und »Ge­schich­te als Sinn­ge­bung des Sinn­lo­sen« über Phi­lo­so­phie der Kul­tur und in der »Sym­bo­lik der mensch­li­chen Ge­stalt« zur Psy­cho­lo­gie nie­der­ge­legt habe.

Han­no­ver, im Ja­nu­ar 1925.

Theo­dor Les­sing, Dr. med. und phil. Prof. der Psy­cho­lo­gie.

Erster Teil

Ort und Zeit des Dramas

Han­no­ver, die Haupt­stadt der gleich­na­mi­gen Pro­vinz und der Mit­tel­punkt der nie­der­säch­si­schen Lan­de, liegt an den letz­ten Aus­läu­fern des deut­schen Mit­tel­ge­bir­ges, von wel­chem aus sich die nord­deut­sche Ebe­ne mit ih­ren san­di­gen Kie­fern- und Hei­de­be­zir­ken bis fern zur Nord­see­küs­te hin­ab­zieht. Das Flüss­chen Lei­ne, vom Eichs­fel­de kom­mend und die zwi­schen Harz und We­ser­ber­gen ein­ge­senk­te hü­ge­li­ge Mul­de Göt­tin­gens durch­flie­ßend, er­reicht un­ter­halb Elze, zwi­schen dem Hil­des­hei­mer Wald und dem Os­ter­wald her­vor­bre­chend, die kah­le nord­deut­sche Ebe­ne; von Han­no­ver ab macht der Fluss einen Bo­gen nach Wes­ten und mün­det hin­ter Hu­de­müh­len im Gro­ßen Moor. Das »Hohe Ufer«, dort wo der Fluss die Deis­ter­bä­che Ihme und Föße auf­nahm und in schnel­lem Lau­fe die Alt­stadt durch­eilt, hat wohl dem um 1050 zu­erst er­wähn­ten Ort den Na­men ge­ge­ben: »Ho­no­ver­e«. – Eine Stadt im Grü­nen! Denn ein Wald­gür­tel, die Ei­len­rie­de ge­nannt, 2500 Mor­gen weit, um­zieht die Stadt in wei­tem Halb­kreis und lässt nur nach Sü­den die Ebe­ne of­fen, in wel­che sich die so­ge­nann­te Masch (oder Marsch) hin­ein­schiebt, ein was­ser­rei­ches, sump­fi­ges Flach­land, an des­sen Rand wie­der­um Wald­hü­gel, ge­nannt Deis­ter (von Dix­ter-Dicht­wald), die Stadt um­gren­zen. We­ni­ge eu­ro­päi­sche Städ­te ha­ben zwi­schen 1850 und 1900 so völ­lig ihr Ant­litz ver­än­dert. Bis 1866 war Han­no­ver die welt­fern-vor­neh­me Re­si­denz der al­ten eng­li­schen Wel­fen­kö­ni­ge. In dem grü­num­busch­ten Idyll der durch sechs­hun­dert Jah­re träu­men­den Nie­der­sach­sen­stadt schlu­gen die ers­ten Ler­chen der deut­schen Ly­rik: Höl­ty und Bür­ger, so­dann die Früh­nach­ti­gal­len der Ro­man­tik: die Brü­der Schle­gel; hier grü­bel­ten Lich­ten­berg und Lei­se­witz, Det­mold und Fe­der, und vor al­lem der wis­sens­reichs­te deut­sche Den­ker: Leib­niz. Mo­ritz und If­f­land sind hier ge­bo­ren, so­wie Hart­le­ben und Frank We­de­kind. Als Han­no­ver 1866 durch Bis­marck für Preu­ßen an­nek­tiert wur­de, hat­te die Stadt kaum 70.000 Ein­woh­ner. Aber in der Zeit nach dem sieg­rei­chen Krieg mit Frank­reich, zwi­schen 1870 und 1873, in der so­ge­nann­ten Grün­der­zeit, hielt die In­dus­trie macht­voll Ein­zug, so­dass die klei­nen lieb­li­chen Dör­fer der Um­ge­bung, Hain­holz, Döh­ren, Lim­mer, List bald zu ru­ßi­gen Fa­brik­vor­or­ten sich wan­del­ten. Eine Tech­ni­sche Hoch­schu­le wur­de ge­baut; die Deis­ter­koh­le ge­schürft, und vollends än­der­te sich das Stadt­bild, als der schiff­ba­re Rhein-We­ser-Lei­ne-Kanal an­ge­legt und in den großen »Mit­tel­land­ka­nal« über­führt wur­de, gleich­zei­tig aber die rie­si­gen Ka­lischät­ze des Bo­dens rund um Han­no­ver ab­ge­baut zu wer­den be­gan­nen. Eine ein­zi­ge Fa­brik­an­la­ge, die so­gen. »Con­ti­nen­tal«, wel­che sich mit dem Her­stel­len künst­li­chen Kaut­schuks be­schäf­tig­te, mach­te bin­nen we­ni­ger Jah­re aus dem klei­nen Vo­r­ort Vah­ren­wald ein fünf­zehn­tau­send­köp­fi­ges Pro­le­ta­ri­er­vier­tel. Braue­rei­en, Spin­ne­rei­en, Woll­wä­sche­rei­en, die Ma­schi­nen­fa­bri­ken von Gebr. Kör­ting und Ge­org Ege­storff und die so­gen. Han­o­mag, eine Wa­gen- und Wag­gon­fa­brik wan­del­ten das jen­seits der Ihme ge­le­ge­ne Dorf Lin­den in eine Fa­brik­vor­stadt von über hun­dert­tau­send Be­am­ten- und Pro­le­ta­ri­er­fa­mi­li­en. Im­mer­hin war die­se Ent­wick­lung zu Geld­herr­schaft und Wer­ker­tum, dar­un­ter die alte Adels- und Bau­ern­kul­tur Nie­der­sach­sens er­stick­te, kei­nes­wegs un­ge­wöhn­lich. Sie war das all­ge­mei­ne We­sens­ge­prä­ge des wil­hel­mi­ni­schen Deutsch­lands. Wah­res Höl­len­cha­os aber setz­te ein, als dies preu­ßi­sche Machtreich zer­brach und eine an Tö­ten und »Re­qui­rie­ren« ge­wöhn­te, im fünf­jäh­ri­gen Welt­krieg ver­wil­der­te Ju­gend, alle Zucht und Form ab­schüt­telnd, in die völ­lig arm­ge­wor­de­ne, aus­ge­zo­ge­ne Hei­mat zu­rück­kehr­te. 14 Mil­lio­nen Tote! Im Os­ten Hun­ger­s­nö­te, wel­che gan­ze Län­der­stri­che da­hin­raff­ten und schließ­lich da­hin führ­ten, dass El­tern ihre Kin­der, Kin­der ihre El­tern fra­ßen. Ent­ar­tung, Ver­ar­mung, Ver­wir­rung oh­ne­glei­chen. Das deut­sche Geld auf dem Welt­markt so ent­wer­tet, dass nur durch das im­mer neue Dru­cken und Hin­aus­schleu­dern im­mer neu­er wert­lo­ser Pa­pier­fet­zen ein trost­lo­ses Schein­le­ben von Tag zu Tag ge­fris­tet wur­de. In die­ser so­ge­nann­ten »In­fla­ti­ons­zeit«, an­he­bend mit dem Zu­sam­men­bruch der deut­schen Hee­re im Welt­krieg und den Stür­men der deut­schen Re­vo­lu­ti­on, be­gann die Be­deu­tung der Stadt Han­no­ver als ei­nes in­ter­na­tio­na­len Durch­gangs- und Schie­ber­mark­tes plötz­lich zu wach­sen. Die Stadt be­her­berg­te um 1918 etwa 450.000 Men­schen. Knapp vier Ei­sen­bahn­stun­den von Ber­lin, Deutsch­lands großem Was­ser­kopf ent­fernt, knapp acht Stun­den ent­fernt von Köln (wo da­mals Eng­län­der-, Fran­zo­sen- und Bel­gier­herr­schaft be­gann), war Han­no­ver der güns­tigs­te Mit­tel­punkt für das Tausch-, Schie­ber- und Trans­ak­ti­ons-Ge­schäft, wel­ches Tau­sen­de er­nähr­te. Alle Welt leb­te von Spe­ku­la­ti­on. Da Geld nichts mehr galt, und nur Sach­wer­te das Le­ben fris­ten konn­ten, so wur­de auf­ge­kauft, ge­tauscht und ge­stoh­len wie nie zu­vor. Und zwi­schen Ber­lin, in wel­ches der sla­wi­sche, wen­di­sche, pol­ni­sche, jü­di­sche Os­ten ein­ström­te, Ams­ter­dam, wo viel Reich­tum ab­floss nach Hol­land und Eng­land und end­lich Köln, wel­ches nach Bel­gi­en und Frank­reich die Brücke schlug, lag Han­no­ver aufs güns­tigs­te in der Mit­te, so­dass sich hier auf­zu­tun ver­moch­ten hun­dert neue Grün­dun­gen, hun­dert neue Ver­gnü­gungs- und Las­ter­stät­ten, die ein schlim­mes Händ­ler-, Schie­ber-, Pa­ra­si­ten- und Schma­rot­zer­volk ins Land brach­ten, lang­sam zer­fres­send die alte bür­ger­li­che Tüch­tig­keit und eh­ren­fes­ten So­li­di­tät der (wie ein großer Dich­ter sie nann­te) »fahls­ten un­se­rer Städ­te«.

An drei Stel­len der Stadt er­hob sich ein Gau­ner-, Heh­ler- und Pro­sti­tu­ti­ons­markt oh­ne­glei­chen, des­sen die Be­hör­den nicht mehr Herr wur­den. Zu­nächst im Bahn­hof und auf den ihn um­ge­ben­den Plät­zen. Hier wur­de in der schwe­ren Brot­mar­ken­zeit, wo man Brot, Fleisch und Milch nur in kleins­ten Ra­tio­nen ge­gen teu­res Geld und nach stun­den­lan­gem »Schlan­gen­stehn« er­hal­ten konn­te, un­ter der Hand ein schwung­haf­ter Han­del mit ge­stoh­le­nem und heim­lich ge­schlach­te­tem Nutz­vieh, auch mit Ka­nin­chen, Zie­gen, Hun­den und Kat­zen, mit Kar­tof­feln, Mehl und mit al­ler­hand ge­pasch­ter und ver­scho­be­ner Ware ge­trie­ben; vor al­lem aber mit Klei­dern, Wä­sche und Schu­hen. Hier ver­sam­mel­ten sich all­nächt­lich in den War­te­sä­len vie­le Ob­dach­lo­se, Ar­beits­lo­se, Hung­ri­ge und Ent­gleis­te.

Geht man vom Bahn­hof aus die brei­te Bau­mal­lee der Bahn­hofs­s­tra­ße ent­lang, so ge­langt man nach we­ni­gen Mi­nu­ten in die Ge­org­stra­ße, die Herzader der Stadt. Ein wei­ter Bou­le­vard, lin­den­über­blüht, vol­ler Bee­te, Gar­ten­an­la­gen, Pa­vil­lons und Denk­mä­ler. Und dort zwi­schen dem al­ten be­rühm­ten Hof­thea­ter und den schö­nen Gar­ten­an­la­gen des so­ge­nann­ten Café Kröp­cke be­fand sich um 1918 ein zwei­tes Zen­trum der Sit­ten­lo­sig­keit: der »Markt der männ­li­chen Pro­sti­tu­ier­ten«, de­ren 500 da­mals in den Po­li­zei­lis­ten ein­ge­schrie­ben stan­den, in­des der Kri­mi­nal­o­be­rin­spek­tor die Ge­samt­zahl der so­ge­nann­ten Ho­mo­se­xu­el­len in Han­no­ver auf na­he­zu 40.000 ver­an­schlag­te. Sie bil­de­ten eine ei­ge­ne klei­ne Welt. In ei­nem der schöns­ten Lo­ka­le der Ka­len­ber­ger Vor­stadt, dem so­gen. Neu­städ­ter Ge­sell­schafts­haus ver­an­stal­te­ten sie Ge­sell­schafts­aben­de und Bäl­le, bei de­nen Kna­ben und Jüng­lin­ge in weib­li­cher Ball­klei­dung den Da­men­flor ver­tra­ten. Ein zwei­ter min­der vor­neh­mer Treff­punkt war der alte Ball­hof, ein Barock­saal aus der Kö­nigs- und Kur­fürs­ten­zeit. Und für die al­ler­un­ters­te Schicht gab es in ei­ner der äl­tes­ten und ver­ru­fens­ten Stra­ßen der Alt­stadt, wel­che »Neue Stra­ße« heißt, ein klei­nes Tanz­lo­kal, ge­nannt »Zur schwu­len Gus­te«, wo nur auf ein be­stimm­tes Zei­chen hin zu­ge­las­sen, les­bi­sche Mäd­chen und gleich­ge­schlecht­lich ge­rich­te­te Män­ner nachts zu­sam­men­ka­men. Aber das drit­te Haupt­zen­trum al­les Lu­der- und Las­ter­le­bens war die ma­le­ri­sche Alt­stadt, dort wo der Fluss an dem so­ge­nann­ten Ho­hen Ufer ent­lang eine von vie­len Brücken über­quer­te, als »Klein-Ve­ne­dig« be­kann­te, ur­al­te In­sel­stadt bil­det: Ver­fal­le­ne Win­kel, Jahr­hun­der­te al­tes Ge­mäu­er, ein trot­zi­ger alt­säch­si­scher Be­gui­nen­turm und ein Ge­wirr von Gie­beln, Fach­werk und bau­fäl­li­gen, noch ans Mit­tel­al­ter mah­nen­den Gas­sen, aus de­ren Mit­te jene Kir­che ragt, in wel­cher Leib­niz be­gra­ben liegt, so­wie der auf dem »Ber­ge«, ei­ner plan­ge­mach­ten Ram­pe, er­bau­te mau­ri­sche Ju­den­tem­pel. Die­ser Stadt­teil, un­mit­tel­bar be­nach­bart dem vom Strom be­spül­ten mäch­ti­gen Schloss der Wel­fen, war einst der vor­nehms­te Stadt­teil, ist aber im Lauf der Zei­ten, ähn­lich der Um­ge­bung des Ber­li­ner Schlos­ses, zum ärms­ten Ka­schem­men- und Ver­bre­cher­vier­tel her­ab­ge­sun­ken. Gleich dem al­ten Hil­des­heim, Braun­schweig und Gos­lar das Ent­zücken für je­des schön­heits­u­chen­de Auge, wur­de die­ses äl­tes­te Han­no­ver die Brut­stät­te licht­lo­ser, ar­mut­gel­ber, in Ver­fall und Mo­der at­men­der, zum Un­glück ver­fluch­ter Ge­schlech­ter. –

Die »Neue Stra­ße« mit dem eins­ti­gen Wohn­haus des Her­zogs Fried­rich Wil­helm von Braun­schweig, dem spä­te­ren Ar­men­haus, zieht sich ent­lang der stei­len Ufer­hö­he des Flus­ses. Die Hin­ter­wän­de ih­rer drei­hun­dert­jäh­ri­gen Häu­ser, ihre Er­ker und Bal­ko­ne stür­zen jäh hin­ab in den Fluss, über des­sen Ufern die grü­num­busch­ten ar­men Höfe und rüh­rend be­schei­de­nen Gärt­chen schwe­ben. Nicht weit da­von, dem Ju­den­tem­pel ge­gen­über, liegt die so­ge­nann­te »Rote Rei­he«; eine Grup­pe mü­der, ein­an­der kaum noch stüt­zen­der mor­scher Häu­ser, in de­ren ei­nem (dem Mord­haus be­nach­bart) einst der Elek­tro­tech­ni­ker Rühm­korff die In­duk­ti­ons­elek­tri­zi­tät ent­deck­te. In die­sem schmut­zi­gen Häu­ser­ge­wirr, auf den seit Jahr­hun­der­ten aus­ge­tre­te­nen elen­den Holz­stie­gen, in Ver­schlä­gen, mehr Kä­fi­gen gleich, nur durch dün­ne Ta­pe­ten­wän­de oder Bret­ter­ver­schlä­ge von­ein­an­der ab­ge­trennt, haus­ten in Deutsch­lands Elends­zeit die Ärms­ten der Ar­men. Die aus dem großen Krie­ge üb­rig­ge­blie­be­ne Ju­gend hat­te die Leh­re be­grif­fen, dass man um ei­nes Rockes, um ei­nes Paar Stie­fel wil­len den Feind tö­ten darf. Und »Feind« ist je­der an­de­re. Auf der »In­sel« war Die­bes­bör­se und Heh­ler­markt. Hier wur­de (in der Spra­che die­ser Hin­ter­welt ge­re­det) all­abend­lich ge­kün­gelt und ge­küt­che­bücht. Hier wur­de Scho­res ge­scho­ben (d.h. Die­bes­wa­re ver­han­delt), wur­de Reb­bes ge­macht, wur­de man­che »hei­ße Sa­che ge­dreht«. Abends, wenn der Mond hing über den mor­schen Dä­chern und grau­en Schlo­ten und den ge­spens­ti­gen schwar­zen Fluss ver­sil­ber­te, kam die schwe­re, dür­re, zer­mürb­te, zer­ar­bei­te­te Lei­dens­mensch­heit aus ih­ren al­ten Käs­ten her­vor und hing und hock­te über der stin­ken­den La­gu­ne, auf der al­ten Brücke: arme, sor­gen­schwe­re, kin­der­rei­che Müt­ter, mü­de­ge­wor­de­ne, früh ver­stumpf­te Män­ner. Und da­zwi­schen wim­mel­te le­bens­gie­rig das jun­ge Volk; die Un­zahl der Gas­sen­dir­nen und ih­rer Zu­häl­ter, »Nep­per«, »St­re­zer«, »Scho­res­ma­cher«, die in der »Kreuz­klap­pe«, im »Klee­blatt«, im »Deut­schen Her­mann« man­che Mis­se­tat bal­do­wer­ten, wäh­rend die rät­sel­haf­ten Ster­ne glit­zer­ten im dunklen Was­ser des in sich selbst ver­sump­fen­den Stro­mes.

Die ersten Leichenfunde

Am 17. Mai 1924 fan­den Kin­der, die an der Was­ser­kunst nahe dem Schloss Her­ren­hau­sen spiel­ten, einen Men­schen­schä­del. Am 29. Mai wur­de mit­ten in der Stadt an der Bruck­müh­le hin­term Lei­ne­schloss im Müh­len­gra­ben ein fei­ner Jüng­lings­schä­del an­ge­spült. Am 13. Juni klag­ten die au­gen­lo­sen Höh­len zwei­er neu­er Schä­del zum Licht. Wie­de­r­um: der eine im Os­ten der Stadt bei der Was­ser­kunst; der an­de­re im Wes­ten ne­ben der Brück­müh­le. Die ge­richt­s­ärzt­li­che Un­ter­su­chung er­gab, dass es sich han­del­te um Köp­fe jun­ger Men­schen im Al­ter von 18 bis 20 Jah­ren. Bei dem am 13. Juni bei der Brück­müh­le ge­fun­de­nen um den ei­nes 11 bis 13 Jah­re al­ten Kna­ben. Bei al­len Schä­deln war fest­zu­stel­len, dass sie mit ei­nem schar­fen In­stru­ment vom Rump­fe ge­trennt wor­den wa­ren. Fleisch­tei­le fehl­ten fast völ­lig oder wa­ren ver­west, da die Kno­chen an­schei­nend schon lan­ge Zeit im Was­ser ge­le­gen hat­ten. An dem am 13. Juni bei der »Was­ser­kunst« ge­fun­de­nen Kopf ließ sich fest­stel­len, dass die Kopf­haut durch einen skal­par­ti­gen Schnitt vom Kno­chen ab­ge­löst wor­den war. Man riet zu­nächst dar­auf, dass die Schä­del aus der Göt­tin­ger Ana­to­mie stamm­ten, oder dass sie in Al­feld, wo zu je­ner Zeit eine Ty­phus­epi­de­mie herrsch­te, in die Lei­ne ge­wor­fen wa­ren, oder end­lich, dass sie ins Was­ser ge­schleu­dert wur­den, ge­le­gent­lich von Grä­ber­schän­dun­gen, die im En­ge­soh­der Fried­hof ent­deckt wur­den. Kei­ne von die­sen Ver­mu­tun­gen be­stä­tig­te sich. Da­ge­gen fan­den Kna­ben, die auf ei­ner Wie­se in der Döh­re­ner Masch spiel­ten, einen Sack mit mensch­li­chen Kno­chen, und am 24. Juli wur­de in der Feld­mark Garb­sen aber­mals ein of­fen­bar vom Kör­per ge­trenn­ter skal­pier­ter Schä­del auf­ge­fun­den, wel­cher wie­der­um von ei­nem ganz jun­gen Men­schen stamm­te. Die vie­len Kno­chen­fun­de konn­ten nicht ver­bor­gen blei­ben. Es be­mäch­tig­te sich wei­ter Volks­krei­se eine schon lan­ge vor­be­rei­te­te Schrecks­ucht. Schon seit Jahr und Tag näm­lich war im Vol­ke ein aber­gläu­bi­sches Gerücht im Schwan­ge: »Es gibt in der Alt­stadt Men­schen­fal­len. Jun­ge Kin­der ver­schwin­den in Kel­lern. Kna­ben wer­den in den Fluss ver­senkt.« Man er­zähl­te, dass in der schwe­ren Not­zeit Men­schen­fleisch auf dem Markt ver­kauft wor­den sei. In den Dör­fern um Han­no­ver wei­ger­ten sich jun­ge Mäg­de, in die Stadt ein­kau­fen zu ge­hen. Und die un­ge­wis­se Angst vor ei­nem die Ge­gend un­si­cher ma­chen­den »Wer­wolf« wuchs von Tag zu Tag. In den Jah­ren 1918 bis 1924 wa­ren au­ßer­ge­wöhn­lich vie­le Men­schen ver­misst oder ver­schwun­den. Im Jah­re 1923 wuchs die Zahl der als ver­misst Ge­mel­de­ten auf fast 600, und wenn auch die grö­ße­re An­zahl der Ver­miss­ten sich wie­der ein­fand, so blieb doch im Ver­gleich mit an­de­ren gleich­großen Städ­ten die An­zahl der Ver­schwun­de­nen in Han­no­ver ziem­lich groß. Die Nach­for­schung zeig­te, dass es sich recht häu­fig han­del­te um Kna­ben und Jüng­lin­ge zwi­schen 14 und 18 Jah­ren.

Am Pfingst­sonn­tag des Jah­res 1924 zo­gen Hun­der­te aus Han­no­ver und Um­ge­bung an die »Ho­hen Ufer«, be­setz­ten die klei­nen Ste­ge und Lei­ne­brücken der Alt­stadt und be­gan­nen ein fie­ber­haf­tes Su­chen nach Lei­chen­tei­len und Kno­chen. Am fünf­ten Juli in der Mor­gen­frü­he wur­de, nach­dem man noch eine gan­ze An­zahl mensch­li­cher Kno­chen ge­fun­den hat­te, das gan­ze Fluss­bett von der Brück­müh­le an bis zur großen Lei­ne­brücke am Cle­ver­tor ab­ge­dämmt und durch Po­li­zei­be­am­te und städ­ti­sche Ar­bei­ter gründ­lich nach Lei­chen­tei­len durch­sucht. Die­se Stel­le der Lei­ne liegt mit­ten in der Stadt. Sie kann von Selbst­mör­dern we­gen des dort statt­fin­den­den star­ken Ver­kehrs nicht auf­ge­sucht wer­den. Das Er­geb­nis war furcht­bar. Es wur­den über 500 Lei­chen­tei­le ge­fun­den, de­ren Un­ter­su­chung durch den Ge­richts­arzt er­gab, dass es sich um die Res­te von min­des­tens 22 Per­so­nen han­del­te, von de­nen un­ge­fähr ein Drit­tel im Al­ter zwi­schen 15 und 20 ge­stan­den ha­ben moch­te. Etwa die Hälf­te hat­te schon län­ge­re Zeit im Was­ser ge­le­gen. – An den noch fri­schen Kno­chen aber wie­sen die Ge­len­ke glat­te Schnitt­flä­chen auf.

In­zwi­schen war teils durch das forsch zu­grei­fen­de Vor­ge­hen des Kri­mi­nal­kom­missars Retz, ei­nes freund­li­chen jun­gen Rie­sen, teils durch eine Rei­he merk­wür­di­ger Zu­fäl­le die Auf­klä­rung ge­lun­gen. Am 23. Juni wur­de der ver­mut­li­che Tä­ter ins Ge­richts­ge­fäng­nis ein­ge­lie­fert. Es war der am 25. Ok­to­ber 1879 zu Han­no­ver ge­bo­re­ne Fried­rich, ge­nannt Fritz, Haar­mann; fünf­zehn­mal vor­be­straft; seit 1918 Spit­zel im Diens­te der Kri­mi­nal­po­li­zei; im Üb­ri­gen Han­del trei­bend mit Klei­dern und Fleisch; seit vie­len Jah­ren auf der Si­cher­heits- und Kri­mi­nal­po­li­zei be­kannt als Ho­mo­se­xu­el­ler. – Sei­ne Er­schei­nung warf alle ge­wohn­ten Vor­stel­lun­gen von Mord und Mör­dern über den Hau­fen.

Das Signalement1

Vor uns steht eine kei­nes­wegs un­sym­pa­thi­sche Er­schei­nung. Äu­ßer­lich be­trach­tet: ein schlich­ter Mann aus dem Volk. Freund­lich bli­ckend und ge­fäl­lig, zu­vor­kom­mend; auf­fal­lend ge­pflegt, sau­ber und »tipp-topp«. Er ist gut mit­tel­groß, breit und wohl­ge­baut und hat ein zwar der­bes, gro­bes aber gleich­sam wie blank­ge­scheu­er­tes, kla­res und of­fe­nes Voll­mond­ge­sicht mit fri­schen Far­ben und klei­nen neu­gie­ri­gen und fröh­li­chen Tier­äug­lein. Sein Schä­del ist rund, zeigt brei­te flie­hen­de Stirn, schma­les Mit­tel­haupt und eine stei­le Li­nie des Hin­ter­haup­tes. Die Ohren sind nicht groß, lie­gen ein we­nig un­ter­halb der Au­gen­hö­he und ste­hen vom Kopf ab. Auch die Nase ist nicht groß und so we­nig auf­fal­lend wie das gan­ze Ant­litz. Im Pro­fil nicht un­edel, sieht sie doch von vorn be­trach­tet et­was knol­lig aus, ist an der Wur­zel breit und hat star­ke wit­tern­de Flü­gel. Der Mund ist klein, frech und dic­klip­pig. Die Zun­ge, in der Er­re­gung vor­schnel­lend und die Lip­pen net­zend, ist auf­fal­lend flei­schig; die Zäh­ne sind weiß, stark, scharf und ge­sund; das Kinn tritt ener­gisch vor. Die Ober­lip­pe schmückt ein klei­nes eng­li­sches Bärt­chen, die vol­len Wan­gen sind sau­ber ra­siert. Sein bräun­li­ches Haupt­haar, glatt an­lie­gend und links ge­schei­telt, ist nicht eben voll. Das zwi­schen braun und grau schil­lern­de Auge ist kalt und see­len­los; aber ge­ris­sen und ver­schla­gen und meis­tens in Be­we­gung. Der Blick ist su­chend nach au­ßen ge­kehrt; aber ver­glet­schert zu un­nah­ba­rer Ver­schlos­sen­heit, so­bald die hys­te­risch auf- und ab­flu­ten­de Stim­mung auf Pein­li­ches fest­ge­legt wird. Merk­wür­dig aber ist fol­gen­der Ge­gen­satz: Die­se Phy­sio­gno­mie2 ist auf­fal­lend ge­bun­den, un­ge­löst, und »wie ein­ge­spun­den im Fas­se ih­res Ich«. Zu­gleich aber gibt sich der Mann un­er­träg­lich ge­schwät­zig, mit­tei­lungs­be­dürf­tig und über­be­weg­lich. Er re­det fort­wäh­rend auf sein Ge­gen­über ein; da­bei fuch­telt er mit sei­nen wei­ßen weich­li­chen Hän­den und den lan­gen Fin­gern, an de­nen er in der Ner­vo­si­tät un­auf­hör­lich zerrt und zupft. An der lin­ken Hand fehlt ihm ein Fin­ger­glied. Er gibt an, dass es bei ei­ner Schlä­ge­rei ihm ab­ge­bis­sen wor­den sei. Auch sein Rumpf ist gut ent­wi­ckelt; der Na­cken ist stark und ge­mein; Brust und Rücken zei­gen wie das Ge­säß rund­li­che wei­bi­sche Fett­pols­ter. Der Leib ist zwar derb, aber hat et­was vom Wei­be. Das Ge­schlechts­glied ist stark; die Scham­be­haa­rung ver­läuft nicht im spit­zen Win­kel zum Na­bel, son­dern im fla­chen Bo­gen ober­halb des Scham­bei­nes. Die plum­pen Füße ha­ben fla­che Soh­len. Die Stim­me, brei­ig, schlei­mig und nah am Dis­kant, er­in­nert an das Or­gan al­ter Frau­en. Der gan­ze Ha­bi­tus ist »an­dro­gyn«. Man möch­te sa­gen: nicht männ­lich, nicht weib­lich, nicht kind­lich. Aber män­nisch, wei­bisch und kin­disch zu­gleich. Am auf­fallends­ten an dem Mann (lei­der von den Sach­ver­stän­di­gen nicht stu­diert und nicht ein­mal be­ach­tet) sind die vie­len Au­to­ma­tis­men und Ste­reo­ty­pi­en. (Als »Au­to­ma­tis­men« be­zeich­ne ich sol­che Aus­drucks­be­we­gun­gen, die un­will­kür­lich wie­der­keh­ren; als »Ste­reo­ty­pi­en« sol­che, die all­mäh­lich zu Ge­wohn­heit ge­wor­den sind.) Au­to­ma­tisch sind z. B. ge­wis­se Be­we­gun­gen: eine Art Ta­pe­rig­keit oder Tat­te­lig­keit des Gan­ges, so­dann (be­son­ders wenn man ihn lobt oder in Ver­le­gen­heit bringt) eine fast ko­ket­te Schwän­ze­lei mit Ge­säß und Un­ter­kör­per. Fer­ner: so­bald er müde wird, be­ginnt er au­to­ma­tisch mit der lin­ken Hand an eine be­stimm­te Stel­le des rech­ten Mit­tel­haup­tes zu grei­fen, als wenn sich dort ein kran­ker Fleck be­fän­de. Wenn er den Fa­den ver­liert (denn er muss wie Ster­nes Kor­po­ral Trim »alle Sa­chen ganz von vorn er­zäh­len«) macht er eine ty­pi­sche Leck­be­we­gung mit der flei­schi­gen Zun­ge. Ste­reo­typ ist an ihm je­nes ewi­ge Zer­ren an den Fin­gern, das Be­net­zen der Lip­pen, das Ein­knei­fen der Au­gen­li­der, so­bald er eine Ver­tei­di­gungs­hal­tung an­nimmt. Auch sind alle sei­ne Re­den über­voll von ste­reo­ty­pen Re­dens­ar­ten. (Nüch? nüch wahr? Och! Och ne! »Und so wei­ter, und so wei­ter!« Auch Un­sinn! … Er spricht üb­ri­gens auf­fal­lend han­no­ver­a­nisch.) Be­stimm­te Lieb­lings­vor­stel­lun­gen keh­ren im­mer wie­der. (Z. B., dass alle Jun­gen in ihn ver­liebt sei­en; dass nicht er hin­ter Kna­ben, son­dern dass die Kna­ben alle hin­ter ihm her sei­en; dass auch die Frau­en (die er im Üb­ri­gen tief ver­ach­tet und gleich­sam als Ne­ben­buh­le­rin­nen emp­fin­det) gern mit ihm »pous­sie­ren« möch­ten.) Ob­wohl er nicht den min­des­ten Sinn hat für frem­de Rech­te und über­haupt kei­ne so­zia­len (sym­pa­thi­schen, al­truis­ti­schen; aus Mit­leid flie­ßen­den) Ge­füh­le hegt, ist er doch durch­aus ge­sel­lig. Die bei­den tiefs­ten Ge­füh­le sei­ner Na­tur sind das Be­dürf­nis nach Wol­lust und das Be­dürf­nis nach Zärt­lich­keit. Und sie sind so an­ein­an­der­ge­fes­selt, wie im Ma­hab­ha­ra­ta der Men­schen­fres­ser Hi­dim­ba, der Dä­mon der Blut­gier, ge­bun­den ist an sei­ne Schwes­ter Hi­dim­ba, die Göt­tin der zärt­li­chen Schön­heit. Er möch­te ge­liebt, ja er möch­te ger­ne be­wun­dert sein und steckt voll von Be­ach­tungs- und Be­ein­träch­ti­gungs­ide­en, wo­bei er mault und schmollt wie ein dum­mes stör­ri­sches Kind, das sich im­mer be­nach­tei­ligt wähnt. – Er liebt weib­li­che Ar­bei­ten, backt, kocht und stopft St­rümp­fe, raucht aber da­bei schwe­re Zi­gar­ren. Im­mer­hin ge­hört er zum Ty­pus des »Weib­man­nes« (der so­ge­nann­ten Tan­te). Sei­ne Lieb­lings­genüs­se sind Boh­nen­kaf­fee, star­ke Zi­gar­ren und Harz­kä­se. Im All­ge­mei­nen er­scheint er wie ein gar nicht bös­ar­ti­ges, ganz im Au­gen­blick le­ben­des, völ­lig ei­gen­be­züg­li­ches und durch­aus trieb­haf­tes Tier; re­nom­mis­tisch, aber leicht lenk­bar. Jede Vor­stel­lung, die man ihm ein­gibt, hat die Stre­bung für sein Be­wusst­sein so­fort »Wirk­lich­keit« zu wer­den; eben dar­um ist er voll­kom­men au­ßer­stan­de, ab­strak­te, d.h. un­bild­li­che Vor­stel­lun­gen fest­zu­hal­ten. Man könn­te in die­ser Hin­sicht sa­gen, dass sein Ver­stand weit schlech­ter ent­wi­ckelt ist, als sei­ne Ver­nunft. Die­ser »Kurz­schluss« zwi­schen Vor­stel­lung und Wirk­lich­keit ist so un­mit­tel­bar, dass, wenn er z. B. vom Köp­fen (»Ge­köppt wer­den«) spricht, er bild­haft den Gang zum Scha­fott und das Fal­len des Fall­mes­sers dem Be­su­cher vor­ahmt; wenn er er­zählt, wie er die Lei­chen zer­stückel­te, so ahmt er mit den Hän­den die Schnit­te nach; stei­gert er sich in Sen­ti­men­ta­les hin­ein (»Ich will auf dem Kla­ges­markt hin­ge­rich­tet wer­den. Auf mei­nem Grab steht der Spruch: ›Hier ruht der Mas­sen­mör­der Haar­mann.‹ An mei­nem Ge­burts­tag kommt Hans und legt einen Kranz nie­der«), dann kom­men ihm so­gleich Trä­nen ins Auge; be­rich­tet er von Ge­schlecht­li­chem, dann greift er (selbst im Ge­richts­saal) au­to­ma­tisch in die Ge­schlechts­ge­gend. Er ist ein Stück Na­tur; ohne Lo­gik und ohne Moral. Aber auch ohne lo­gi­sche und mo­ra­li­sche Heu­che­lei.

Steck­brief  <<<

Die äu­ße­re Er­schei­nung von Le­be­we­sen, ins­be­son­de­re des Men­schen und hier spe­zi­ell die für einen Men­schen cha­rak­te­ris­ti­schen Ge­sichts­zü­ge.  <<<

Elternhaus und Jugend

Am 25. De­zem­ber 1921 verstarb, 76 Jah­re alt, in Han­no­ver der »olle Haar­mann«. Man­che Han­no­ve­ra­ner er­in­nern sich noch an das ver­mi­cker­te, gnit­te­ri­sche, zän­ki­sche, im­mer übel­lau­ni­ge und übel­neh­me­ri­sche Männ­lein als an das Ur­bild ei­nes Kra­kee­lers und miss­wol­len­den Pfen­nig­fuch­sers. – – Hin­ter al­len »Schür­zen« war er her. Abend­lich aber ran­da­lier­te oder prahl­te er in den al­ten Pin­ten, Ka­bak­ken und Ka­buffs der Alt­stadt. Schon sein Va­ter war Que­ru­lant und Trin­ker ge­we­sen. Und in der Fa­mi­lie gab es eben­so viel Erb­be­las­te­te wie in Zo­las Fa­mi­lie Rou­gon-Mac­quart. Der »olle Haar­mann« war in sei­ner Ju­gend Lo­ko­mo­tiv­hei­zer; hat­te aber den Dienst, dar­in er für un­zu­ver­läs­sig galt, 1886 ver­las­sen, we­gen ei­nes an­geb­lich im Be­trieb er­lit­te­nen Un­falls, wo­bei sein Lo­ko­mo­tiv­füh­rer zu Tode kam. Er pro­zes­sier­te, ein ty­pi­scher Ren­ten­hys­te­ri­ker, mit der Ei­sen­bahn­di­rek­ti­on, ob­wohl er ei­gent­lich in ganz be­hag­li­chen Ver­hält­nis­sen le­ben konn­te. Denn durch eine Nutz­hei­rat mit ei­ner sie­ben Jah­re äl­te­ren Frau, sei­ner am 5. April 1901 ver­stor­be­nen Ehe­frau Jo­han­ne, geb. Clau­di­us, wa­ren ihm ein paar Häu­ser und ein klei­nes Ver­mö­gen in die Hän­de ge­kom­men, so­dass er in der »Grün­der­zeit« zum wohl­ha­ben­den Bür­ger ge­wor­den, fort­an aus­kömm­lich zu le­ben ver­moch­te. – Er war ein wüs­ter, zän­ki­scher, klein­li­cher, ver­schla­ge­ner Mensch, und sein un­zu­frie­de­nes We­sen wur­de un­leid­li­cher noch, als er, in rei­fen Jah­ren sy­phi­li­tisch ge­wor­den, sei­nen al­ten Frau­en­zim­mer­ge­schich­ten – (bald nach sei­ner Hei­rat schon nahm er mehr­fach Maitres­sen ins Haus) – nicht mehr nach­ge­hen konn­te … Die Mut­ter des Mör­ders war eine ein­fäl­ti­ge, et­was blö­de Per­son, früh ver­braucht, über­al­tert und seit der Ge­burt des sechs­ten Kin­des (eben des Trieb­ver­bre­chers) im­mer bett­lä­ge­rig da­hin­krän­kelnd. Von den sechs Kin­dern wur­de der äl­tes­te Sohn Adolf ein bra­ver klein­bür­ger­li­cher Werk­meis­ter auf der »Con­ti­nen­tal«, or­dent­li­cher Phi­lis­ter und Fa­mi­li­en­va­ter. Der zwei­te Sohn, Wil­helm, wur­de in jun­gen Jah­ren we­gen ei­nes Sitt­lich­keits­de­likts be­straft, be­gan­gen an dem 12­jäh­ri­gen Töch­ter­chen ei­nes be­nach­bar­ten Gast­wirts, und auch die drei Töch­ter, alle drei von ih­ren Män­nern früh ge­schie­den, er­wie­sen sich als leicht auf­ge­reg­te, trieb­be­las­te­te Na­tu­ren. Eine der Schwes­tern, Frau Rü­di­ger, verstarb in den Kriegs­jah­ren. Mit der zwei­ten, Frau Er­furdt, konn­te der Mör­der sich nie recht ver­tra­gen, und nur die Schwes­ter Emma, eine Frau Bur­schel, blieb stets mit ihm ver­bun­den, was aber doch nicht aus­schloss, dass auch die­se bei­den Ge­schwis­ter zwi­schen­durch mit­ein­an­der pro­zes­sier­ten, ja, dass der Bru­der ge­le­gent­lich in dem Zi­gar­ren­la­den der Schwes­ter Dieb­stäh­le und so­gar Ein­brü­che ver­an­stal­te­te, die er nach­her un­ter Trä­nen ab­leug­ne­te oder an­de­ren in die Schu­he schob. – Fried­rich (ge­nannt Fritz), Hein­rich, Karl Haar­mann wur­de am 25. Ok­to­ber 1879 als jüngs­tes Kind ge­bo­ren; die Mut­ter war da­mals 41 Jah­re alt. Aus der frü­he­s­ten Ju­gend wis­sen wir nur (aus Er­zäh­lun­gen der Ge­schwis­ter), dass die­ses Kind von der im­mer kränk­li­chen Mut­ter sehr ver­hät­schelt wur­de. – Für den See­len­for­scher ist es von Wich­tig­keit, dass schon der klei­ne Kna­be in dem Va­ter eine Art Ne­ben­buh­ler sah, wel­chen er hass­te und tot wünsch­te. Durch das gan­ze Le­ben zieht sich die­se Feind­schaft mit dem Va­ter. Die bei­den be­schul­di­gen und be­dro­hen ein­an­der. Der Va­ter droht, den Sohn ins Ir­ren­haus zu brin­gen, der Sohn will den Va­ter (we­gen ei­nes an­geb­li­chen Mor­des an sei­nem Lo­ko­mo­tiv­füh­rer) ins Zucht­haus set­zen. Es kommt im­mer wie­der zu Miss­hand­lun­gen und Schlä­ge­rei­en. Je­der be­haup­tet, dass der an­de­re ihm nach dem Le­ben trach­te, ihn ver­gif­ten wol­le, ihn be­ein­träch­ti­ge. Zwi­schen­durch ver­bin­den sie sich aber auch mal wie­der zu ge­mein­sa­men Be­trü­ge­rei­en oder ent­las­ten ein­an­der vor Ge­richt. Das Ver­hält­nis Haar­manns zur Mut­ter da­ge­gen ist von im­mer glei­cher Schwär­me­rei. Sie ist die ein­zi­ge, von der er Gü­ti­ges zu er­zäh­len weiß und stets mit sen­ti­men­ta­len Ge­füh­len spricht. Im Üb­ri­gen ist die Fa­mi­lie heil­los zer­rüt­tet. Die Ge­schwis­ter pro­zes­sie­ren un­auf­hör­lich. Erst um das Erb­teil der am 5. April 1901 ver­stor­be­nen Mut­ter; spä­ter­hin auch um das vä­ter­li­che Erbe. Aus den An­ek­do­ten, die wir aus den Kin­der­jah­ren Haar­manns er­fah­ren konn­ten, ent­neh­men wir zwei Züge: Ers­tens sei­ne weib­li­chen (»trans­ves­ti­ten«) Nei­gun­gen. Er spiel­te gern mit Pup­pen, mach­te auch weib­li­che Hand­ar­bei­ten und wur­de in Ge­sell­schaft von Kna­ben rot und ver­le­gen. Zwei­tens: sei­ne Nei­gung, Angst und Ent­set­zen in sei­ner Um­ge­bung zu er­re­gen, in­dem er die Schwes­tern fest­band, aus­ge­stopf­te Klei­der­pup­pen auf die Trep­pe leg­te, heim­lich nachts an die Fens­ter klopf­te und Ge­s­pens­ter­furcht er­weck­te. Os­tern 1886 kam er auf die Bür­ger­schu­le 4 am En­gel­bos­te­ler­damm. Die Leh­rer schil­dern das hüb­sche Kind als ver­wöhnt, ver­zär­telt, still, leicht lenk­sam, all­ge­mein be­liebt und ver­träumt. Sein Be­tra­gen war »mus­ter­haft«; aber alle Leis­tun­gen weit un­ter Durch­schnitt. Nach­dem er zwei­mal (1888 und 1890) in der sie­ben­stu­fi­gen Schu­le »sit­zen­ge­blie­ben« war, wur­de er 1894 als Schü­ler der 3. Klas­se in der Chris­tus­kir­che von Pas­tor Har­de­landt kon­fir­miert. Noch nach ei­nem Men­schen­al­ter be­klag­te er sich bit­ter dar­über, dass er bei die­ser Ge­le­gen­heit ein al­tes Ge­sang­buch ge­tra­gen habe, wäh­rend sei­ne Ge­schwis­ter ein neu­es be­kom­men hät­ten. Er soll­te nun Schlos­ser­lehr­ling wer­den, er­wies sich aber als un­brauch­bar, und so gab man ihn mit ei­nem Schub an­de­rer Ka­pi­tu­lan­ten auf die Un­ter­of­fi­zier-Vor­schu­le Neu-Brei­sach. Am 4. April 1895 kam er in Neu-Brei­sach im Breis­gau an: ein kör­per­lich gut ent­wi­ckel­ter, kräf­ti­ger, et­was zu Kor­pu­lenz nei­gen­der, 16­jäh­ri­ger, ge­sun­der Jun­ge mit hüb­schem, re­gel­mä­ßi­gem aber aus­drucks­lo­sem Ge­sicht. Er war ein gu­ter Tur­ner, ein folg­sa­mer Sol­dat; aber am 3. Sep­tem­ber wird er in das Gar­ni­son-La­za­rett über­führt, weil sich plötz­lich »An­zei­chen von geis­ti­ger Stö­rung« bei ihm be­merk­bar mach­ten. Es han­del­te sich um zeit­wei­se Be­wusst­seins­trü­bun­gen (Ab­sen­zen) oder um eine Angst­neu­ro­se. Man führ­te sie auf eine Ge­hirn­er­schüt­te­rung beim Reck­tur­nen zu­rück oder auf einen wäh­rend der Ma­nö­ver­übun­gen er­lit­te­nen Son­nen­stich. Nach 14 Ta­gen wur­de er als ge­sund ent­las­sen, weil nur vor­über­ge­hen­de Hal­lu­zi­na­tio­nen hat­ten fest­ge­stellt wer­den kön­nen. Aber schon am 11. Ok­to­ber muss­te er wie­der­um dem La­za­rett zu­ge­führt wer­den, weil sich bei ihm er­neut eine Stö­rung zeig­te, die im Kran­ken­jour­nal be­zeich­net wur­de als »Epi­lep­ti­sches Äqui­va­lent«. So wur­de er denn am 3. No­vem­ber 1895 als un­ge­heilt in die Hei­mat ent­las­sen, nach­dem er selbst um sei­ne Ent­las­sung ge­be­ten hat­te, »weil es ihm auf der Un­ter­of­fi­zier­schu­le nicht mehr ge­fal­le«. Sein Va­ter, der 1888 eine klei­ne Zi­gar­ren­fa­brik be­grün­det hat­te, woll­te ihn in die­ser be­schäf­ti­gen, aber da der Jun­ge nicht ar­bei­ten moch­te, so kam es nun täg­lich zu neu­en Zän­ke­rei­en zwi­schen Va­ter und Sohn. In­zwi­schen hat­te auch das Ge­schlechts­le­ben des Frü­h­ent­wi­ckel­ten mäch­tig ein­ge­setzt. Nach­dem (of­fen­bar schon im sie­ben­ten Le­bens­jahr) Ge­schlechts­ver­ge­hen auf der Schul­bank den Jun­gen früh ver­dor­ben hat­ten und ihn zum Ver­der­ber für an­de­re Kna­ben wer­den lie­ßen, scheint sei­ne ers­te »Lie­bes­er­fah­rung« die ge­we­sen zu sein, dass eine in der Nach­bar­schaft woh­nen­de 35­jäh­ri­ge mann­weib­li­che Frau­ens­per­son den 16­jäh­ri­gen dazu ver­führ­te, nachts über ein Dach hin­weg durchs Fens­ter bei ihr ein­zu­stei­gen; von da ab setz­ten dann ein: jene fort­wäh­ren­den Sitt­lich­keits­de­lik­te an klei­nen und grö­ße­ren Kin­dern, die durch das gan­ze Le­ben Haar­manns, man könn­te fast sa­gen Tag um Tag, hin­durch ge­hen (und es be­dau­er­lich ma­chen, dass man die­sen Trie­birr­sin­ni­gen nicht nach dem neun­ten oder zehn­ten Trieb­ver­ge­hen ru­hig ka­strier­t hat, wo­durch alle sei­ne spä­te­ren Mord­ta­ten wä­ren ver­hin­dert wor­den). Mit­te Juli 1896 wur­de ein ers­tes Straf­ge­richts­ver­fah­ren ge­gen den 17­jäh­ri­gen ein­ge­lei­tet, weil er in meh­re­ren Fäl­len klei­ne Kin­der in Haus­ein­gän­ge oder in Kel­ler ge­lockt und mit ih­nen un­züch­ti­ge Hand­lun­gen vor­ge­nom­men hat­te. Auf Ent­schluss der Straf­kam­mer wur­de am 6. Fe­bru­ar 1897 der Bur­sche zur Beo­b­ach­tung sei­nes Geis­tes­zu­stan­des in die Pro­vin­zi­al-Heil- und Pfle­gean­stalt Hil­des­heim über­führt. Hier wur­de bei ihm »Geis­tes­krank­heit« (an­ge­bo­re­ner Schwach­sinn) fest­ge­stellt. Er wur­de am 25. März 1897 in Hil­des­heim ent­las­sen und nun­mehr von der Po­li­zei als »ge­mein­ge­fähr­li­cher Geis­tes­kran­ker« dem städ­ti­schen Kran­ken­haus auf der Bult in Han­no­ver zu­ge­führt. Das Straf­ver­fah­ren wur­de auf Grund des § 51 StGB ein­ge­stellt. Im Bult­kran­ken­haus ver­blieb der Schwer­be­las­te­te bis zum 28. Mai 1897. An die­sem Tage wur­de er auf An­trag des Ma­gis­trats Han­no­ver wie­der in die Hil­des­hei­mer Ir­ren­an­stalt ge­bracht, nach­dem durch das Gut­ach­ten des Stadt­arz­tes Dr. Schmal­fuß (den ich als be­son­ne­nen und ge­wis­sen­haf­ten Arzt kann­te), un­heil­ba­rer Schwach­sinn