Hadesspitz - Christiane Tramitz - E-Book

Hadesspitz E-Book

Christiane Tramitz

4,5

Beschreibung

Im Suldnertal in Südtirol wird im Pfarrhaus die geschundene Leiche der dortigen Haushälterin gefunden. Pfarrer Trifaller berichtet von einem Raubüberfall, wird aber schnell selbst zum Tatverdächtigen. Um ihn zu entlasten, engagiert die Kirche den Staranwalt Stefan Egger. Dem sind alle Mittel recht, um die Unschuld des Pfarrers zu beweisen. Nach einem spektakulären Indizienprozess wird er verurteilt. Lediglich der Münchner Kommissar Mertens kann jetzt noch Licht ins Dunkel bringen.

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Christiane Tramitz

Hadesspitz

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2017

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © rboehme / fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5350-2

Vorbemerkung

Die Autorin wurde zu diesem Roman von einem wahren Fall inspiriert. Daten und Fakten dieses Falls sind der damaligen öffentlichen Berichterstattung entnommen, die handelnden Figuren sind jedoch frei erfunden und stehen in keinem Bezug zu in den realen Fall involvierten Personen. Die tatsächliche historische Geschichte wurde nie vollständig aufgeklärt. Dieses Buch erhebt nicht den Anspruch, die Geschehnisse authentisch wiederzugeben. Sämtliche Figuren, deren Namen, Schicksale, Gedanken und Dialoge sowie die Orte sind frei erfunden. Somit sind Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

1. Kapitel

Er dachte, es sei vorbei. Er dachte, sie hätte ihn freigelassen.

Seit zwei Jahren konnte er wieder ruhig schlafen, halbwegs zumindest. Endlich. Ewig hatte es gedauert, bis ihm ihre starren, gebrochenen Augen nicht mehr erschienen, sobald er seine schloss. Jahrelang hatte ihm der Schlaf Qual bereitet, weil er nicht bleiben wollte oder erst gar nicht kam.

Dann sah er ihren zarten Körper, den gelben Seidenschal, der nach Parfum roch, und immer wieder erschienen ihm ihre Augen.

Das war lange her. Jetzt war die Welt im Lot, halbwegs zumindest. Gott hatte Erbarmen gezeigt.

Er faltet die Hände und mit ihm die Gläubigen, die zu ihm gekommen waren.

»Vater unser, der du bist im Himmel.« Die Menschen in der Kirche erheben sich zum Gebet. »Geheiligt sei dein Name, dein Reich komme.« Monotones Murmeln schwingt durch das Gotteshaus. »In Ewigkeit Amen.« Weihrauch steigt in die Luft.

Die Bänke knarzen, als die Menschen wieder Platz nehmen. Es ist ein Gottesdienst wie jeder andere am Sonntagvormittag in Kreuzach. Heute scheint die Sonne, ihre Strahlen dringen durch die bunten Fensterscheiben und werfen warmes Licht auf das Marienbild.

»Freuen darf sich, wer nicht an mir irrewird.« So beginnt er die Predigt. Der Hirte blickt in die Gesichter seiner Schäfchen, die alle hierher in die Kirche, zu ihm gekommen sind und nun an seinen Lippen hängen. Gerade weil diese Menschen da sind und seit Jahren an ihn glauben, hat er die starren Augen vergessen können. Und das, was geschehen war. Er trinkt nicht mehr so viel wie in den Monaten nach jenem schrecklichen Ereignis, durch das er sein Leben von heute auf morgen nicht mehr auf Erden, sondern in der Hölle verbrachte. In der Hölle loderte das Feuer, wilde Teufelsmonster wirbelten wie Kreisel umher und trieben glühende Dreizacke in seinen Körper. Und aus jeder einzelnen Fratze dieser Unwesen starrten gebrochene Augen. Aber die Zeit hat sie besiegt, seit zwei Jahren waren sie ihm nicht mehr erschienen. Er geht wieder in die Berge und fühlt gelegentlich auch dieses vage Gefühl, das die Menschen, die ein anderes Leben leben dürfen als das unter Gottes Joch, Glück und Frohsinn nennen.

In der Kirche sitzen die Frommen auf ihren Bänken, schlagen die Gesangsbücher auf. Oben auf der Empore schwellen die schweren Töne der Orgel an. »An dir allein hab ich gesündigt«, singen die Kirchgänger, »und übel oft vor dir getan.« Die ersten Takte tönt seine tiefe Stimme noch über dem Gesang seiner Gemeinde. Dann verstummt er. Ganz hinten, in der letzten Reihe der Kirchenbänke, hat sich eine Frau erhoben. Sie trägt schwarze Kleidung und hat ihr Haar mit einem roten Fransentuch nach oben gebunden.

Er kennt die Frau nicht, hat sie nie zuvor gesehen. Was will sie?, denkt er. Mit einem Handzeichen bedeutet er ihr, sie möge sich setzen, aber die Frau reagiert nicht. Regungslos steht sie da, wie eine Schaufensterpuppe, die man zwischen die Bänke drapiert hat. Ihre Arme hat sie hinter dem Rücken verschränkt.

Ein zweites Mal fordert er sie mit den Händen auf, sie möge doch Platz nehmen. Die ersten Köpfe drehen sich nach ihr um, bald sind es alle. Die Frau lächelt. Das Singen der Menschen verstummt, irgendwann auch die Orgel. Als alles still ist und der Organist sich verwundert über das Geländer nach unten beugt, um zu sehen, was los ist, löst die Unbekannte ihre Starre. Sie führt erst den linken Arm vor den Körper, dann den rechten. In ihrer Hand hält sie einen Holzstock, an dem ein Schild befestigt ist. Es zeigt das Foto einer Frau, mehr kann der Pfarrer vom Altar aus auf die Entfernung nicht erkennen. Die Menschen werden unruhig, Gemurmel wälzt sich durch die Kirche. Die Unbekannte tritt mit ihrem Schild aus der Bankreihe heraus. Langsam nähert sie sich im Mittelgang dem Altar.

Er will die Hände heben, für Ruhe im Gotteshaus sorgen. Und dann erkennt er, was auf dem Foto zu sehen ist, das die stumme Frau in Händen hält. Er muss die Augen schließen, er kann nicht hinschauen, zu groß ist der Schmerz.

Das Bildnis zeigt sie. Sie.

Mit ihren starren Augen sieht sie ihn an, anklagend und traurig. Jetzt ist sie wieder da, nach zwei Jahren, die Kreisel beginnen sich zu drehen, und die Monster vom Hadesspitz blecken ihre grausigen Fratzen.

Dieses Klopfen. Warum hatte er es gehört in dieser Nacht? Es wäre alles anders für ihn gekommen, hätte er dieses gottverdammte Klopfen nicht gehört.

Poch, poch, poch. Um 2 Uhr nachts hatte er es vernommen, halb wach, halb im Schlaf. Zuerst hatte er gedacht, der Regen sei es, oder Äste, die irgendwo gegenschlugen.

Lange schon vor diesem Klopfen hatte sich der Gastwirt Adam Schölzeler im Bett umhergewälzt, alles Mögliche war ihm im Kopf umhergeschwirrt, Sorgen und auch Ängste. Wie immer, wenn es draußen stürmte. Obwohl er hier geboren wurde und aufgewachsen war, hatte er sich nie an diese wilden Stürme im Hochtal gewöhnen können. Er hasste es, wenn die Winde auf die Häuser prallten und an den Dächern zerrten. Er stellte sich die Stürme als Geister vor, wie sie heraufbrausten, bis sie hier, im oberen Teil des Tals, im letzten Ort, in Sankt Gunhild, ankamen. Dahinter wirbelten sie die hohen Felsen entlang, am Ende des Tals, wo es nicht mehr weiterging, weil die Wände hinter Sankt Gunhild so hoch waren. Ihm kam es vor, als machten die Winde wütend kehrt und sausten wieder hinab ins Tal – mitten durch die Häuser. Schölzeler fürchtete diese Stürme von klein an, all die 43 Jahre, die er seit seiner Geburt in dem alten Gasthaus Sternhof lebte.

Das Toben der Natur raubte ihm auch in dieser Nacht, in der das Klopfen und Pochen sein Leben verändern würde, einen Großteil seines Schlafs. Immer wieder blickte der Wirt auf den Wecker, der auf dem Nachtkästchen stand. Die Zeiger, sie schlichen von Minute zu Minute voran, quälend langsam. Um 24 Uhr war Schölzeler zum ersten Mal hochgeschreckt, weil die Katzen des Ortes in den Sturm jaulten.

Ein zweites Mal um 1:15 Uhr. Schölzeler konnte sich am nächsten Tag, als die Uhrzeit plötzlich bedeutsam geworden war, genau daran erinnern. Es war 1:15 Uhr gewesen, als ihn lautes Motorengeräusch geweckt hatte. Ein Auto, das nächtens durch Sankt Gunhild talabwärts brauste. Ungewöhnlich, merkwürdig, dachte er bei sich, um diese Uhrzeit. Woher kam das Auto? Wo wollte es hin? Warum fuhr es so schnell? Es verirren sich doch sonst so gut wie nie Menschen in diese Gegend. Schölzeler hatte vom Bett aus durchs Fenster auf die Wipfel der alten Tanne geblickt. Der Sturm heulte zwischen ihren Ästen. Nebelgeister tanzten die hohen Felsen entlang. Und irgendwann war das Motorengeräusch allmählich vom Sturmgebrüll verschluckt worden.

Er wandte seinen Kopf zur Frau, die neben ihm lag. Wie immer hatte sie ihm den Rücken zugedreht, wie immer lag sie auf ihrer Bettseite, nie auf der seinen. Und wie immer hatte sie die Bettdecke bis zum Kopf gezogen. Sommer, Herbst, Winter, auch damals, im Frühling ihrer Liebe. Der aber war lange her, seit 20 Jahren waren sie ein Paar, und der Nachwuchs wollte und wollte sich nicht einstellen. »Marie, hast das Auto g’hört?«, fragte er leise.

»Lass mi«, grummelte sie zurück. »A Auto, na und? Werd sich ebban verfahrn haben.«

Schölzeler schloss die Augen. Er wälzte sich nach links, nach rechts, immer wieder. Irgendwann fand er endlich in den Schlaf. Wenn auch nur kurz.

Poch, poch, poch machte es. Poch, poch, poch! Es war das dritte Mal in dieser Nacht, dass Schölzeler aufwachte. Der Wecker zeigte 2 Uhr.

Der verdammte Sturm, was nur hörte er da draußen in der Nacht? Brach der Wind die Äste der Tanne und warf sie gegen das Haus? Nein, das waren keine Äste, dachte der Wirt, mit klarerem Verstand. Schölzeler schlüpfte aus dem Bett und kramte im Nachtkästchen nach seiner Taschenlampe. »Marie, aufwachen, da ist irgendwas los, draußen an unserer Tür, hörst des?«, flüsterte er seiner Frau zu.

Die öffnete langsam die Augen. »Des wer’n Betrunkene vom Ort sein. Adam, was hast’n die ganze Zeit, bist gar so unruhig die Nacht, jetzt schlaf endlich amal.«

Doch der Wirt trug schon seine Pantoffeln, er zog eine Strickjacke an und machte sich im Schein der Lampe auf den Weg nach unten. »Nein«, sagte er, »ich hab’s im Gespür, da stimmt was net.«

Schölzeler schlich die Stiegen hinunter. Vorsichtig näherte er sich dem Fenster, er hoffte, erkennen zu können, wer um Himmels willen nachts an seiner Tür polterte, dass einem ganz anders werden konnte. Poch, poch, poch, poch!

Schölzeler erkannte die Umrisse einer großen schwarzen Gestalt. Deren Mantel flatterte im Wind, die Hand schlug rhythmisch mit einem langen Stock gegen die Tür. Poch, poch, poch! Jetzt hörte der Wirt auch lautes Rufen, das vorher im Geheul des Sturms untergegangen sein musste. »Aufmachen, aufmachen.«

Schölzeler schlich zur Haustür. »Wer da?«, brüllte er zurück.

»Ich bin’s«, schrie es von draußen. »Mach auf, schnell.«

Den Wirt durchfuhr es wie einen Blitz. Das war doch die Stimme von … Jessas, wie konnte das sein?

Hastig drehte er den Schlüssel im Schloss und öffnete die Tür. Vor ihm stand, einem schwarzen Gespenst gleich, den Hut tief ins blutüberströmte Gesicht gezogen, mit wirren Augen: der Pfarrer, inmitten des Sturms, der heulte und den Regen durch die Lüfte peitschte. Die Wipfel der Bäume tanzten wie Derwische, und der Pfarrer schwankte mit ihnen.

»Was um Himmels willen ist passiert?«, schrie Schölzeler.

Der Geistliche schlug die Hände vor das Gesicht. »Schrecklich, es war so schrecklich«, flüsterte er. Er wirkte angetrunken.

Hinten, im Suldnertal, dem Tal, das mit Gottes Kirche endet, tobte unvermittelt der Sturm. In den alten Holzhäusern, die an den steilen Hängen des Tales klebten, ächzte das Gebälk. Die Suldner Bauern wälzten sich in ihren Betten, es war eine unheimliche Nacht. Ein paar von ihnen hatten das Auto vernommen, das in dieser heulenden Nacht mit quietschenden Reifen durch das Tal gebraust war. Von Sankt Gunhild über Sankt Christopherus, dann durch Sankt Andreas, und als es das Eingangstor zum Tal passierte, führte droben, am Rande der steilen Felsen, der Wirt Schölzeler den schwankenden Pfarrer in die Gaststube und rückte ihm einen Stuhl zurecht. Schwerfällig nahm der Platz und murmelte monoton, wie eine hängen gebliebene Platte: »Schrecklich, schrecklich, es war so schrecklich.«

Nur langsam kam der Pfarrer zur Ruhe. »Wirt, bringst an Cognac«, sagte er.

Schölzeler ging hinter den Tresen, nahm einen großen Schwenker aus dem Regal und schenkte großzügig ein. Dann setzte er sich auf die andere Seite des Tisches. »Was in aller Welt ist denn passiert?«, fragte er noch einmal.

Der Pfarrer hob den Kopf. Ein Auge war blau unterlaufen, die rechte Wange angeschwollen mit einer klaffenden Wunde, eine Lippe war aufgeplatzt, und alles war voller Blut, die Hände, der Hals, die Schläfen.

»Ich wurde überfallen, maskierte Männer waren im Pfarrhof«, sagte er. Seine Stimme zitterte, seine Hände auch. Dann stürzte er in einem Zug den Cognac hinunter. »Bitte noch einen!«

Schölzeler stand auf, holte die Flasche und stellte sie dem Pfarrer hin. Der schenkte sich ein, trank, schenkte sich ein, trank. Und schenkte sich wieder ein. Schölzeler sah schweigend zu.

»Jessas, der Hochwürden!« Marie stand im Türrahmen, im Nachthemd, über das sie eine graue Wolldecke geworfen hatte. Erschrocken und entsetzt hielt sie die Hand vor den Mund. »Sie sind ja verletzt«, sagte sie, drehte sich um und lief so schnell sie konnte die Treppe hoch in die Kammer, um sich gebührentlich anzuziehen und Verbandszeug zu holen.

Der Pfarrer berührte seine Wunde, verzog das Gesicht und schwieg. Es vergingen einige Minuten, bis er wieder sprach. »Räuber. Es waren Räuber, drüben bei mir Pfarrhaus. Zwei maskierte Männer. Sie haben mich überfallen und geschlagen.«

»Räuber?«, fragte Schölzeler, »hier bei uns, wo doch nix zu holen ist?«

Der Pfarrer sah ihn mit seinen glasigen Augen an und nickte. »Räuber.«

Schölzeler war sprachlos. Räuber im Haus eines Gottesdieners. Ausgerechnet dort. Was hatten sie sich erhofft? Schätze? Juwelen? Geld? Im Gotteshaus? Dann auch noch am Ende des Tals, wo es keinen anderen Weg heraus gab als den Weg, den man gekommen war. Ein Überfall in einer Sackgasse. Was mussten das für dumme Verbrecher gewesen sein?

»Wo gibt’s denn so was, Räuber im Pfarrhof?«, fragte er ungläubig.

Der Pfarrer wiegte den Kopf hin und her. »Furchtbar, schrecklich, grausig«, klagte er und verfiel ins Schweigen.

»Und dann?«, fragte der Wirt gespannt.

Der Pfarrer starrte auf das Glas, als könne er nicht fassen, dass es bereits wieder leer getrunken war. »Leer«, sagte er zu sich, »noch einen«, und schenkte unbeholfen nach.

»Soll ich die Polizei rufen? Und den Doktor?«, fragte Schölzeler.

»Räuber«, wiederholte der Pfarrer kopfschüttelnd. »Zwei maskierte Männer, sie haben mich geschlagen.« Als wollte er sich selbst sortieren, legte er beide Hände auf den Tisch, rückte sie so lange zurecht, bis er meinte, sie lägen genau parallel nebeneinander, dann erst nahm er den Blick von seinen Gliedmaßen und sah Schölzeler an. »Hab mich gewehrt, so gut ich konnte.«

»Mutig sind Sie«, sagte Schölzeler, »aber erzählen Sie doch, was genau geschehen ist!«

Der Pfarrer beäugte seine Hände, als gehörten sie nicht zu ihm.

Schölzeler überlegte, ob der Pfarrer, angetrunken wie er schon gewesen war, als er bei ihm auftauchte, in Wirklichkeit die Stiegen hinabgestürzt war und ihm nun eine Mär von Räubern erzählte.

Der Pfarrer löste endlich seine Hände vom Tisch und begann sie zu kneten. »Irgendwie bekam ich eine schwere Vase zu packen«, sagte er, ballte dabei die rechte Hand zur Faust und schlug in die Luft. »Damit habe ich die Diebe vertrieben, ja, damit habe ich sie aus dem Haus gejagt. Dann habe ich von innen die Tür versperrt.« Er bemühte sich, seinen schwankenden Kopf ruhig zu halten, um Schölzelers Augen zu fixieren. »Ja«, sagte er verschwörerisch, »so war das.«

Schölzeler nickte. »So also war das. Was ist nun mit dem Arzt und der Polizei?«

Der Pfarrer hob das leere Glas, sah hinein und trank aus, was nicht drinnen war.

Schölzeler schenkte nach. »Ich rufe sie an«, sagte er, »die Polizei und den Doktor.«

Während er zum Telefon ging, hörte er den Pfarrer weiter vor sich hin brabbeln. »Die Räuber, überfallen und geschlagen haben sie mich. Mit der Vase habe ich sie verscheucht. Dann habe ich gewartet, lange gewartet, bis ich nichts mehr gehört habe von denen. Als ich glaubte, dass sie weg waren, habe ich mich rausgetraut und bin hergekommen.« Der Pfarrer schlug die Hände vors Gesicht und begann zu weinen. »Räuber«, schluchzte er ohne Unterlass, während Schölzeler in Stems, der nächsten Stadt drunten im Tal, Hilfe anforderte.

Endlich kam Marie. Sie hatte sich die Haare sorgsam zum Kranz geflochten und trug ihr gutes Kleid. Weil sich das so gehört vor dem Pfarrer. Auch jetzt. Sie bebte am ganzen Leib, als sie sich dem Pfarrer näherte, um dessen Wunden zu versorgen. Zaghaft, als bestünde der Geistliche aus feinstem Porzellan, tupfte sie das Blut ab und klebte ein Pflaster auf die Wunde.

Der Pfarrer stierte eine Weile vor sich hin, dann wandte er sich Schölzeler zu. »Was meinst, sollen wir noch amal rübergehn? Nachschaun, was sie alles mitgnommen haben? Mein Geld?«

Der Wirt zögerte einen Moment. Dieser Sturm, dieser Traum, eine solch unheimliche Nacht mit einem Verbrechen. Er hatte Angst. »I geh amal schaun«, sagte Schölzeler, zog einen langen Mantel über den Schlafanzug, nahm sich die Taschenlampe und zur Sicherheit das längste Küchenmesser, das die Küche des Sternhofs hergab.

2. Kapitel

Der Dienstag beginnt wie jeder andere Tag auch. Moritz Mertens schlägt zwei Mal den Wecker aus, bevor er aus dem Bett steigt und in die Küche geht. Mit einer Tasse Kaffee tritt er anschließend auf den Balkon und zündet sich eine Zigarette an. Die Glocken der Frauenkirche ertönen, am Himmel steht die Sonne. Die Berge erscheinen näher denn je, und der Wind bläst wärmer, Föhn über München. Als wieder Stille einkehrt und die Glocken schweigen, geht Mertens ins Wohnzimmer zum Plattenregal. Er greift nach Gustav Mahler, 3. Symphonie, greift nach Erhabenheit, nach Geheimnis, einer Melange aus Schwermut und Fröhlichkeit. Er hat sich längst daran gewöhnt, mit seinen schwankenden Stimmungen zu leben. Mal glücklich, mal anders – traurig will er es nicht nennen, eher voller Schwere. Jetzt ist ihm nach Moll.

Er setzt sich auf den Balkon, fischt eine zweite Zigarette aus der Packung. Unter ihm quetschen sich die Autos durch die engen Straßen. Der Berufsverkehr hat begonnen. So sitzt er eine Weile, sinniert vor sich hin, wie jeden Morgen. Nach der dritten Zigarette und der dritten Tasse Kaffee geht er ins Bad. Im Spiegel sieht er einen abgespannten Mann. Bist alt geworden, sagt ihm sein Gegenüber. Sehe trotzdem noch ganz gut aus, erwidert Mertens.

Aber es stimmt, sein Lebensstil, der von Rastlosigkeit und wenig Schlaf geprägt ist, und die vielen Zigaretten haben sich in sein Gesicht eingegraben. Mertens ist 55 Jahre alt, ziemlich zerfurcht, dafür hat er einen erstaunlich jugendlichen Körper, was er dem Training, dem vielen Joggen, dem Fahrradfahren hin und her durch die Stadt und dem Treppensteigen zu verdanken hat. Die Frauen, die vielen, die in sein Leben gekommen waren und die er dann wieder gehen ließ, sie hatten sich an den Furchen im Gesicht nicht gestört, auch nicht an seinem lichter werdenden Haar. Er hat Ausstrahlung, hat Charisma, faszinierende Augen und eine wunderbar tiefe, verrauchte Stimme.

Mertens steigt in die Dusche, wird unter dem kühlen Wasser langsam wach. Auf dem Plattenteller dreht sich Mahlers letzter Akt. Die Sängerin wechselt sich mit den Hörnern ab. »O Mensch, gib acht«, klingt es aus dem Wohnzimmer. Mertens hat fertig geduscht, er zieht Jacke und Hose an. »Die Welt ist tief, und tiefer als der Tag gedacht, tief ist ihr Weh.«

Er schließt die Balkontür. »Doch alle Lust will Ewigkeit – will tiefe Ewigkeit.« Die Sängerin beendet ihre Arie, Mertens steckt die Platte zurück in die Hülle, nimmt Schlüssel und Tasche vom Bord, verlässt die Wohnung und verriegelt die Tür. Er verschwindet im Aufzug und rauscht zwölf Stockwerke in die Tiefe.

Unten klemmt er die Tasche auf den Gepäckträger, steigt auf sein Rad und fährt los. Die Luft ist schon aufgeheizt und benzingeschwängert, Mertens entscheidet sich für den Weg durch den kühlen Park. Nach den vielen Nachtschichten der vergangenen Wochen hat er heute endlich mal etwas weniger Hektik. Sein Termin im Präsidium ist erst auf 10 Uhr angesetzt. Zeit genug, um gemächlich durch das dichte Grün des Parks zu radeln, vorbei am Kleinhesseloher See, vorbei am Chinesischen Turm, an dem die Lieferanten gerade Waren bringen, das Bier, die Hendl, die Brezen. Mertens passiert das Haus der Kunst und erreicht schließlich sein Ziel, das ziegelrote Gebäude, in dem er seit Jahrzehnten seinen Dienst tut. Am Eingang zeigt er dem Pförtner seinen Ausweis, obwohl ihn jeder in diesem Haus kennt. Er ist nicht irgendjemand, er ist einer der besten. Man nennt ihn, den leitenden Beamten der Münchener Mordkommission, im Polizeipräsidium den Superbullen. Einen Beinamen, den ihm auch die Presse gibt, die oft über seine Erfolge berichtet. »Der Superbulle hat wieder aufgeklärt.« Draußen, wo das Verbrechen herrscht, beim Drogenhandel, bei der Prostitution, bei Bandenkriegen, also auf der anderen Seite, ist er gefürchtet. Mertens hat einen Riecher wie kaum ein anderer. Und er ist ausgestattet mit der Gabe zur ausgeprägten Kombination. Zudem wird er von Ehrgeiz getrieben. Er lässt so schnell nicht locker. Kriminalhauptmann, sein Beruf ist seine noch größere Leidenschaft. Eine größere Passion als die für Musik.

Pünktlich um zehn klopft er an die Tür seines Vorgesetzten, des Polizeipräsidenten der Stadt. »Herein«, hört er dessen Stimme sagen. Mertens tritt ein. »Guten Morgen, Mertens, setzen Sie sich«, sagt der Präsident. »Kaffee?«

Mertens nickt und nimmt auf einem alten Stuhl Platz, der, wie er vermutet, genau an dieser Stelle steht, seitdem man ihn in das Zimmer des Präsidenten getragen hatte. Seit vielen Jahren kennt Mertens dieses Büro, oft hat er sich hier mit seinem Chef besprochen, und niemals konnte Mertens auch nur die geringste Veränderung in der lieblosen, funktionalen Einrichtung feststellen. Einzig die Landesfahne, die in Miniaturform auf dem Schreibtisch des Präsidenten thront, wechselt ihren Platz. Dann nämlich, wenn der Präsident seine Nervosität an ihr auslässt und sie während seiner Instruktionen oder Besprechungen mit dem Finger hin und her schnipst.

Der Präsident gießt zwei Tassen ein und lehnt sich in seinem Stuhl zurück. »Ich weiß nicht so recht, wie ich anfangen soll«, sagt er. »Eine heikle Sache. Eine vollkommen undurchsichtige Angelegenheit. Man sagte mir, ich solle meinen besten Mann mit dem Fall beauftragen.« Er lächelt Mertens an, dessen Miene unbewegt bleibt. Er kann mit dem Mythos, der um ihn rankt, nicht viel anfangen. Superbulle, fehlt noch, dass der Präsident ihn jetzt wieder »Superbulle« nennt, denkt er bei sich.

Der Präsident zeigt auf einen Berg Akten, die neben seinem Tisch zwei Kisten füllen. »Hier«, sagt er, »prüfen Sie den Fall und schauen Sie, ob Sie verwertbare Hinweise finden.«

Mertens wirft einen kurzen Blick auf den Stapel. »Wer ist man?«, fragt er. »Wer sagte Ihnen, dem Präsidenten der Polizei, er solle seinen besten Mann nehmen? Danke übrigens für das Kompliment.«

Der Präsident windet sich. »Ich hatte bereits erwähnt, es ist etwas heikel. Ein Fall, der sich 1972, sprich vor zwei Jahren, in einem Tal in Tirol zugetragen hatte. Im Suldnertal, sagt Ihnen das was?«

Mertens schüttelt den Kopf. »Was haben wir in München mit dem Suldnertal zu tun? Vor allem mit einem Mord, der vor zwei Jahren stattgefunden hat? Haben die nicht einen eigenen Kommissar?«

»Der Fall zieht immer noch große Kreise. Es ist ein ziemliches Durcheinander, und nichts ist gewiss.« Er schubst die Landesflagge ein paar Zentimeter nach rechts, dann ein klein wenig nach vorne. »Mehr kann ich Ihnen auf die Schnelle auch nicht sagen.« Er zeigt die Ordner. »Arbeiten Sie den Stapel durch, dann sehen wir weiter. Wie lange werden sie brauchen? Ein, zwei Wochen?«

Mertens zuckt mit den Schultern. »Ich werde mein Bestes geben.«

»Wie immer, wie immer«, sagt der Präsident. »Ich lasse Ihnen die Ordner ins Büro bringen. Wenn Sie damit durch sind, melden Sie sich bei mir. Wir besprechen dann das weitere Vorgehen.«

Mertens nickt. Er verabschiedet sich und geht langsam die Treppen hinauf in sein Büro.

Er fühlt, trotz aller Begeisterung für seinen Beruf, dass er etwas ausgelaugt ist, fühlt, dass er allmählich in die Jahre gekommen ist, abgearbeitet und ernüchtert, von all den Schicksalen, die hinter Verbrechen steckten, von Opfer und Täter. Er will keine großen Fälle mehr. Schon gar keine, die angeblich so verfahren sein sollen, dass man nicht mal sagen kann, um was es eigentlich geht.

Wieso wird er, ein Münchner Kriminalbeamter, mit einem Fall beauftragt, der sich so weit weg zugetragen hat? Vor zwei Jahren? Er zündet sich eine Zigarette an, die vierte an dem Tag. Eigentlich hatte er schon lange aufhören wollen zu rauchen. Seit zehn Jahren versucht er es, vergeblich. Spätestens am dritten Tag war er jedes Mal gescheitert, und die Menschen um ihn herum dankten es ihm. Bisweilen schenkten sie Mertens nach den ersten drei Stunden seiner Entsagungsversuche eine Schachtel seiner Lieblingsmarke, damit Schluss war mit der verpesteten Luft, die Mertens ganz ohne Nikotin und Qualm in seinen Abstinenzstunden, von Tagen war ja nie die Rede, verbreitete.

An der Tür klopft es. Zwei junge Polizisten stehen davor, mit den Kisten voller Ordner. »Ziemlich viel Arbeit«, sagen sie und grinsen dabei etwas hämisch.

Mertens findet, es ist der falsche Text an diesem Vormittag. »Hierher«, murrt er.

Dann öffnet er das Fenster. Die Sonne wärmt sein Gesicht, ein wenig auch sein Gemüt. Er beobachtet die Passanten, die auf der Straße ihrer Wege gehen, eine junge Frau, die einen Kinderwagen vor sich her schiebt, einen älteren Herrn, der am Stock geht, zwei Geschäftsleute mit Aktentaschen, einen herrenlosen Hund. Lange steht Mertens so da, tatenlos, einfach nur so. Das Zimmerthermometer zeigt 24 Grad an diesem Sonnensommertag. Dennoch fröstelt es ihn. Er spürt die Ordner im Rücken, als warteten sie auf ihn, drängten und bedrängten ihn. Irgendwie merkwürdig, denkt er, heute ist doch eigentlich ein Tag wie jeder andere, ein Dienstag. Ich werde mit einem Fall beauftragt, was beileibe nichts Neues ist. Wahrscheinlich ist es sein Riecher, der ihn das kommende Unbehagen ahnen lässt.

Die Kirchenglocken schlagen 12 Uhr. Sollte er erst essen gehen, bevor er sich ans Suldnertal setzt? Draußen verlassen Kollegen mit lauten Sirenen den Hof. Mertens steckt sich die nächste Zigarette an, nimmt einen tiefen Zug. Dann greift er zum ersten Ordner, auf dessen Rücken »Akte 72/1 – die Tatnacht« steht, schlägt ihn auf und beginnt zu lesen.

Er liest und er vertieft sich. Er liest unermüdlich, bis in München die blaue Stunde anbricht. Die Sonne versinkt hinter den Bergen, bald wird sich die Nacht über die Stadt legen. Der Berufsverkehr lässt nach, draußen kann man wieder Vogelgezwitscher hören. In ein paar Räumen des Polizeipräsidiums brennt schon Licht. Auch in dem von Kriminalhauptmann Moritz Mertens. Der ist erschöpft, hat Kopfschmerzen, die Buchstaben tanzen vor seinen Augen, und die Fotos verschwimmen. Längst hätte er schon zu Hause sein wollen. Doch das, was er vor und neben sich liegen hat, erscheint ihm so unfassbar, dass er sich der Geschichte nicht entziehen kann. Derart in Bann gezogen ist er, dass er weder Hunger noch Durst verspürt. Das Mittagessen in der Kantine hat er vergessen, der Appetit auf ein Abendessen ist ihm vergangen in Anbetracht dessen, was sich im Suldnertal vor zwei Jahren abgespielt hat. Und auch, was danach geschehen war.

Mertens schließt die Augen und atmet tief durch. Der Rücken schmerzt vom langen Sitzen. Eine Runde um den Block, dann weiter, denkt er und verlässt das Büro. Er schlendert die Straße auf und ab, die Läden sind bereits geschlossen, die tagsüber wuselige Fußgängerzone ist bis auf ein paar Jugendliche nahezu menschenleer. Mertens kehrt ins Augustiner Bräu ein und bestellt sich ein Weißbier und eine Portion Leberkäs. Entspannen kann er nicht, das Suldnertal geht ihm nicht aus dem Kopf. Er trinkt das Bier aus, den Leberkäs lässt er zur Hälfte stehen.

Zurück im Büro zündet er sich eine weitere Zigarette an und nimmt sich den nächsten Ordner vor, drei Stunden später einen weiteren. Zwischendurch, wenn im Aschenbecher keine Kippe mehr Platz findet, steht er auf, kippt sie in den Müll, tritt ans Fenster und blickt über die Dächer in die Nacht.

Mertens kennt seine Stadt buchstäblich wie seine Westentasche. Die Villen in Bogenhausen und Grünwald, die wohlhabende Gesellschaft im südlichen Teil seiner Stadt. Er kennt auch den Norden, die verwahrlosten, vergessenen Hochhäuser am anderen Ende Münchens, im Hasenbergl, in der Wintersteinstraße, wo der Wind Plastiktüten in die Büsche weht und es überall nach Urin stinkt.

Mertens kennt jeden Laden um den Hauptbahnhof herum, die Kaschemmen, in denen Frauen tanzen und sich hingeben, weil sie nicht mehr anders können.

Er kennt die »Schwabinger 7«, morgens um vier, wenn dort abtaucht, wer nicht gesehen werden will. Er kennt auch die Toiletten der »Eisdiele Adria« in der Leopold­straße, wenn sie Leblose gefunden haben, und er kennt die Räumlichkeiten des »Drugstore«, wo der Name Programm ist und die Drogen ihre Opfer fordern.

Dahinter fängt Kleinitalien an, mit der Pizzeria, in der man nur stehen, aber unter mindestens hundert Pizzen wählen kann, mit Thunfisch, Peperoni, Knoblauch, Schinken, Salami, Ei und Artischocken und, und, und. Auch morgens um fünf, wenn der Kriminalhauptmann Mertens dort zum Abendessen oder zum Frühstück oder zum Mittagessen einkehrt – so genau kann er das bei seinen unendlichen und übergangslosen Tages- und Nachtschichten nicht mehr bestimmen.

Er kennt sich ebenfalls aus in den engen Gassen der Altstadt, in denen gemauschelt und verschoben wird, manchmal auch gestorben oder gemordet. Mertens weiß von all den Schicksalen der Menschen, die hier leben und lieben und leiden und betrügen und töten.

Er liebt München, das beschauliche, das sich »Weltstadt mit Herz« nennt, er liebt diese Stadt, auch wenn ihr Herz kalt sein kann und an manchen Tagen stillzustehen scheint.

Inzwischen erhellt nur noch das fahle Licht der Laternen die Straßen. In den Häusern sind die letzten Lampen erloschen. Ein Obdachloser torkelt mit zwei Plastiktüten am Präsidium vorbei. Mertens kennt ihn. Es ist Willi. Seit Jahren zieht der verwirrte Mann durch Münchens Altstadt, Hilfe will er keine. Ein Dach über dem Kopf würde ihm die Kehle zuschnüren, weil die Sterne des Himmels fehlten, hatte er Mertens mal gesagt, bevor er in den Schlafsack schlüpfte und sich auf dem warmen U-Bahnschacht dem Schlaf hingab.

Ein Streifenwagen fährt in den Hof. Kollegen zerren einen jungen Mann heraus, dessen Gliedmaßen aussehen, als wären sie, wie bei einer Stoffpuppe, am Körper angenäht. Arme und Beine wackeln hin und her, während die Beamten ihn fluchend in die Nachtwache schleppen.

»Verdammte Scheiße, jetzt kotzt er auch noch«, brüllt einer der Polizisten.

Mertens schließt das Fenster. Es ist kühl geworden. Noch eine Zigarette, dann ist Schluss für heute, denkt er.

Gegen 4 Uhr morgens fallen ihm die Augen zu, eine Stunde später wacht er wieder auf, blättert in einem weiteren Ordner herum, klappt ihn schließlich zu. Es ist genug. Mertens zieht sich die Jacke über und schließt die Tür seines Büros. Die Pförtner wünschen ihm eine gute Nacht, um 5:30 Uhr morgens.

Im Hof löst er das Schloss vom Rad und macht sich auf den Weg nach Hause. Als Mertens durch den Englischen Garten fährt, wird es allmählich hell, die Amseln begrüßen den jungen Tag, und auf einer Bank sitzt, eng umschlungen, ein Liebespaar, für das die Nacht zum Tag geworden war. Mertens lächelt. Ist so wie einst, denkt er, und erinnert sich der vielen Nächte, in denen er mit seinen Mädchen, bevor sie zusammen in die Eisdiele, ins Kino oder gleich ins Bett gingen, auf einer dieser Bänke hier gesessen hatte. Aber das ist lange her. Mertens ist in die Jahre gekommen, er arbeitet zu viel, hat zu wenig Zeit, für sich, für die Frauen. Und für Lisa insbesondere. Sein Beruf nimmt alle Zeit in Anspruch.

Als er zu Hause ankommt, holt er ein Bier aus dem Kühlschrank und setzt sich auf den Balkon. »Absacker zum Frühstück«, murmelt er und prostet einer Krähe zu, die lautlos an ihm vorbeifliegt. Zum Ende seiner Nacht raucht er die letzte Zigarette, oder ist es zum Anfang des Tages? Das Neongelb der Weckerziffern zeigt 6:27, als Mertens ins Bett geht. Er ist so übermüdet, dass er nicht weiß, ob er noch wach ist oder schon schläft. Er hat die Augen geöffnet und starrt an die Decke. Seine Gedanken sind nicht hier, sie schwirren in der Ferne umher, in einem Tal, in dem er noch nie gewesen ist. Dort sieht er Menschen vor sich, die er noch nie getroffen hat, dort sieht er den Tod.

3. Kapitel

Welch Ereignisse, Enttäuschungen, manchmal schreckliche Erlebnisse lassen Gläubige vom Glauben abfallen?

Und wie tief kann dann der Fall sein? Bis in die Hölle, wenn sie auf betrügerische Geister und die Lehren von Dämonen hereinfallen. Sie haben keinen Halt mehr, sind Verdammte, Abtrünnige. Sie werden verflucht sein bis in alle Ewigkeit, diese Ungläubigen.

Als Adam Schölzeler die Haustür öffnete und ins Freie trat, peitschten ihm Wind und nasse Schwaden ins Gesicht. Auch noch Regen, dachte er. Geduckt lief er durch die finstere Nacht. Über den Bergzinnen hingen schwere Wolken. Es war Schölzelers Gang in den Abgrund, denn er sollte in dieser Nacht den Glauben verlieren. An sich, an die Gunhildner und bald auch an den Pfarrer und an Gott.

Der Pfarrhof lag 100 Meter vom Gasthaus entfernt. Der Weg dorthin war uneben, vom Regen aufgeweicht und voller Pfützen. Wasser drang Schölzeler in die Schuhe. Er verfluchte diese Nacht.

Die Eingangstür des Pfarrhofs war zu, aber nicht verschlossen. Das Messer fest umklammert, öffnete er sie leise. »Hallo, ist wer da?«, flüsterte er mehr, als er rief. Wia deppert, dachte er, wia deppert. Wenn’s noch da san, wern’s doch net sagen: »Ja, mia san in der Stubn, kimm eini zu uns. Trinken wir a Glaserl.«

Im oberen Stockwerk, dort, wo sich das Büro und die Schlafstube des Pfarrers befanden, brannte schwaches Licht. Der Wirt lauschte in die Stille. Es war so ruhig, dass er fürchtete, sein Herzklopfen würde ihn verraten. Die sind weg, die Kerle, die sind weg, sagte er sich immer wieder. Eine Zeit lang stand er im Türeingang. Dann fasste er sich ein Herz und trat ein.

Er kannte sich aus in diesem Haus, seit Jahren ging er hier ein und aus. Er wusste genau, wie der Pfarrer lebte. Vor drei Monaten, als der Pfarrer von Tulfers nach Sankt Gunhild versetzt worden war, war Schölzeler ihm zur Hand gegangen. Er hatte Möbel, Koffer, Säcke geschleppt und einen Fernseher, den zweiten Fernseher überhaupt im ganzen Tal. Schölzeler hatte mit ausgepackt, mit eingerichtet. Anschließend hatte noch ein kleiner Umtrunk stattgefunden, für die Helfer.

Der Wirt trat auf die erste Stufe der Treppe, die so laut knarzte, dass ihm das Herz vor Schreck fast stehen blieb. Er hielt inne. Und wartete, bis er der Stille vertraute. Es schien ihm eine Ewigkeit zu dauern. Nein, sie waren nicht mehr da, redete er sich ein und stieg langsam weiter die Treppe hinauf. Die Tür zum Büro stand weit offen. Spuren eines Kampfes waren zu erkennen, eine zerbrochene Vase, ein paar Meter weiter lag eine Sonnenbrille, Schölzeler hob sie auf. Feuchtes Blut klebte an ihr. Schölzeler betrachtete sie lange und legte sie dann vorsichtig auf den Boden zurück, genau dorthin, wo er sie aufgehoben hatte.

Dann betrat er das Büro. Auch hier fand er Spuren des Überfalls, auf dem Tisch lag eine weitere Scherbe der Vase, voller Blut. Die Schublade des Tisches war herausgezogen worden, nicht aber in Unordnung geraten. Die Geldbörse schien unangetastet, zumindest fand Schölzeler darin mehrere Tausend Schilling. Ansonsten fiel Schölzeler nichts Besonderes auf. Er warf einen Blick ins Schlafzimmer. Es war ordentlich, keinesfalls verwüstet, die Bettdecke zurückgeschlagen.

Der Wirt machte sich auf den Rückweg. Schnell stieg er die Stiegen hinab, knipste das Licht aus und trat in den Sturm. Es war 2.15 Uhr, der Regen hatte etwas nachgelassen.

Als er wieder in die Gaststube kam, hockte der Pfarrer mit unverändert leerer Miene auf dem Stuhl. Marie saß ihm schweigend gegenüber und betrachtete ihn wie die sorgende Mutter ihr Kind. Die Cognacflasche war leer.

»Und?«, fragte der Pfarrer.

»Nichts«, sagte Schölzeler, »hab’s gsehn, des Durcheinander. Schlimm, schlimm.«

Der Pfarrer nickte müde.

»I lass euch dann, geh wieder ins Bett«, sagte Marie und zupfte nervös an ihrem Kleid. »Es werd morgen wieder a anstrengender Tag wern, gute Nacht, Herr Pfarrer.« Sie zog die Tür hinter sich zu und stieg nach oben.

Die beiden Männer saßen eine Weile stumm da. An der Wand tickte die Uhr, die Zeiger standen auf 2:45 Uhr. Draußen holte der Sturm kurz Atem und prallte dann mit erneuter Wucht gegen die Fenster. Der Pfarrer zeigte auf das leere Glas. »Hast noch einen?«, fragte er.

Der Wirt öffnete eine neue Flasche. Trinkt nicht schlecht, unser Hochwürden, dachte er. Er musterte den Pfarrer, wie der das Glas füllte und den Cognac hinunterkippte.

»Was für eine Nacht, hoffe, die Polizei ist bald da, von der Stadt rauf wern’s wohl a knappe Stund brauchen«, sagte der Pfarrer und blickte mit leeren Augen durchs Fenster in die tiefschwarze Nacht.

Schölzeler betrachtete den Pfarrer nachdenklich. Etwas jünger sah er aus, als er war. 35 Jahre, hatte man gesagt, sei er. Sein ernster Blick, die Sorgenfalte zwischen den dunklen Brauen, sie zeigten, dass er es nicht leicht gehabt hatte im Leben. Wirklich gut kannte Schölzeler ihn nicht, dazu war die Zeit nach dessen Versetzung von Tulfers in die kleine Gemeinde zu kurz gewesen. Aber bis jetzt schien er Sankt Gunhild ein guter Hirte zu sein. Die Menschen mochten ihn, fassten schnell Vertrauen. Vor allem die Frauen und jungen Menschen verehrten ihn, wenn er von der Kanzel sprach, mit ruhiger, sanfter Stimme. Und wenn er die Beichte abnahm, schütteten sie ihm ihr Herz aus.

Muss nicht einfach für den Pfarrer gewesen sein, dachte der Wirt, von der schönen, lebendigen Stadt hierher versetzt worden zu sein, in die Stille, ans Ende der Welt.

Das Suldnertal. Es war ein armes Tal, in dem die Zeit zum Stillstand gekommen war, vor allem ganz hinten, am Ende unter den hohen Felsen. Dort stehen die alten Höfe wie ehedem mit ihren winzigen Fenstern und den tiefen Decken. Sensen hingen an den Wänden und allerlei Feldgerät, mit dem die Bauern die steilen Hänge bewirten. Selten hatte die Ernte gereicht über die harten Winter, wenn sich der Schnee wie ein dicker, schwerer Teppich über die Gehöfte legte. In grauer Vorzeit umschlichen Bären und Wölfe die Häuser, Lawinen polterten ins Tal und Muren aus Steinen, Schlamm und Erde. Die Menschen am Ende der Welt lebten in Armut, sie arbeiteten, um zu leben, lebten, um Gott zu gehorchen und ihm in Demut zu dienen, auch wenn das Leben oft nicht lebenswert war.

Und ausgerechnet hierher, wo heute die Armut noch gegenwärtig war und all die ergebene Gottesfurcht, wo die Frauen kleine silberne oder blecherne Kreuze am Hals trugen, wo die Menschen sonntags sich auf einen mühevollen Gang zur fernen Kirche machten, um Ergebenheit und Demut zu zeigen, an diesen Ort also hatte man den Pfarrer versetzt. Zu jenem Zeitpunkt war es trotz des beschwerlichen Lebens noch friedlich im Suldnertal gewesen, die Menschen halfen einander bei Not und Elend. Die Männer saßen nach dem Kirchgang und an so manchen Abenden zusammen im Sternhof. Die Frauen trafen sich in den Stuben, mal beim Fieglbauern, mal beim Kranzler und wie sie alle hießen. So ging es über Jahrzehnte, man sprach miteinander, man zeigte nicht mit dem Finger aufeinander, man argwöhnte nicht und neidete kaum.

Es sollte sich ändern, nichts sollte mehr so bleiben wie bisher. Denn das Unheil brach über das Tal, als der neue Pfarrer nach Sankt Gunhild zog, zusammen mit der Haushälterin Zita Hofer, die bei ihm lebte und ihm zur Hand ging. Zita war eine Frau mittleren Alters von zarter, schöner Gestalt, mit heller Haut und dunklen Ringen unter den Augen.

»Oh Gott«, sagte Schölzeler plötzlich zum Pfarrer. »Die Zita Hofer! Was ist mit ihr? Geht es ihr gut? Hat sie was mitkriegt von den Räubern?«

Der Pfarrer hob langsam den Kopf und sah Schölzeler mit müden Augen an. »Die Zita, mein Gott, die Zita!«

Schölzeler schnellte vom Stuhl in die Höhe und warf sich den nassen Mantel über. »Gschwind«, sagte er, »wir gehen nachschauen.«

Der Pfarrer erhob sich mühsam. Der Cognac ließ ihn gefährlich schwanken. Gemeinsam kämpften sich die beiden Männer durch den peitschenden Wind hinüber zum Pfarrhaus.

Leise öffneten sie die Haustür. Es brannte noch das Licht im oberen Stockwerk. Schwach wies es ihnen den Weg den schmalen Gang entlang, an dessen Ende Zitas Zimmer lag, vorbei an der Küche, vorbei an den zwölf Aposteln, die an der Wand das letzte Abendmahl zu sich nahmen, vorbei an dem Kruzifix, das dahinter hing, vorbei an einem Steinbehälter, in dem zwei Regenschirme und ein Spazierstock steckten.

Jetzt standen sie vor Zitas Tür. Stockfinster und kühl war es in diesem Bereich des Hauses.

»Zita«, sagte der Pfarrer flüsternd. Keine Antwort.

Schölzeler klopfte zaghaft an. »Zita, schlafst?«, fragte er mit festerer Stimme in die Stille, in die nur der Wind heulte. Nichts regte sich. Der Wirt pochte abermals an die Tür, lauter dieses Mal. »Schlaft aber fest, die Häuserin. Schaun wir nach, mach ma die Tür auf?«, fragte er den Pfarrer.

Der antwortete: »Sie sperrt eigentlich immer ab, wann’s schlafen geht.«

Schölzeler drückte die Klinke nach unten. Die Tür war offen.

»Zita, mir sans«, sagte der Pfarrer ins Dunkle.

Wieder kam keine Antwort. Der Wirt ertastete den Schalter und knipste das Licht an. »Allmächtiger …« Schölzeler blieben die Worte im Hals stecken.

Das Zimmer war verwüstet, Nachtkästchen, Stuhl und Tisch, die wenigen Möbelstücke, die sich in dem kahlen Raum befanden, lagen kreuz und quer übereinander. Die Vorhänge waren heruntergerissen, die Kleidungsstücke aus dem Schrank gerissen.

Und mittendrin in dem Durcheinander, im fahlen Licht der Glühbirne, die an der Decke baumelte, erblickten sie Zita Hofer.

Halb entblößt lag sie neben ihrem zerwühlten Bett, regungslos, Hände und Füße auf dem Rücken zusammengebunden. Das Gesicht war blutüberströmt, voller Kratz- und Bisswunden. Um ihren Hals war ein gelber Seidenschal gewickelt. Ein Bild des Grausens.

»Geh nachsehen, ob sie noch lebt«, befahl der Pfarrer.