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Heilung von Krankheit, Schutz vor dem Bösen und Weissagen der Zukunft - immer schon wurde den Runen eine unheimliche Kraft zugeschrieben. Und noch heute wenden sich Ratsuchende an Runenpriester in der Hoffnung, mehr Klarheit zu erlangen... Runen sind die ältesten Schriftzeichen der Germanen, überliefert vor allem durch Inschriften auf Steinen und Gegenständen. Ihre größte Verbreitung fanden sie im Skandinavien der Wikingerzeit, aber auch in Mitteleuropa wurden sie verwendet. Mit der Ausbreitung des Christentums verloren sie an Bedeutung, aber Anfang des 20. Jahrhunderts hauchten deutsche Magier und Mystiker der alten Tradition neues Leben ein. Die Edition Lempertz legt mit diesem E-Book ein Standardwerk neu auf. Aus dem Inhalt: Die Runen, Die Herkunft der Runen, Runen und Magie, Geheimrunen und viele weitere Kapitel für alle, die mehr über das Thema erfahren wollen.
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Seitenzahl: 693
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von Helmut Arntz
Impressum:
© 2009 Math. Lempertz GmbHReprint der 2. Auflage von 1944
Umschlagentwurf:Grafikbüro Schumacher, Königswinter
Printed and bound in Germany
ISBN: 978-3-939908-07-4
von Helmut Arntz
zum „Handbuch der Runenkunde“von Helmut Arntz
Reprint-Ausgabe 2007
Das Thema Runen ist nicht gerade leicht verdauliche Kost. Weder aus wissenschaftlicher Sicht noch vor dem Hintergrund seiner ideologischen Befrachtung, die kaum trennbar mit ihm verbunden ist. Wer sich heute wissenschaftlich oder aus bloßem Interesse mit Runen beschäftigt, erntet zumeist ein Naserümpfen und sieht sich nur allzu leichtin eine bestimmte politische Ecke gestellt. Kein Wunder: In der allgemeinen Folklore des Halbwissens werden diese so charakteristischenSchriftzeichen nach wie vor ausschließlich mit den alten Germanen und – natürlich – den Nazis in Verbindung gebracht.
Die Runenforschung, mangels authentischer Überlieferung und auf Grund dünner Quellenlage vielfach auf gewagter Interpretation, wenn nicht gar Spekulation fußend, eignete sich seit jeher dafür, auf die eine oder andere Weise instrumentalisiert zu werden. Vor allem in Skandinavien wurden eingehende Studien zu den Runenzeichen bereits im 16. Jahrhundert betrieben. Ab dem 19. Jahrhundert beginnt dann eine im modernen Sinn wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema. Ab den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts vereinnahmen schließlich – und unter Ignorierung des bis dahin erarbeiteten Forschungsstandes – die Nationalsozialisten die Runenzeichen für ihre Zwecke. Scheinwissenschaftlich als voralphabetische Schriftform definiert, dienen die Runen nun dazu, die germanischen Völker gewissermaßen und ganz im Sinne des ideologisch motivierten Überlegenheitswahns als „Erfinder“ der Schrift überhaupt darzustellen.
Einer der wenigen ernst zu nehmenden und renommierten Wissenschaftler, die sich in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts nachhaltig mit dem Thema Runen befassen, ist Helmut Arntz, Jahrgang 1912. Er promoviert 1933 in indogermanischer, germanischer und orientalischer Sprachwissenschaft und Philosophie und vertritt fortan die Kernthese, dass die Runenzeichen originär aus dem norditalienischen Raum, d.h. aus dem Etruskischen stammen. Als Arntz immittelbar danach seine akademische Laufbahn beginnt, sieht er sich, dessen wissenschaftlich gewonnene Erkenntnis im Widerspruch zur linientreuen Lehrmeinung steht, wechselnden persönlichen und beruflichen Schwierigkeiten bis hin zu Anfeindungen ausgesetzt.
1935 habilitiert sich Arntz in vergleichender Sprachwissenschaft und Runenkunde. Im gleichen Jahr veröffentlicht er sein Standardwerk, das „Handbuch der Runenkunde“, im Max Niemeyer Verlag, Halle/Saale. Auch darin rückt er nicht von seinen differenzierten Thesen über den Ursprung der Runenzeichen ab. Seine akademische Karriere bleibt deshalb weiterhin geprägt von einem stetigen Auf und Ab vor dem Hintergrund komplizierter Zeitumstände. Arntz meldet sich schließlich freiwillig zur Wehrmacht – nicht zuletzt, um dem latenten Druck auf seine Person zu entgehen – und begibt sich „im Felde“ an die Neubearbeitung seines Standardwerks, die unter den gegebenen Bedingungen vier Jahre Zeit in Anspruch nimmt.
Diese 1944 wieder im Niemeyer Verlag erschienene Ausgabe ist die Grundlage des hier vorliegenden Reprints. Bis heute stellt das „Handbuch der Runenkunde“ eine der maßgeblichen Studien zu diesem Thema dar, wenngleich es natürlich – wie sollte es auch anders sein – in Sprachduktus und wissenschaftlicher Argumentation den Geist der dreißiger und vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts spüren lässt. Dennoch bleibt es hoch interessanter Lesestoff für alle jene, die sich der Runenkunde jenseits aller mythischen Überhöhung und vordergründiger Ideologisierung nähern wollen.
Vorwort
Zur Umschrift
I. Die Stellung der Schrift
II. Kultschrift, Bild und Sinnbild
III. Zur Geschichte der Gebrauchsschrift
Ideenschrift und Lautschrift 18. — Die Gleichheit der Formen 18—20.
IV. Die Runen als Urschrift
V. Runen und lateinisch-griechische Schrift
1. Die Römerthese
2. Die Griechenthese
VI. Der norditalische Ursprung der Runenzeichen
1. Die Vorgänger
2. Die norditalischen Alphabete
3. CARL J. S. MARSTRANDER und MAGNUS HAMMARSTRÖM.
4. Die formale Herleitung der Runen
a, i, u, o 36. — e 37. — s, m, l, h 38. — n, t, 39. — b 40. — r 41. — k 42. — f, z 43. — p 44. — w 45. — g 46. — ŋ, j 47. — þ 48. — d 49. — ė 50.
5. Zeit und Ort der Übernahme
6. Die Kimbernthese
7. Die Val Camonica
8. Der Helm B von Negau
9. Die Alpengermanen
VII. Die altgermanische Runenreihe
1. Die alten Runenzeichen
2. Die Lautwerte
3. Die Richtung der Schrift
4. Trennungszeichen
5. Einfassungslinien
6. Doppellaute
7. Binderunen
8. Verkürzte Schreibung
9. Die Geschlechter
10. Die Reihenfolge
VIII. Die Entwicklung der Runenschrift
1. Das längere und das kürzere Fuþark
2. Die Entwicklung der gemeinnordischen Runen
3. Die Heimat des kürzeren Fuþarks
4. Die schwedisch-norwegischen Runen
5. Die schwedichen Runen
6. Die dänischen Runen
7. Das vollständig punktierte Runenalphabet
8. Die dalekarlischen Runen
9. Zur jüngeren Runenschrift (Trennungszeichen)
10. Die Runen bei den Ostgermanen
11. Die gotische Schrift
12. Die Runen bei den Deutschen
13. Die Runen bei den Nachfahren der Ingwäonen
IX. Germanische vorrunische Kultschrift
1. Stein- und bronzezeitliche Felsritzungen
2. Bilder und Zeichen im Dienst der Sonne
3. Felszeichnungen und Runenschrift
4. Das Fortleben des Kults der Bronzezeit
5. Runen als Erben der Sinnzeichen
6. Die Bilder und Zeichen der Val Camonica
7. Vorrunische Zeichen und Runen. Ein forschungsgeschichtlicher Überblick
X. Die Runennamen und ihre Bedeutung
A. Die Quellen der nordischen Namen
B. Die gotischen Buchstabennamen
C. Die englischen Runennamen
D. Überlieferung und Schrifttum
E. Frühere Deutungen der Runennamen
F. Der Ausgangspunkt für die Deutung der Runennamen
G. Die Namen der einzelnen Runen
f, u 188. — þ 189. — a 190. — r 195. — k 196. — g 201. — w 202. — h 203. — n 204. — i 205. — j, ė 206. — p 208. — z 210. — s 215. — b 220. — e, m, l 221. — ŋ 226. — d, o 229.
H. Die Namen der jüngeren Zeichen
got. quertra, ezec 229. — got. chozma, uuaer, ags. āc 230. — ags. sc, īr, ear 231. — ags. ior, cweorþ, calc 232. — ags. stān, gār 233.
XI. Zeugnisse für die Runen. Der Runen eigenes Wesen
1. Das Loswerfen
2. Die Runen als Gebrauchsschrift
3. Vom Kultzeichen zur Runenschrift
4. Nachklingen der Kultrunen im Volkslied
5. Die Frau als heiliges Wesen
6. Geschichte des Alphabetzaubers
7. Fuþark- und Zahlenmagie in Runeninschriften
8. Runengott und Runenmeister
XII. Werkstoff und technischer Wortschatz
Buch 281. — Stab 282. — wrītan 284. — faihjan 285. — Runensteine 290. — Ornamentik 292. — lesan 293. — Rune 294.
Register
Tafeln (mit Lesung und Deutung):
Der Helm B von Negau: I
Das Diadem von Straarup: II
Der Brakteat von Vadstena: II
Das Ortband von Thorsberg: II
Die Schnalle von Vi: II
Der Kamm von Vi: II
Die Zwinge von Vi: II
Die Lanzenspitze von Øvre Stabu: III
Der Brakteatenschmuck von Faxe: III
Zwei Erulerbrakteaten von Gotland: III
Der Brakteat von Overhornbæk: III
Die Felswand von Kårstad: IV
Der Stein von Möjbro: V
Die Lanzenspitze von Kowel: V
Das Beinstück von Lindholm: V
Der Lanzenschaft von Kragehul: VI
Der Stein von Gummarp: VI
Das Schrapmesser von Fløksand: VI
Das Steinchen von Valby: VI
Der Stein von Krogsta: VII
Der Stein von Kylver: VII
Inschrift des Horns von Gallehus: VIII
Das Webbrett von Lund: VIII
Die Bügelfibel A von Nordendorf: VIII
Die Runenreihen von Charnay, Kylver, Vadstena, Salzburg und des Cod. Cotton. Otho B X: IX
Die Runenreihe des Themseschwerts: IX
Der Stein von Huglen: IX
Die Halbsäule von Breza: IX
Die Steinplatte von Eggjum: X
Der Schrein von Auzon: XI
Der Stein B von Jellinge: XI
Das Rundholz von Oseberg: XII
Die Inschrift Nr. XVIII von Maeshowe: XII
Der Stein von Helnæs: XII
Das Kirchenportal von Hellvi: XII
Der Stein von Sundby: XIII
Der Stein von Ramsundsberg: XIII
Der Stein von Rök: XIV
Der Stein von Vanstai: XIV
Der Stein von Malsta: XIV
Der Stein von Hovgården: XV
Der Stein von Risbyle: XV
Der Stein A von Hällestad: XV
Der Stein C von Orkesta: XV
Der Herdpfeiler von Kullands: XVI
Das Alphabetstäbchen von Älfdalen: XVI
Verzeichnis der Textabbildungen.
Abb. 1, 2. Fibeln von Hallstatt
Abb. 3. Radnadel aus, der Umgegend von Ülzen
Abb. 4. Fibel von Hallstatt
Abb. 5. Radnadel von Klein-Süstedt, Kreis Ülzen
Abb. 6. Phönikische und alteuropäische Schrift
Abb. 7. Vergleiche der Runen mit antiken Alphabeten bis 1930
Abb. 8. Übersicht über die nordetruskischen (norditalischen) Alphabete
Abb. 9. Die o-Formen im Alphabet von Lugano
Abb. 10. Die fortschreitende Latinisierung in den Inschriften von SanBernardo und Persona
Abb. 11. Die gotische Schrift
Abb. 12. Die angelsächsischen Runen
Abb. 13. Sinnbilder von Rückseiten der Platten jungbronzezeitlicher Fibeln Schwedens und Dänemarks
Abb. 14. Sinnzeichen der neolithischen „ Salzmünder Kultur“
Abb. 15. Probe aus dem Codex Runicus
å (schwedisch und norwegisch) ist ein sehr offenes ō; in dänischen Wörtern meint aa den gleichen Laut. — A ist lautlich a, wird aber, da es aus der j-Rune hervorgegangen ist, zur Unterscheidung vom alten a groß geschrieben. Dieses geht über nasales a (geschrieben ą) in ein sehr offenes o (geschrieben ) über. — ø wird wie ö, æ wie ä gesprochen. — ė ist ein Zwischenlaut zwischen e und i (als geschlossenes e zu sprechen).
s ist immer stimmlos (wie in Roß). Stimmhaftes s (wie in Rose) wird durch z wiedergegeben. Im Norden geht z um 750 in eine Art r (geschrieben R, mit der Zunge in i-Lage zu sprechen) und um 900 in wirkliches r über. r ist stets Zungen-r.
þ ist der th-Laut von engl. thing (Zwischenlaut zwischen s und f ), w der w-Laut von engl. water (mit starker Lippenrundung). ŋ meint den ng-Laut von Finger. Die Runen für b, d, g bezeichnen sowohl diese stimmhaften Verschlußlaute wie die entsprechenden stimmhaften Reibelaute (ähnlich dt. w, die stimmhafte Entsprechung zu f ), đ (engl, that, die stimmhafte Entsprechung zu þ) und , auch — im Altenglischen — geschrieben (ähnlich j). h bezeichnet h und den ch-Laut von ach. j meint konsonantisches i.
In jüngeren (selten älteren) Inschriften ist der Nasal vor Verschlußlauten oft unterdrückt. Doppellaute werden fast stets durch einfache Runen bezeichnet. Ein Strich über einem Buchstaben bezeichnet die Länge; eine Klammer, daß er ergänzt ist; Punkte in Inschriftumschreibungen meinen unlesbar gewordene Runen; Punkte unter Runen zeigen an, daß die Lesung unsicher ist.
Durch die Ausbildung der Sprache scheint mir, gegen die gewöhnliche Meinung, die Buchstabenschrift nicht notwendig herbeigeführt, noch auch, umgekehrt, jene von dieser abhängig zu sein. Die Sprache könnte sogar in allen Richtungen auf das Feinste gegliedert bestehn, ohne daß sie zugleich geschrieben würde, gerade wie grammatische Untersuchungen sie nicht aufbauen.
WILHELM GBIMM.
Die Fähigkeit des Lesens und Schreibens, also die Kenntnis der Schrift, ist uns Maßstab der Bildung schlechthin. „Analphabeten“, heißt es z. B. in MEYERS Konv.-Lex.6 I, S. 473, [sind] „die des Lesens und Schreibens unkundigen Personen, deren Zahl, verglichen mit der Gesamtbevölkerung eines Landes, bezeichnend für den Kulturzustand eines Volkes ist“. Diese Einstellung wird augenscheinlich dadurch bestätigt, daß die heute noch schriftlosen Völker zu den „Primitiven“ gehören; auch auf andern Kulturgebieten haben sie nicht die Höhe der Schriftvölker erreicht und üben keinen irgendwie bestimmenden Einfluß auf die Geschehnisse der Gegenwart aus.
Die Formen unseres Zusammenlebens, die wir mit dem Ausdruck „Zivilisation“ umfassen, hätten sich nicht entwickeln können ohne den Besitz der Schrift. Ihr verdanken wir die Kenntnis unserer Geschichte, deren Zeugnisse sie bewahrt und weiter überliefert. Durch sie können wir in Verordnungen, Gesetzen, Verträgen, Urkunden, Briefen und in allen Zweigen des schöngeistigen, wissenschaftlichen und politischen Schrifttums alles Erforderliche ebenso wie alles Denkwürdige festhalten. Ohne die gemeinsame Schrift und die mit ihr vorgetragene Schriftsprache wäre nicht nur z. B. China, sondern auch das Deutsche Reich längst in eine Unzahl von Mundartgebieten zerfallen, deren politische Absonderung — und damit der Zerfall des Reiches — unvermeidbar gewesen wäre. Regierung und Verwaltung großer Staatsgebiete in Frieden und Krieg ist nicht denkbar ohne den Besitz, ja sogar ohne ziemlich allgemeine Kenntnis der Schrift.
Diese Unentbehrlichkeit der Schrift läßt uns auch an Völker früherer Zeiten sogleich die Frage nach ihren Schriftzeugnissen stellen. Diese Frage beruht zunächst auf der Erfahrung, daß Schriftquellen (Inschriften u. dgl.) so ungleich reichere Kenntnis vermitteln als die schriftlosen Bodenfunde, daß wir erst mit dem Vorliegen schriftlicher Quellen die „geschichtliche“ Zeit eines Volkes beginnen lassen. Doch hinter der Frage steht zugleich — oft unausgesprochen — das Werturteil: schriftlose Völker sind von niedriger Kulturstufe.
Aber die Stellung der Schrift in der Gegenwart beruht gar nicht zuerst auf kulturellen Bedürfnissen, sondern auf praktischen Notwendigkeiten. Schon die Größe mancher antiken Staatsgründungen ergab Entfernungen, deren Überbrückung auf dem Wege nur mündlicher Nachrichtenübermittlung nicht mehr möglich war. Ein Staat, der seine Verwaltung einrichtet und militärische Befehlsgebung über weite Gebiete durchführt, der seiner zivil- und strafrechtlichen Rechtsprechung einheitliche Normen und Gesetze zugrunde legen will, der Kolonien gründet, in denen seine Handelshäuser Niederlassungen einrichten — ein solcher Staat war für diese und viele andere Tätigkeiten seit jeher auf eine Schrift angewiesen.
Wir dürfen also mutmaßen, daß Gebrauchsschriften, wie wir diese Form der Schrift nennen, aus praktischen Belangen heraus dort geboren werden, wo die Grenze der Möglichkeiten nur mündlichen Nachrichtenaustausches erreicht ist. Organisierte Staatswesen mit weltweiter Wirtschaft, Wehrhoheit und Gesetzgebung unter straffer, zentraler Führung haben sich aber erst allmählich auf der Erde entwickelt und über sie ausgebreitet. In unserm Kulturbereich stehen das ägyptische, das sumerisch-assyrisch-babylonische und das griechische Reich an ihrem Anfang. Erst mit der Ausdehnung des Imperium Romanum gerieten die Germanen in den Machtbereich einer solchen Staatsgründung. Aber den germanischen Stämmen, die in das Römische Reich eingefügt wurden, ersparte die römische Verwaltung mit ihrer lateinischen Amtssprache alles, was schriftlicher Festlegung bedurft hätte. Und als die Germanen selbst das Weltreich übernahmen, diente ihnen, wie noch heute uns und fast allen abendländischen Völkern, weiterhin die lateinische Schrift.
Die Schrift ist also ursprünglich gar kein Ausdruck einer bestimmten Kulturhöhe und Karl der Große kein Barbar, weil ihm die Kunst des Schreibens nicht vertraut war. Troja und Mykene, deren Kulturhöhe wir ehrfürchtig bewundern, waren schriftlos. Verkehr, Handel, Wirtschaft, die sie tragende politische Macht und die diesen Beziehungen folgenden staatlichen Bedürfnisse haben die Gebrauchsschrift notwendig gemacht; im Bereich ausgesprochener Handelsvölker und der Städte des Altertums ist sie erfunden, angewendet und fortgebildet worden.
Diese sachliche Feststellung entkleidet — scheinbar — die alten Schriften des Zaubers, der ihnen so gern anhaftet. Sie ermöglicht uns aber, auch schriftlosen Völkern gerecht zu werden und noch einmal den Stand der Zivilisation von der Kulturhöhe eines Volkes zu scheiden.
Zugleich wird deutlich, was wir hier unter „Schrift“ verstehen: Bilder oder Zeichen, deren Aneinanderreihung einen bestimmten und ins einzelne gehenden sprachlichen Sinn gibt. Es genügt nicht, daß lediglich gewisse Vorstellungsinhalte zu einem ungefähren Ausdruck gebracht werden; sondern dieser Ausdruck muß so klar und bestimmt sein, daß er jeweils nur eine Auslegung gestattet; und die Zahl der Möglichkeiten des schriftlichen Ausdrucks muß so groß sein, daß allen in Politik, Verwaltung und Wirtschaft auftretenden Bedürfnissen in dieser Schrift mit erforderlicher Genauigkeit genügt werden kann.
Nah ist und schwer zu fassen der Gott.
HÖLDERLIN.
Kein Staatswesen gewinnt mit einem Mal äußere Ausdehnung und innere Blüte; sondern ein Staat und seine Wirtschaft wachsen aus keimhaften Anfängen (oder sie übernehmen ein vorhandenes Gefüge mit seinen Inhalten, dann aber auch seiner Schrift). So stellt sich auch die Notwendigkeit einer Gebrauchsschrift nicht von einem Tag zum andern heraus, sondern ihr liegen Vorstufen und Ansätze zugrunde, die in der Folge schrittweise entwickelt und den gesteigerten Bedürfnissen angepaßt werden.
Eine Gebrauchsschrift erkennen wir daran, daß ihr Zweck die Erinnerung (für den Schreiber selbst) und die Mitteilung (an andere Menschen) ist. Dieses Bedürfnis ist sehr alt. Schon völlig schriftlose Völker können Mitteilungen machen, indem sie etwa einen Pfeil als Aufgebotszeichen bei Feindgefahr umhersenden, und etwas in der Erinnerung festhalten, indem sie durch aufgetürmte Steine große Ereignisse verewigen. Wenn sie durch Kerben in einem Stab Schuldbeträge ausdrücken, schreiben sie bereits eine „Rechnung“; in andern Fällen werden Zahlen durch greifbare Gegenstände dargestellt. In solchen Fällen sprechen wir von Gegenstandsschrift und sehen darin Ansätze zu der von uns behandelten Gebrauchsschrift.
Anläufe zur Schriftbildung scheinen nach neueren Forschungen1) bis in die Eiszeit zurückzureichen und verlieren sich dort beinahe im gleichen Dunkel wie die Urstufen unserer Sprachen. Es wäre aber verfehlt, darin gemeinhin Vorstufen der Gebrauchsschrift zu suchen. Älter als das organisierte Staatswesen sind Glaube und Kult, und älter als das Schriftzeichen zum Zweck der Mitteilung an Menschen ist das Zeichen, das sich an Überirdische wendet, also kultisch wirksam ist. Es kann, das halten wir von vornherein fest, genau wie in der Gebrauchsschrift das Bild oder Abbild eines Dinges, ein Sinnbild oder ein daraus entwickeltes Zeichen gleich welcher Form sein. Sein Zweck aber liegt in der sakralen Handlung selbst begründet: gleich andern kultischen Mitteln soll es Fruchtbarkeit oder Sieg erflehen, Tote ans Grab bannen, feindlichem Zauber wehren, im Losorakel die Zukunft enthüllen u. dgl. mehr. Es soll der göttlichen Macht, die zaubern kann, wiederum mit Zauber entgegentreten.
Am wirksamsten geschieht das, indem das Übernatürliche nachgeahmt, nachgebildet wird: „Frühes Denken unterscheidet noch nicht zwischen Gebärde und Geist. Wer die äußere Form innehält, hat sich auch der Macht bemächtigt1)“. Die gemäße Form ist also das Bild; aber aus Gründen, die uns noch beschäftigen werden, bleibt diese Schriftform nicht beim Bild stehen. Ihre Ausdrucksmittel sind greifbare Wiedergabe aller Gewalten und Gegenstände, die im Kult eine Rolle spielen. Sie sind zweifellos eine Schrift, haben aber mit der Gebrauchsschrift zu praktischen Zwecken nichts gemein. Wir nennen sie Kultschrift.
Es soll gleich betont werden, daß die Gebrauchsschrift, wie wir sie geschildert haben, sich im Dienst von Wirtschaft und Politik nicht erschöpft. Die Dichtung, die mit ihr aufgezeichnet wird, umfaßt auch religiöse Texte, und heilige Lieder und Sprüche werden zur Gedächtnisstütze für den Priesterstand schriftlich niedergelegt. Ehe Schriftkenntnis allgemein verbreitet ist, muß die Fähigkeit, einen Gedanken auch über Raum und Zeit dem Auge sichtbar zu machen, dem Schriftunkundigen wunderbar und übernatürlich erscheinen. Daher liegt bei der Niederschrift eines Zauberspruchs die Einbeziehung der Schriftzeichen in den Zauber nahe, und sie können sogar als seine eigentlichen Träger angesehen werden. Wir wissen, daß dieser „Alphabetzauber“ neben der Zahlenmystik und zusammen mit ihr bei allen Völkern des Altertums, die im Besitz von Gebrauchsschriften waren, lebendig gewesen ist. Zumal wenn eine Gebrauchsschrift im täglichen Leben nicht mehr benötigt wurde, weil eine andere Schriftform „praktischer“ war, konnte sie ganz in den religiösen Bereich Übergehn: ihre Zeichen wurden „Hieroglyphen“, ihre Denkmäler Amulette. In diesem Fall ist aus der Gebrauchsschrift eine Kultschrift entstanden.
Umgekehrt kann sich aus der Mitteilung an Gottheiten auch eine solche an Menschen entwickeln; und wiederum kann der Priesterstand die Möglichkeiten der Kultschrift auch zur Niederschrift religiöser Texte nutzbar machen. Dieser Übergang von der Kultschrift zur Gebrauchsschrift wird dadurch erleichtert, daß mit dem Wandel der Glaubensvorstellungen eine Verweltlichung kultischer Zeichen einherzugehen pflegt (unten S. 7. 149). Die Wechselbeziehungen zwischen Kult- und Gebrauchsschrift sind also mannigfaltig1), wie ja Kultur und Zivilisation einander nicht ausschließen und der Glaube oft nicht nur eine geistige, sondern auch eine politische Macht darstellt.
Die Ausdrucksmittel der Kultschrift, die bislang noch nicht herausgestellt wurde, pflegt man als kultische, magische, transzendente, sakrale oder religiöse Zeichen und Bilder, auch als Kraft- oder Heilszeichen anzusprechen; wir nennen sie im allgemeinen kultisch. Sogar um Erzeugnisse des „primitiven Kunsttriebs“ mag es sich oft handeln. Denn wenn der vorzeitliche Mensch Wesen und Gegenstände seiner Umgebung abbildete und damit Zeichnung, Malerei und Plastik der Urzeit schuf, ahmte er wiederum „das Mächtige“ nach. Das erweisen schon die dargestellten Dinge: die flache menschliche Hand2) (Gebärde der Abwehr und der Beschwörung), Bilder der Beutetiere (Jagdzauber), menschenähnliche Figuren (Idole) u. dgl.
Es ist also auch unsere Ansicht, daß die vorzeitliche Kunst eine wesentliche Wurzel der Schrift bildet, doch denken wir dabei an die Kultschrift. Daß aber der „Spieltrieb“ schriftschöpferisch gewirkt habe, trifft für die Kultschrift gewiß nicht3) und für die Gebrauchsschrift nur in Ausnahmefällen zu.
Das großartigste Beispiel einer reinen Kultschrift bilden die bronzezeitlichen Felszeichnungen Schwedens, vor allem der Provinzen Ostgötland und Bohuslän, die uns noch beschäftigen werden. Diese Felsen sind als Kultsteine im Dienst einer hochentwickelten Sonnenreligion erkannt4). Bei andern Felsritzungen, zumal den afrikanischen, ist die Forschung noch zu keinem abschließenden Ergebnis gelangt. Wir glauben, daß sie gleichfalls Kultbilder (einer ganz andern Religion) enthalten.
Die Erforschung von Bildern und Sinnbildern auf kultischer Grundlage ist erst in den letzten Jahren wissenschaftlich unterbaut worden; auch die Festlegung ihrer Bezeichnungsweise ist noch nicht abgeschlossen1). Die Klärung, die wir im folgenden versuchen, erfolgt in erster Linie von der Schriftgeschichte aus2).
Wir unterscheiden zwischen dem Gegenstand selbst, dem Bild dafür und dem Sinnbild. Ein heiliger Baum ist zunächst das Ding selbst. Er kann aber bereits als Gegenstand das Sinnbild des Gottes werden, der in ihm wohnend gedacht wird (und seinerseits nicht wahrnehmbar ist). In der schriftlichen Wiedergabe kann der Baum sowohl den Gegenstand selbst wie den Gegenstand als Sinnbild meinen, d. h. sowohl Bild wie Sinnbild sein.
Solange der Zeichner eines Sinnbildes noch weiß, daß der betreffende Gott durch einen Baum versinnbildlicht wird, wird er jedesmal das Bild dieses Baumes malen. Sobald aber, wie es nach einigen Generationen zu geschehen pflegt, der Zeichner von der ursprünglichen Herkunft des Grotteszeichens nichts mehr weiß [weil das Zeichen ja nicht mit dem Namen des Baums, sondern der Gottheit gelesen wird], kann das Sinnbild abgeschliffen werden zum Sinnzeichen: es drückt zwar noch den gleichen Vorstellungsinhalt (Gott N) aus, kann aber nicht mehr bildlich zum Sinnbild des Gottes (und damit auch nicht mehr sinnbildlich zum Gott) in Beziehung gesetzt werden.
Sinnbilder entstehen also immer durch den Wunsch, etwas Unsichtbares, das deshalb im Bild nicht wiedergegeben werden kann, sichtbar zu machen. Die Wahl des Sinnbildes wird somit bestimmt durch den Inhalt, während in der Gebrauchsschrift der Klang entscheidet. Solche Sinnbilder sind auch uns nicht unbekannt: das Schwert als Sinnbild der Wehrmacht, der Adler als Sinnbild des Reichs, das Kreuz als Sinnbild des Christentums, die Eule als Sinnbild der Weisheit. Wehrmacht, Reich, Christentum und Weisheit kann man nicht unmittelbar, sondern nur in ihren Wirkungen sehen; sie werden im kennzeichnenden Ausdruck, d. h. gemäß ihrem Inhalt erfaßt. Wenn wir eine „Ähre“ malen, um das Abstraktum „Ehre“ wiederzugeben, oder in der ägyptischen Bilderschrift ein Käfer () gezeichnet wird, um das Wort „werden“ zu bezeichnen, weil es ebenfalls 3) lautet, vollziehen wir die gleiche Handlung in der einer Gebrauchsschrift gemäßen Form, dem sog. Lautrebus. In beiden Schriften wird etwas sichtbar gemacht, was das Auge nicht sieht. Entsprechend läßt sich der Gegenstand als Ding oder Sinnbild mit der Gegenstandsschrift und das kultische Bild mit der Bilderschrift unserer Gebrauchsschriften vergleichen1).
Jede Schöpfung eines Sinnbildes stellt die „Denaturierung“ eines Bildes dar2). Diese braucht aber nicht einer späteren Zeit anzugehören. Für jede Schrift, zumal für eine kultische, besteht sogleich die Notwendigkeit, Unsichtbares sichtbar zu machen. Da sie das Unsichtbare im Bild nicht erfassen kann, muß sie das Sinnbild schaffen. Der grünende Baum konnte seit Anbeginn zum Sinnbild der Wärme, der Strahlenkreis zum Sinnbild des Lichts werden.
Neben Bildern und Sinnbildern, die sich deuten lassen, treten seit alter Zeit auch Figuren auf, die wir nur als Zeichen ansprechen können. Wir glauben, daß auch ihnen wirkliche Bilder zugrunde liegen. Diese Auffassung wird durch die Beobachtung von SCHWANTES3) gestützt, daß jedes Bild oder Sinnbild auch durch einen Teil von ihm vertreten sein kann (pars pro toto-Gesetz). Der Sonnenkreis kann also durch einen Halbkreis dargestellt oder bis zum Punkt verkleinert sein, statt des Hakenkreuzes erscheint nur eine Stufenlinie, ein Winkel od. dgl. In diesen Fällen können wir die ursprüngliche Bildgestalt nur durch geschichtliche Vergleichung, in andern infolge der Lückenhaftigkeit unseres Fundstoffes überhaupt nicht mehr zurückgewinnen.
Der Glaube, wir dürfen auch sagen: die religiöse Furcht, schützt ursprünglich Bilder und Zeichen vor profaner Anwendung. Es ist aber eine allgemein beobachtete Erscheinung, daß kultische Begriffe verweltlicht werden, „indem etwa religiöse Kulthandlungen zu profanen Bräuchen und schließlich zum Spiel werden. Von dieser Bewegung ist natürlich auch das Sinnbild erfaßt worden; d. h. es trat aus der religiös-magischen Sphäre heraus und wurde zum Schmuck, Zierrat und Ornament4)“ — oder, wie wir oben sahen, zum Schriftzeichen einer Gebrauchsschrift. In diesem Fall ist zumeist erst während des Schreibgebrauchs die völlige Auslösung aus dem kultischen Bereich erfolgt. Da der tatsächliche Vorgang des Schreibens mit der Anwendung von Bildern und Sinnbildern sich bereits vollzieht, ist auch ihr Gebrauch für sachliche Inhalte weit vorgetrieben.
Was oben als „Schmuck, Zierrat und Ornament“ bezeichnet wurde, nennen wir zusammenfassend Merkzeichen. Dazu gehören die meisten figürlichen Darstellungen an unsern Fachwerkhäusern, Kirchen u. dgl.1). Es sind alte Sinn- und damit Heilszeichen; aber seit Jahrhunderten sind sie ebenso unverstanden fortgeerbt wie manche sinnlose Reime unserer Volksspiele. Wer sie an Gebäuden, Gerät, Schmuck oder Hausrat anbrachte, tat es ursprünglich noch aus der Erinnerung heraus, daß seinen Vorfahren diese Zeichen etwas Heiliges waren, später aber oftmals nur in dem Bestreben, seinen Besitz zu schmücken und zu zieren.
Auf Grund der angestellten Erwägungen schlagen wir folgende Stufenreihe vor:
1. der Gegenstand selbst (entsprechend der Gegenstandsschrift in der Gebrauchsschrift);
2. das Bild des Gegenstandes, das diesen selbst meint (entsprechend der Bilderschrift);
3. das Bild des Gegenstandes, das sinnbildlich2) für einen andern — unsichtbaren — Gegenstand, einen Begriff oder eine Vorstellung steht: das Sinnbild (entsprechend dem Lautrebus);
4. das Bild oder Sinnbild, dessen formale Herkunft dem Zeichner (Schreiber) nicht mehr bewußt ist: das Sinnzeichen (auch Begriffszeichen, Kraftzeichen, Heilszeichen genannt); ihm entspricht der Übergang von der Bilder- zur Zeichenschrift schlechthin3);
5. die Zeichnung, Form oder Darstellung, die ihres bildhaften Charakters entkleidet sein oder ihn bewahrt haben kann, mit der aber keine kultische Vorstellung mehr verbunden ist: das Merkzeichen.
Eine besonders eindrucksvolle Verdeutlichung unserer Stufenreihe bilden die von G. SCHWANTES4) festgestellten sogenannten homologen Symbole der Sonne, die seit der Jungsteinzeit im später germanischen Bereich kreisförmig (Bild) oder radförmig (Sinnbild) erscheint. Die Sonne, die sichtbar ist, bedarf keines Sinnbilds, wohl aber ihre verschiedenen Eigenschaften und Wirkungen, die erst sichtbar gemacht werden müssen und aus dem einfachen Bild der Sonne (dem Kreis mit und ohne Strahlen) noch nicht begriffen und vor allem nicht „ergriffen“, das heißt kultisch wirksam gemacht werden können. Jedes Sinnbild der Sonne weist also auf einen bestimmten Sinnbereich hin; es kann „Sonnengott“, „Wärme“, „Fortbewegung“, „Feuer“, „Fruchtbarkeit“ usw. meinen, und entsprechend viele verschiedene Sinnbilder der Sonne sind möglich. Da sie sich alle auf die Sonne beziehen und alle dargestellten Wirksamkeiten nur Wesensarten dieser Sonne sind, kann die Sonne selbst (die Scheibe, der Kreis) für alle eintreten, und es kann schließlich auch eines dieser Sinnbilder das andere ersetzen: sie werden homolog.
Ebenso wie im Schriftzauber die Wiederholung von Zeichen und ganzen Formeln zur Intensivierung dient, steigert auch die Wiederholung des Bildes seine Wirkung. So treten statt des einfachen Sonnenkreises konzentrische Kreise ein, und aus diesen entsteht die Spirale, die wiederum Kreis und Rad homolog wird. Vor allem in Spätzeiten des Glaubens werden die Begriffe nicht mehr deutlich geschieden, und manche Vorstellungen sind überhaupt nicht mehr lebendig, aber ihre Bilder leben fort.
Die von uns aufgestellte Stufenreihe sollen einige Abbildungen (nach OFFA 4, 1939) deutlich machen1): Abb. 1 (gleich Stufe 2: das
Abb. 1
Abb. 2
Fibeln von Hallstatt.
Bild der Sonne); Abb. 2 (gleich Stufe 3: das Sinnbild der Sonne); Abb. 3 u. 4 (gleich Stufe 4: das Sinnzeichen). Wir sehen zugleich, daß diese Stufenreihe nicht notwendig ein zeitliches Nacheinander darstellt, und daß Stufe 4 sich gleichsam vor unsern Augen aus den Stufen 2 und 3 entwickelt: Während es dem Verfertiger der Fibel Abb. 4 oder der Radnadel Abb. 3 noch bewußt gewesen ist, daß er das Bild der Sonne darstellte, gilt von dem tausendfältigen Auftreten der Spirale auf allen möglichen Erzeugnissen der Bronzezeit wohl nur dies: der Künstler wußte, daß er ein Heilszeichen anbrachte; aber er sah in ihr weider das Bild noch ein Sinnbild der Sonne1).
Abb. 3. Radnadel ans der Umgegend von Uelzen.
Abb. 4. Fibel von Hallstatt.
Abb. 5. Radnadel von Kl. Süstedt, Kr. Uelzen.
1) Vgl. z. B. H. BREUIL-H. OBERMAIER, La Cueva de Altamira en Santillana del Mar. Madrid 1935 (auch englisch: The Cave of Altamira at Santillana del Mar, Spain); zuletzt H. OBERMAIER, Die Uranfänge der Plastik und Gravierung beim Eiszeitmenschen. In: Forsch. u. Fortschr. 17, 1941, S. 149.
1) H. SCHNEIDER, Germanische Altertumskunde, 1938, S. 228f.
1) Auch bei den sog. „zeichnerischen Vorstufen der Schrift“ (JENSEN, Die Schrift, 1935, S. 17—23) muß jeweils geprüft werden, in welchen Bereich sie gehören.
2) Vgl. zuletzt H. OBERMAIER, Die Uranfänge der Malerei beim Eiszeitmenschen. In: Forsch, u. Fortschr. 17, 1941, S. 216—18.
3) Vgl. auch G. SCHWANTES, Offa 4, 1939, S. 2, 4, 45.
4) O. ALMGREN, Hällristningar och kultbruk. Bidrag til belysning av de nordiska bronsålderns ristningarnas innebörd. Stockholm 1927. Übersetzt von S. VRANCKEN: Nordische Felszeichnungen als religiöse Urkunden. Frankfurt/M. 1934.
1) Zum Folgenden vgl. auch die Ausführungen von F. PFISTER, Bild und Sinnbild. In: Brauch und Sinnbild (FEHRLE-Festschrift), Karlsruhe 1940, S. 34—49.
2) Vor allem die Glaubensgeschichte verwendet statt Sinnbild vielfach den Ausdruck Symbol. „Sinnbild“ tritt im deutschen Sprachschatz erst seit dem 17. Jahrh. als Übersetzung von Emblem auf (PFISTER, a. a. O., S. 39).
3) Der Strich zwischen den Konsonanten deutet die uns zumeist unbekannten Vokale an. Um die Wörter sprechbar zu machen, pflegt man sie mit -e- zu lesen (eper).
1) Statt von Bildern und Sinnbildern könnte man, wie A. SCHMITT es in anderm Zusammenhang tut, auch von unmittelbaren und mittelbaren Bildern sprechen.
2) PFISTER, a. a. O., S. 44 f.
3) Offa 4, 1939, S. 26ff.
4) PFISTER, a. a. O., S. 36f. Der Verf. spricht hier und an anderen Stellen (Hdwb. d. dt. Aberglaubens V, 803f.; VII, 654. 741f.; Deutsches Volkstum in Glauben und Aberglauben, 1936, S. 9ff.) von „zentrifugaler Bewegung“.
1) Vgl. z. B.K. WEIGEL, Runen und Sinnbilder. Bln. 1935. — Ders., Runen am deutschen Hause. In: Nat. soz. Monatshefte 7, 1936, S. 163. — Ders., Nürnberg, Frankenland, Deutschland. 1936. — A. BODE, Heilige Zeichen. Heidelberg 1938.
2) Nur gedachte Dinge, wie der Vogel Phönix oder der Greif, sind an sich keine Sinnbilder (PFISTER, a. a. O., S. 36). Wenn aber der Vogel Phönix die Verjüngung symbolisieren soll, ist er ein Sinnbild.
3) Auch die Gebrauchsschrift kennt bekanntlich Sinnzeichen, d. h. Zeichen, die ohne Rücksicht auf die Schallform einen bestimmten Sinninhalt ausdrücken. Sie stehen den Schallzeichen gegenüber, die — einerlei, ob Wort-, Silben- oder Lautzeichen — keine Beziehung zum Sinngehalt haben (vgl. z. B. A. SCHMITT, Untersuchungen zur Geschichte der Schrift, 1935, S. 10).
4) Vgl. vor allem: Vorgeschichte von Schleswig-Holstein, Bd. 1, Steinund Bronzezeit, Neumünster 1939; ferner: Arbeitsweise und einige Ergebnisse der vorgeschichtlichen Sinnbildforschung. In: Offa 4, 1939, S. 1—59.
1) Daß es sich um Bilder der Sonne handelt, zeigt besonders schön Abb. 5.
1) Vgl. auch SCHWANTES, ebda., S. 13: „Wir können an allen … Endstufen der Entwicklung der Plattenfibelreihe sowohl wie auch der Nadelreihe noch Rudimente der Sonnenscheibe erkennen; die Erinnerung, daß diese kunstgewerblichen Gebilde eigentlich Sonnenamulette gewesen sind, scheint aus dem Bewußtsein ihrer Verfertiger und Träger geschwunden zu sein.“
Körper und Stimme leiht die Schrift dem stummen Gedanken;
durch der Jahrhunderte Strom trägt ihn das redende Blatt.
SCHILLER.
Ob eine Schrift ans Bildern, Sinnbildern oder Zeichen besteht, ist belanglos. Wesentlich ist für ihr Verständnis nur, ob sie aus kultischen Beweggründen entstanden oder zur Befriedigung praktisch-zivilisatorischer Bedürfnisse geschaffen ist. Beide können sogar nebeneinander stehen. So leben jahrtausendelang, gewiß ein einmaliger Fall, die Hieroglyphen neben der hieratischen und demotischen Schrift weiter, und so stehn eine gewisse Zeitlang auch die Runen, wie wir noch sehen werden, als Kultschrift neben der lateinischen Gebrauchsschrift.
Die Gebrauchsschriften der Gegenwart können auf drei Wegen entstanden sein: entweder übernimmt ein Volk von einem andern die dort ausgebildete Schrift, sei es dem Zeichenbestand oder ihrem Prinzip nach; oder es greift nur die Anregung auf und schafft sich eigene Ausdrucksformen; oder endlich erfindet es sich selbst eine völlig neue Schrift. Je nach dem Grad der Selbständigkeit sprechen wir von Schriftübernahme, Nacherfindung oder Schriftschöpfung1).
Die erste Stufe einer eigengeschaffenen Schrift ist die Ideenschrift2). In ihr entspricht nicht jedem sprachlichen Ausdruck ein schriftlicher, sondern ganze Bedeutungsinhalte (Gedankenkomplexe, Sachen und Sachverluste) sind durch bestimmte Schriftformen wiedergegeben. Ans ihrer Zusammenordnung entsteht auf der ältesten Stufe ein einziges Bild. Wir sprechen daher noch nicht von Bilderschrift, sondern von Bildschrift. Vom Kunstwerk graphischer Art ist sie oft schwer zu scheiden.
Eine solche Schrift kann man nicht lesen, sondern nur deuten. Sie ist demzufolge übersprachlich: jeder Betrachter kann sie in seine Sprache umsetzen. Ins einzelne gehenden Erfordernissen politischer, militärischer oder wirtschaftlicher Art vermag sie noch nicht zu genügen. Dem entspricht ihr heutiges Verbreitungsgebiet, das Indianer, Eskimos, Ozeanier und Teile Afrikas umfaßt.
Allmählich wächst die Zahl der Bilder, und entsprechend wird der Umfang der Gedanken, die durch ein einziges Bild dargestellt werden, immer geringer. Diese Schrift endet bei der Wortbildschrift, d. h. Wortbild-Schrift, in der jedes einzelne Wort durch ein eigenes Zeichen ausgedrückt wird. Die Möglichkeiten der Ausdeutung sind eingeschränkt; diese Schrift ist zum Lesen da und eignet sich auch zur Verwendung in den Bereichen, für die eine Ideenschrift noch unzureichend war. Eine solche Schrift muß auch abstrakte Begriffe in großem Ausmaß zur Darstellung bringen.
Der entscheidende gedankliche Schritt wird an der Stelle vollzogen, an der die Schrift von der Bezeichnung des Sachverhalts übergeht zur Bezeichnung des sprachlichen Ausdrucks für diesen Sachverhalt. Zum Verständnis dieses Schrittes müssen wir bedenken, daß wir eine alte Schrift betrachten und deuten, daß sie aber von denen, für die sie bestimmt war, gelesen und in sprachliche Komplexe umgesetzt wurde.
Für uns ist ägypt. ein „Käfer“, für den Ägypter die Lautgruppe (s. S. 6), ägypt. für uns eine „Schwalbe“, für den Ägypter die Lautgruppe w-r, für uns altchin. ein „Mund mit ausströmendem Atem“, für den Chinesen die Lautgruppe yen2, für uns altchin. eine „Schlange“, für den Chinesen die Lautgruppe pa1 usw. Für diese Sprecher war das Form und Bedeutung verbindende Band zumeist schon abgerissen und das Bild nur noch an eine bestimmte Lautfolge gebunden (sog. Phonetisierung; JENSEN, a. a. O., S. 33).
Dieser natürliche Vorgang, ausgelöst durch das Lesen der Schrift, hat zwei Folgen. Einmal kann die Darstellung sich immer mehr von einem Abbild des ursprünglichen Gegenstands entfernen, da dieser im Bewußtsein des Sprechers nur noch eine untergeordnete Rolle spielt und schließlich beim Lesen gar nicht mehr mitempfunden wird. Darüber hinaus kann aber die gleiche Bilddarstellung nun für jede gleiche oder ähnliche Lautfolge verwendet werden, ohne daß ein Zusammenhang mit der Bildgrundlage besteht. Der erste Vorgang ermöglicht die Entstehung der Zeichenschrift, der zweite die Bezeichnung der Abstrakta und sonstigen nicht „sichtbaren“ Dinge.
Der „Käfer“, ägypt. , lautete, wie wir sahen, . Die gleiche Hieroglyphe bezeichnete nun das Wort „werden“, da es ebenfalls lautete. Die „Schwalbe“, ägypt. w-r, konnte nun auch für w-r „groß“ eintreten; oder sum. kur, ursprünglich das Bild eines „Berges“1), auch für „Land“ und „Pferd“, da alle drei Wörter im Sumerischen kur lauteten.
Die Vorbedingungen für derartige Gleichsetzung sind besonders in den Sprachen gegeben, in denen Vokale und schwache Konsonanten als unerheblich empfunden werden. In gewissem Umfang ist das auch bei uns der Fall, zumal wenn wir an die Veränderung der Wörter durch Ablaut, Umlaut und Brechung denken. So empfinden wir Schwall, schwellen, schwillt, schwoll, schwölle, Geschwulst und schwülstig (vgl. weiter geben: gegeben, Anstand: anständig usw.) als lautlich zusammengehörig und erkennen den gleichen Wortstamm auch in den Formen mit Prä- und Suffixen und sonstigen Endungen wieder. Wenn wir eine Wortbild-Schrift hätten, würden wir all die genannten Formen daher durch gleiche oder ähnliche Bilder wiedergeben. Wir schrieben damit eigentlich nicht das Wort, sondern einen immer wiederkehrenden Grundbestand an Konsonanten.
Dies ist nun das durchgängige Prinzip des Altägyptischen und der semitischen Sprachen. Sie erkennen jedem Wort eine bestimmte Konsonantenfolge zu und behalten diese mit bestimmten vokalischen Alternationen, Prä- und Suffigierungen durch das ganze Flexionssystem bei. Da die Halbvokale w und j sowie verschiedene Kehlkopfeinsätze in den gleichen Sprachen vielfach durch Kontraktion unsichtbar werden oder lautgesetzlich schwinden, scheiden sie ebenfalls bei der Bewertung des Wortbilds aus.
So bezeichnet ägypt. m-ś „Wedel“ auch m-%-j „gebären“, ägypt. -s „Krug“ auch -s-j „loben“ usw.
Die geschilderte Unterdrückung der Vokale und Kehlkopfeinsätze hat aber noch eine weitere, für die Entwicklung der Lautschrift entscheidende Wirkung. Wörter mit einem oder mehreren schwachen Konsonanten schmelzen durch sie auf Gruppen mit überhaupt nur zwei, ja nur einem Konsonanten zusammen, d. h. sie werden, da die Vokale nicht mitzählen, aus Wort-Lautzeichen zu Einzel-Lautzeichen — das heißt aber: zu Buchstaben.
Im Ägyptischen wurde damit die Zahl der Wörter, die lautlich durch das gleiche Schriftbild dargestellt werden konnten, immer größer, zumal man umfänglichere Wörter durch Zusammenstellung mehrerer, die seine Lautgruppe ergaben, schrieb. Auch alle Abstrakta konnten in der Hieroglyphenschrift auf rein lautlichem Wege zur Wiedergabe gebracht werden.
So bedeutet ägypt. m-ś „Wedel“ (s. oben), ägypt. -r „Korb“. Das Wort „Ohr“, das m-ś--r lautete, sehrieb man also . Ägypt. m-n bedeutete „Brettspiel“; das Wort m-n-m-n „sich bewegen“ konnte mithin durch dargestellt werden.
Die von uns oben genannte Wortbildschrift ist als „Bildschrift“ erklärlicherweise nur eine nicht lebensfähige Übergangsform; denn das Bild wird nur in einer noch nicht phonetisierten Schrift erhalten. Alle Wortschriften sind daher entweder Wort-Lautschriften, wie die chinesische Schrift und die älteren Formen der ägyptischen Hieroglyphen und der mesopotamischen Keilschriften, oder Zeichenschriften. Das können Wort- oder Silbenschriften oder Lautschriften für noch kleinere Einheiten sein. Der letzte Schritt ist getan, wenn jeder Laut durch ein eigenes Zeichen ausgedrückt wird: Einzellautschrift, Buchstabenschrift. Erst sie vermag die gesprochene Sprache vollständig wiederzugeben und hat damit die höchste Stufe praktischer Brauchbarkeit erlangt, die sie in organischer Entwicklung erreichen konnte.
Der Weg zur Einzellautschrift ist aber nicht ebenso einfach wie logisch. Denn die Laute treten in der Sprache nicht als kleinste Einheiten hervor; und wir müssen uns ganz von der Vorstellung frei machen, daß die Einzellautschrift aus der Wortlautschrift im Weg des phonetischen Experiments gewonnen sein könne1). Im Semitischen, das uns die ältesten Zeugnisse einer Lautschrift bietet, wären überdies nicht nur einzelne Laute aus dem Wortganzen herausgelöst worden, sondern diese Entwicklung hätte ausgerechnet nur die Konsonanten erfaßt, die am schwersten abscheidbar sind. Daß man in einer Lautschrift die Vokale übergangen hätte, wäre auch vom Semitischen aus unverständlich, denn sie sind dort genau so schlecht zu entbehren wie im Deutschen2) — erst recht aber wäre es nicht zu begreifen, wenn die Lautschrift in einer indogermanischen Sprache entstanden wäre.
Auch hierfür liefert nur das Ägyptische eine ungezwungene Erklärung. Die Ägypter haben das Prinzip der Vokalvernachlässigung von den Verbalparadigmen, in denen es berechtigt war, verallgemeinert. Unter Berücksichtigung dessen mußte die lautgesetzliche Entwicklung der Sprache, wie wir sahen, zu einer Anzahl einlautiger Wörter führen3), mit denen sich jedes Wort in reinen Schallzeichen hätte schreiben lassen.
Wie bekannt ist, haben die Ägypter von dieser Möglichkeit — vielleicht mit Absicht — keinen Gebrauch gemacht. Erst später haben semitische Völker das Prinzip übernommen; ob sie auch die Zeichen übernahmen, hängt wesentlich von der Ausdeutung der sog. Sinaischrift4) ab. Ausgebildet tritt uns die semitische Schrift auf dem Sarkophag des Königs Airam entgegen. Das deutlichste Kennzeichen des ägyptischen Einflusses ist die phönizische Vokallosigkeit: der Erfinder muß „unter dem imponierenden und darum hemmenden Einfluß von etwas schon Vorhandenem gestanden haben“5)Unsere Ansicht ist durch die sogen, „altkanaanäischen“ Schriftdenkmäler gestützt worden1), die einerseits der Sinaischrift (um 1800—1600) verwandt sind, anderseits Vorstufen der Abiramschrift (um 1250) belegen. Sie reichen vielleicht nahe an 2000 v. u. Ztr. heran2).
Von den Silbenschriften des Altertums können wir hier absehen, da die Silbenschrift, wie der Verfasser an anderer Stelle ausgeführt hat, keine notwendige Stufe zwischen Wort- und Buchstabenschrift darstellt.
In der Geschichte der europäischen Schrift sind silbenschriftliche Zwischenstufen nicht anzunehmen. Die Buchstabenzeichen von Ahiram erscheinen mit fast gleichen Formen und Lautwerten in den archaischen griechischen Inschriften, und es ist uns sicher, daß die Griechen die Nehmenden sind. Die Übernahme ist um 1200 erfolgt3). Die Zeichen hießen bei den Griechen schlechthin „phönizische [Buchstaben]“. Diese Entlehnung läßt sich mit den folgenden Gründen stützen4):
1. Die Buchstabenformen beider Schriften sind fast gleich;
2. Die Reihenfolge der Buchstaben und ihre Verwendung als Zahlzeichen ist die gleiche;
3. Die Schrift ist linksläufig;
4. Die griechischen — sinnlosen — Buchstabennamen sind fast alle einfach Entstellungen der semitischen, die dort bedeutsame Wörter sind; allerdings ist das Alter dieser letzten nicht sicher zu bestimmen;
5. Die phönizischen Inschriften sind bedeutend älter als die griechischen;
6. Das phönizische Alphabet fügt sich entwicklungsgeschichtlich zu weiteren Schriften, die alle mit den ägyptischen Hieroglyphen in ursächlichem Zusammenhang stehen;
7. Eine Umgestaltung von Halbvokal- und Konsonantenzeichen ist denkbar, dagegen nicht ein Übergang zur Vokallosigkeit aus einer die Vokale bezeichnenden Schrift5);
8. Die griechische Schrift wird dem indogermanischen Lautstand ganz und gar nicht gerecht, trägt also alle Züge der Entlehnung an sich. Im Gegenteil müssen sehr wichtige aus dem Indogermanischen ererbte Laute — z. B. die Aspiraten — lange Zeit behelfsmäßig geschrieben werden, bis sie endlich durch neugeschaffene Zusatzzeichen eine Berücksichtigung in der Schrift finden.
Weitere Gründe sind schon genannt; noch andere kommen bei Behandlung der Runen zur Sprache1).
Als die wesentlichste von den Griechen eingeführte Neuerung erscheint uns die Darstellung der Vokale durch — im Griechischen überflüssige — phönizische Zeichen für schwache Konsonanten. Für den Griechen lautete das semitische mit a- an; damit war das Zeichen für den Vokal a gegeben. Entsprechend trat das Zeichen für in dem der Kehlkopfeinsatz eine Verdumpfung des Vokals bewirkt hatte, für den Vokal o ein, und auch die Verwertung der Halbvokale j und w für i und u ist verständlich.
Allerdings läßt gerade das Vorgehen des Ugaritalphabets uns fragen, ob die Vokalzeichen eine griechische Erfindung darstellen. Schon im Ägyptischen des 2. Jahrtausends empfand man bei der Wiedergabe fremder Namen, z. B. des Hethiterkönigs , um 1500, das Bedürfnis, die Vokale auszudrücken. Da die Zeichen für , w und j lautgesetzlich weitgehend überflüssig geworden waren und Vokalen auch nahestanden, setzt der Ägypter in solchen Fällen (zum Teil auch ) für a, j für i, w für u ein. So entsteht noch im Ägyptischen selbst eine Vokalschrift, die sog. „syllabische“ Schrift.
Es darf ferner nicht übersehen weren, daß die Keilschrift, auch in ihrer Anwendung auf semitische Sprachen, die Vokale unterscheidet.
Es möchte scheinen, als werde den Griechen damit eine allzu geringe Rolle zugewiesen. Ihre Schriftentlehnung ist aber ein Musterbeispiel dafür, daß im allgemeinen die Bilder oder Zeichen, ja sogar die orthographischen Eigentümlichkeiten der Vorlage möglichst getreu übernommen werden. Veränderungen treten zunächst nur dadurch ein, daß Lautzeichen der Vorlage als entbehrlich wegfallen, weil die entlehnende Sprache diese Laute nicht besitzt, und umgekehrt durch Neuschöpfung von Zeichen für Laute, die in der Vorlage nicht bezeichnet wurden. In diesem Fall werden häufig nicht mehr benötigte Zeichen in neuer Bedeutung weiterverwendet.
Bei einer Nacherfindung wird nur das Prinzip der Schrift übernommen; die Ausgestaltung aber, z. B. die Schaffung der Zeichen, wird von dem Entlehnenden vollzogen. Die Nacherfindung setzt also eine bedeutende Gestalt voraus. Einfache Schriftübernahme dagegen findet am leichtesten statt, wenn eine noch schriftlose Sprache zunächst von Fremden in deren Schrift geschrieben wird, bis auch die Einheimischen selbst diese Kunst erlernen. Das Beispiel des Wulfila, der am Anfang der gotischen Schrift steht, ist also nicht verbindlich; wir erinnern nur an die Übernahme der lateinischen Schrift im fränkisch-deutschen Reich.
Das ursprüngliche Kapitel IV „Ideenschrift und Lautschrift“ muß wegen der Beschränkung des Umfangs für eine spätere Auflage zurückgestellt werden. In ihm war der Nachweis versucht, daß die Kluft zwischen der Ideenschrift, die ganze Gedankenkomplexe bezeichnet, und der Wortlaut-Schrift, die einzelne Sprachformen wiedergibt, nicht so tief ist, wie die Schriftforscher allgemein annehmen. Dieser Übergang kann sich nach unserer Ansicht mithin an verschiedenen Stellen der Erde ohne gegenseitige Beeinflussung vollzogen haben. Einiges aus diesem Kapitel hat der Verf. in der Zeitschrift der Deutsch-Morgenländischen Gesellschaft 97, 1942, S. 82ff. veröffentlicht.
Aus den gleichen Gründen kann das ursprüngliche Kapitel V „Sprachen und Schriften“ in dieser Auflage nicht zum Abdruck gelangen.
Das ursprüngliche Kapitel VI „Die Gleichheit der Formen“ ist auszugsweise bereits vom Verfasser in den „Runenberichten“ I, 1941, S. 91ff. wiedergegeben worden. Dort wurde ausgeführt, daß die Schrift mit ihrem Bestand an Bildern und Zeichen für sich allein keine trugfreie Antwort auf die Frage zu geben vermag, ob in ihr ein Lehngut vorliegt, oder ob sie aus bodenständiger Entwicklung erwachsen ist.
Schon in der artverschiedenen urtümlichen Ausgestaltung hat, wie wir zeigten, der Zufall soweit seine Hand im Spiel, daß oft gleichaussehende Gebilde erscheinen, denen ganz verschiedene Absicht zugrundeliegt, und deren Bedeutung somit grundverschieden ist.
So bedeutet das Zeichen im Altägyptischen die „Sonne“, in der afrikanischen Bamumschrift (Kamerun) „ich“. Ägypt. „strahlen“ entspricht gewiß Bamum „kochen1)“, und ägypt. „Stadt“ Bamum „Kolanuß“; oder ägypt. „zehn“ Bamum „Stein“; ägypt. „Wedel“ Bamum „Gesicht“; ägypt. „gut“ Bamum „eins“.
In diesem Fall ist nun die Geschichte der ägyptischen Zeichen bekannt; die Bamumschrift aber wurde (nicht nach dem Vorbild der Hieroglyphen!) erst in unserm Jahrhundert geschaffen! Die in den „Runenberichten“ gegebenen Zeichenlisten wiederholen wir hier nicht. Wir zogen aus ihnen die Folgerung, daß Ähnlichkeit von Bildern und Zeichen für sich überhaupt kein Hinweis auf verwandtschaftliche Beziehungen ist, und daß Schriften, über deren Zeitstellung und Zeichenwerte wir nicht unterrichtet sind, auf dieser Grundlage und für sich allein nicht ausgewertet werden können.
Zu dem gleichen Ergebnis führt uns die umgekehrte Probe, nämlich die Verfolgung des urkundlich bezeugten Werdegangs einzelner Zeichen.
Die altgermanisohe J-Rune erscheint um 200 n. Ztr. als oder bzw. eckig als oder. Schon bald werden die beiden Hälften verbunden:, das Zeichen wird aufgerichtet und erhält volle Zeilenhöhe: . (Sämtliche Formen sind noch völkerwanderungszeitlich belegt.) Da jeder Rune ein Hauptstab eignen soll (s. unten), wird daraus daraus einerseits , anderseits durch Vereinfachung und schließlich lich Auf diesem Weg werden mehrfach die Formen anderer germanischer Runen erreicht: ist » (zu dieser Zeit noch ), h (noch ), n (damals bereits ). Innerhalb von 700 Jahren hat dieses Zeichen mindestens sechs verschiedene Stufen durchlaufen. Eine jede hat sich gesetzlich aus der vorhergehenden entwickelt; aber jeder nicht Runenkundige würde immer wieder neue, äußerlich unverwandte Zeichen erblicken.
Man vergleiche weiter:
Runisch2):
Griechisch3):
Altsemitisch und Neupunisch:
Numidisch und Berberisch:
Chinesisch:
Bamum1):
Das Ergebnis ist eindeutig: gänzlich verschiedene Zeichen können eng verwandt sein; und umwälzende Veränderungen vollziehen sich sehr häufig nicht in Jahrhunderten, sondern innerhalb weniger Jahre, als Schriftrevolution. Schriftbeziehungen lassen sich nur verfolgen, wenn wir vom Zeichenbesitz einer begrenzten, geschichtlich faßbaren Gruppe ausgehen und diesen zeitlich ordnen.
Bei unseren Vergleichen haben wir uns auf Schriftbilder und -zeichen beschränkt. Wenn wir die nicht schriftartigen Bilder und Zeichen, die Haus- und Hofmarken, Steinmetz- und Eigentumszeichen, Ornament, Zierrat und all die Merkzeichen an Fachwerk, Gerät, Schmuck u. dgl. heranziehen, wächst der Stoff ins Unermeßliche: ständig kehren die gleichen Formen wieder2). Um so strenger muß der Maßstab sein, mit dem wir diese Formen völkisch, räumlich, zeitlich und nicht zuletzt inhaltlich sichten, ehe wir sie zu irgendwelchen Runenformen in Beziehung setzen.
1) Für die mit der Gebrauchsschrift zusammenhängenden Fragen vgl. HANS JENSEN, Die Schrift. Glückstadt und Hamburg 1935. — Ferner: J. FRIEDRICH, Zu einigen Schrifterfindungen der neuesten Zeit. In: ZDMG. 92, 1938, S. 183—218. — H. BAUER, Der Ursprung des Alphabets (= Der Alte Orient 36, H. 1—2). Leipzig 1937. — O. EISSFELDT, Zur Frage nach dem Ursprung unseres Alphabets. In: Forsch. u. Fortschr. 14, 1938, S. 4f. — Ders., Die Herkunft der drei Zeichen für Aleph im Alphabet von Bas Schamra. Ebd., S. 125 f. — B. ROSENKRANZ, Der Ursprung des Alphabets von Ras Schamra. In: ZDMG. 92, 1938, s. 178—182. — A. SCHMITT, Untersuchungen zur Geschichte der Schrift. Band I. II. Leipzig 1940. — J. FRIEDRICH, Noch eine moderne Parallele zu den alten Schrifterfindungen. In: ZDMG. 95, 1941, S. 374—414. — K. SETHE, Vom Bilde zum Buchstaben. Die Entstehungsgeschichte der Schrift (= Untersuchungen zur Geschichte und Altertumskunde Ägyptens, Bd. XII). Leipzig 1939. — Weiteres Schrifttum ist zu den betreffenden Abschnitten genannt.
2) A. SCHMITT verwendet statt Ideenschrift den Ausdruck Inhaltsschrift, der uns weniger glücklich scheint.
1) JENSEN, a. a. O., S. 33.
1) -t ist nur Endung des Femininums.
2) Nach neuesten Forschungen (A. SCHARFF, Die Entstehungszeit der ägyptischen Hieroglyphen in archäologischer Beleuchtung. In: Forsch, u. Fortschr. 18, 1942, S. 172f.) sind die Hieroglyphen kurz vor Menes, also etwas vor 3000, in Unterägypten erfunden worden. Diese Bestimmung ist auf Grund archäologischer Untersuchung der als Schriftzeichen aufgenommenen Gebäude, Waffen, Schiffe, Geräte usw. gewonnen. Die Sumerer haben zweifellos früher geschrieben als die Ägypter, und nach SCHARFF ist die innere Struktur ihrer Schrift in Ägypten übernommen worden, eine Übernahme von Zeichenformen jedoch nicht erfolgt.
1) Ebenso A. SCHMITT, Die Erfindung der Schrift (= Erlanger Universitätsreden 22), 1938, S. 13; Untersuchungen zur Geschichte der Schrift I, 1940, S. 28, 147, 154.
2) H. BAUER, a. a. O., S. 9.
3) In allen semitischen Sprachen herrscht die Dreikonsonanz; jedes Wort hat drei Wurzelkonsonanten. Diese Einheitlichkeit ist aber erst im Lauf der Entwicklung durchgeführt, und das Ägyptische hat, wie auch das Assyrisch-Babylonische zeigt, vor allem bei Substantiven noch häufig einen älteren Stand bewahrt. Es besaß also von vornherein Wörter mit nur einem oder zwei Konsonanten.
4) Vgl. M. SPRENGLING, The Alphabet, its rise and development from the Sinai Inscriptions (= The Oriental Institute of the Univers, of Chicago. Oriental Inst. Communications 12). Chicago 1931. — JENSEN, Die Schrift, S. 176—85. — H. GRIMME, Altsinaitische Forschungen. Paderborn 1937. — S. Yeivin, The Palestino-Sinaitic Inscriptions. In: Palestine Explor. Quarterly 69, 1937, S. 180—93. — O. EISSFELDT, Forsch, u. Fortschr. 14,1938, S. 4f.
5) H. SCHÄTES, Die Vokallosigkeit des ägyptischen Alphabets. In: Z. f. ägypt. Sprache 52, 1915, S. 95—98.
1) P. MONTET, Byblos et l’Egypte I, 1928, S. 160. — R. DUSSAXJD, Syria 17, 1936, S. 393: Vase aus Byblos, 19. Jahrh.
2) Vgl. ferner Frhr. VON BISSING, Die Schrift und die Schriftzeugnisse. In: Hdb. d. Archäologie I, München 1937. — D.DIRINGER, L’alfabeto nella storia della civiltä. Florenz 1937. — J. FRIEDRICH, Schriftgeschichtliche Betrachtungen. In: ZDMG. 91,1937, S. 319—342. —ZuRas Schamra-Ugarit: B. RoSENKBANZ, ZDMG. 92, 1938, S. 178—182.
3) JENSEN, Die Schrift, S. 315. — O. EISSFELDT, Forsch, u. Fortschr. 14, 1938, S. 4, geht bis 1100—900 herab, das scheint uns zu spät.
4) Vgl. auch JENSEN, a. a. O., S. 316.
5) Vgl. vor allem K. SETHE, Der Ursprung des Alphabets. In: Nachr. Gött. Ges. d. Wiss., 1916.
1) G. NECKEL und K. WEIGEL (Runen und Sinnbilder, 1935, S. 33) haben diese Meinung unter Hinweis auf antike Autoren, vor allem DIODOBR, bestritten. Aus diesen läßt sich aber nichts herauslesen, was unserer Ansicht widerspräche (vgl. auch W. RAUSE, Hist. Z. 152, S. 553f.).
2) O. EISSFELDT, Forsch, u. Fortschr. 14, 1938, S. 4.
3) BAUER, a. a. O., S. 40f.
1) Das ägyptische Zeichen meint deutlich eine Sonne mit Lichtbündeln, das Bamumzeichen einen Topf über einer Feuerstelle!
2) Skandinavische Runen um 600 und 900.
3) Archaische Alphabete und klassische Schrift.
1) Formen der Jahre 1907 und 1916! — Zu ähnlichem vgl. auch SCHMITT, Untersuchungen, S. 37.
2) Am Beispiel der Steinmetzzeichen hat d H. BAUER (Der Ursprung des Alphabets, 1937, S. 35f. mit Taf. X. XI) anschaulich dargestellt.
Wenn uns ein glücklicher Fund aus der Zeitwende eine Runenreihe bewahrt hätte, würde sie etwa so aussehen:
Fast genau so ist uns die Runenreihe auf Denkmälern erhalten, deren ältestes mit Sicherheit in den Anfang des 5. Jahrh.s unserer Zeit-rechnung zu setzen ist. Uns fällt zuerst die merkwürdige Reihenfolge auf, die auf der Erde nicht wiederkehrt. Nach ihr sprechen wir nicht vom runischen ABC oder Alphabet, sondern vom Fufjark1).
Erst im Mittelalter werden die Runen nach der lateinischen Buchstaben-folge geordnet (siehe unten S. 110).
Auch andere Schriften haben nicht die griechisch-lateinische Folge. So beginnt das altirische Ogom mit n s f l b; die indische Sanskritschrift ist rein phonetisch geordnet usw.
Die Formen vieler Runenzeichen muten uns gleichfalls fremd an. Andere erinnern jedoch sogleich an bekannte Schriftzeichen; und es hat sich, das nehmen wir vorweg, mit Sicherheit bestätigt, daß run. f dem lat. F, run. b dem lat. B, run. i dem lat. I, run. , neben h dem lat. H, run t dem lat. T, run. s dem lat. S entsprechen. Andere runische Zeichen, wie , u (lat. V, U), r (lat. R), l (lat. L), m (lat. M) zeigen wenigstens starke Verwandtschaft mit der Lateinschrift; sie kehren — ebenso wie noch weitere Runen — in den übrigen Alphabeten Altitaliens in genau gleicher Form wieder.
Es ist also sicher, daß Zusammenhänge nach Form und Lautwert zwischen den Runen und den Schriften Italiens bestehen. Ungeklärt ist zunächst, ob es sich um gemeinsamen Ursprung aus einer dritten Schrift oder um Entlehnung von den Italikern zu den Germanen oder umgekehrt handelt.
Diese Frage läßt sich aber sogleich beantworten. Germanisch und Lateinisch gehören zu den sogen, indogermanischen Sprachen. Der indogermanische Konsonantenstand ist uns durch die Vergleichung der Tochtersprachen gut bekannt. Mit diesem Erbe hat das Germanische um die Mitte des letzten Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung vollständig gebrochen. Es wandelte die idg. t k zu f þ ch, aus denen in manchen Stellungen đ g. (stimmhafte Reibelaute) bzw. b d g wurden; und đ g (b d g) entstanden auch aus den Lauten, die im Griechischen als im Lateinischen als f, h (u. ä.) vertreten sind; die idg. b d g aber wurden zu germ. t k.
Der germanische Laut f geht also auf zurück. Sein Zeichen müßte, wenn es urverwandt wäre, mithin dem lateinischen P, nicht aber dem lateinischen F entsprechen, lat. F dagegen run. oder . Ebenso müßte lat. B der germanischen -Rune W entsprechen, während germ. entweder lat. F oder lat. Þ sein müßte. Run. müßte lat. 0 sein, lat. und C aber run. X, run. < jedoch lat. G; und endlich lat. T run. oder , run. aber lat. D.
Diese sicheren Entsprechungen von lateinischen und runischen Zeichen lassen nur eine Erklärung zu: sie müssen aus einer Zeit stammen, als die germanische Lautverschiebung bereits vollzogen war. Damit scheidet jede Möglichkeit einer Urverwandtschaft oder einer Entlehnung der südeuropäischen Formen aus germanischen Runen aus. Denn die griechischen und altitalischen Schriften sind uns bereits aus Jahrhunderten bekannt, die vor der germanischen Lautverschiebung liegen.
Es ist daher sicher, daß ein Teil der Runenzeichen aus südeuropäischen Schriften entlehnt ist.
Dieser Feststellung dürfen wir den sogenannten Beweis e silentio anschließen. Schon der steinzeitliche später germanische Raum spricht zu uns mit vielen Funden, auf denen sich auch eingeritzte Bilder und Zeichen finden. Sie sind sichtlich Ausdrucksmittel einer beginnenden Kultschrift (siehe Kapitel IX). In der germanischen Bronzezeit steigern sich die Denkmälerfunde zu Tausenden. Darunter befinden sich Waffen und Schmuck, Geräte, Talismane usw.; zum großen Teil sind sie wohl so erhalten, wie sie in der Werkstatt gefertigt wurden. Der Bronzezeit und der ihr folgenden sogenannten älteren Eisenzeit gehören auch die Felszeichnungen vor allem Schwedens an, welche die germanische Kultschrift in voller Blüte zeigen. Weder auf den Gegenständen noch unter den Zeichnungen dieser Jahrtausende aber findet sich nur eine einzige Runeninschrift, obgleich die Felswände, die Schwerter, Gürtelscheiben und Baugen gewiß mehr zur Anbringung von Inschriften einluden als die oft viel kärglicheren Denkmäler, auf denen später Runen stehen.
Es darf auch nicht eingewendet werden, die Runen seien — was ihre eckige Form nahelege — nur auf Holz geritzt worden, das inzwischen vergangen wäre. Eine derartige Beschränkung ist nirgendwo allgemein geworden; sie hätte besonders in der Bronzezeit, als das Holz in der Zierkunst nur eine untergeordnete Rolle spielte, keine ausschließliche Geltung erringen können. Überdies zeigt auch kein bronzezeitlicher Holzfund eine Spur von Runen, und die angebliche Entstehung der eckigen Formen erst im Germanischen ist ein Irrtum.
Auf griechischem und lateinischem Boden aber kennen wir bekanntlich nicht einige wenige, sondern viele Tausende von Inschriften aus den Jahrhunderten vor der Zeitwende. Das Schweigen im germanischen Raum darf daher nur so ausgelegt werden, daß die Runen zu jener Zeit noch nicht vorhanden waren.
Es ist ein vergebliches Bemühen, „uralte“ Runendenkmäler zu schaffen, indem man Runensteine, die an und für sich nicht datierbar sind, kurzerhand vor den Beginn unserer Zeitrechnung setzt. Denn diese Steine gehören entweder zu Gräbern mit archäologisch datierbarem Inhalt oder zu andern zeitlich bestimmbaren Anlagen; oder ihre Wörter kehren mit der gleichen Sprachstufe und demselben Lautstand auf anderen, datierbaren Denkmälern wieder; oder sie weisen Runenformen auf, die nachweislich jünger sind als Formen andrer zeitlich bestimmter Funde. Selbst wenn aber der eine oder andere Runenstein in seiner kurzen Inschrift keines dieser Kennzeichen besitzen sollte, wäre es unberechtigt, ihn der Bronzezeit zuzuweisen — ohne einen anderen Grund als den Wunsch, die Runenschrift als solche um ein Jahrtausend hinaufzurücken.
Es darf auch, wie schon WIMMER bemerkt hat, nicht übersehen werden, daß die Runen dort, wo sie klassischen Zeichen entsprechen, nicht etwa mit den ältesten (archaischen) griechischen oder gar phönizischen Buchstaben, sondern mit daraus im Lauf der Jahrhunderte entwickelten, also nachweislich jüngeren Formen übereinstimmen. So hat b (B) in alter Zeit stets nur einen Bogen ( u. ä.); i (phön. j) ist statt I, r statt , t X statt usw.
Noch ein weiterer Grund läßt sich „aus dem Schweigen“, diesmal der Sprachen anführen. Wenn schon die Indogermanen—in Runen— geschrieben hätten, müßten zum Indogermanenerbe auch Wörter aus dem Bereich des Schreibens zählen. Wir werden aber sehen (unten S. 227), daß weder der Name der germanischen Schriftzeichen selbst noch der mit den Runen zusammenhängende Sprachschatz die Annahme einer indogermanischen Schrift irgendwie nahelegen.