Handbuch Pflegeethik -  - E-Book

Handbuch Pflegeethik E-Book

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Beschreibung

Health care involves ethical complexities that also affect nursing care: How can an ethically correct approach be recognized in borderline moral situations? When are resources being fairly distributed, and what is the relationship between ethics and economic considerations in nursing practice? What is the ethical significance of concepts such as vulnerability and advanced nursing practice? How can nurses in an interprofessional team help shape ethical decision-making? How can ethics be taught, and what are the characteristics of ethically considered nursing research? How should robotics be regarded ethically in everyday nursing care, and what does migration-sensitive nursing ethics look like? This handbook brings together the views of international experts on these and other topics. In three sections on ?Foundations=, ?Clinical and Social Fields of Action= and ?Aspects of Ethics Transfer=, they highlight current debates on the ethics of care. The book=s consistent structure, with goals and transfer questions, makes it possible to go into the topics more deeply in a systematic way. With forewords by Christel Bienstein and Ann Gallagher.

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Der Herausgeber

Settimio Monteverde, Prof. (FH), Dr. sc. med., MME, MAE, RN, lic. theol., ist Dozent an der Berner Fachhochschule, Departement Gesundheit und Co-Leiter Klinische Ethik am Universitätsspital Zürich/Universität Zürich, Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte. Zu seinen Tätigkeits- und Forschungsfeldern zählen Grundlagen der Pflege- und Medizinethik, Methoden und Inhalte des Ethikunterrichts, Klinische Ethik, Ethik der interprofessionellen Zusammenarbeit, ethische Fragen der Palliative Care und der Definition des Todes. Er ist Mitglied des Stiftungsrats der Stiftung HOSPIZ IM PARK/Klinik für Palliative Care (Arlesheim CH), war Mitglied der Ethikkommission des Schweizer Berufsverbandes der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner, der Zentralen Ethikkommission der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften und der Kantonalen Ethikkommission beider Basel (heute Ethikkommission Nordwest- und Zentralschweiz). Von 2007 bis 2011 leitete er die Fachstelle Ethik des Seminars am Bethesda in Basel, zuvor arbeitete er von 1996 bis 2007 im Pflegeberuf, die letzten 7 Jahre davon als Pflegefachmann Anästhesie. Er ist Associated Editor der Zeitschrift Nursing Ethics.

Settimio Monteverde

Handbuch Pflegeethik

Ethisch denken und handeln in den Praxisfeldern der Pflege

2., erweiterte und überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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2., erweiterte und überarbeitete Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-035924-6

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-035925-3

epub:    ISBN 978-3-17-035926-0

mobi:    ISBN 978-3-17-035927-7

 

 

Geleitwort

Christel Bienstein

 

 

 

Ethische Dilemmata und ethisch schwierige Situationen ereignen sich tagtäglich im beruflichen Leben von Pflegefachpersonen. Es sind nicht immer die großen Fragestellungen der Sterbebegleitung, der Organtransplantation, des Abstellens von Geräten oder der verdeckten Teilnahme von Patient*innen an Forschungsvorhaben. Viel häufiger sind es die kleinen, nicht spektakulären Entscheidungen, die während eines Dienstes getroffen werden. Vielfach sind diese selbst für die Beteiligten nicht als solche auf den ersten Blick erkennbar, sie sind es aber, die zu dem Gefühl der Pflegenden beitragen, nicht alles »geschafft«, beziehungsweise »richtig gemacht« zu haben. Schon die erste Version des ICN – Ethikkodex von 1953 führte die zentralen ethischen Dimensionen des Handelns von Pflegenden auf1:

1.  Gesundheit zu fördern,

2.  Krankheit zu verhüten,

3.  Gesundheit wiederherzustellen,

4.  Leiden zu lindern.

Diese haben bis heute ihre Gültigkeit nicht verloren. Dabei wird in dem Ethikkodex ein besonderes Augenmerk auf die Pflegenden in ihrer Berufsausübung und auf die Zusammenarbeit und Förderung der Kolleg*innen gerichtet. Die jetzige Situation ist jedoch von einem umfänglichen personellen Notstand gekennzeichnet. Bis zu 13 Patient*innen müssen von einer Pflegefachperson in Deutschland pro Schicht im Krankenhaus versorgt werden. In der Nacht müssen von einer Pflegenden im Durchschnitt 28 Patient*innen im Krankenhaus und 52 Bewohner*innen im Altenheim versorgt werden. Der personelle Mangel führt zu einem deutlichen Zeitmangel für die Versorgung pflegebedürftiger Menschen, Rückrufe aus dem Frei und ungeregelte Arbeitszeiten verschärfen die aktuelle Pflegesituation. Die unzureichenden Arbeitssituationen verstellen den Blick auf die alltäglichen ethischen Herausforderungen, wie die aufmerksame Wahrnehmung von Schmerzen, die notwendige Beratung und Aufklärung, die ausreichende Mobilisation pflegebedürftiger Menschen sowie die einfühlsame Begleitung von sterbenden Menschen oder von Menschen mit dementiellen Prozessen. Auch kommt der angemessene Umgang mit Personen aus Migrationskontexten zu kurz oder das Nutzen von Alternativen zu freiheitsentziehenden Maßnahmen.

Diese Entwicklung ist nicht nur dem personellen Mangel, sondern der deutlichen Zunahme ökonomischer Interessen geschuldet. Ein grundlegendes Problem ist aber auch ein in vielen Fällen zu beobachtendes apolitisches Verhalten der beruflich Pflegenden. Sie haben den Eindruck, keine Veränderungen bewirken zu können und tragen dadurch dazu bei, Pflegesituationen aufrecht zu erhalten, die ethisch nicht mehr zu vertreten sind. Dem ständig steigenden Druck versuchen viele Pflegende durch eine Reduktion der Arbeitszeit oder gar einen Ausstieg aus dem Beruf zu entgehen. Pflegerische Zusammenschlüsse oder Streik war und ist für viele Pflegende bis heute undenkbar. Seit Jahrzehnten versuchen Berufsverbände auf die sich zuspitzende Situation hinzuweisen. Nun, wo viele ambulante Pflegedienste keine neuen Patient*innen mehr aufnehmen können, Altenheime über Wartelisten verfügen und Kurzzeitpflegeangebote nur über Buchungen von Monaten im Voraus angeboten werden können, hat selbst der Gesetzgeber erkannt, dass hier dringender Handlungsbedarf besteht.

In Deutschland wurden durch die Aktivitäten der Verbände die ersten Pflegeberufekammern auf den Weg gebracht, die als erste Aufgabe haben, die pflegerische Versorgung der Bevölkerung transparent zu machen und ausreichende Versorgungsangebote einzufordern. Parallel zur Tätigkeit von Verbänden und Kammern entwickelt sich auch das Wissen über sichere und wirksame Pflege rasant weiter. Sowohl in den Neugestaltungen der Ausbildungsgänge wie auch im Studium finden sich durchgehend ethische Themen, die u. a. in Fallbesprechungen bearbeitet werden – dies zumeist in den theoretischen Ausbildungsanteilen und noch zu wenig in der gelebten Praxis. Die Wahrnehmung und Bearbeitung ethischer Alltagsproblematiken ist dringend erforderlich, um diese zu erkennen und darauf reagieren zu können. Das kann mittels des Aufbaus von Advanced Practice Nurses in Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern deutlich unterstützt werden. Weiterhin wird es eine Aufgabe der Pflegenden sein, akut erkrankte Bewohner*innen im vertrauten Umfeld des Altenheims zu pflegen und ihnen unbegründete Krankenhauseinweisungen möglichst zu ersparen. In den Zentralen Notaufnahmen muss die Kommunikation ebenso eine deutliche Hilfestellung bieten wie die Begleitung von Angehörigen auf Intensivstationen. Dabei kann die Weiterentwicklung der Digitalisierung eine Hilfestellung bieten, um mehr Zeit für die pflegerische Versorgung und vor allem für die Kommunikation mit den anvertrauten Menschen zur Verfügung zu haben. Besonders die Unterstützung der Dokumentationsprozesse und der schnelle Zugriff auf die Aufzeichnungen anderer beteiligter Gesundheitsberufe wird eine deutliche Entlastung bieten. Es wird eine wichtige Aufgabe der Pflegenden sein, die Industrie bei der Entwicklung dieser Angebote zu unterstützen, um passgenaue und für die Menschen hilfreiche Lösungen zu entwickeln.

Dringend muss Raum geschaffen werden, um die grossen manifesten, aber auch die kleinen und teilweise verdeckten ethischen Problemstellungen zu erkennen. Pflegende brauchen Mut, diesen auf eine sicht- und hörbare Weise zu begegnen, denn sie treffen tagtäglich Entscheidungen, die für die ihnen anvertrauten Menschen von großer Bedeutung sein können. Das vorliegende Handbuch vereinigt Stimmen aus dem deutschsprachigen und internationalen Umfeld. Sie zeigen eine Vielfalt an Perspektiven auf diese Problemstellungen und Möglichkeiten einer ethisch reflektierten Pflegepraxis. Dadurch bieten sie eine deutliche Unterstützung und helfen Pflegenden, ethischen Fragestellungen und Problemlagen aktiv zu begegnen.

Recklinghausen,im Oktober 2019

Christel Bienstein

1     https://www.dbfk.de/de/shop/artikel/ICN-Ethikkodex-fuer-Pflegende.php (Zugriff am: 03.01.2020)

 

 

Geleitwort2

Ann Gallagher

 

 

 

Geleitworte wollen Neugierde wecken für die Inhalte, welche die Leser*innen erwarten. Dieses Handbuch bietet eine Fülle an Möglichkeiten, die heutige Pflegeethik zu erkunden und Erkenntnisse für die Pflegepraxis, die Pflegepädagogik, die Pflegeforschung und das Pflegemanagement zu gewinnen. Das Buch wendet sich an eine deutschsprachige Leserschaft, doch die Themen haben internationale Relevanz. Mit einem Handbuch verbunden ist die Vorstellung eines Lehrbuchs, eines Reiseführers oder eines wissenschaftlichen Nachschlagewerks über ein bestimmtes Gebiet. Genau dies erfüllt das vorliegende Handbuch in den drei Abschnitten Fundamente, Klinische und gesellschaftliche Handlungsfelder und Dimensionen des Ethiktransfers. In ihnen werden Wissen, Haltungen und Kompetenzen dargestellt, die für eine sowohl wissenschaftlich fundierte als auch praxisnahe Auseinandersetzung mit der Pflegeethik grundlegend sind.

Der Abschnitt Fundamente beschreibt den Kontext heutiger Pflegeethik. Dazu gehören philosophische Bezüge, das Recht, die Organisationsethik, die Professionalisierung der Pflege, aber auch zentrale Konzepte wie das Advanced Practice Nursing, die Selbstbestimmung von Patient*innen und die ethische Nachhaltigkeit. Der Abschnitt Handlungsfelder führt die Leser*innen in Kernfragen ethischen Handelns ein, die sich exemplarisch im Ethikunterricht, in der Forschung, im Management, in der Public Health und Pflegepolitik, in der Pflege am Lebensende, im Kontext von Migration und im Umgang mit neuen Technologien zeigen. Pflegefachpersonen benötigen hier fundierte Kenntnisse, um sowohl die Chancen als auch die Herausforderungen jedes Handlungsfelds zu verstehen. Der Abschnitt Ethiktransfer fokussiert übergreifende Kompetenzbereiche, die für eine ethisch fundierte und reflektierte Pflegepraxis erforderlich sind. Dazu gehören grundlegende Aspekte der interprofessionellen ethischen Entscheidungsfindung, der Arbeit Pflegender in klinischen Ethikkomitees und des Verhältnisses von Ethik und Ökonomie im Umgang mit Güterknappheit. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der Globalisierung auf die Pflege schließt diesen Abschnitt.

Nie war eine ethisch reflektierte Pflege- und Sorgekultur dringlicher als heute. Der demografische und ökologische Wandel sowie soziale und technologische Veränderungen sind unübersehbar. Parallel dazu blicken Menschen in vielen Ländern einer unsicheren Zukunft entgegen, welche durch Fachkräftemangel und begrenzte Ressourcen geprägt ist. Angesichts solcher Szenarien und Herausforderungen gilt es, auf die herausragende Bedeutung, Wertschöpfung und Wirksamkeit einer Pflege- und Sorgekultur hinzuweisen. Pflegende leisten gemeinsam mit Ärzt*innen, Hebammen und Entbindungspfleger, Physiotherapeut*innen, Ernährungsberater*innen und weiteren Fachpersonen einen entscheidenden Beitrag zur Lebensqualität, zum Wachstum und Gedeihen von Menschen, Familien und ganzen Gemeinschaften. Das vorliegende Handbuch bietet wertvolle Grundlagen, die Pflegende auf ihrem gemeinsamen Weg mit Patient*innen, Familien und dem interprofessionellen Team in unterschiedlichen Versorgungskontexten unterstützen. Die Breite und Tiefe pflegeethischer Themen sollen Pflegefachpersonen befähigen, ethische Aspekte ihrer Arbeit kompetent anzugehen. Den Leser*innen des Handbuchs wünsche ich zum einen, dass sie die Erkenntnisse daraus in die Praxis einbringen sowie Raum und Zeit für die ethische Reflexion schaffen können. Zum andern hoffe ich, dass sie Gelegenheiten nutzen, über die grundlegende Rolle der Pflegeethik zu diskutieren, die zur Etablierung einer Sorgekultur führen sollte, welche ethisch nachhaltig ist und allen Menschen zugutekommt.

Guilford (UK),im Oktober 2019

Ann Gallagher

2     Übersetzt aus dem Englischen.

 

 

Vorwort des Herausgebers

 

 

 

»Die Sorge ist das Verhältnis zum Leben.«

Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode

Pflege als Ausdruck menschlichen Sorgens und Pflegeethik als Reflexion desselben sind auf enge Weise miteinander verwoben. Das Übersetzen dessen, was dies in den verschiedenen Praxisfeldern der Pflege bedeutet, bedarf spezifischer Expertisen. Ein Handbuch Pflegeethik, das diesem Anspruch genügen soll, ist deshalb nur als Gemeinschaftswerk denkbar. Mein größter Dank gilt deshalb den Kolleg*innen, die die Zweitauflage des Handbuchs, parallel zu den Verpflichtungen in Praxis, Forschung und Lehre, mit ihren Beiträgen ermöglicht haben.

Die bewährte Struktur der Erstauflage wurde beibehalten, die Leser*innen werden aber nebst den aktualisierten bestehenden Beiträgen auch neue finden, die das Feld der Pflegeethik sowohl erweitern als auch schärfen, wie z. B. Ethik und Professionalisierung, ethische Kompetenzentwicklung von Advanced Practice Nurses, ethische Nachhaltigkeit, Moral Apprenticeship, Pflegekammern, Migration, Robotik, Digitalisierung, Advance Care Planning, ethische Entscheidungsfindung im interprofessionellen Team, Ethik und Gesundheitsökonomie, u. a. m. Auch in ihnen zeigt sich Pflege als moralische Praxis, welche in Zeiten technologischen, sozialen, demografischen und ökologischen Wandels die Etablierung menschenfreundlicher Sorgekulturen im Umgang mit Gesundheit, Krankheit und Behinderung fördert, gemeinsam mit den Adressat*innen von Pflege, den Partnerprofessionen und unter Einbezug relevanter Bezugsdisziplinen. Mein Dank gilt auch den Personen, die mich zu dieser Zweitauflage ermutigt, diese begleitet und unterstützt haben. Dabei zu erwähnen sind insbesondere Prof. Theresa Scherer, Prof. Yvonne Walker Schläfli, Prof. Kaspar Küng und Dr. Francesco Spöring (Berner Fachhochschule, Departement Gesundheit), Rahel Rohrer-Christ, Andrea Kuhn, M. A. (Promovendin; Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Ludwigshafen, Forschungsnetzwerk Gesundheit) sowie Prof. Dr. Tanja Krones (Universitätsspital Zürich/Universität Zürich, Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte). Bestens bewährt hat sich erneut die Zusammenarbeit mit dem Kohlhammer-Verlag. Ich danke Frau Alexandra Schierock für die kompetente und zuverlässige Begleitung und Unterstützung in allen Phasen des Projekts.

Arlesheim und München,im Januar 2020

Settimio Monteverde

Inhalt

Geleitwort

Christel Bienstein

Geleitwort

Ann Gallagher

Vorwort des Herausgebers

Einführung und Überblick

Settimio Monteverde

Teil I Fundamente

1    Grundlagen der Pflegeethik

Settimio Monteverde

2    Pflegeethik und die Professionalisierung von Pflege

Megan-Jane Johnstone

3    Vulnerabilität in der professionellen Pflegebeziehung

Berta M. Schrems

4    Die Bedeutung der Care-Ethik für die Pflegepraxis

Helen Kohlen

5    Entscheidungen Pflegender zwischen Expertise, Förderung der Selbstbestimmung und Fürsorge

Monika Bobbert

6    Advanced Nursing Practice: Pflegeethische Implikationen anhand eines Fallbeispiels

Ruth Schwerdt

7    Ethische Kompetenzen von Advanced Practice Nurses

Ann Baile Hamric (†)

8    Pflegeethik als kritische Organisationsethik

Marion Großklaus-Seidel

9    Interprofessionelle Kooperation zwischen Ethik und Recht

Pierre-André Wagner

10  Konturen einer ethisch nachhaltigen Pflegepraxis

Linda Nyholm, Susanne Salmela, Lisbet Nyström, Camilla Koskinen

Teil II. Klinische und gesellschaftliche Handlungsfelder

11  Die Vermittlung von Ethik in der Pflege

Marianne Rabe

12  Moral Apprenticeship in der pflegerischen Berufsbildung

Michaela Key, Settimio Monteverde

13  Forschung, Pflege und Ethik

Settimio Monteverde, Iren Bischofberger

14  Pflegemanagement in ethischer Perspektive

Constanze Giese

15  Public Health Nursing und Ethik

Éva Rásky

16  Advance Care Planning als Handlungsfeld von Pflegefachpersonen

Isabelle Karzig-Roduner

17  Pflegeethik in der Endphase des Lebens

Chris Gastmans, Settimio Monteverde

18  Pflegekammern als Orte ethischer Reflexion

Andrea Kuhn

19  Migrationssensitive Pflegeethik

Miriam Kasztura

20  Pflegeethik und Robotik in der Pflege

Dominic Seefeldt, Manfred Hülsken-Giesler

21  Ethische Aspekte der Digitalisierung und Technisierung des Pflegealltags

Arne Manzeschke, Julia Petersen

Teil III Dimensionen des Ethiktransfers

22  Methoden ethischer Fallbesprechung im Pflegealltag

Norbert Steinkamp

23  Interprofessionelle klinisch-ethische Entscheidungsfindung am Beispiel der Intensivmedizin

Tanja Krones, Settimio Monteverde

24  Partizipation von Pflegenden in Klinischen Ethikkomitees

Helen Kohlen

25  Von der Zweiklassenmedizin zur Zweiklassenpflege? Rationierung als pflegeethisches Problem

Markus Zimmermann

26  Gesundheitsökonomie, Ethik und Pflege

Urs Brügger

27  Pflegeethik in einer globalisierten Welt

Miriam Hirschfeld

Verzeichnis der Autor*innen

Stichwortverzeichnis

 

 

Einführung und Überblick

Settimio Monteverde

 

 

 

Das Handbuch Pflegeethik verfolgt das Ziel einer Einführung in den Gegenstandsbereich der Pflegeethik anhand spezifischer Themenfelder, die für das Verständnis ihrer Voraussetzungen und Aufgaben grundlegend sind. Auch in der Zweitauflage kommen schwerpunktmäßig deutschsprachige Autor*innen zu Wort, verstärkt sind aber auch Stimmen aus der internationalen Diskussion aufgenommen, die erstmalig einem deutschsprachigen Publikum zugänglich werden. Zur Zielleserschaft des Handbuchs zählen einerseits Fachpersonen aus der Pflegepraxis, die ihre ethischen Kompetenzen im Umgang mit Fragestellungen des Berufsalltags vertiefen möchten, aber auch pädagogisch Tätige, die das Handbuch für die Vorbereitung und Durchführung des Unterrichts in der Fort- und Weiterbildung einsetzen möchten, sowie Studierende der Pflege, Forschende und Personen aus dem interprofessionellen Umfeld, die an einer Einführung in Fragestellungen und Inhalte heutiger Pflegeethik interessiert sind.3

Seit der Erstauflage hat sich der Gegenstandsbereich der Pflegeethik diversifiziert, sowohl international als auch im deutschsprachigen Raum. Nach wie vor ist Pflegeethik aber keine partikulare Ethik für die Pflege, die über einen »eigenen« theoretischen Zugang oder gesondertes Wissen zu ethischen Fragen verfügt. Noch ist sie eine Ethik, die von der Abgrenzung zu anderen Bereichsethiken therapeutischen Handelns lebt und in der Differenz zum »Anderen« einen Legitimationsgrund sucht. Aber sie ist – wie alle Bereichsethiken der Gesundheitsberufe – eine Bereichsethik, die das berufliche Handeln von Pflegefachpersonen mit seinen theoretischen und praktischen Grundannahmen in ethischer Hinsicht, d. h. in Bezug auf die Werte, die dieses Handeln verwirklicht, klärt. Die Notwendigkeit einer solchen Klärung ist heutzutage unbestritten, und (nur) in diesem Sinne lässt sich auch behaupten, dass die Pflege eine »eigene« Ethik habe. Als Beispiel für die Notwendigkeit einer solchen Klärung können unterschiedliche Debatten über den Pflegeschlüssel, die Finanzierung der Pflege oder die Sicherung des pflegerischen Nachwuchses (und mit diesem verbunden auch der Patient*innenversorgung) aufgeführt werden. Diese sind spätestens seit den Koalitionsverhandlungen nach der vergangenen Bundestagswahl in der Bundesrepublik Deutschland auch im öffentlichen Raum unübersehbar. In ihnen kann eine regelrechte »Politisierung« des Pflegebegriffs beobachtet werden, und damit verbunden auch der Pflegeethik als »Sorge um die Pflege«, wie es Diskussionen über den sog. Pflegenotstand zeigen. Ähnliches lässt sich für die Schweiz auch bezüglich öffentlicher Diskussionen rund um die Sicherung des pflegerischen Nachwuchses und die gesetzliche Konstituierung eines pflegerisch eigenverantwortlichen Raums beobachten (vgl. die sog. »Pflege-Initiative«), zu der Regierung, Parlament und Interessensorganisationen wiederholt Stellung genommen haben. Die Erfahrung zeigt, dass die verstärkte Präsenz von Pflegethemen im öffentlichen Raum nicht zwangsläufig zu einer Verbesserung der Rahmenbedingungen führt, in denen Pflege geleistet wird. Trotzdem liefert die öffentliche Wahrnehmung wichtige Impulse, die es erlauben, das Reflexionsfeld der Pflegeethik deutlicher abzustecken und den Binnenraum der Beziehung zwischen Pflegenden und Patient*innen als Kernbereich ethischer Reflexion um weitere Dimensionen zu ergänzen, die für das Verständnis der Tragweite pflegeethischer Reflexion unverzichtbar sind. Zu diesen Dimensionen zählen z. B. die Organisationsethik, das moralische Klima in Einrichtungen der Gesundheitssorge, die »moralische Gesundheit« von Fachpersonen angesichts von Interessenskonflikten, Leistungs- und Kostendruck, ethische Leadership im Kontext institutioneller Veränderungsprozesse, die gesundheitliche Chancengleichheit für vulnerable Populationen im Zugang zu wirksamer Pflege oder die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit als ethisch vorrangiges Ziel der Gesellschaft.

Systematik des Bandes und Kapitelübersicht

Das Handbuch vollzieht einen Dreischritt von Fundamenten, Konkretisierungen in klinischen und gesellschaftlichen Handlungsfeldern zu Aspekten des Ethiktransfers mit Querschnittsfragen, die für alle Handlungsfelder relevant sind. Die Kapitel verfügen über einen einheitlichen Aufbau, Transferaufgaben dienen dazu, Ergebnisse der Lektüre zu sichern und weiterführende Fragen zu formulieren.

Der erste Abschnitt Fundamente widmet sich theoretisch-konzeptuellen Aspekten der Pflegeethik. Settimio Monteverde (Bern/Zürich) nimmt zunächst eine Verortung von Pflegeethik als Reflexion von Pflege als moralischer Praxis vor ( Kap. 1). Eine Entfaltung von Konzepten, die für die Pflegeethik wichtig sind, nimmt Megan-Jane Johnstone (Melbourne/AU) für den Begriff der Profession ( Kap. 2) sowie Berta M. Schrems (Wien) für den Begriff der Vulnerabilität ( Kap. 3) vor. Helen Kohlen (Vallendar) diskutiert die für das ethische Selbstverständnis von Pflege zentrale normative Tradition der Care-Ethik ( Kap. 4). Monika Bobbert (Münster) entfaltet pflegeethische Aspekte des Autonomiebegriffs ( Kap. 5). Eine Reflexion ethischer Aspekte des Advanced Practice Nursing nimmt Ruth Schwerdt (Frankfurt) vor ( Kap. 6), Ann Baile Hamric4 (Richmond-VA/USA) erörtert das ethische Kompetenzprofil von Advanced Practice Nurses ( Kap. 7). Marion Grossklaus-Seidel (Darmstadt) beleuchtet Pflegeethik aus der Perspektive der Organisationsethik ( Kap. 8). Pierre-André Wagner (Bern) zeichnet die Schnittstellen zwischen Recht und Ethik im Kontext pflegerischen Handelns nach ( Kap. 9). Linda Nyholm (Vaasa/FI), Susanne Salmela (Vaasa/FI), Lisbet Nyström (Vaasa/FI) und Camilla Koskinen (Stavanger/NO) schliessen den ersten Abschnitt mit Überlegungen zu einer ethisch nachhaltigen Pflegepraxis ( Kap. 10).

Der zweite Abschnitt klinische und gesellschaftliche Handlungsfelder vertieft ausgewählte Bereiche pflegerischen Handelns, in denen sich die Rollenexpansion Pflegender ( Kap. 1.2.3), resp. die Notwendigkeit einer vertieften pflegerischen und pflegeethischen Expertise zeigen. Marianne Rabe (Berlin) widmet sich Fragen der curricularen Vermittlung von Ethik in der Pflege ( Kap. 11), Michaela Key (Zürich) und Settimio Monteverde solchen des Moral Apprenticeship in der praktischen Pflegeausbildung ( Kap. 12). Eine Reflexion über Ethik und Forschung in der Pflege nehmen Settimio Monteverde und Iren Bischofberger (Zürich) vor ( Kap. 13). Ethische Fragen des Pflegemanagements vertieft Constanze Giese (München) ( Kap. 14), solche des Public Health Nursing Éva Rásky (Graz) ( Kap. 15). Das Handlungsfeld Pflegender im Rahmen des Advance Care Planning beleuchtet Isabelle Karzig-Roduner (Zürich) ( Kap. 16), dasjenige der Pflege in der Endphase des Lebens Chris Gastmans (Leuven/BE) und Settimio Monteverde ( Kap. 17). Aufgaben von Pflegekammern als Orte ethischer Reflexion diskutiert Andrea Kuhn (Ludwigshafen) ( Kap. 18). Miriam Kasztura (Lausanne) formuliert ethische Anforderungen an eine migrationssensitive Pflegeethik ( Kap. 19). Ethische Orientierungen im Umgang mit Robotik in der Pflege erörtern Dominic Seefeldt (Bremen) und Manfred Hülsken-Giesler (Osnabrück) ( Kap. 20), Arne Manzeschke und Julia Petersen (Nürnberg) schliesslich diskutieren pflegeethische Implikationen der Digitalisierung und Technisierung des Pflegealltags ( Kap. 21).

Der dritte Abschnitt Dimensionen des Ethiktransfers entfaltet bereichsübergreifend Voraussetzungen für gelingende Ethikdiskurse in den Praxisfeldern der Pflege. Norbert Steinkamp (Berlin) beschreibt Grundlagen ethischer Entscheidungsfindung in systematischer Hinsicht ( Kap. 22), Tanja Krones (Zürich) und Settimio Monteverde vertiefen diese im interprofessionellen Kontext der Intensivstation ( Kap. 23). Die Partizipation Pflegender in Klinischen Ethikkomitees beleuchtet Helen Kohlen ( Kap. 24). Während Markus Zimmermann (Freiburg i. Üe.) das Phänomen der Rationierung und seine pflegeethischen Implikationen beleuchtet ( Kap. 25), nimmt Urs Brügger (Bern) eine Verhältnisbestimmung von Gesundheitsökonomie und Ethik mit Blick auf die Pflegepraxis vor ( Kap. 26). Mirjam Hirschfeld (Yezreel Valley, IL) schliesst den Band mit Überlegungen zu den Auswirkungen der Globalisierung auf die Pflege und mit ethischen Postulaten, die sich für eine global denkende Pflegeethik und Pflegepraxis ergeben ( Kap. 27).

Hinweise, die für das jeweilige Thema von besonderer Bedeutung sind, erscheinen im Fließtext grau hinterlegt.

Die Übersetzungen der englischsprachigen Beiträge wurden durch den Herausgeber vorgenommen.

Das Handbuch ist um eine geschlechtsgerechte Sprache bemüht, die mit dem Genderstern (*) zum Ausdruck kommt und – wo nicht anders vermerkt – explizit weibliche, männliche und nicht-binäre Geschlechtsidentitäten einschließt.

3     In diesem Band wird mit dem Begriff der Pflegefachperson eine Person bezeichnet, welche über einen akademischen oder nichtakademischen Abschluss in Krankenpflege, Gesundheits- und Krankenpflege Altenpflege oder Kinderkrankenpflege verfügt. Zu den gesetzlichen Regelungen im D-A-CH-Raum für die Schweiz siehe das 2020 in Kraft getretene Gesundheitsberufegesetz; für Deutschland das 2020 in Kraft getretene Pflegeberufereformgesetz, dort § 1, Absatz 1; für Österreich, wo sich die Bezeichnung der Krankenpfleger*in durchgesetzt hat, das 2016 novellierte Gesundheits- und Krankenpflegegesetz. Der Begriff Pflegende*r bezeichnet sowohl Pflegefachpersonen als auch ganz allgemein pflegerisch Tätige (unabhängig vom Qualifikationsgrad). Der Herausgeber dankt Andrea Kuhn, MA und PD Dr. Berta Schrems für wertvolle Hinweise.

4     Mitten in der finalen Bearbeitung des vorliegenden Buches ereilt uns die traurige Nachricht des Todes von Ann Baile Hamric. Ihr international bekanntes wissenschaftliches Wirken ist für die konzeptuelle und empirische Fundierung von Pflegeethik und Advanced Nursing Practice von unschätzbarem Wert. Ihre freundliche, offene und gewinnende Persönlichkeit wird in der globalen Pflegegemeinschaft schmerzlich vermisst.

Teil IFundamente

 

 

1             Grundlagen der Pflegeethik

Settimio Monteverde

 

 

 

Professionelle Pflege ist eine Form moralischer Praxis.Sie verwirklicht in ihrem Handeln Vorstellungen des Guten und Richtigen. Diese sind wandelbar und zeigen sich in Ethikkodizes, Leitlinien, Pflegeleitbildern oder in moralischen Intuitionen, die den pflegerischen Umgang mit Menschen, die gesundheitliche Bedürfnisse haben, prägen. Die Gesamtheit dieser Vorstellungen konstituiert die »Moral von Pflege« resp. das Pflegeethos.AlsBereichsethikpflegerischen Handelns untersucht Pflegeethik diese Vorstellungen. Ihre Entwicklung ist eng an die Professionalisierung von Pflegegebunden. Das Kapitel beleuchtet den Mehrwert ethischen Denkens in Grenzsituationen der Moral, die den Pflegealltag prägen. Es erörtert grundlegende Begriffe und ausgewählte Traditions- und Denklinien der philosophischen Ethik,die für das Verständnis von Pflegeethik wichtig sind. Gedanken zum Verhältnis von Pflegeethik,der Ethik der ärztlichenProfessionund der Medizinethik schließen das Kapitel ab.

Ziele: Nach dem Lesen des Kapitels sind Sie in der Lage, grundlegende Begriffe wie Moral, Ethik, moralisches Problem, ethisches Dilemma, Pflegeethik, Ethik der ärztlichen Profession, Medizinethik sowie Bereichsethik zu erklären und zueinander in Beziehung zu setzen. Sie beschreiben die wichtigsten Konturierungen der Pflegeethik und ihren Beitrag zum professionsübergreifenden ethischen Diskurs.

1.1       Pflege als moralische Praxis und Pflegeethik als kritische Reflexion derselben

Formen familiärer oder nachbarschaftlicher Pflege sind für jede menschliche Gemeinschaft von existentieller Bedeutung und sinnstiftend, sowohl im Umgang mit »natürlicher« Pflegebedürftigkeit (z. B. im Säuglingsalter) als auch mit den Folgen von Behinderung oder Krankheit. Spätestes im Mittelalter wurden sie in Europa ergänzt durch Strukturen klösterlicher oder kommunaler Pflege. Diese hatten den Zweck, Menschen vor den sozialen, ökonomischen und gesundheitlichen Auswirkungen von Krankheit, Krieg oder weiterem Schicksal zu schützen (Seidler & Leven 2003). Die Ausdifferenzierung der Pflege zur Profession aber erfolgte – verglichen mit der Ärzt*innenschaft oder den Hebammen – erst relativ spät, nämlich im Gefolge der Etablierung der Krankenhausmedizin in der Mitte des 19. Jhdt. (Schweikardt 2008). Professionen verfügen aufgrund der gesellschaftlichen Bedeutung ihrer Dienstleistung über ein soziales Mandat und damit verbundene Privilegien (Geissler 2013, Krampe 2013): Sie definieren Adressat*innen, Gegenstand und Umfang ihrer Dienstleistung autonom, aber auch die Zulassung, Ausbildung und Regulierung der Tätigkeit ihrer Mitglieder. Ferner legen sie grundlegende Werte ihres Handelns verbindlich in einem Ethikkodex fest, der als sichtbares Zeichen der Vertrauenswürdigkeit der Professionsangehörigen fungiert ( Kap. 2).

Die Professionalisierung von Pflege wurde in exemplarischer Weise durch das Wirken von Florence Nightingale (1820–1910) vollzogen. Pflege sollte – so Nightingale – auf ihre Wirksamkeit und bestmögliche Evidenz geprüft werden, aber auch mit der richtigen Haltung erbracht werden (Nightingale 2016). Die Professionalisierung von Pflege legte dadurch den Grundstein für die Pflegeforschung, die Pflegewissenschaft und die Akademisierung vonPflege (Lademann 2018, Büker 2018). Ferner führte sie zur Explikation (d. h. zur Artikulation und Sichtbarmachung) des Pflegeethos, d. h. jenes Kanons an Haltungen und Werten, welche professionelle Pflege als im ethischen Sinne »gute« Pflege qualifizieren (Fry 2004b). Spuren dieses Pflegeethos reichen bis in die »vorprofessionelle Zeit« der Pflege zurück und sind in allen Kulturen sichtbar. Sie zeigen sich z. B. im frühchristlichen Begriff der Caritas, der tätigen Nächstenliebe, im jüdischen und islamischen Begriff der Barmherzigkeit und im buddhistischen Begriff des Mitgefühls. Erst die wissenschaftliche Aufbereitung des Pflegeethos mit Methoden und Instrumenten der Moralphilosophie und der Sozialwissenschaften ist es, die den Begriff der Pflegeethik – verstanden als wissenschaftliche Reflexion des Pflegeethos – in Erscheinung treten lässt (Monteverde 2016). Auch Pflegeethik ist im deutschsprachigen Raum ein relativ junger Begriff, dessen Legitimität noch bis vor wenigen Jahren umstritten war: Pflege, so die Argumente, könne keine eigene Ethik haben, weil sie keine eigene Moraltheorie besitze, weil es im klinischen Alltag immer um »die Patient*in« gehe, die von unterschiedlichen Professionen betreut werde und Tendenzen der »Abschottung« durch Sonderethiken entgegenzuwirken sei (zur Debatte vgl. Rehbock 2000, Pfabigan 2007, Monteverde 2015).

Begriffe wie Ethik in der Pflege oder Ethik im Pflegealltag wurden deshalb favorisiert, um die Dimension resp. den »Ort« der Anwendung hervorzuheben. Die Anliegen der Kritik, »sezessionistischen« Tendenzen innerhalb der Ethik im Gesundheitswesen entgegenzuwirken, sind ernstzunehmen. Ebenso ist der Fokus auf die gemeinsamen philosophischen Grundlagen und die Patient*innenorientierung vielversprechend für die Ausarbeitung einer Ethik der interprofessionellen Zusammenarbeit. Doch zeigt die Ethikforschung der letzten 20 Jahre auf, dass sich Professionen und ihre Mitglieder aufgrund ihres Wissens-, Zuständigkeits- und Erfahrungsspektrums immer auch an spezifischen Werten orientieren. Die daraus entstehende Vielfalt an moralischen Wahrnehmungen und Intuitionen muss entdeckt, begriffen und gewürdigt werden, wenn dort, wo sich im klinischen Alltag Wertedifferenzen oder -divergenzen zeigen, eine ethische Verständigung gelingen soll. Wie das professionelle Handeln von Ärzt*innen, Physiotherapeut*innen oder Hebammen ist auch dasjenige einer Pflegefachperson hinreichend klar bestimmbar. Es beruht auf normativen Grundannahmen, die Pflege als Form moralischer Praxis ausweisen, was Bishop und Daly mit Bezug auf Florence Nightingale mit dem Begriff der self-defining moral practice wiedergeben (Bishop & Daly 2004, S. 1908). Weil sich Pflege als moralische Praxis versteht, macht es Sinn, von Pflegeethik als kritischer Reflexion dieser Praxis und der ihr zugrunde gelegten Werte zu sprechen, was sich am Fallbeispiel mit Herrn Schmitt ( Kap. 1.2) besonders gut aufzeigen lässt.

Aufgrund der reichen Theoriebildung pflegerischen Handelns durch die Pflegewissenschaft (vgl. Masters 2015) erscheint eine Konzeption der Pflegeethik (sowie anderer Ethiken der Gesundheitsprofessionen) als Bereichsethik angemessener als diejenige der (weitgehend synonym gebrauchten) »angewandten Ethik« (Düwell 2008). Der Begriff der Bereichsethik vermag die theoretische resp. wissenschaftliche Fundierung des jeweiligen Bereichs und seiner moralischen Grundannahmen besser aufzuzeigen als der Begriff der »angewandten Ethik« (vgl. Schweidler 2018 sowie Nida-Rümelin 2005). Denn die Dimension der Praxis ist mehr als eine unidirektionale »Anwendung« von Theorie. In der Praxis wird Theorie auch getestet und weiterentwickelt. Besonders erhellend für das Verständnis dieser Interaktion von Theorie und Praxis für die Bereichsethiken im Gesundheitswesen ist der klinische Pragmatismus ( Kap. 1.2.1,  Kap. 1.4.5).

1.2       Der Bezugsrahmen

Fallbeispiel

Herr Schmitt, ein 82-jähriger Bewohner, der an Demenz leidet, lebt schon seit fünf Jahren im Alters- und Pflegeheim »Landfrieden«. Die Pflegefachfrau Susanne Fröhlich arbeitet seit kurzem in der Einrichtung und ist heute Bezugspflegende von Herrn Schmitt. Als sie am Morgen zu ihm gehen möchte, kommt ihr Herr Schmitt, noch im Schlafanzug und mit einer Aktentasche in der Hand, im Flur entgegen. Er wirkt ganz aufgewühlt und äußert, er müsse »sofort ins Büro gehen, um die Bestellungen aufzugeben«. Das beruhigende Zureden von Frau Fröhlich zeigt keine Wirkung auf den Bewohner. Vor vier Jahren wurde im Garten des Heims, der sich im Innenhof befindet, eine »Phantom-Bushaltestelle« gebaut. Susanne Fröhlich fragt sich: »Was soll ich tun? Darf ich auf die Äußerungen von Herrn Schmitt eingehen, ihm beim Anziehen helfen, ihn an die Bushaltestelle begleiten und hoffen, dass er zur Ruhe kommt?«

1.2.1     Pflegeethik und philosophische Ethik

Was sollen wir tun?

Sie werden es gemerkt haben: Auf die Frage von Frau Fröhlich ist mehr als eine Antwort möglich. Diese hängt erstens davon ab, wie die in der Situation vorgefundenen Fakten gewichtet werden. Zweitens sind Werte (z. B. Aufrichtigkeit, Empathie) und Normen (z. B. »Du sollst nicht lügen.«) entscheidend, die aus der Sicht der Beteiligten in der Situation orientierend sind. Ihre Frage zielt auf das Gute und Richtige ab, das die Pflegefachperson dem Bewohner in dieser Situation gewähren will. Genau um die Klärung des Guten und Richtigen geht es in der philosophischen Ethik. Aus dem Grund ist die Frage auch eine ethische Frage. Als praktische Philosophie versucht die Ethik, menschliches Handeln mit vernünftigen, d. h. allgemein einsichtigen Argumenten zu begründen. Welche Möglichkeiten der Begründung hat nun Frau Fröhlich, wenn sie abwägt, ob sie den Bewohner zur »Bushaltestelle« begleiten soll? Im Folgenden werden – beispielhaft und stellvertretend für weitere – drei Ansätze philosophischer Ethik vorgestellt, die in der Pflegeethik, aber auch in der Ethik der ärztlichen Profession breit rezipiert worden sind, nämlich die Pflicht-, Folgen- und Tugendethik, gegen Ende des Kapitels auch die Care-Ethik und der sog. Principlism. Sie können durchaus unterschiedliche Antworten geben auf die Frage, ob es ethisch zulässig ist, Herrn Schmitt zur »Phantom-Bushaltestelle« zu begleiten.

Pflicht-, Folgen- und Tugendethik

Die Pflegefachperson kann erstens nach dem Richtigen fragen, das es in dieser Situation zu tun gilt. Die sog. Sollensethik leitet das Richtige aus übergeordneten moralischenPrinzipien ab, aus denen sich dann schlüssig ergibt, was zu tun moralisch richtig ist. Die Sollensethik lässt sich weiter aufteilen in die Pflicht- und Folgenethik:

Neben der Sollensethik, die das Handeln an übergeordneten Prinzipien orientiert, kann die Pflegende auch bei sich selbst ansetzen und nach der Haltung resp. der Tugend oder Charakterdisposition fragen, die für die ethische Klärung der Situation angemessen ist (vgl. Pauer-Studer 2010, S. 89 ff).

3.  Für die Tugendethik fallen das Gute und das Richtige in der handelnden Person selbst zusammen. Wenn Frau Fröhlich erwägt, ob sie Herrn Schmitt zur »Phantom-Busstation« begleiten möchte, wird sie aus tugendethischer Sicht keine Pflichten ermitteln oder Folgen abwägen, sondern sich zunächst fragen, welche persönliche Haltung der Situation angemessen ist: Ist es der Gehorsam gegenüber Vorgesetzten oder die Hilfsbereitschaft, die Gewissenhaftigkeit, die Aufrichtigkeit, die Wahrhaftigkeit resp. das Mitgefühl gegenüber Herrn Schmitt? Zurückgeführt wird die Tugendethik auf den griechischen Philosophen Aristoteles (384–347 v. Chr.). Er sieht im Streben des Menschen nach einem gelingenden Leben die Quelle der Bewertung des Guten und der persönlichen Entwicklung. Die Tugendethik wird deshalb auch der sog. Strebensethik zugeordnet. Pflegerische Berufsethik hat sich lange Zeit als Tugendethik artikuliert, die diejenigen Charakterdispositionen beschreibt, welche eine gute Pflegeperson auszeichnen. Diese sind gleichzeitig Ausdruck der Erwartungen, die sowohl das gesellschaftliche Umfeld als auch die Profession selbst an die Pflegenden stellen. Enge Bezüge zur Tugendethik weist auch das Konzept des Caring und die Care-Ethik auf, welche in der Pflegewissenschaft und Pflegeethik breit rezipiert wurden. Dabei reflektiert Care die Haltung der Fürsorge als Gestaltungsmerkmal pflegerischer Beziehung ( Kap. 1.4.2;  Kap. 4;  Kap. 8; Armstrong 2007, Müller 2018).

Der klinische Pragmatismus

Der Vergleich von Pflicht-, Folgen- und Tugendethik ergibt, dass es durchaus unterschiedliche Antworten auf die Frage gibt, wie Frau Fröhlich in der schwierigen Situation ihr Handeln ethisch begründen kann. Doch so aufschlussreich der Vergleich ist – Ethiktheorien sind selten in der Lage, direkte Lösungen auf oftmals komplexe ethische Fragen des klinischen Alltags zu liefern. Aus der Sicht des klinischen Pragmatismus (Fins et al. 2003;  Kap. 22;  Kap. 23), der auf die pragmatische Philosophie des US-amerikanischen Philosophen und Pädagogen John Dewey (1859–1952) zurückgeht, sind Ethiktheorien dennoch wichtig, denn sie tragen dazu bei, Hypothesen aufzustellen, wie eine ethisch schwierige Situation verstanden und angegangen werden kann. Zur »Lösung« des Problems reicht aber die ethische Theorie nicht, vielmehrt bedarf es »[…] eines kontinuierlichen Prozesses des ethischen Nachfragens, des kritischen Denkens, des empirischen Forschens und des Experiments, um das ethische Wissen zu gewinnen und wiederherzustellen, welches für die Lösung moralischer Probleme in der heutigen Zeit erforderlich ist« (Miller et al. 1996, S. 41; Übersetzung S. M.). Diese Hypothesen müssen also im klinischen Alltag erst geprüft werden. Die »richtige« Lösung ergibt sich dabei weniger aus der Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit einer einzelnen Theorie als vielmehr aus ihrer Kompatibilität mit den vorhandenen medizinischen und pflegerischen Fakten, der klinischen Erfahrung, professionellem Expert*innenwissen und Intuitionen guter ärztlicher, pflegerischer, etc. Praxis, die das Alltaghandeln leiten (Fins et al. 2003). Der bevorzugte Ort, an dem diese Hypothesen zu Tragen kommen, ist die ethische Fallbesprechung, und zwar dort, wo der Leitfaden die Erörterung und Prüfung der Argumente aus dem Blickwinkel ethischer Theorien vorsieht ( Kap. 22;  Kap. 23).

Aus pragmatistischer Sicht kann die Wahl des ethischen Begründungsansatzes (wie z. B. der Pflicht-, Folgen-, Tugendethik oder weiterer Ansätze) nicht unabhängig von der Situation erfolgen. Sie hängt vielmehr von der Natur des Problems selber ab: So ist es wahrscheinlich, dass sich bei Fragen der Verteilung knapper Güter folgenethische Hypothesen als hilfreicher erweisen, bei solchen der Beziehungsgestaltung und des Umgangs mit kognitiv vulnerablen Menschen eher tugend- oder care-ethische, bei Fragen der »Wahrheit am Krankenbett« oder der Selbstbestimmung eher pflichtethische. Diese Ansätze bringen also unterschiedliche Perspektiven zur Sprache, welche zu einem besseren Verständnis oder gar »Lösung« einer als ethisch schwierig empfundenen Situation führen können. Die Ansätze lassen sich in der Situation auch kombinieren, wie die Analyse des Beispiels mit Herrn Schmitt ergeben wird.

Ethiktheorien stellen »gedankliche Tools« (vgl. Porz 2016) dar, die uns keine Entscheidungen abnehmen (was ein häufiges Missverständnis darstellt), sondern zu gelingenden Entscheidungen anregen. Sie tragen dazu bei, das volle Potential kritischen Denkens (s. o.) für ethische Fragen fruchtbar zu machen, d. h. Situationen zu verstehen, Hypothesen zu formulieren und Entscheidungen in ethischer Hinsicht zu begründen. Von zentraler Bedeutung ist es, diese Entscheidungen auch zu evaluieren und zu ermitteln, welche Hypothese den »Test« der praktischen Erfahrung besteht, weil sie in der Lage ist, konsensfähige Vorstellungen des Guten (resp. guter Pflege, wie in der Situation mit Herrn Schmitt) zu verwirklichen.

Obwohl es verschiedene Möglichkeiten ethischer Begründung gibt, bedeutet dies keineswegs, dass Ethik eine relative Angelegenheit oder nur eine Frage des persönlichen Geschmacks ist: Im Umgang mit der Situation von Herrn Schmitt könnten wir zweifelsohne Optionen benennen, die sowohl intuitiv als auch objektiv falsch sind (z. B. die Verabreichung eines sedierenden Medikaments oder das Einsperren im Zimmer), aber auch solche, die intuitiv und objektiv richtig sind (Ernstnehmen des Bewohners, Eingehen auf seine Not). Aus der Beobachtung, dass es verschiedene Vorstellungen des Guten gibt, folgert also nicht – so eine spezielle Form des sog. ethischen Relativismus – dass es keine ethischen Verbindlichkeiten gibt. Vielmehr geht es darum, vernünftige, rational und gleichzeitig auch intersubjektiv gültige Argumente zu entwickeln, in denen diese Vorstellungen – in Form unterschiedlicher Hypothesen – diskutiert werden und diejenige ermittelt wird, welche am besten zur Verwirklichung guter Pflege beiträgt (zum ethischen Relativismus vgl. Irlenborn 2016).

Was bedeutet dies nun für die Situation mit Herrn Schmitt? Frau Fröhlich könnte seine Sorgen aufnehmen, ohne sie zu »korrigieren« versuchen. Sie könnte ihn an die »Phantom-Bushaltestelle« begleiten, ihm mitteilen, dass es sich um eine solche handelt und mit ihm im Gespräch bleiben, bis Herr Schmitt bereit ist, mit Frau Fröhlich in den Frühstücksraum zu gehen. Eine solche Vorgehensweise kombiniert sowohl Aspekte einer pflichtethischen (Recht auf Wissen über die »Art« der Bushaltestelle), tugendethischen (wahrhaftig sein), folgenethischen (Ernstnehmen der Sorgen von Herrn Schmitt und Absicht, diese zu lindern) sowie care-ethischen Begründung (In-Beziehung-Bleiben mit dem Bewohner;  Kap. 1.4.2;  Kap. 4). Eine weitere Möglichkeit besteht darin, die Situation als Dilemma zwischen zwei gleichwertigen Prinzipien zu sehen (z. B. Gutes tun versus nicht schaden), die es abzuwägen. Dieser sog. Principlism wird in  Kap. 1.2.2 und  Kap. 1.4.5 erörtert).

1.2.2     Ethik als Reflexion von Grenzsituationen der Moral

Anhand des Beispiels von Herrn Schmitt haben wir gesehen, welche Klärung eine Auseinandersetzung mit der philosophischen Ethik, insbesondere mit ethischen Theorien, bringen kann, wenn das ethisch richtige Handeln nicht unmittelbar auf der Hand liegt. Die Frage, was das allgemeine Merkmal solcher Situationen ist, führt uns zu einer zentralen begrifflichen Unterscheidung der philosophischen Ethik, nämlich derjenigen zwischen Moral und Ethik.

Obwohl die Adjektive »moralisch« und »ethisch« in der Alltagssprache weitgehend synonym verwendet werden, ist die Bedeutung der Substantive Moral und Ethik nicht deckungsgleich. Moral bezeichnet die Summe aller faktisch vorhandenen resp. gelebten Überzeugungen, Werte und daraus abgeleiteten Verhaltensregeln. Sie gelten so lange, wie das Individuum oder die Gemeinschaft (z. B. Familie, Schule, Station, Pflegeheim, Staat, etc.) diese effektiv auch beachten. Regeln im Umgang mit Patient*innen auf Station, Tischsitten und Verhalten im Straßenverkehr gehören dazu, ebenso wie Gebote des Anstands innerhalb intergenerationeller Beziehungen. Unter Ethik hingegen wird die kritische Reflexion von Moral verstanden. Düwell et al. (2011) definieren Ethik als diejenige Disziplin der Philosophie, »[…] welche diese faktischen Überzeugungen und Handlungen einer philosophischen Reflexion unterzieht« (S. 2).

Wann aber ist in der Pflegepraxis eine solche Reflexion von Moral, die als zentrale Aufgabe der Ethik beschrieben wurde, überhaupt von Bedeutung? Ein exzellentes klinisches Umfeld mit gut etablierten ethischen »Spielregeln« würde uns vermutlich keinen dringenden Anlass dazu geben – so etwa eine Klinik, die eine vorbildliche Sicherheits- und Kommunikationskultur im Umgang mit Behandlungsfehlern implementiert hat. Hier kann eine solche Reflexion natürlich bestätigen, dass diese Regeln auch auf soliden ethischen Grundlagen beruhen und die hohen Standards deswegen zu pflegen, erhalten und zu vermitteln sind. Von noch grösserer Wichtigkeit ist diese Reflexion aber dort, wo die Moral in ihrer orientierenden Funktion versagt oder zumindest unklar erscheint, wie eben in der Situation mit Herrn Schmitt. Solche Situationen stellen Grenzsituationen der Moral dar. In Anlehnung an die Philosophin Susanne Boshammer (2016) können diese Situationen entweder als moralische Probleme oder als moralische Dilemmas verstanden werden. Für solche Grenzsituationen ist charakteristisch, dass die ethisch korrekte Vorgehensweise nicht auf der Hand liegt. Ethiktheorien und die in ihnen enthaltenen Prinzipien – so ein erstes Fazit – liefern in solchen Grenzsituationen Hypothesen, die in den Prozess der ethischen Klärung und Entscheidungsfindung miteinfliessen ( Kap. 22).

Die folgenden drei Beispiele stehen jeweils für einen Typus von Grenzsituation der Moral. Überlegen Sie sich bei jedem Fallbeispiel, ob Ihre »innere Ampel«, die das Maß Ihrer wahrgenommenen ethischen Belastung angibt, jeweils »auf rot«, »auf orange« oder »auf grün« stehen würde:

a)    Verschweigen des Medikationsfehlers:Sie sind Studierende im 4. Semester und haben mit Ihrer Praxisanleiterin5 Spätdienst. Sie merken, wie diese aus versehen einem Bewohner das falsche Medikament verabreicht und den Fehler auch sofort realisiert. Der Bewohner ist am nächsten Tag stark schläfrig, die Angehörigen sind besorgt. Weil die Qualifikation des Praktikums ansteht, wagen Sie es nicht, die Praxisanleiterin darauf hinzuweisen, dass der Medikationsfehler dokumentiert sowie Bewohner und Angehörige informiert werden sollten.

b)    Streit über die »Wahrheit am Krankenbett«:Sie betreuen ein 10-jähriges Mädchen auf der pädiatrisch-onkologischen Station. Im Stationszimmer entsteht ein heftiger Streit: Darf man dem Wunsch der Eltern nachkommen, der jungen Patientin die Wahrheit über die Schwere der Situation vorzuenthalten? Die Kollegin, welche sich gegen die »Bevormundung« der Patientin äußert, verlässt wutentbrannt das Stationszimmer.

c)    Schwierigkeiten in der Ermittlung des mutmaßlichen Willens:Frau S. leidet an einer stark fortgeschrittenen Demenz. In ihrer Patient*innenverfügung lesen Sie, dass bei unheilbarer Erkrankung keine Antibiotikatherapie erfolgen soll. Am interprofessionellen Rapport diskutieren Sie mit der ärztlichen Kollegin, dass in der aktuellen Situation ein Antibiotikum höchstwahrscheinlich zu einer Verbesserung der Lebensqualität führt. Gemeinsam beschliessen Sie, die Situation noch am selben Tag mit der gesetzlichen Vertretungsperson zu besprechen.

Grenzsituation 1: Probleme mit der Moral und moralischer Stress

Situation a (Verschweigen des Medikationsfehlers) lässt sich als Problem mit der Moral (Boshammer 2016, S. 23) verstehen. Dieser Problemtyp ist durch das Paradox gekennzeichnet, dass die ethische Beurteilung eigentlich klar ist (Recht auf Information, Schadensvermeidung, Aufrichtigkeit, etc.), die Vorgehensweise aber aufgrund erfahrener Machtlosigkeit völlig unklar erscheint. Aus diesem Grund würde die Ampel der wahrgenommenen ethischen Belastung bei den meisten vermutlich »auf Rot« stehen.

Die Klarheit der Normverletzung und die Unklarheit, wie dagegen vorzugehen ist, bewirkt eine psychische Belastung, die der Philosoph Andrew Jameton (1984) erstmals mit dem Begriff des moralischen Stresses umschrieben hat. Mit der Wahrnehmung von moralischem Stress verbunden ist immer ein äußerer Zwang (z. B. ein Verbot, Verordnungen und Weisungen zu hinterfragen) oder ein innerer Zwang (z. B. das Praktikum zu bestehen, den Job nicht zu verlieren, die vorgesetzte Person nicht erzürnen zu wollen, etc.; vgl. Jameton 1984). Eine umfangreiche empirische Forschung zu diesem Phänomen besteht heutzutage, die nebst der hohen Prävalenz des Phänomens auch die gravierenden Folgen von moralischem Stress aufzeigt. Sie reichen von der Verschlechterung der Pflegequalität, der inneren Kündigung, dem moralischen Burnout bis zum sog. moralischen Residuum der Betroffenen (Austin et al. 2017). Weitere Beispiele von Situationen, die moralischen Stress bewirken, reichen von der manifesten Missachtung des Patient*innenwillens, der gewaltsamen Nahrungsverabreichung in der Langzeitpflege, dauerhafter Nichteinhaltung von Sicherheitsstandards aufgrund Personalmangels bis zur ökonomisch motivierten Übertherapie am Lebensende. Entscheidend für die Entstehung von moralischem Stress ist die Gewissheit, dass etablierte ethische Standards verletzt sind. Die Erfahrung der Unmöglichkeit, das eigene moralische Handlungsvermögen umzusetzen, ist verbunden mit einem Gefühl von Versagen und Ohnmacht, weil an der Situation nichts geändert werden kann (Musto & Rodney 2018, Monteverde 2019). Strategien im Umgang mit moralischem Stress bestehen im Schutz der moralischen Integrität aller Betroffenen (d. h. Patient*innen, Angehörige und Fachpersonen), in der Behebung und Wiedergutmachung entstandenen Schadens, in der Bestätigung der Regelverletzung durch die Organisationsverantwortlichen und im Coaching durch Vertrauenspersonen innerhalb der Organisation (z. B. Ombudsstellen, Vorgesetzte, Advanced Practice Nurse, klinische Ethik, Rechtsdienst, klinische Seelsorge, etc.). Präventiv bestehen Strategien in der offenen Hinterfragung von Organisationskulturen, die von den Mitarbeitenden die Verletzung etablierter Standards der Patient*innenversorgung nicht nur zulassen oder begünstigen, sondern sogar im- oder explizit verlangen.

Grenzsituation 2: Probleme über die Moral

Ganz anders sieht Situation b (Wahrheit am Krankenbett) aus, welche ein Problem über die Moral darstellt. Auch hier besteht Unklarheit, wie in der Situation konkret vorzugehen ist. Doch im Unterschied zum Verschwiegen des Medikationsfehlers besteht hier ein Streit darüber, welche Norm (hier eine pflichtethisch und eine folgenethisch begründete) in der Situation zu bevorzugen ist (Boshammer 2016, S. 24). Angesichts der moralischen Divergenz sind auch keine Bemühungen erkennbar, die eigene Position zu hinterfragen oder die Begründbarkeit der jeweils anderen Position zu explorieren. Bei den meisten von uns würde die Ampel der empfundenen ethischen Belastung vermutlich »auf Orange« stehen, also in einer erhöhten Alarmbereitschaft und in der Hoffnung, dass die jeweils andere Partei doch noch einlenkt. Der Medizin- und Pflegealltag kennt zahlreiche Probleme über die Moral, in der Vorstellungen des guten Lebens und des guten Sterbens, aber auch guter Pflege, guter Medizin, guten Elternseins, etc. so von den Beteiligten vertreten werden, dass keine Bereitschaft sichtbar ist, auf die berechtigten Anliegen der jeweils andersdenkenden Person einzugehen. Der Umgang mit Patient*innen, die am Lebensende Beihilfe zum Suizid erwägen (wo diese gesetzlich erlaubt ist), mit Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch erwägen, mit Menschen, die aus religiösen Überzeugungen vital indizierte Therapien ablehnen oder mit Eltern im Rahmen von langwierigen Fertilisationsbehandlungen sind Beispiele von Kontexten, die für Konflikte über die Moral Anlass geben können. Diskussionen sind dann oftmals durch weltanschauliche (resp. im engen Sinne »moralische«) Positionen geprägt – weniger aber durch Argumente, die die Position des Gegenübers auf ihre Plausibilität hin befragen und adäquat würdigen (Prentice & Gillam 2018, Repenshek 2009).

Strategien für einen wirksamen Umgang mit Problemen über die Moral bestehen in einer erhöhten Dialogbereitschaft aller Akteur*innen, in der Unterscheidung zwischen »moralischen« und »ethischen« Gründen und in der Bereitschaft, rational gültig zu argumentieren. Idealerweise lässt sich durch einen solchen Dialog auch das ethische Dilemma identifizieren, das hinter einem Problem über die Moral stehen kann ( Grenzsituation 3). Gefäße der klinischen Ethik wie z. B. die ethische Fallbesprechung, das Ethikkonsil oder entsprechende Fort- und Weiterbildungen können das Verständnis für die moralische Diversität im Rahmen allgemein akzeptierter ethischer Normen zu fördern. Sie können für Pflege- und andere Fachpersonen auch Hilfestellungen bieten, um mit Gewissenskonflikten so umzugehen, dass die Gewissensfreiheit der Fachperson respektiert wird, aber auch die moralische Integrität aller Beteiligten gewahrt ist. Beispiele dafür sind die Pflege von Menschen, die aus religiösen Gründen Therapien ablehnen (z. B. Bluttransfusionen) oder einfordern (z. B. Therapien mit marginalem Nutzen am Lebensende) oder Wünsche an Fachpersonen herantragen, die moralisch kontrovers diskutiert werden (z. B. sog. »Wunschsektio«, gewisse Indikationen zur Spätabtreibung oder assistierten Suizid, wo das Gesetz dies zulässt).

Appellieren Pflegefachpersonen bei Problemen über die Moral (z. B. Wunsch von Patient*innen nach legalen, aber ethisch kontroversen Handlungen, s. oben) an ihre Gewissensfreiheit, ist die Sicherstellung der Kontinuität der Betreuung und der Qualität der Pflege sowie die Vorbeugung pflegerischer Unterversorgung von größter Wichtigkeit. Auch in solchen Situationen ist die Pflege am Wohl und an den Interessen der Patient*innen zu orientieren (vgl. dazu Cowley 2017). Ist der Patient*innenwunsch, der bei der Fachperson den Gewissenskonflikt auslöst, grundsätzlich legitim, d. h. liegt er im Rahmen dessen, was Patient*innen gemäß den geltenden rechtlichen und moralischen Normen grundsätzlich zusteht, sollten diese an der Realisierung dieses Wunsches nicht gehindert werden. Gegebenenfalls sind alternative Wege zu suchen, welche sowohl die involvierten Fachpersonen entlasten als auch die Patient*in unterstützen, den eigenen Vorstellungen des guten Lebens zu folgen (zur Debatte über sog. »direkte« oder »indirekte« Überweisungen vgl. Clarke 2017).

Grenzsituation 3: Das ethische Dilemma

Auch Situation c (Schwierigkeiten in der Ermittlung des mutmaßlichen Willens) ist im Pflegealltag eine häufig anzutreffende Grenzsituation der Moral und unter dem Begriff des ethischen Dilemmas bekannt (Boshammer 2016, S. 24 f). Mit Situation b hat sie gemeinsam, dass eine Ungewissheit über die richtige Vorgehensweise besteht. Doch im Gegensatz zu dieser muss keine moralische Divergenz zwischen den Akteur*innen bestehen. Diese sind sich vielmehr einig, dass unterschiedliche ethische Orientierungen in der Situation gelten, die sich aber gegenseitig ausschliessen. Das macht die Situation nicht zwingend leichter, aber vermutlich besser aushaltbar oder gestaltbar. Aus diesem Grund kann vermutet werden, dass hier die Ampel der wahrgenommenen ethischen Belastung bei den meisten vermutlich »auf Grün« steht. »Grün« besagt dabei keineswegs, dass die zu tragende Verantwortung oder gar Last der Entscheidung auf die leichte Schulter genommen werden kann, sondern einzig, dass das moralische Handlungsvermögen der Akteur*innen zwar erschwert, aber grundsätzlich erhalten ist (Monteverde 2019). Trotz grüner Ampelphase aufgrund einer gemeinsamen Wahrnehmung der ethischen Komplexität sind Dilemmas grundsätzlich unerwünscht und gehen mit moralischem Unbehagen einher (Repenshek 2009): In Beispiel c ist es eben nicht möglich, die Lebensqualität durch die Antibiotikagabe zu fördern, ohne gleichzeitig den deklarierten Willen zu verletzen (und umgekehrt). Aber die Beteiligten sind sich in dieser Wahrnehmung einig. Ethische Dilemmas sind ständige Begleiter des Berufsalltags und Patient*innen dürfen erwarten, dass das Team damit professionell umgeht, d. h. die Situation sorgfältig analysiert und Optionen aushandelt, die dem Willen und dem Wohl der betreffenden Person förderlich sind. Der Pflegealltag kennt zahlreiche Dilemmas, angefangen bei der Auslegung einer unklaren Patient*innenverfügung ( Kap. 16), der Betreuung von deliranten Patient*innen, die Pflege verweigern oder dem Schutz selbst- oder fremdgefährdender Bewohner*innen in Langzeiteinrichtungen. Nur bestmögliche, nicht »richtige« Entscheidungen sind in Dilemmasituationen möglich. Da hier Entscheidungen immer nur unter Unsicherheit getroffen werden, müssen diese sorgfältig dokumentiert und evaluiert werden, damit sie später aufgrund besseren Wissens und Erfahrung angepasst werden können (vgl. Repenshek 2009). Auch hier bieten sich etablierte Gefäße der ethischen Entscheidungsfindung an sowie interprofessionelle Rapporte, in denen die unterschiedlichen Berufsgruppen ihre klinischen und ethischen Standpunkte einbringen.

Ein »Ampelsystem« für Grenzsituationen der Moral

Drei Grenzsituationen der Moral sind beschrieben worden, in denen die ethische Reflexion Orientierung bieten kann: Probleme mit der Moral, über die Moral und ethische Dilemmas. Die Zusammenhänge zwischen diesen Grenzsituationen und die Aufgaben der Ethik sind in der folgenden Tabelle ( Tab. 1.1) verdeutlicht. Im klinischen Alltag besteht eine erste zentrale Aufgabe darin, darüber ins Gespräch zu kommen, in »welcher Phase« die Ampel für die Beteiligten jeweils steht. Aus der Klärung dieser Frage lassen sich auch Strategien ableiten, die für die Bewältigung der erlebten Grenzsituation hilfreich sind.

Tab. 1.1: Grenzsituationen der Moral (nach Boshammer 2016), Auswirkungen und ethische Strategien

GrenzsituationBeschreibung, AuswirkungStrategien aus ethischer Sicht

Dies war ein steiler Einstieg in die Untersuchung des Verhältnisses von Pflegeethik und philosophischer Ethik, in die Unterscheidung von Ethik und Moral und Differenzierung dreier Grenzsituationen, in welcher die ethische Reflexion zum Tragen kommt. Schon die erste Unterscheidung zwischen Pflicht-, Folgen- und Tugendethik hat gezeigt, dass in Grenzsituationen der Moral verschiedene ethische Theorien Orientierung geben. Die Vertiefung weiterer Theorien wie die Verantwortungs-, Diskurs- oder Vertragsethik sowie Kasuistik würde den Rahmen dieses Bandes sprengen, sie ist aber den interessierten Leser*innen ausdrücklich empfohlen (vgl. Düwell et al. 2011). Die Care-Ethik wird aufgrund der besonderen Bedeutung für die Pflegeethik im weiteren Verlauf des Buches vertieft ( Kap. 1.4.2;  Kap. 4;  Kap. 8). Der sog. Principlism (»Prinzipienethik«) von Tom Beauchamp und James Childress hat eine herausragende praktische Bedeutung in der Arbeit Klinischer Ethikkomitees, im Rahmen ethischer Fallbesprechungen und im Ethikunterricht erlangt. Er eignet sich vor allem für Grenzsituationen der Moral, in denen sich ethische Dilemmas zeigen ( Kap. 2.3.5).

1.2.3     Pflegeethik und die Entwicklung von Pflege

Nicht nur Grenzsituationen der Moral sind es, die den Bedarf an ethischer Reflexion in der Pflege wecken. In einem durch eine Vielzahl von Akteur*innen charakterisierten Umfeld der Gesundheitsversorgung zeigt sich auch ganz grundsätzlich die Notwendigkeit, zu reflektieren, in welcher Hinsicht Pflege moralische Praxis ist, und zu zeigen, worin »das Gute« besteht, das Pflege gewährt. Beispielhaft lassen sich dafür folgende Fragen aufführen:

1.  Wie lassen sich knappe Ressourcen im Pflegealltag gerecht zuteilen? Welche Verantwortung tragen Akteur*innen auf der Mikro-, Meso- und Makroebene?

2.  Wie kann der Zugang von vulnerablen Populationen zu pflegerischer Gesundheitsförderung und Prävention gesichert werden?

3.  Unter welchen Umständen ist die Anwesenheit von Pflegenden bei Handlungen der Sterbehilfe zulässig?

Pflegerisches Handeln ist immer in gesellschaftliche Kontexte eingebettet. Hier wirken sich soziale, ökonomische und politische Determinanten auf die Gesundheit von Individuen und Populationen aus – und folglich auch auf den Pflege- und Unterstützungsbedarf (vgl. Thompson 2014). Aus der Vielzahl dieser Einflüsse resultiert eine strukturelle Komplexität therapeutischen Handelns, die den Alltag der Akteur*innen im Gesundheitswesen prägt (Chaffee & McNeill 2007). In Industrie- und Schwellenländern hat die professionelle Pflege mit einem hohen Maß an horizontaler Spezialisierung auf diese Komplexität geantwortet, z. B. dem Case- und Care-Management, der spezialisierten ambulanten Versorgung, der kardiologischen, palliativen und psychiatrischen Pflege oder dem Public Health Nursing ( Kap. 15). Parallel dazu fand eine Diversifizierung von Fertigkeits- und Ausbildungsgraden statt, der sog. »Skill- und Grademix«, die dem Bedarf des Praxisfelds angepasst ist (Büker 2018). Vielerorts etablieren sich für definierte Krankheitsbilder Modelle des patient*innenorientierten Versorgungsmanagements (z. B. Disease-Management-Programme bei Diabetes mellitus, Asthma und COPD). Diese zeigen eine gewisse »Permeabilität« der Berufsprofile von Ärzt*in und Pflegefachpersonen innerhalb der Möglichkeiten der rechtlichen Delegation und Substitution, wie sich am Beispiel des Clinical Assessment zeigen lässt (Lindpaintner 2007). Die Implementierung von sog. Advanced-Practice Rollen für Pflegefachpersonen mit Masterabschluss ist im US-amerikanischen und kanadischen Raum im Vergleich zum deutschsprachigen Raum schon seit geraumer Zeit etabliert.6

Pflegewissenschaft und Pflegeforschung tragen wesentlich zur horizontalen Spezialisierung professioneller Pflege durch die Sicherung und den Ausbau von Wissens- und Erfahrungsbeständen bei. Diese Expertise kann für die veränderten Rahmenbedingungen der Pflegepraxis fruchtbar gemacht werden und den Patient*innen, der Bevölkerung und der Profession selbst zum Nutzen gereichen. Im Bildungsbereich übersetzen zahlreiche Neuordnungen der Curricula beruflicher Aus-, Fort- und Weiterbildung den mit den Herausforderungen des Praxisfelds verbundenen Bedarf an Kompetenzen und Schlüsselqualifikationen beruflich Pflegender. Dazu gehört auch die Befähigung zur interprofessionellen Zusammenarbeit ( Kap. 11;  Kap. 23). Als Antwort auf die neuen Bedürfnisse der Praxis hat auch eine vertikale Spezialisierung stattgefunden: Pflegende sind in die institutionelle Verantwortung eingebunden, nehmen vermehrt Funktionen und Aufgaben in der Allokation (lat. Zuteilung) von Ressourcen, in der Forschung, im operativen und strategischen Management, im Qualitätsmanagement sowie in der Verwaltung wahr (vgl. Döhler 1997). Sowohl die horizontale als auch die vertikale Spezialisierung zeigen eine Rollenexpansion Pflegender, die auch mit neuartigen ethischen Fragestellungen verbunden sind. Der zweite und der dritte Abschnitt des vorliegenden Bandes führt dies exemplarisch anhand ausgewählter Dimensionen aus.

1.3       Pflegeethik als Antwort auf die ethische Komplexität pflegerischen Handelns

Als Folge der strukturellen Komplexität pflegerischen Handelns zeigt sich eine ethische Komplexität. In Anlehnung an Fairchild (2010) wird diese vor allem durch die dynamische Interaktion von vier Faktoren innerhalb des Systems, in dem Pflege erbracht wird, getriggert:

a)    Ungewissheit (z. B. bezüglich Outcomes, Nutzen, Kosten)

b)    Risiko (z. B. bezüglich Schadens bei einer Behandlung oder Verlauf bei einer Nicht-Behandlung)

c)    Interdependenz/gegenseitige Abhängigkeit (z. B. bezüglich Nachhaltigkeit einer Behandlung, Indikationsstellung, Gewichtung primärer versus sekundärer Interessen)

d)    Interkonnektivität/mehrfach zusammenhängende Abschnitte oder Pfade (z. B. bezüglich patient*innenzentrierter Schnittstellen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung)

Die kritische Reflexion von Pflege als moralischer Praxis trägt dazu bei, ethische Komplexität zu erkennen und zu gestalten. Dabei sollen bei der Abwägung von Ungewissheit, Risiko, Interdependenz und Interkonnektivität die Interessen der Adressat*innen von Pflege resp. ihr Wohl und Wille, kategorisch Vorrang haben. Für das Handlungsfeld Pflegender ist von zentraler Bedeutung, dass sich ethische Komplexität nicht ausschließlich durch den »dramatischen« Charakter von Entscheidungen definiert, die für die Betroffenen eine unmittelbare Zukunftsbedeutung haben, wie z. B. die Einstellung lebenserhaltender Maßnahmen auf der Intensivstation, Kriseninterventionen in der Psychiatrie oder die Akutversorgung von extrem Frühgeborenen. Ethisch komplex im Sinne der vier oben genannten Faktoren können auch Situationen sein, die »undramatisch« erscheinen, wie z. B. die kontinuierliche Beziehungsgestaltung bei kognitiver Vulnerabilität in der Langzeitpflege oder die Förderung der Partizipation von Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung.

Summarisch lässt sich festhalten, dass der Pflegeethik als Bereichsethik professioneller Pflege vier Aufgaben zukommen:

1.  Sie stärkt das Verständnis für Grenzsituationen der Moral, die sich im Pflegealltag stellen und führt zur Entwicklung von Strategien, diese wirksam zu bewältigen.

2.  Sie übersetzt das überlieferte Pflegeethos in ein Umfeld, das durch eine Rollenexpansion professioneller Pflege und eine damit einhergehende ethische Komplexität pflegerischen Handelns geprägt ist.

3.  Sie fördert die Entwicklung ethischer Expertise im Verständnis und im gelingenden Umgang mit ethischer Komplexität.

4.  Sie befähigt Pflegende, ethische Expertise zu versprachlichen und im professionellen sowie interprofessionellen Umfeld aktiv einzubringen.

Dass diese Aufgaben die pflegeethische Reflexion vielerorts schon prägen, zeigt die Beobachtung, dass Pflegende in Strukturen ethischer Unterstützung wie z. B. Klinischen Ethikkomitees, Gefäßen der ethischen Fallbesprechung oder Leitlinienentwicklung zunehmend eingebunden sind. Zudem ist Pflegeethik explizit in der Aus- und Weiterbildung curricular verankert und in den Abschlusskompetenzen von Bildungsabschlüssen auf Sekundar- oder Tertiärstufe abgebildet (vgl. SAMW 2019; Riedel et al. 2019;  Kap. 11).

Dem bisher Gesagten liegt ein Verständnis von Pflegeethik zugrunde, das sich an dieser Stelle zu einer Definition von Pflegeethik als Bereichsethik pflegerischen Handelns verdichten lässt. Diese vereinigt sowohl philosophische, pflegewissenschaftliche wie auch pflegepraktische Aspekte. Sie ist verankert in der sozialen Wirklichkeit der Menschen, die Pflege bedürfen, der Institutionen, in denen diese stattfindet und der Akteur*innen, die am Versorgungsprozess mitbeteiligt sind:

Pflegeethik ist die systematische Reflexion des Pflegeethos resp. geltender Vorstellungen von Pflege als moralischer Praxis. Diese findet in einem Umfeld statt, das durch ethische Komplexität gekennzeichnet ist. Pflegeethik macht sich für diese Reflexion Instrumente, Methoden und Begriffe der philosophischen Ethik zunutze, die für jede Bereichsethik konstitutiv sind.

Aus dem Dargelegten ergeben sich fünf Verhältnisbestimmungen von Pflegeethik, die im nächsten Abschnitt näher beschrieben werden.

1.4       Fünf Verhältnisbestimmungen der Pflegeethik

1.4.1     Erstens: Pflegeethos und Pflegeethik

Ob beim Patient*innenenempfang, beim Verbandswechsel, bei der Beratung von Angehörigen oder bei der Pflegevisite: Pflegerisches Handeln orientiert sich immer an Normen und Werten, die Pflege als moralische Praxis ausweisen. Dieses z. B. in Ethikkodizes oder Leitbildern enthaltene Pflegeethos führt oftmals Tugenden auf, welche für die Ausübung der Profession als relevant erachtet werden. Waren früher Gehorsam, Unterordnung und Selbstlosigkeit gefordert, so sind es heute Tugenden wie Aufrichtigkeit, Zuverlässigkeit, Mitgefühl oder die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen und das Wohl der Patient*innen über die Interessen der Institution zu stellen (Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Fachmänner 2013, Armstrong 2007). Vorstellungen davon, welche Haltungen von einer Pflegefachperson eingefordert werden können, sind durchaus wandelbar und spiegeln immer auch das zeitliche und kulturelle Umfeld, aus dem sie stammen. Das Pflegeethos ist somit der Kategorie der Moral zuzuordnen (s. o.): Es übt eine orientierende Kraft im Berufsalltag aus, ist aber »perfektibel«, d. h. es muss sich immer auch mit den Fragen der Berufspraxis weiterentwickeln. Es beschreibt, welches Verhalten jeweils als geboten (z. B. Respekt vor Menschen, die Pflege bedürfen, Sicherheit in der Durchführung von Pflege), erlaubt (z. B. bei hohem Arbeitsanfall Behandlungsprioritäten setzen) oder verboten gilt (z. B. Bestechungsgelder annehmen, Menschen vorsätzlich täuschen).

Ethikkodizes für die Pflege sind ein besonders gut sichtbarer Ausdruck des Pflegeethos. Sie werden regelmäßig auf neue Fragestellungen hin revidiert, so zum Beispiel in Bezug auf Rationierung und Kostendruck im Gesundheitswesen, Einführung von Fallpauschalen im stationären Bereich, Pflegequalität, Streik, Patient*innensicherheit, Umgang mit Behandlungsfehlern oder moralischen Stress. Ethikkodizes führen eine ganze Reihe an Verhaltensnormen und Tugenden wie Vertrauenswürdigkeit, Empathie oder Verschwiegenheit auf, die Pflege als moralische Praxis ausweisen sollen. Der sog. Eid von Florence Nightingale (abgedruckt in Arend van der et al. 1996, S. 49) ist ein berühmtes Beispiel dafür, wie wirkmächtig solche Kodizes sein können, aber auch wie veränderbar ihre Bedeutung werden kann, wenn sie nicht mehr dem Zeitgeist, dem pflegerischen Selbstverständnis oder den ethischen Fragen des Praxisfelds entsprechen. Der Ethikkodex des International Council of Nurses, dessen Wortlaut u. a. auch der Ethikkodex des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe übernommen hat (Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe 2012), wurde deshalb mehrfach überarbeitet, ebenso die Richtlinien des Schweizer Berufsverbands der Pflegefachfrauen und Fachmänner (2013) sowie anderer nationaler Berufsverbände.

Die normierende Wirkung von Ethikkodizes in der Festlegung des Pflegeethos resp. in der inhaltlichen Umschreibung dessen, was Pflege als moralische Praxis kennzeichnet, ist unverzichtbar. Doch kann dieses Ethos, gerade wegen seiner normierenden Funktion und zeitlichen Bedingtheit, nicht immer Verständnis aufweisen für konkurrierende Pflichten oder für abwägende Überlegungen, die im klinischen Alltag notwendig sind. Edgar (2004) beschreibt das Paradox des Ethikkodexes, der einerseits moralisches Verhalten vorschreibt, andererseits aber gerade dadurch die Förderung moralischer Kompetenz hemmen kann: »By insisting on banal or commonly accepted principles, the codes paradoxically