Hannah Arendt. 100 Seiten - Maike Weißpflug - E-Book

Hannah Arendt. 100 Seiten E-Book

Maike Weißpflug

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Beschreibung

Die Klassikerin des politischen Denkens »Arendt erinnert uns daran, dass Menschen Wunder vollbringen können, wenn sie zusammen handeln.« Hannah Arendt ist die wohl populärste politische Denkerin des 20. Jahrhunderts. Ihr Begriff des politischen Handelns inspiriert Menschen auf der ganzen Welt bis heute. Doch wie kann Arendt in Zeiten multipler Krisen und eines Wiedererstarkens rechter Ideologien neu gelesen werden? Maike Weißpflug stellt Arendt als eine faszinierende historische Persönlichkeit vor, führt durch ihr politisches Denken und zeigt, wie mit Arendt Politik zur gemeinsamen Sorge um die Welt werden kann. Mit 4-farbigen Abbildungen und Infografiken. 

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Maike Weißpflug

Hannah Arendt. 100 Seiten

Reclam

Für mehr Informationen zur 100-Seiten-Reihe:

www.reclam.de/100Seiten

 

2024 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH nach einem Konzept von zero-media.net

Infografik: © Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven von Getty Images Plus: © kumahayashi / iStock; © Route55 / iStock; © Nikolaichuk / iStock

Bildnachweis: siehe Anhang; Autorinnenfoto: © Maike Weißpflug

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2024

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962264-4

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020702-4

www.reclam.de

Inhalt

»Damit leugne ich nicht, ...

Vom Wunder des Zusammen-Handelns – Einleitung

Von der Philosophie zur Politik

Finstere Zeiten

Neuanfänge

Liebe zur Welt

Hannah Arendt: Ein Lesereiseführer

Bildnachweis

Zur Autorin

Über dieses Buch

Leseprobe aus Susan Sontag. 100 Seiten

»Damit leugne ich nicht, dass das Denken gefährlich ist, würde aber behaupten, dass das Nicht-Denken noch viel gefährlicher ist.«

Hannah Arendt, Fernsehgespräch mit Roger Errera, Oktober 1973

Vom Wunder des Zusammen-Handelns – Einleitung

Als ich anfing, über dieses Buch nachzudenken, habe ich überlegt, was wäre, wenn ich nicht hundert Seiten, sondern nur einen einzigen Satz über Hannah Arendt schreiben dürfte, in einer Flaschenpost für zukünftige Generationen. Was würde ich sagen? Was wäre ohne Hannah Arendt nicht auf diese Weise in der Welt? Schnell schoss mir durch den Kopf: ihre Idee des politischen Handelns! Doch politisches Handeln – das ist zunächst nur ein Begriff, eine Überschrift. Der Satz müsste es genauer und weniger abstrakt sagen. Und so kam ich zu folgender Formulierung: Arendt erinnert uns daran, dass Menschen Wunder vollbringen können, wenn sie zusammen handeln.

Zum Glück habe ich etwas mehr als nur diesen einen Satz zur Verfügung, um zu erklären, worin diese Wunder bestehen (und was sind schon Wunder) und was »zusammen handeln« bedeuten kann. Es sind Ideen, die wir heute und sicher auch morgen mehr denn je brauchen können. Arendt entwickelt ihr politisches Denken in den dunkelsten Jahren des 20. Jahrhunderts, angesichts der brutalsten Verbrechen in der Menschheitsgeschichte. Es ist ein Denken der Krise, das die Lage analytisch scharf beurteilt und dennoch Hoffnung stiftet. In solchen »finsteren Zeiten« ist die Versuchung groß, sich der Verzweiflung und der Ohnmacht hinzugeben, in eine Schockstarre zu verfallen. Mir geht es selbst häufig so, dass ich mich angesichts der Zerstörung unseres Planeten, der Klimakatastrophe, des Artensterbens, der weltweiten Konflikte und Kriege und des Wiedererstarkens der extremen Rechten bei dem Gedanken ertappe, dass alle Versuche, unsere Gesellschaften anders zu organisieren, vergeblich sind. Dass die wirtschaftlichen und politischen Interessen, die einer Veränderung im Wege stehen, zu groß sind. Dass wir es nicht schaffen, die Verantwortung für diese Welt zu übernehmen, und so den heute geborenen Kindern eine Welt hinterlassen, in der sie mit großer Wahrscheinlichkeit kein gutes Leben werden führen können. Noch schlimmer: dass wir uns selbst belügen, die Probleme weiter leugnen und verdrängen, wie es der Film Don’t Look Up (2021), in dem ein Asteroid auf die Erde zurast, während sich die Menschheit nicht auf die entscheidenden Gegenmaßnahmen einigen kann, treffend als Sinnbild für die Klimakrise darstellt. Arendt kann in solchen Momenten wie eine gute Freundin sein, die mir hilft, wieder in einen anderen Denkmodus zu kommen. Der Untergang kommt von ganz alleine, wenn er denn kommen muss. Sinn entsteht erst, wenn wir uns handelnd in die Welt einklinken und den Tatsachen ins Auge blicken. Wer weiß, was passieren wird, welche Geschichten dabei entstehen?

Arendts wichtigste Botschaft dabei: Zusammen-Handeln macht Spaß, es stiftet Sinn, auch wenn die Lage aussichtslos scheint. Meine erste Begegnung mit diesem zentralen Gedanken Hannah Arendts ist mir erst im Nachhinein als solche bewusst geworden. Ich war Anfang 20, in der undogmatischen Linken unterwegs und in Amsterdam, als die Kalenderpanden, ein Kulturzentrum in einem besetzten Fabrikgebäude, geräumt werden sollten. Viele Berühmtheiten der niederländischen Kulturszene, unter anderem Geert Mak und die Punkband The Ex, traten bei dem großen Fest auf, das am Abend vor der Räumung in dem Kulturzentrum gefeiert wurde. Und auch die Räumung selbst wurde nicht widerstandslos hingenommen: Bunte Gruppen von Aktivist:innen aus ganz Europa führten eine Vielzahl von Aktionen in der gesamten Stadt durch, am Abend wurden sogar Barrikaden rund um die Kalenderpanden errichtet. Doch als das Kulturzentrum in der Nacht schließlich von der Polizei eingenommen wurde, trafen die Polizist:innen nur ein paar niedliche Ferkel in einem Gatter an. Obwohl wir die Kalenderpanden nicht retten konnten, fuhr ich mit einem stolzen und besonderen Gefühl nach Hause. Wir hatten uns gewehrt, wir hatten viele Menschen aus ganz Europa und mit ganz unterschiedlichen politischen und kulturellen Hintergründen zusammengebracht, wir waren gemeinsam für den Erhalt von Freiräumen eingetreten. Das Wunder der Rettung des Kulturzentrums war zwar nicht eingetreten, aber vorstellbar geworden.

Damals habe ich eher Adorno und Marx gelesen, Hannah Arendt kam mir, obwohl eine Postkarte mit ihrem auf Kant bezogenen Zitat »Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen« an der Tür meines WG-Zimmers hing, irgendwie zu konservativ vor. Erst später habe ich entdeckt, dass Arendt das, was ich an diesem Wochenende in Amsterdam erlebt habe, als vielleicht einzige politische Theoretikerin in den Mittelpunkt stellt und begrifflich auf den Punkt bringt: die Freude und die Macht des politischen Handelns und des immer möglichen Neuanfangs.

Arendt ist eine Klassikerin der politischen Ideengeschichte und als solche eine Ausnahmeerscheinung. Sie ist eine der wenigen Frauen, die es in den männlich dominierten Olymp der Philosophie geschafft haben und ein fester Teil des Kanons geworden sind. Diesen Namen hat sie sich verdient, weil sie von vielen Menschen immer wieder neu entdeckt und gelesen wird. Google Trends zufolge ist sie die zweitbeliebteste weibliche Denkerin, nur Simone de Beauvoir ist ein klein wenig populärer und wird häufiger im Internet gesucht. Ein weiteres Indiz: Arendt ist eine Büchertischphilosophin, die in den Buchhandlungen dieser Welt in den Auslagen zu finden ist; vor allem immer dann, wenn Umbrüche und Krisen die Menschen beschäftigen. Diese Abstimmung mit den Füßen scheint mir eine noch größere Auszeichnung zu sein, als auf den Leselisten der Universitäten ganz oben zu stehen. Gerade in Zeiten des Umbruchs und der multiplen Krisen helfen Arendts Gedanken vielen Menschen offenbar bei der Orientierung und dem Verständnis dessen, was gerade passiert. So war es in den Umwälzungen und friedlichen Revolutionen 1989/90 in Osteuropa ebenso wie in den USA nach der Wahl Donald Trumps, als Arendts Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft – immerhin ein 900-Seiten-Wälzer – sogar kurzzeitig ausverkauft war. Die Arendt-Forscherin Barbara Hahn hat dies in einer Sendung im Deutschlandfunk so beschrieben:

Viele Leute haben den Verdacht gehabt: Wir müssen nochmal anfangen zu denken, wie das überhaupt kommt, dass Demokratien in totalitäre Systeme kippen. Und dafür braucht man Hannah Arendt. Das hat niemand so präzise durchdacht wie sie.

Es ist erstaunlich, in wie vielen verschiedenen Fragen des politischen Lebens Arendt so aktuell ist, dass ihre Texte wie Blitze aus der Vergangenheit gegenwärtige Probleme erhellen oder vielmehr ein neues Licht auf sie werfen, sei es in Fragen des Rechtspopulismus, zu unserem Umgang mit Natur, der Frage des zivilen Ungehorsams oder mit Blick auf die Probleme einer Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgeht. Doch Arendt ist nicht in allem unsere Zeitgenossin. Viele ihrer Aussagen irritieren und stammen tatsächlich aus einer anderen Zeit. Dazu gehören ihre Ausführungen über afrikanische Menschen ebenso wie ihre missverständlichen Kommentare zur US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Arendts Blick ist weitgehend eurozentrisch und blind für weite Teile der nichtwestlichen Welt. Das sehen heute viele Menschen kritisch, und sie haben recht. Es ist darum wichtig, beim Lesen von Hannah Arendt – wie bei jeglichem Lesen – den eigenen Kopf einzuschalten, sich ebenso inspirieren zu lassen wie aufmerksam mitzudenken. Theoretiker:innen können inspirierend sein, doch das bedeutet auf keinen Fall, dass sie in allem richtigliegen. Ich schlage vor, Arendt wie eine Freundin zu lesen, mit der man sich gut streiten kann.

Diese 100 Seiten spannen den Bogen zwischen der historischen Person Hannah Arendt (mit ihren Ecken und Kanten) und ihrer politischen Theorie (mit ihren Ecken und Kanten). Die folgenden vier Kapitel stellen jeweils einen Hauptgedanken Arendts in den Mittelpunkt und erzählen Geschichten, stellen Querverbindungen her und beziehen immer wieder aktuelle Fragestellungen ein. Das erste Kapitel beginnt mit Arendts ungewöhnlicher Auffassung von politischer Theorie und erzählt von einer Theoretikerin, die keine Philosophin sein will, sondern mittendrin in den politischen Erfahrungen der eigenen Gegenwart. Das zweite Kapitel erkundet Arendts Auseinandersetzung mit den »finsteren Zeiten«, in denen sie lebte – der NS-Herrschaft, dem Kolonialismus und Rassismus –, nicht ohne einen Blick auf die gegenwärtigen kritischen Debatten, z. B. um Arendts Positionierungen zur Bürgerrechtsbewegung in den USA zu werfen. Das dritte Kapitel führt ins Zentrum von Arendts politischer Theorie. Hier geht es um die Möglichkeit des Neuanfangs und die Frage, welche politische Ordnung Arendt eigentlich favorisierte. Mit diesen Gedanken im Gepäck geht es im letzten Kapitel schließlich darum, wie wir heute, in Zeiten der ökologischen Krise, Arendt neu lesen können – und wie Politik wieder oder vielmehr: endlich! die gemeinsame »Sorge um die Welt« werden kann.

Von der Philosophie zur Politik

Leidenschaftlich denken

Hannah Arendt wird am 14. Oktober 1906 in Hannover geboren und wächst in Königsberg auf. Ihre Eltern Max Arendt und Martha Arendt, geborene Baerwald, stammen beide aus assimilierten jüdischen Kaufmannsfamilien, die im 19. Jahrhundert nach Ostpreußen einwanderten, um den Judenverfolgungen im russischen Zarenreich zu entgehen. Dass Arendt hochbegabt und blitzgescheit ist, stellt sich schon früh heraus: Sie lernt bereits vor dem Kindergarten das Lesen. Später, in ihrem Freundeskreis am Gymnasium, gilt sie als diejenige, die »alles« gelesen hat. Sie vertieft sich in die Schriften von Kant und Kierkegaard und interessiert sich schon zu Schulzeiten brennend für die neuen Strömungen der Philosophie. Nachdem sie im Alter von 15 Jahren der Schule verwiesen wird, weil sie ihre Mitschüler:innen zum Streik gegen einen ungerechten Lehrer aufgerufen hat, studiert sie drei Semester an der Universität Berlin und legt das Abitur ein Jahr früher als ihr Jahrgang als Externe ab.

Hannah Arendt mit ihrer Mutter Martha Arendt, 1914

Arendts Begeisterung für die Philosophie und die Leidenschaft für das Denken hält an, und so wählt sie auch ihren Studienort aus: 1924 zieht es sie nach Marburg, um bei Martin Heidegger Philosophie zu studieren. Der junge Hochschullehrer, der damals an seinem Hauptwerk Sein und Zeit arbeitet, gilt in Arendts Freundes- und Bekanntenkreis als Geheimtipp, wie Arendt in ihrer Rede zum 80. Geburtstag Heideggers berichtet: »Das Gerücht sagte ganz einfach: Das Denken ist wieder lebendig geworden. […] Es gibt einen Lehrer; man kann vielleicht das Denken lernen …« (Menschen in finsteren Zeiten) Die 18-jährige Hannah stürzt sich dementsprechend leidenschaftlich in ihr Studium. Dazu gehört auch, sich diesen Lehrer zu schnappen und nicht nur seine beste Schülerin zu werden, sondern auch eine – streng geheim gehaltene – Liebesbeziehung mit ihm zu beginnen. Die Affäre dauert bis 1926 an, als Arendt den Studienort wechselt, um bei Karl Jaspers, mit dem sie eine lebenslange Freundschaft verbinden wird, ihr Studium mit einer Doktorarbeit über den Liebesbegriff bei Augustinus abzuschließen.

»Man muss sich wehren«