Hanne. Die Leute gucken schon - Felicitas Fuchs - E-Book
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Hanne. Die Leute gucken schon E-Book

Felicitas Fuchs

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Beschreibung

Minden 1951: Hanne wächst in bescheidenen Verhältnissen heran. Ihre Mutter Minna sorgt dafür, dass alles in geregelten Bahnen verläuft, sogar ein bisschen Glück scheint endlich wieder möglich. Als Hanne dem smarten, viel älteren Paul Wagner begegnet und sich zum ersten Mal verliebt, nimmt ihr Leben eine Wendung, die für immer alles verändert.

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Seitenzahl: 652

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Zum Buch

Minden 1951. Die dunklen Jahre des Krieges sind endlich vorbei. Allmählich kehrt Wohlstand ein. Hanne lebt mit ihrer Mutter Minna, die wieder als Schneiderin arbeitet, in einfachen Verhältnissen. Sie ist ein unauffälliges Kind, und möchte ihrer Mutter nicht zur Last fallen. Doch dann erkrankt sie an Tuberkulose. Immer wieder muss sie in die Lungenheilanstalt. Während ihre Altersgenossinnen sich für Rock ’n’ Roll, Lippenstifte und Petticoats interessieren, liebt Hanne es zu kochen, zu lesen, und sie träumt von einem starken Mann, der sie beschützt. Sie begegnet schließlich Paul Wagner, der all ihre Sehnsüchte zu erfüllen scheint. Als sie jedoch erfährt, dass er eine Ehefrau hat, ist es bereits zu spät. Minna will ihre Tochter um jeden Preis beschützen. Also fasst sie einen folgenschweren Plan.

Zur Autorin

Felicitas Fuchs ist das Pseudonym der Erfolgsautorin Carla Berling, die sich mit Krimis, Komödien und temperamentvollen Lesungen ein großes Publikum erobert hat. Schon bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete, war sie als Reporterin und Pressefotografin immer sehr nah an den Menschen und ihren Schicksalen. In ihrer dramatischen Familiengeschichte verarbeitet sie autobiografische Elemente zu einer packenden Trilogie über drei starke Frauen.

Lieferbare Titel

978-3-453-42643-6 - Minna. Kopf hoch, Schultern zurück

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Originalausgabe 01/2023

Copyright © 2023 by Felicitas Fuchs

Copyright © 2023 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Steffi Korda, Büro für Kinder- und Erwachsenenliteratur, Hamburg

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München,

unter Verwendung von Getty Images (George Marks); FinePic®, München

Satz und e-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-28691-0V001

www.heyne.de

PROLOG

Hanne

Oktober 1961

Nun war es also geregelt.

Was für ein raffinierter Schachzug, dem sie da zugestimmt hatte! Nie im Leben wäre ihr so etwas eingefallen. Im Grunde waren sie damit für immer aus dem Schneider. Niemand konnte etwas beweisen.

Niemand würde darauf kommen. Es war wasserdicht.

Wie gut, dass Mutti die Sache eigenmächtig in die Hand genommen hatte. Wie gut, dass sie ihr alles abgenommen und sie vor vollendete Tatsachen gestellt hatte. Alle, die an diesem Tag in der Mansarde gesessen und in ihrer Abwesenheit über ihr Schicksal entschieden hatten, würden für immer schweigen. Fünf Menschen, die schwerwiegende Entscheidungen getroffen hatten. Sie könnten gar nichts verraten, denn den entscheidenden Teil des Paktes kannten sie nicht.

Die wenigen, die wirklich über alles Bescheid wussten und die ganze Wahrheit kannten, würden sich hüten, darüber zu reden.

Das war kein Kavaliersdelikt, das war eine große Sache.

»Aber eines Tages musst du das aufklären und dazu stehen«, hatte Mutti gesagt, »da kommst du nicht drum herum.«

Ja, mein Gott, eines Tages.

Bis dahin dauerte es noch Jahrzehnte.

Heute war heute, und ab sofort waren die Sorgen vorbei. Sie würde bald ein normales Leben führen, so, wie andere Frauen in ihrem Alter auch. Und sie könnte arbeiten gehen und vielleicht einen Mann kennenlernen, trotz allem. Mutti kümmerte sich.

Vorerst musste sie nie wieder darüber nachdenken.

Wie gut, dass Mutti alles geregelt hatte.

1

Minna

Juli 1951

Es war die hohe Holzleiter, die sie zur selben Zeit sahen. Sie lehnte an einer Mauer der Orangerie des Benrather Schlosses und reichte bis hinauf zur Dachrinne. Wahrscheinlich wurde dort oben etwas repariert, und man hatte vergessen, sie wegzuräumen. Und es war dieser besondere Moment, an den beide sofort erinnert wurden. Minna und Anni blickten auf die Leiter, sahen einander an. Gleichzeitig sagten sie: »Weißt du noch?«, und gleichzeitig begannen sie zu grinsen.

Anni stieg auf die zweite Sprosse, hielt sich an einer der oberen fest und drehte sich zu ihrer Freundin um. Minna stand hinter ihr, nahm den Saum des Kleides zwischen Daumen und Zeigefinger, hob ihn an, schaute auf Annis Kniekehlen und gab ihrer Stimme einen nasalen Tonfall: »Fräulein Anni! Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, dass Sie vernünftige Wäsche zu tragen haben! Sie wissen genau, dass die meisten unserer Kunden männlich sind, und es ist wichtig, dass sie einen entsprechenden Anblick haben, wenn Sie auf der Leiter stehen!«

In diesem Moment brach die untere Sprosse. Anni quiekte, plumpste auf den Rasen, lag auf dem Rücken wie ein dicker Käfer, begann zu lachen und konnte überhaupt nicht mehr damit aufhören. Ihr Doppelkinn bebte. Sie streckte die Hand aus, damit Minna ihr aufhelfen konnte.

»Schlechte Qualität, diese Leiter«, japste sie. »An mir liegt’s nicht, wenn das Holz nix aushält, ich habe höchstens ein Pfund pro Jahr zugenommen, seit der schreckliche Brinkmann so mit mir gesprochen hat!«

»Dass du beim Brinkmann Schuhe verkauft hast, er dir dauernd unter den Rock geguckt und dir Anweisungen wegen der Auswahl deiner Schlüpfer gegeben hat, das war 1924!« Minna grinste. »Vor siebenundzwanzig Jahren!«

Ächzend zog sie Anni hoch, die sich das Gras vom Kleid wischte und erneut beteuerte: »Sag ich doch, pro Jahr nur ein winziges Pfund!«

»Jetzt hast du Grasflecken am Hintern!«

»Da hab ich ja auch Platz genug.«

»Nun sei doch mal ernst, Anni, Grasflecken sind aus Baumwolle wirklich schwierig zu entfernen. Am besten legst du den Stoff an der Stelle über Nacht in Milch ein.«

»So weit kommt das noch, dass ich Vollmilch nicht trinke, sondern als Fleckentferner benutze! Milch gehört in den Pudding. Nach dem Krieg und den Hungerjahren werde ich bestimmt keine gepanschte Milch, ranziges Brot oder faule Kartoffeln zu mir nehmen.«

Minna verstand ihre Freundin nur zu gut. Seit es keine Lebensmittelkarten mehr gab, wurde langsam alles besser. Nie mehr Maispampe, kaum noch Muckefuck. Kein Sonntag ohne Braten, endlich Zucker, endlich Nudeln.

Sie waren beide 1904 geboren und hatten zwei Kriege erlebt. Sie wussten, was Hunger, Entbehrungen, Kälte und Angst bedeuteten. Dabei hatte Anni mit ihrer Familie auf dem Land weniger leiden müssen als die Menschen in der Stadt: Sie und ihr Mann Reini hatten sich mit einem Gemüsegarten, der Obstwiese, einem gut gefüllten Hühnerstall und einer Karnickelzucht selbst versorgen können. Und sie hatten immer was zum Tauschen gehabt. Die Leute waren aus Düsseldorf, Hilden und Haan gekommen, um Schmuck, Kleidung, Geschirr, Zigaretten oder sogar Nägel gegen ein mageres Huhn, einen Korb Obst oder ein paar Eier anzubieten.

Anni hatte sich aufgerappelt und steuerte schnaufend eine Bank an. »Mir ist heiß, lass uns hier auf die Kinder warten.«

Von Weitem kamen zwei Mädchen auf sie zu. Sie hatten einen Wettlauf um die Orangerie gestartet, den das größere Kind zu gewinnen schien.

»Schon jeck mit unserem Nachwuchs, oder?«, sagte Anni. »Wir beide sind gleich alt, aber deine Tochter ist kaum älter als meine Enkelin …«

»Du hast eben besonders früh angefangen mit dem Kinderkriegen, und ich war ein besonders spätes Mädchen«, sagte Minna. Ihre Tochter Hanne war im März elf geworden, Annis Enkelin Elke war nur zwei Jahre jünger.

Am Vormittag des Vortages waren Minna und Hanne angekommen, bis Sonntag würden sie bleiben. Nach dreizehn Jahren hatten sie sich zum ersten Mal wiedergesehen. Nein, sie waren nicht mehr dieselben, auch äußerlich nicht. Minna hatte ihre schlanke Figur behalten, aber durch ihr Gardemaß wirkte sie neben ihrer Freundin fast hager. Ihre hellgrauen Augen waren von einem feinen Faltenkranz umgeben, in ihrem dunklen Haar schimmerten silberne Fäden. Sie trug es schulterlang und frisierte es mit Libellenspangen aus Schildpatt seitlich hoch. Ihr cremefarbenes Kleid mit dem flaschengrünen Muster hatte sie selbst geschneidert, Kragen, Pumps und Handtasche hatten den gleichen Farbton.

»Minnchen, wie immer todschick, als seist du direkt einem Modemagazin entstiegen!«, hatte Anni gerufen und Minna bewundernd gemustert.

»Als gäbe es ein Magazin für Frauen unseres Alters. Mannequins sind jung und blond«, hatte Minna geantwortet.

Anni trug ihr blondes Haar streng nach hinten gekämmt und im Nacken zu einem nachlässigen Dutt gesteckt. Ihr dralles Gesicht hatte keine einzige Falte. »Wie auch, bei dem Polster!«, hatte sie gelacht und die Backen aufgepustet, als Minna ihr ein Kompliment wegen der glatten Haut machte. Annis Füße steckten in derben Schnürschuhen, das wild geblümte Kleid hatte den Schnitt einer Kittelschürze und fand in Minnas Augen keine Gnade. Aber das wollte sie der Freundin in der kurzen Zeit, die sie miteinander hatten, gewiss nicht sagen. Außerdem führte Anni am Rande der Ohligser Heide ein bäuerliches Leben zwischen Hund, Katzen, Hühnern, Karnickeln und Gemüsebeeten. Da hatte Mode weiß Gott keinen Platz.

In diesem Herbst würden beide siebenundvierzig Jahre alt werden. Heute nutzten sie das schöne Wetter für einen Ausflug nach Schloss Benrath. Reini hatte sie hergefahren. Er hatte in Düsseldorf zu tun und würde sie später am Schlossteich wieder abholen.

Die Mädchen erreichten sie und ließen sich atemlos neben Minna und Anni auf die Bank fallen. Hanne lehnte ihren Kopf an Minnas Schulter, liebevoll strich Minna ihrer Tochter übers Haar. »Du musst bei der Hitze nicht so rennen, das ist nicht gut für den Kreislauf.«

Hanne nickte artig, so wie sie es immer tat, wenn ihre Mutter etwas zu ihr sagte.

Während der Heimfahrt quetschten sich Anni und die Kinder auf die Rückbank des Volkswagens. Minna saß vorn bei Reini, hinten gab es nämlich keinen Aschenbecher. Reini hatte beide Scheiben heruntergekurbelt, aber der Fahrtwind blies den Zigarettenrauch in den Fond des Wagens.

»Ich hätte so gerne einen Führerschein und ein eigenes Auto!«, sagte Minna.

Reini runzelte die Stirn, dabei bewegten sich seine riesigen Segelohren nach vorn. In seinem Mundwinkel schien die Zigarette angewachsen zu sein: Seit Minna angekommen war, hatte sie ihn nicht ohne die filterlose Overstolz zwischen den Lippen gesehen. Er konnte eine komplette Zigarette rauchen, ohne die Kippe anzufassen. Er inhalierte einfach mit halb geschlossenem Mund und blies den Qualm durch die Nasenlöcher wieder aus.

»So weit kommt das noch, Frauen hinterm Steuer!«, brummte er nun.

»Verboten ist es nicht. Sogar in Minden gibt es Frauen, die Auto fahren!«

Hinten begann Anni zu kichern. »Minnchen, du kommst wieder auf Ideen. Reini, was würdest du sagen, wenn ich dich fragen würde, ob ich Autofahren lernen darf?«

Er schaute in den Rückspiegel und zeigte ihr einen Vogel, damit war das Thema für ihn beendet.

Minna guckte aus dem Fenster und stellte sich vor, wie es wäre, einen eigenen Wagen fahren zu können. Immerhin hatte sie weder einen Vater noch einen Ehemann, den sie um Erlaubnis fragen müsste. Aber sie hatte auch keine Ahnung, wie teuer ein Auto wie dieses war. Wo konnte man den Preis wohl erfragen? Eigentlich war es völlig wurscht, denn mit ihrem Einkommen als Änderungsschneiderin und den dreißig Mark, die sie als Unterhalt von Fritz bekam, war ein Automobil unerschwinglich. Natürlich fragte man nicht nach dem Preis, aber Minna war einfach zu neugierig. »Reini, wie viel kostet ein Auto?«

Reini paffte gegen die Windschutzscheibe. »Fünftausenddreihundert Mark hab ich für den Volkswagen hingeblättert, dafür hab ich jahrelang jeden Pfennig auf die hohe Kante gelegt.« Stolz schwang in seiner Stimme mit.

Minna seufzte. Das war ein Vermögen.

Mit einem Seitenblick ergänzte Reini: »Das ist eine hoch komplizierte Anschaffung fürs halbe Leben und kein modisches Spielzeug!«

Minna gab es auf. Sie wollte sich nicht mit ihm streiten, wozu.

Die Fahrt von Benrath ins Schönholz dauerte keine halbe Stunde.

Anni quälte sich aus dem Auto und schob die Mädchen sanft vor sich her: »Ihr könnt mit Onkel Reini in den Stall gehen und die Karnickel füttern, oder ihr guckt auf dem Heuboden, ob ihr Lieschen und ihre Jungen findet.«

»Au ja, Kätzchen suchen!« Hanne nahm Elke an die Hand und lief mit ihr los.

»Für ein Stadtkind ist das hier alles aufregend«, erklärte Minna, während sie in der winzigen Küche stand und eine Mettwurst in dicke Scheiben schnitt.

Anni deckte derweil den Tisch, stellte Butter, Leberwurst und Blutwurst in Gläsern und ein Weckglas mit schwarzem Inhalt auf den Tisch. »Rübensirup«, erklärte sie, »den koch ich aus Zuckerrüben selber ein. Die Wurst ist von unserem Hausschwein, Brot backen wir mit der Nachbarschaft im Steinofen. Wir haben hinten auf der Weide noch eine Kuh, hatten wir auch im Krieg, so gab es immer Butter und Milch. Mensch, Minnchen, was haben wir gekungelt!«

Minna erinnerte sich sofort an die Streifzüge, bei denen sie mit ihrem Bruder Karl und ihrer Schwägerin Wilhelmine Kohlen geklaut hatte, und auch ihre Hamsterfahrten ins Mindener Umland würde sie nie vergessen. Anni hatte in diesen Jahren quasi auf der anderen Seite gelebt: Hier hatten sie sich selbst versorgen können und immer was zu essen und zum Tauschen gehabt, während Minna, die Glück im Unglück gehabt hatte, weil sie nicht ausgebombt worden war, über die Dörfer gezogen war und für eine Handvoll Lebensmittel genäht oder geflickt hatte. Welch lange Wege hatte sie hinter sich gebracht, wenn sie unterwegs gewesen war, um Brennholz in den Ruinen zu finden oder Tannenzapfen und Reisig auf den Friedhöfen und in den Stadtwäldern zu sammeln! Sogar Wurzelstöcke hatte sie ausgegraben, um sie zu verfeuern. Als die städtischen Grünanlagen quasi leer gefegt gewesen waren, war Minna oft kilometerweit bei Eis und Schnee von Minden bis zum Wiehengebirge gegangen, um Holz zu besorgen.

»Weißt du noch, Minnchen, als du damals weggezogen bist? Jede Woche wollten wir uns schreiben, und wir wollten uns ganz oft besuchen.«

Minna legte das Messer ab, platzierte das Brettchen mit der Mettwurst auf dem Tisch und setzte sich auf die Küchenbank unter dem Fenster. »Ach, wir hatten doch alle viel vor, das wenigste haben wir erreicht.« Anni schlug blitzschnell Eier in eine Schüssel, verquirlte sie mit einem Schuss Sahne und würzte alles mit Pfeffer und Salz. Sie rieb eine Pfanne mit einer Speckschwarte aus und gab eine große Portion Schmalz hinein. »Das kannst du so nicht sagen. Reini ist nicht im Krieg gefallen wie Millionen andere. Er war nicht in Gefangenschaft wie dein Fritz. Wir haben unsere Kinder großgekriegt, und jetzt geht die Enkelin schon in die Schule. Ich weiß noch, dass du es damals nicht verstanden hast, dass wir das alte Haus hier übernommen haben, während du mit Fred in einer Beletage in Düsseldorf gewohnt hast und mit deiner Mode eine erfolgreiche Frau geworden bist.«

»Und warum wurde ich das? Weil ich mir nichts mehr gewünscht habe als eine Familie und einfach nicht schwanger wurde. Fred war den ganzen Tag im Kontor, und ich hab mich zu Tode gelangweilt. Der Rest hat sich so ergeben, geplant war das gewiss nicht. Nein, Anni, ich hab dich oft um dein Leben beneidet, so war das.«

Anni stellte die Pfanne auf den Herd, stemmte die Hände in die Seiten und wartete darauf, dass das Fett heiß wurde. »Und ich hab dich beneidet, weil du immer so hübsch und schick und dünn warst. Während wir hier Hühner geschlachtet haben und aufs Plumpsklo gingen, bist du erster Klasse mit Fred nach Berlin gereist.« Sie grinste. »Und nun bist du immer noch schick und schlank, und wir gehen immer noch im Häuschen aufs Klo.« Sie gab die verquirlten Eier in die Pfanne.

Beide Frauen hingen einen Moment ihren Gedanken nach, bis Minna sagte: »Und du hast immer noch deinen Reini, während ich zweimal geschieden bin. Allerdings schuldlos. Du hast immer noch zwei Töchter, meine Luise ist gestorben. Hanne ist alles, was mir geblieben ist. Du hast ein eigenes Haus, Hanne und ich wohnen zur Miete unterm Dach, mitten in Minden am Markt, wo die Taxen halten und den ganzen Tag Autos fahren. Ich habe eine Änderungsschneiderei, die nicht mal so viel abwirft, dass ich Hanne auf die höhere Schule schicken kann.« Ihr kamen plötzlich die Tränen.

Anni schob die Eimasse mit einem Pfannenwender langsam vom Rand zur Mitte und drehte das Gas kleiner. Sie kam herüber, zwängte sich neben Minna auf die Küchenbank und umarmte sie. Beziehungsweise versuchte sie es. Ihr Busen war aber so mächtig, dass ihre Arme zu kurz waren, um Minna zu umfassen. Darüber mussten sie so lachen, dass es schließlich Lachtränen waren, die Minna sich von den Wangen wischte.

»Was ist das für eine Geschichte mit der höheren Schule?«, fragte Anni.

»Die Kinder sind geprüft worden, von hundertfünfzig hätten zwei auf die höhere Schule gehen können, und eins davon ist Hanne.« Minna stöhnte. »Sechzig Mark Schulgeld wollen sie auf dem Lyzeum haben, jeden Monat! Ich habe Fritz gefragt, ob wir das irgendwie hinkriegen, aber er sagt, das sei rausgeschmissenes Geld. Erstens hat er selber nicht so viel, zweitens meint er, dass Hanne sowieso heiratet, und es daher unnötig ist, wenn wir uns jahrelang eine teure Schulbildung vom Mund absparen.«

Anni lehnte sich zurück. »Ich finde zwar alles, was Fritz dir angetan hat, sehr schäbig, und ich werde gewiss nie wieder mit ihm reden, aber in der Hinsicht hat er recht. Das würde sich nur lohnen, wenn Hanne später zur Universität gehen und Lehrerin oder Apothekerin werden will. Minnchen, das ist für unsereins kein Weg! Wir sind Handwerkertöchter, wir ziehen keine Akademikerinnen groß.«

Minna sah ihre Freundin an. »Warum eigentlich nicht?«

Anni stand auf, ging wieder zum Herd, schob das Rührei, das nun langsam stockte, vom Pfannenrand aus in die Mitte und wendete die Masse. »Weil es eben so ist. Man sagt doch immer: Schuster, bleib bei deinem Leisten.«

Hanne und Elke stürmten ins Haus, wuschen sich nach Minnas Ermahnung die Hände und setzten sich zum Abendessen an den Tisch.

Reini kam dazu. Sie aßen Brot mit Butter und Rührei und anschließend Stullen mit Butter und Wurst. Die Mädchen plapperten über die »Mümmelmänner«, so nannte Elke die Kaninchen, und Hanne fragte Reini, ob er Senta nach dem Essen aus dem Zwinger lassen konnte. Senta war die Schäferhündin, die in einem Stall mit hohem Zaun und Hundehütte lebte und bei jedem Fremden, der sich dem Haus näherte, sofort anschlug. Aber sie liebte Kinder, sie war ganz verrückt nach ihnen.

Während Minna das Treiben am Tisch still genoss, dachte sie über die Gespräche des vergangenen Tages nach. Sie würde es ihr nicht sagen, aber Anni war tatsächlich ein bisschen altmodisch geworden. Was sollte das denn heißen: Es lohnte sich für ein Mädchen nicht, aufs Lyzeum zu gehen? Und es gehörte sich nicht für eine Frau, den Führerschein zu machen und ein Auto zu haben? Wenn ich ein paar Jahre jünger wäre, würde ich mit ihr darüber diskutieren, aber die Zeiten sind vorbei, dachte Minna. Außerdem: Was nutzte es? Sie konnte ihre Freundin nicht davon überzeugen, dass sie Schulbildung für ein Mädchen wichtig fand und der Meinung war, dass auch Frauen ein Auto haben sollten. Und umgekehrt konnte sie mit Annis Einstellung nichts anfangen. Sie lebten über zweihundert Kilometer voneinander entfernt und würden sich, wenn nichts dazwischenkam, erst im nächsten Sommer wiedersehen können. Jede hatte ihren Alltag, ihre Familie, ihr eigenes Leben.

Ein Lächeln huschte über Minnas Gesicht. Mal sehen, ob es nicht doch möglich war, dass sie im nächsten Jahr mit einem Führerschein in der Tasche herkommen würde. Na, die beiden würden Augen machen!

»Minnchen, kein Wunder, dass du nix auf den Rippen hast, wenn du nur ein einziges Butterbrot isst!«, schimpfte Anni, als Minna ihren Teller wegschob.

»Ich bin fertig und satt, darf ich bitte aufstehen?«, fragte Hanne.

Elke plapperte den Satz im selben Tonfall nach.

Minna sah auf ihre Uhr. »Eine Stunde dürft ihr noch raus. Bleibt in der Nähe, ich rufe, wenn Bettzeit ist.«

»Ja, Mutti«, sagte Hanne, nahm Elke an die Hand und ging mit ihr hinaus.

»Da ist aber Zucht und Ordnung drin!«, lobte Reini, griff in die Brusttasche seines karierten Hemdes und zog sein Päckchen Overstolz heraus. Er bot Minna eine an. Sie nahm die Zigarette, ließ sich Feuer geben und atmete den Rauch tief ein. Mit den Fingerspitzen zupfte sie einen Tabakkrümel von ihrer Zunge.

»Auch selten, dass eine Frau solche Zigaretten raucht«, stellte Reini fest.

»Ach Reini, du hast ja keine Ahnung, was wir im Krieg alles geraucht haben.«

»Und du hast keine Ahnung, was unsereins in Frankreich …«

»Och nö, hört auf, davon will jetzt keiner sprechen!«, rief Anni dazwischen. »Erzähl uns lieber, wie es deinen Brüdern geht.«

Minna ging auf den Themenwechsel ein. »Hermann ist als reisender Hochzeitsfotograf unterwegs, damit kommt er gut über die Runden. Nachdem sie in Düsseldorf ausgebombt waren und er sein Studio und die Wohnung an der Kö verloren hatte, sah es zuerst so aus, als käme er nicht wieder zu Potte. Wir haben uns große Sorgen gemacht. Aber dann haben sie in Hemmerden Fuß gefasst, haben da eine schöne Wohnung. Mariechen arbeitet als Haushälterin beim Pastor, Lothar ist in Neuss verheiratet und mit seinen sechsundzwanzig Jahren schon Oberkellner in einem Kaufhausrestaurant. Hildchen hat eine Lehre als Drogistin gemacht und sich gerade mit einem sehr netten Mann verlobt, und Hansi, der Kleine, ist auch schon wieder zehn Jahre alt. Er und Hanne vertragen sich gut, sie können stundenlang aus Bierdeckeln Kartenhäuser bauen.«

»Das klingt prima, und wie geht es Karl? Was macht seine Gesundheit?«, fragte Anni.

Minna zog an ihrer Zigarette. »Ach, Karl … die epileptischen Anfälle sind selten geworden, inzwischen gibt es gute Medikamente. Er hat nach dem Krieg seinen alten Posten als Pförtner auf der Weserwerft wiederbekommen. Stell dir mal vor: Er hat sich selbst Russisch beigebracht und wird manchmal als Übersetzer angefragt. Und er ist noch immer mit Wilhelmine verheiratet. Leider.«

Anni nickte. »Bewundernswert, dass du die olle Krawallschachtel aufgenommen hast, als sie ausgebombt waren.«

»Was sollte ich tun? Jeder hat damals jedem geholfen, die meisten um uns herum hatten alles verloren und standen mit leeren Händen auf der Straße. Ich hab Glück gehabt, die Bombe hätte auch unser Haus treffen können.«

Minna dachte an die lange Zeit, in der Karl auf dem Küchensofa und Wilhelmine im Kämmerchen geschlafen hatte, nachdem die Straße, in der sie gewohnt hatten, wenige Tage vor Kriegsende völlig zerstört worden war. Ihre Schwägerin, die unter den Nazis eifrig in der Frauenschaft gedient hatte, war in der Nachkriegszeit allerdings eine große Hilfe gewesen. Sie konnte hervorragend handeln, ihre Verbindungen bildeten ein beeindruckendes Netzwerk, und sie hatte immer als eine der Ersten gewusst, wo es was zu kungeln oder zu kaufen gab.

»Wie lange waren sie bei dir?«, fragte Reini.

»Zwei Jahre. Kurz nachdem sie ihre eigene Wohnung bezogen hatten, kam Fritz aus der Gefangenschaft zurück.«

Minna drückte die Overstolz im Aschenbecher aus und verbrannte sich dabei versehentlich die Fingerkuppe. Verdammt, sie konnte immer noch nicht an Fritz denken, ohne dass sie nervös wurde und Herzklopfen bekam!

»Was macht Fritz?«, fragte Reini.

Minna zuckte mit den Achseln. »Wohnt bei seiner Geliebten, arbeitet immer noch als Amtsgehilfe im Bundesbahnzentralamt und kommt alle paar Wochen vorbei, um Hanne zu sehen. Aber du weißt ja, wie er ist: Der redet kaum einen ganzen Satz am Stück, und Hanne ist auch nicht gerade ein Plappermaul, die haben sich nicht viel zu sagen.«

Anni hatte inzwischen den Tisch abgeräumt und wischte die Krümel mit einem Lappen in ihre hohle Hand. »Aber immerhin hat Fritz dir die Freifahrtscheine gegeben, sodass ihr hier sein könnt.«

»Ja, immerhin«, sagte Minna und stand auf. »Ich muss mir ein bisschen die Beine vertreten. War ein langer Tag.«

»Mach das. Und wenn die Kinder im Bett sind, gönnen wir uns ein Eierlikörchen und reden über alte Zeiten, ja? Den Likör hab ich selbst gemacht, aus Eiern von unseren Hühnern«, sagte Anni stolz.

Minna nickte knapp. Sie hatte nichts gegen einen Eierlikör, aber es stand ihr nicht der Sinn danach, über die Vergangenheit zu reden. Vorbei ist vorbei, wir leben heute, das war ihre Einstellung. Die alten Zeiten waren so tragisch gewesen, dass sie am liebsten nie wieder daran denken und nur noch nach vorn schauen wollte.

Sie trat aus der Tür und ließ den Blick schweifen. Drüben das Klohäuschen, der Stall mit dem Heuboden und der Hundezwinger, auf der anderen Seite der Brunnen mit der Schwengelpumpe, obwohl es im Haus inzwischen fließendes Wasser gab. Hier hatte sich auf den ersten Blick nichts verändert. Nur die Heckenrosen, die sich an der Frontseite des Hauses über die grauen Steinmauern rankten, waren üppiger geworden. Und die dichte Weißdornhecke, die an der Vorderseite wuchs, war inzwischen gewiss vier Meter hoch.

Minna verließ das Grundstück und spazierte den unbefestigten Weg bis zum Rand der Ohligser Heide. Wenn sie zu Hause aus der Tür trat, war sie sofort mitten im Trubel des Marktplatzes. Hier fuhr kein Auto, kein Bus, keine Straßenbahn, hier war kein Mensch unterwegs. Aber es war keineswegs leise: Vögel zwitscherten, eine Amsel saß auf einer Baumspitze und sang inbrünstig ihr Lied, über der Wiese kreiste ein Mäusebussard und stieß diesen schrillen Ton aus, der in Minnas Ohren wie das laute »Miau« einer Katze klang. Und die Grillen, meine Güte, wie laut war ihr Gezirpe! Was hatte Reini gestern Abend gesagt? »Grillen haben kaltes Blut, sie nehmen die Temperatur ihrer Umgebung an. Wenn es richtig warm ist, werden ihre Körperfunktionen aktiver. Je heißer es ist, desto mehr Gezirpe. Sie haben Intervalle, in denen sie singen. Wenn man dem Zirpen zuhört und bis fünfundzwanzig zählt, hat man ungefähr die Lufttemperatur in Grad Celsius.«

Minna hatte ihn ausgelacht. »Ich kann auch auf ein Thermometer gucken, wenn ich wissen will, wie warm es draußen ist.«

Sie hörte einen Hund bellen und Kinder kreischen, vielleicht spielten Hanne und Elke jetzt hinten auf der Obstwiese mit der Schäferhündin.

Die Ferientage waren schön und aufregend gewesen. Es hatte Minna gutgetan, ihren Bruder und seine Familie und Anni und ihre Lieben wiederzusehen. Aber Nichtstun lag ihr nicht. Ein Tag war für sie nur ein erfolgreicher Tag, wenn sie am Abend etwas geschafft, etwas vorzuweisen hatte. Jetzt freute sie sich auf zu Hause.

2

Karl

August 1951

Er hatte eine Bahnsteigkarte gekauft, war zu früh am Gleis, und dann hatte der Zug auch noch eine halbe Stunde Verspätung. Karl setzte sich auf eine Bank. Er war müde. Es war wieder ein ungewöhnlich heißer Tag, der wahrscheinlich in einem ebensolchen Abend und einer schwülen Nacht enden würde. Zwar hatte er in seinem Pförtnerhäuschen den ganzen Tag Fenster und Tür offen gehabt, aber dort knallte die Sonne ununterbrochen auf das Dach, und die Hitze staute sich in dem kleinen Raum. Vor dem Häuschen gab es keinen Schatten, in dem er sich hätte aufhalten können, ihn machten die Temperaturen von knapp vierzig Grad ziemlich mürbe.

Er strich sich mit der Hand das schweißnasse Haar aus der Stirn. Es war noch voll und dicht, allerdings war die Farbe inzwischen eher grau als blond. Egal, andere Kollegen, die auch fast fünfzig waren, mussten bei dem Wetter einen Hut tragen, um sich nicht den Glatzkopf zu verbrennen.

Karl öffnete seine Aktentasche und wollte die Zeitung herausnehmen. Mist, er hatte sie auf der Werft vergessen! Im vorderen Fach steckte noch sein Hasenbütterken – ein Wurstbrot, in Wachspapier eingeschlagen, in der Hitze vom Fett durchweicht und an den Kanten gebogen. So aß er sein Pausenbrot am liebsten. Er freute sich schon auf den Abend, wenn er es mit einer Flasche Bier dazu genießen würde.

Es knackte im Lautsprecher und eine schnarrende Stimme leierte: »Vorsicht am Bahnsteig zwei: Es fährt ein Schnellzug D einhundertdreizehn aus Köln zur planmäßigen Weiterfahrt um siebzehn Uhr achtundfünfzig nach Braunschweig Hauptbahnhof. Über Wunstorf, Hannover, Lehrte, Peine.«

Die Bremsen der Lok kreischten, Funken sprühten über ihren Rädern. Das Gleis wurde in dichte Dampfschwaden gehüllt, die sich nur langsam verzogen. Es dauerte eine Weile, bis die Türen geöffnet wurden und die ersten Reisenden ausstiegen. Karl schirmte seine Augen mit der Hand gegen die Sonne ab und hielt nach seiner Schwester und seiner Nichte Ausschau.

Zuerst sah er Hanne, ihr folgte ein hochgewachsener Mann mit kurzem grauem Haar. Er wuchtete einen Koffer auf den Bahnsteig, reichte jemandem im Waggon die Hand, und dann stieg Minna aus. Hanne stand ein wenig abseits, während Minna und der Fremde sich die Hand gaben und sich einen Moment lang in die Augen sahen.

Hanne hatte ihn entdeckt. »Onkel Karl!«

Sie rannte in seine geöffneten Arme.

Er wirbelte sie lachend herum. »Lange geht das nicht mehr! Du bist so ein großes Mädchen, bald schmeißt du mich um, wenn du so angestürmt kommst!«

Sofort senkte sie den Kopf. »Entschuldigung.«

Karl wusste nicht, warum Hanne oft so unterwürfig reagierte. Von ihrer Mutter hatte sie solches Verhalten sicherlich nicht.

Minna und der Fremde standen immer noch voreinander, er wirkte unschlüssig.

»Mein Bruder ist da, vielen Dank für Ihre Hilfe beim Gepäck und … danke für das nette Gespräch. Kommen Sie gut nach Hause«, hörte Karl seine Schwester sagen.

Der Grauhaarige tippte an seine Schläfe, lächelte Karl freundlich an und ging mit federnden Schritten Richtung Ausgang.

»Wer war denn das?«, fragte Karl.

»Ja, ich freue mich auch, dich zu sehen«, entgegnete Minna. »Danke, dass du fragst, die Reise war lang und recht beschwerlich. Es war unerträglich heiß unterwegs, und man konnte kein Fenster öffnen, ohne dass jemand rief: Es zieht, machen Sie doch das Fenster zu! Ein Ehepaar saß uns im Abteil gegenüber, sie hatten ordentlich Proviant dabei und aßen die ganze Zeit hart gekochte Eier.« Minna schüttelte sich. »Es hat so übel gerochen, dass Hanne sich fast übergeben musste …« Sie grinste Karl herausfordernd an.

Er verstand. »Entschuldige, ich habe dich lange nicht mit einem Mann reden sehen.« Er umarmte Minna, gab ihr einen Kuss auf die Stirn, klemmte sich seine Aktentasche unter den Arm und nahm ihren Koffer.

»Mein Fahrrad steht auf dem Vorplatz, wir können den Koffer auf den Gepäckträger legen. Wenn wir ihn von beiden Seiten festhalten, während ich schiebe, müssen wir ihn nicht schleppen.«

Hanne hüpfte vor ihnen her. Als Minna sie ermahnte, ordentlich zu gehen, verfiel sie sofort in gemäßigten Schritt.

»Meine Güte, sie ist so folgsam«, kommentierte Karl das Verhalten seiner Nichte. »Von wem hat sie das nur?«

»Ich weiß es nicht, sie gehorcht schon, bevor ich überhaupt was sage. Du weißt, dass ich nicht streng bin.«

Karl dachte, dass Hanne schon immer ein artiges Kind gewesen war. In diesem grauenhaften Jahr 1944, als zuerst ihre kleine Schwester Luise und nur wenige Wochen später ihre Oma, Minnas und Karls Mutter, gestorben war, war Hanne vier gewesen. Danach, im Krieg, in den Tagen voller Angst und den langen Nächten im Luftschutzkeller, war Minnas Verzweiflung so groß gewesen, dass alles dahinter verschwunden war. Auch Hanne. Als dann ihr Vater Fritz an die Front musste, hatte Karl manchmal das Gefühl gehabt, die Kleine hätte sich ganz in sich zurückgezogen, um ihrer Mutter Raum für ihre grenzenlose Trauer und Verzweiflung zu geben. Als hätte Hanne sich unsichtbar machen wollen, um niemanden zu stören.

»Nun erzähl mal von deiner Reisebekanntschaft«, forderte er Minna auf.

»Das war Alex Seewald, er ist in Wuppertal zugestiegen. Stell dir vor, was für ein Zufall, er kommt aus Minden, wohnt am Klausenwall und arbeitet beim Tommy.«

»Bei den Engländern? Als was denn?«, fragte Karl.

»Das weiß ich nicht«, erwiderte Minna, »wir sind kurz hinter Wuppertal ins Gespräch gekommen, und ich habe es bis hierher leider nicht geschafft, ihn nach seiner Schuhgröße und seinem Verdienst zu fragen!«

»Warum solltest du auch? Dieser Lulatsch ist mindestens einen Kopf größer als du und hat weder braune Augen noch schwarze Haare.« Damit spielte Karl auf ihre geschiedenen Ehemänner an, die beide kleiner als Minna waren und dunkle Augen und dunkles Haar hatten. »Du weißt doch, was Mutti immer gesagt hat: Du sollst dich von kleinen Männern mit braunen Augen fernhalten. Und? Recht hat sie gehabt. Fritz hat dich sogar im Rinnstein gehen lassen, während er mit seinem hohen Hut auf dem Kopf neben dir auf dem Bürgersteig stolzierte.«

Minna kniff ihn in den Oberarm. »Hör auf. Seewald ist eine Reisebekanntschaft, ich werde ihn bestimmt nie wiedersehen.«

Damit täuschte sie sich. Karl begegnete Seewald schon wenige Tage später erneut in Minnas Nähstube.

Es war ein Samstag, Wilhelmine hatte Zwetschgen eingeweckt und sechs Gläser für Minna in einen Korb gepackt. »Dieses Jahr hängen die Bäume so voll, das können wir gar nicht alles selbst essen!«, hatte sie gesagt.

Karl stellte sein Rad ab und nahm den Korb vom Gepäckträger.

Das alte Mietshaus Am Markt 24 lag genau gegenüber des historischen Rathauses. In den drei Etagen gab es sechs Wohnungen. Unterm Dach, nach hinten raus, wohnte Minna. Das Haus hatte einen rechteckigen Eingang, von dem drei Türen abgingen. Links in das Kaffeegeschäft, das jetzt auch exklusive Süßigkeiten wie Pralinen und Schokolade und erlesene Spirituosen führte. Das Ehepaar Romming bediente die Kundschaft neuerdings in blütenweißen, gebügelten Kitteln und mit beflissenem Eifer. Geradeaus befand sich hinter der Haustür ein langer Flur und an dessen Ende die Leihbücherei von Hulda Kannegießer.

Als letztes Jahr der kleine Laden im Erdgeschoss, zu dem die dritte Tür führte, frei geworden war, hatte Minna ihre Änderungsschneiderei darin eingerichtet.

Die Tür stand offen. Minna und ein Mann saßen schwatzend neben dem Vorhang der Umkleidekabine.

Als Karl den Laden betrat, stand Minna auf. »Darf ich bekannt machen: Herr Seewald, wir haben uns im Zug kennengelernt. Mein Bruder Karl Wolf, der, wie ich sehe, von seiner Frau mit eingeweckten Pflaumen hergeschickt wurde!«

Karl stellte den Korb ab und schüttelte Seewald die Hand.

Offener Blick aus blauen Augen, freundlich, ein Kumpeltyp. Und sogar noch ein bisschen größer als Karl. Allerdings war Seewald hager und drahtig, während Karl mit den Jahren recht korpulent geworden war. Minna nannte ihn liebevoll »meinen westfälischen Kleiderschrank«, Wilhelmine bezeichnete ihn, respektlos wie eh und je, als »bullige Kante«.

»Wir sind uns auf dem Bahnsteig schon begegnet. Soso, Sie kommen auch aus Minden?«, fragte er.

Seewald gab bereitwillig Auskunft. »Nicht direkt, aus Veltheim. Aber seit ich in der Simeonskaserne arbeite, wohne ich in der Stadt.«

»Beim Engländer, interessant. Was tun Sie dort?«

Es schien, als zögerte Seewald einen Moment, bevor er antwortete: »Ich bin … für den Fuhrpark zuständig.«

Karl hatte das Gefühl, die beiden zu stören, und verabschiedete sich rasch wieder.

Keine Frage, das war ein gut aussehender Mann. Und seine Schwester war immer noch eine attraktive Frau. Sie hatten oft darüber gesprochen, dass Minna sich nie wieder binden wollte. »Zweimal geschieden zu sein, reicht! Ein drittes Mal ertrage ich das nicht«, hatte sie gesagt. Aber ob sie doch ein Auge auf diesen Seewald geworfen hatte?

Es war noch früh. Karl spürte keinerlei Bedürfnis, nach Hause zu fahren und den Tag mit Wilhelmine zu verbringen. Kurz entschlossen radelte er zur Kaserne am Simeonsplatz.

Er hatte Glück: Im Pförtnerhäuschen des Parkplatzes saß Kalle Niederschachtsiek. Sie kannten sich noch von der Werft. Jetzt besserte Niederschachtsiek seine Rente auf, indem er am Wochenende den Besucherparkplatz der britischen Rheinarme bewachte und den Schlagbaum bediente.

Die Männer tauschten Floskeln aus, redeten über das Wetter und die Schlagzeilen der Tageszeitung.

»Hör mal«, sagte Karl und bemühte sich um einen beiläufigen Ton. »Arbeitet hier ein Seewald, kennst du den zufällig? So ein großer, grauhaariger Kerl, um die fünfzig.«

Niederschachtsiek grinste. »Jau, den nennen sie hier alle OW.«

»Hä? Ohweh?«

»Gehst wohl nicht ins Kino?! Der sieht aus wie O. W. Fischer der Filmheini.«

»Tatsächlich? Fischer kenne ich, aber an den hat Seewald mich nicht erinnert.«

»Bist ja auch keine Frau. Kannst hier jedes Weibsbild fragen, die kennen ihn alle.«

»Und wieso? Was macht er hier?«

»Wäscht die Fahrzeuge.«

Karl musste lachen. Für den Fuhrpark sei er zuständig, hatte Seewald gesagt. Gelogen war das also nicht.

»Schürzenjäger?«, fragte er.

Niederschachtsiek winkte ab. »Der schäkert mit jeder, der ist verwitwet und hat vier erwachsene Töchter …’n Büchsenmacher!« Er lachte über seinen Ausdruck.

Karl dachte an Minna, und wie sie sich vorhin benommen hatte. So entspannt und locker war sie lange nicht mehr gewesen. Wenn sie sich jetzt falsche Hoffnungen machte und später wieder eine Enttäuschung erleben würde … Nein, da musste er eingreifen. Sofort.

»Danke! Mach’s gut!«, rief er Niederschachtsiek zu und schwang sich auf sein Fahrrad.

Wenige Minuten später stand er wieder vor Minnas Tür.

Seewald war nicht mehr da. Minna kniete vor einer Kundin und steckte den Saum ihres Rockes ab. Sie schaute über ihre Schulter. »Hanne ist oben, sie macht dir eine Tasse Kaffee. Ich komme nach, wenn ich hier fertig bin.« Dann wandte sie sich wieder ihrer Kundin zu.

Karl wartete im Wohnzimmer. Hanne hatte sich in ihre Kemenate zurückgezogen und las. Eigentlich war das eine kleine Kammer, ohne Ofen, nur mit einem winzigen Fenster in der Dachschräge. Aber es war ihr Reich, ihr eigenes Zimmer. In dem alten Bett ihrer Großmutter Ida, dessen Sprungfedern bei jeder Bewegung quietschten, hatte Wilhelmine nach dem Krieg geschlafen. Zu viert war es in der Wohnung ziemlich eng gewesen. Aber seit Karl und Wilhelmine nach Leteln gezogen waren und Fritz weg war, bewohnte Minna die beiden hellen Zimmer, die kleine Küche und die Kemenate mit Hanne allein. Die Toilette befand sich eine halbe Treppe tiefer und wurde nur noch von vier Parteien benutzt.

Seit keine Vertriebenen, Flüchtlinge und Ausgebombte mehr zwangsuntergebracht waren, konnte man es aushalten: Früher hatten sie oft Schlange stehen müssen, Ende ’45 hatten sich hier mehr als dreißig Leute ein Klosett geteilt. Beim Gedanken daran schüttelte Karl den Kopf. Es hatte Zeiten gegeben, in denen bis zu fünfzehn Personen in jeder der kleinen Wohnungen gelebt hatten.

Um kurz nach eins kam Minna herauf. »Feierabend. Ich fasse heute keine Nadel mehr an.«

Sie ließ sich in einen Sessel sinken und zündete sich eine Zigarette an.

Die Gläser mit den Zwetschgen standen auf dem Tisch. Sie wies mit dem Kopf hinüber. »Sieht so aus, als müsste ich Pflaumenkuchen backen. Ach Karl, ist es nicht wunderbar? Wir haben Zwetschgen, mehr, als wir essen können. Und ich hab Mehl, Zucker, Butter, ein Ei, ich kann einfach so einen Kuchenteig machen. Ob wir uns je daran gewöhnen, dass es fast alles wieder zu kaufen gibt?« Sie zog an ihrer Zigarette und begann fürchterlich zu husten.

Karl wartete, bis der Anfall vorbei war. »Vielleicht musst du dich erst mal daran gewöhnen, beim Reden auch zu atmen?«

Minna brauchte eine ganze Weile, bis der Hustenanfall vorüber war, danach reichte sie die Zigarette an Karl weiter. »Hier, rauch du sie, ich mag heute gar nicht.« Sie schaute ihn nachdenklich an. »Warum bist du noch mal zurückgekommen?«

»Wenn … Weil … Ich wollte dir was sagen, wegen … deinem Verehrer.«

Sie lachte, dabei musste sie schon wieder husten. »Mensch, hoffentlich hab ich mich nicht erkältet. Was ist mit meinem Verehrer?«

Karl rutschte unbehaglich auf seinem Sitz hin und her. »Wie soll ich sagen …«

»So, dass ich verstehe, was du meinst!«

»Ich bin ein wenig besorgt, deswegen war ich eben bei den Tommys und hab mich nach diesem Alex erkundigt.«

Minna zog die Augenbrauen hoch. »Karl! Ich bin Ende vierzig und keine vierzehn!«

»Ja, und ich bin immer noch dein großer Bruder. Und nach allem, was du mitgemacht hast, will ich nicht, dass du wieder auf die Nase fällst.«

Minna winkte ab. »Mutti hat mich vor kleinen Männern mit braunen Augen gewarnt, mit dem Ergebnis, dass ich zweimal bei solchen gelandet bin. Was, glaubst du, geschieht, wenn du mich vor Alex Seewald warnst?«

»Ich will dich nicht warnen, er ist ein netter Kerl.« Karl druckste einen Moment herum. »Aber weißt du, dass er vier Töchter hat?«

»Ja! Und stell dir vor, auf der Arbeit nennen sie ihn den Büchsenmacher!« Minna grinste von einem Ohr zum anderen und zeigte mit dem Finger auf ihren Bruder. »Hättest du nicht gedacht, dass ich davon weiß, oder?«

»Ehrlich gesagt, nein …«

»Ich kann dich beruhigen. Er ist einer, der mit offenen Karten spielt.«

»Das bedeutet?«

Sie machte ihn mit übertriebener Geste nach: »Minna, ich finde Sie wunderschön und würde gerne mit Ihnen ausgehen, dann werde ich mich in den anerkennenden Blicken der Männer suhlen, die mich um Sie beneiden!«

Karl lachte auf. »So was Hochgestochenes sagt er?« Er hatte noch nie richtig geflirtet und wäre nicht im Traum auf die Idee gekommen, einer Frau in dieser Art zu schmeicheln.

»Ja. Und so was mag ich. Wir gehen bald mal aus.«

»Aus?«, echote Karl. »Und Hanne?«

»Die ist elf, die geht nicht mit«, antwortete Minna trocken.

Sie verstand natürlich, was er meinte. Seit Hanne auf der Welt war, war Minna nicht mehr ausgegangen, und natürlich würde sie ihr Kind nicht allein zu Hause lassen.

»Ich frage Schröders Tochter Lilo, ob sie aufpasst.«

»Ja, gut. Aber lass dich nicht …«

Minna fiel ihm ins Wort: »Lass es jetzt gut sein, Karl! Ich bin alt genug. Möchtest du mit uns essen? Es gibt Pellkartoffeln mit Margarine.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, es ist spät geworden. Wilhelmine wartet sicher schon.«

Karl schob sein Fahrrad über den Marktplatz. An der Ostseite klafften immer noch hässliche Bombenlücken. Schutt und die Überreste der zerstörten Innenstadt waren in den letzten Jahren zwar ununterbrochen beiseitegeräumt worden, aber die Folgen des verheerenden Angriffs vom März ’45 würden noch lange erkennbar sein. Er schaute hinüber zum Rathaus, das immer noch eine Ruine war, eine aufgeräumte allerdings. Daneben waren einst zwei enge Straßen gewesen, in deren Mitte hatte vor dem letzten Bombenangriff eine Häuserzeile gestanden. Karl und Wilhelmine hatten da gewohnt, und auch Minnas Schneiderei war dort gewesen. Bald sollte es an der Stelle eine breite, moderne Einkaufsstraße geben, mit einem Kaufhaus neben der historischen Martinitreppe.

Karl dachte an die entsetzlichen Trümmerberge, die das Stadtbild bestimmt hatten. Nicht nur in Minden, im ganzen Land. Irgendwo hatte er gelesen, dass es nach dem Krieg fünfhundert Millionen Kubikmeter Trümmer gegeben hatte. Er hatte sich nicht vorstellen können, wie groß eine solche Menge war. Dann hatte einer auf der Werft erzählt, dass allein die Berliner Trümmer, die man auf dreiundfünfzig Millionen Kubikmeter schätzte, einen fünf Meter hohen Wall ergeben würden, der von Berlin bis nach Köln reichte.

Inzwischen hatte Karl sich daran gewöhnt, dass der äußerliche Wandel der Stadt das einzig Beständige war: Immer wieder verschwanden Mauern, Ruinen und Bombenlöcher und wurden durch Neubauten, Straßen und Plätze ersetzt. Er bog auf den Domhof ein und begutachtete das Baugerüst am Westwerk des Doms. Ob er je wieder in seiner alten Pracht dastehen würde?

Nun denn. Er schwang sich auf den Sattel und radelte nach Hause.

Die Wohnküche war heiß wie eine Backstube: Wilhelmine kochte Beerenobst ein. Unter der dunkel geblümten Kittelschürze trug sie nur ihr Korselett. Er erkannte es an dem ausgeleierten, fleischfarbenen Träger, der über ihren mageren Oberarm gerutscht war. Sie hatte keine Strümpfe an, ihre Füße steckten in ausgetretenen Schlappen. Ihr Haar, das sie neuerdings in einer klein gelockten Dauerwelle trug, war durch die feuchte Hitze kraus wie das Fell eines Pudels. Wenn er ein bisschen mehr Mumm hätte, würde er sich endlich scheiden lassen. Aber Karl hatte keinen Mumm. Die Gelegenheiten, in denen er hätte gehen können, waren ungenutzt verstrichen. Außerdem hatte er noch nie allein gelebt, konnte nicht kochen, nicht waschen, nicht putzen. Wie sollte er ohne Ehefrau überleben? Eine neue würde er als übergewichtiger, fast Fünfzigjähriger gewiss nicht finden. Außerdem war er Epileptiker und für jeden, der sich damit nicht auskannte, eine Zumutung. Nein, jetzt war es zu spät für einen Neuanfang. Er würde Wilhelmine bis zu seinem Lebensende ertragen müssen.

Der Küchentisch war mit nassen Handtüchern ausgelegt, darauf standen die gefüllten, heißen Gläser zum Abkühlen. Stachelbeeren hatte Wilhelmine als Kompott eingeweckt, aus roten Johannisbeeren Gelee gekocht, Holunder verarbeitete sie zu Sirup, den sie im Winter bei Erkältungen tranken.

Als Karl den Raum betrat, sah sie ihn nur kurz von der Seite an. »Vier Stunden, um ein paar Gläser Pflaumen abzuliefern?«

»Hab mit Minna noch Kaffee getrunken.«

»Dafür hast du gewartet, bis sie die Nähstube geschlossen hat? Du bist um elf hier weggefahren, also warst du um spätestens zwanzig nach elf am Markt. Minna schließt samstags um eins.« Sie zeigte auf die Wanduhr über der Tür. »Jetzt ist es gleich drei.«

Karl wägte ab, ob er es auf einen Streit ankommen lassen sollte, der ihm den Grund liefern könnte, das ganze Wochenende nicht mit ihr zu reden. Dann hätte er Zeit zum Lesen und um ein neues Gedicht zu schreiben.

Er entschied sich für den friedlichen, aber aufwendigeren Weg.

»Minna trifft sich demnächst mit jemandem, den sie im Zug kennengelernt hat. Er war vorhin in der Nähstube, als ich ankam.«

Sofort hatte Karl die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner Frau. »Tatsächlich? Sie hat einen Mann kennengelernt?« Wilhelmine legte den Kopf schief und überlegte einen Moment. »Wie lange ist sie von Fritz geschieden? Sieben Monate?« Ihre Mundwinkel sanken verächtlich herab. »Da hat sie sich aber erstaunlich schnell erholt.«

Karl atmete durch, bevor er antwortete. Er wählte seine Worte sorgfältig und sprach absichtlich langsam und bedächtig. »Ich bin froh, wenn sie sich überhaupt mal davon erholt, dass Fritz sie betrogen hat. Er ist schon nach Luises Taufe fremdgegangen, hatte nichts Besseres zu tun, als sich in der Wohnung gegenüber …«

Wilhelmine musterte ihn ausdruckslos. »Wird schon seine Gründe gehabt haben. Nach der Gefangenschaft konnte sie ihn ja auch nicht halten. Ganz so perfekt, wie du sie immer siehst, ist deine Schwester eben nicht. Und jetzt? Wie stellt sie sich das vor? Will sie wieder heiraten? Zum dritten Mal? Hanne einen neuen Vater vorsetzen?«

Er verabscheute ihr zweierlei Maß. So wie du, damals, als du mir schöne Augen gemacht hast, damit du endlich einen findest, der dich mit deiner unehelichen Tochter Irmi aus dem Haus deiner Eltern holt, dachte er.

Aber das sagte er nicht. Irmi war längst erwachsen und selbst Mutter; er hatte sie großgezogen wie ein eigenes Kind, aber es war ihm nicht gedankt worden. Er hatte keine besondere Beziehung zu ihr.

»Ich hab nur gesagt, dass Minna jemanden kennengelernt hat, mit dem sie ausgeht.«

Wilhelmine hantierte mit den Gummiringen der Einmachgläser. »Erzähl mir nichts. Wie alt ist der Neue denn?«

Karl zuckte die Achseln. »Schätze, so um die fünfzig.«

»Und was macht er beruflich?«

»Hält bei der Rheinarmee den Fuhrpark in Ordnung. Busse und Autos waschen und so.«

Wilhelmine ließ die Arme sinken. In jeder Hand hielt sie einen roten Gummiring. Ihre Augen wurden groß, ihr Mund stand offen. »Was sagst du da? Minna lässt sich mit jemandem ein, der beim Feind arbeitet?«

Jetzt reichte es ihm. »Sie will mit ihm ausgehen, sie haben sich gerade erst kennengelernt«, sagte er laut. »Tut mir leid, dass ich dir überhaupt davon erzählt habe. Und er arbeitet nicht beim Feind, sondern beim Engländer. Mach kein Drama, wo keins ist!«

Wilhelmine warf die Gummiringe auf den Tisch. Ihre Stimme nahm diesen metallischen Klang an, bei dem Karl sich am liebsten die Ohren zuhalten würde. »Was bitte sind Tommys, wenn nicht unsere Feinde? Freunde? Befreier?«

»Sogar dir sollte klar sein, dass wir unter deinen hochverehrten Nazis ein Regime hatten, das an Grausamkeit und verbrecherischer Energie seinesgleichen sucht. Und, der Ordnung halber: Deutschland ist kein befreites Land, es ist ein besetztes Land.«

»Ja. Mit einer Militärregierung. Wir haben im eigenen Land nichts mehr zu sagen.«

»Nun, als wir Deutschen was zu sagen hatten, haben wir die ganze Welt ins Unglück gestürzt«, erwiderte Karl.

Mit großem Interesse hatte er den Weg des Oberbefehlshabers der britischen Besatzungstruppen, Feldmarschall Montgomery, verfolgt. Der hatte zuerst verkündet, vordringlich für Lebensmittel und Wohnraum zu sorgen und die Seuchenbekämpfung zu organisieren. Montgomery wurde damals von der Presse zitiert: »Das deutsche Volk wird nach meinen Anweisungen arbeiten, um das Lebensnotwendige für die Allgemeinheit sicherzustellen und das Wirtschaftsleben des Landes wiederherzustellen.« Im Juni 1945 hatte Montgomery den Besatzungstruppen und Offizieren der Militärregierung jeden gesellschaftlichen Kontakt mit der deutschen Bevölkerung strengstens untersagt. Dazu gehörten sogar Grüßen und Händeschütteln, private Besuche, gemeinsames Essen und Trinken und das Spielen mit Kindern. Es hieß, diese Behandlung sollte jedem Deutschen seine Mitverantwortlichkeit für die Verbrechen der Nazis verdeutlichen und die kollektive Schuld ins Bewusstsein bringen. Wie lange dieses Fraternisierungsverbot befolgt wurde, wusste Karl nicht mehr. Längst gehörten die Tommys zum Alltag. Viele Mindener sprachen ein bisschen Englisch, es gab etliche Besatzungsbabys und sogar Mischehen.

»Dass sie sich mit so jemandem einlässt, ist der Gipfel«, hörte er nun Wilhelmine zischen.

»Jetzt hör doch auf!«, schimpfte er. »Kannst du deine kleinliche Eifersucht nicht endlich überwinden? Sie hat uns aufgenommen, als wir nichts mehr hatten, das musst du auch mal würdigen!«

»Pah! Wenn wir nicht bei ihr gewohnt hätten, hätte man Fremde bei ihr einquartiert, die Stadt war mit Flüchtlingen und Vertriebenen überfüllt. Sie kann froh sein, dass wir es waren, die mit ihr die Hungerwinter durchgestanden haben. Ohne meine Verbindungen und meinen Einsatz …«

Sie zeterte immer weiter. Ihre Stimme verfolgte ihn noch, als er das Zimmer verlassen hatte, aber er hörte nicht mehr hin.

Karl nahm im Schlafzimmer das Notizbuch aus dem Nachtkonsölchen, spitzte seinen Bleistift an, klemmte ihn hinters Ohr, nahm Zigarren und Streichhölzer und verließ die Wohnung.

Ein ruhiger Nachmittag an der Weser lag vor ihm, ohne ihre Stimme, ihre Boshaftigkeiten und Beleidigungen. Er würde ganz in Ruhe schreiben und träumen können. Von der schwarzen Rose. Der Königin. Seiner unerfüllten Liebe, die sogar ihren viel zu frühen Tod überdauert hatte.

3

Minna

September 1951

Minna drehte sich vor dem Spiegel, warf einen Blick über ihre Schulter, nahm den Handspiegel und stellte sich so hin, dass sie auch die Rückenpartie sehen konnte.

Es saß perfekt. Sie hatte bis Mitternacht an diesem Kleid genäht, und es war ein Meisterstück geworden. Ich habe nichts verlernt. Wenn wir andere Zeiten hätten, ich nicht allein für Hanne sorgen müsste und ein bisschen jünger wäre …

Sie erinnerte sich kurz an ihre Düsseldorfer Zeit, in der sie mit ihrem Atelier so erfolgreich gewesen war. Was für herrliche Kleider hatte sie getragen, wie viele exklusive Stücke hatte sie teuer verkauft! Die Idee, Haute-Couture-Kleider zu kopieren, hatte sich als Goldgrube erwiesen. Minna rief sich selbst zur Ordnung: Aus, vorbei, Vergangenheit, jetzt haben wir seit über zwanzig Jahren die Mindener Zeit, und gleich holt Alex mich ab.

Deswegen hatte sie sich in Schale geworfen. Aus einem biederen dunkelblauen Kleid mit weißen Tupfen und einem weißen Nesselstoff hatte sie ein modernes Modell gezaubert, in dem Stil, wie es die Schauspielerinnen neuerdings in den Kinofilmen trugen. Oben lag es eng an, in den Rockteil hatte Minna weiße Stoffbahnen eingefügt und so einen schwingenden Tellerrock erhalten, der kurz unter dem Knie endete. Ihre Taille betonte ein weißer Gürtel, und natürlich hatte das Kleid einen weißen Bubikragen. Seit sie ein junges Mädchen war, trug Minna diese abknöpfbaren Kragen, mit denen sie jedes Oberteil rasch verwandeln konnte.

Sie schlüpfte in ihre Schuhe, zog vor dem Spiegel die Lippen nach und hängte die Handtasche über ihren Arm.

Lilo und Hanne saßen im Wohnzimmer und spielten Stadt, Land, Fluss.

»Mutti, du siehst schick aus!«, rief Hanne.

Lilo musterte Minna von oben bis unten. Ihr Blick blieb an den Schuhen hängen, und sie zog ein Gesicht. »Die sind zu klobig. Welche Schuhgröße hast du?«

»Vierzig.«

Lilo sprang auf. »Warte, ich hole was!«

Wenige Minuten später kam sie zurück und hielt weiße Pumps mit halbhohen Pfennigabsätzen in der Hand. »Hier, die müssten passen, ich schenke sie dir.«

»Aber … die sind fast neu!«

»Und wenn schon. Sind von meinem Geschiedenen, die ziehe ich sowieso nicht mehr an.« Lilo strich sich ihr hellblond gefärbtes Haar hinter die Ohren. »Nun guck nicht so und nimm sie! Hat doch keinen Sinn, wenn sie rumstehen. Besser, du beeindruckst deinen Verehrer damit.«

Minna zögerte immer noch.

Lilo verdrehte die Augen. »Es ist nichts dabei. Gordon hätte wissen müssen, dass man einer Frau keine Schuhe schenkt, weil sie einem dann wegläuft! Er ist selber schuld.«

»Vielleicht gilt diese deutsche Weisheit in England nicht«, lachte Minna. Die Schuhe passten wie angegossen. Sie hob einen Fuß, schaute auf den Absatz und freute sich, endlich wieder hohe Schuhe tragen zu können, ohne ihren Begleiter zu überragen.

»Ich muss los, danke, dass du auf Hanne aufpasst.« Sie griff nach ihrem Schlüssel. Im Rausgehen rief sie: »Und danke für die Schuhe!«

Beschwingt lief sie die Treppen hinunter und genoss dabei das Klackern der Absätze. Ob man siebzehn ist oder Ende vierzig – wenn man eine Verabredung hat, ist das Gefühl also das gleiche, dachte sie.

Alex stand im Hauseingang. In dem Moment, als die Glocke der Martinikirche schlug, und er den Arm gehoben hatte, um auf den obersten Klingelknopf zu drücken, öffnete Minna die Tür.

Er erschrak. »Punkt sieben! Sie sind aber pünktlich!«

»Eine meiner Tugenden ist Pünktlichkeit.«

Er grinste. »Haben Sie denn auch Untugenden?«

»Allerdings. Aber Männer, die ein zu hohes Tempo vorlegen, lernen sie nicht kennen.«

Er verstand, nahm ihr die Rüge nicht übel, winkelte den Arm an, und sie hakte sich bei ihm ein.

»Wohin gehen wir?«, fragte Minna.

Er blieb stehen und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Wenn ich gewusst hätte, dass Sie sich so elegant anziehen, hätte ich Sie in ein feines Restaurant geführt …« Er zögerte kurz. »Nein, das ist gelogen. Ich bin ein einfacher Mann. Ich dachte, wir gehen ins Jägerstübchen an der Ecke, essen ein Kotelett und trinken ein Glas Bier.«

Schade eigentlich, ein richtiges Restaurant wäre schöner gewesen als ein Ecklokal, dachte Minna, aber seine entwaffnende Ehrlichkeit gefiel ihr.

»Unter einer Bedingung!«, sagte sie.

Er sah sie neugierig an.

»Wir lassen das Förmliche weg, und Sie nennen mich Mia.«

Er grinste frech. »Unter einer Bedingung! Sie trinken mit mir darauf Brüderschaft.«

Eigentlich hätte Minna ihn jetzt in die Schranken weisen müssen, aber sie schmunzelte amüsiert. Vielleicht hatte sie richtiges Flirten mit den Jahren doch ein bisschen verlernt.

Sie setzten sich an einen Tisch an der hinteren Wand des Lokals, bestellten paniertes Kotelett mit Salzkartoffeln und Soße und zwei Pils.

Minna beobachtete die Gäste. An den anderen Tischen saßen ebenfalls Paare mittleren Alters, am Tresen standen ausschließlich Männer.

Jeder im Lokal rauchte, auch Minna und Alex. Ihr bekam die Zigarette allerdings nicht, sie musste husten, so heftig, dass die Leute zu ihnen herüberschauten.

Der Wirt brachte das Bier und platzierte Besteck auf dem Tisch.

Alex hob sein Glas. »Warum Mia? An der Nähstube steht Minna Volkening.«

»Wegen der Grünen Minna. Ich mag nicht heißen wie ein Polizeiauto.«

Lachend stießen sie an. »Mia also.« In großmütigem Tonfall fügte er hinzu: »Du darfst Alex zu mir sagen, obwohl ich Alexander heiße.« Er zwinkerte. »Und jetzt ein kleiner Kuss auf unser Du?«

»Doch nicht in der Öffentlichkeit«, schalt Minna ihn halb spielerisch und sah ihm tief in die Augen, »ich muss auf meinen Ruf achten.«

»Gut, dann warten wir, bis es dunkel ist, und ich dich nach Hause bringe!«

Sie tippte unter dem Tisch mit der Schuhspitze an sein Schienbein. »Draufgänger!«

»Jawoll! Herr Ober, bitte noch zwei Bier.«

Minna fühlte sich trotz seiner Direktheit nicht von Alex bedrängt. Ihr war schon lange kein Mann mehr begegnet, der so unverblümt und ehrlich auftrat, und mit dem sie so fröhlich lachen konnte. Sie unterhielten sich über alles Mögliche: über die Gastwirtschaft, in der sie saßen, über die Leute am Nebentisch, über den Engländer, der sich an der Theke mit starkem Akzent an der Unterhaltung beteiligte.

Der Wirt brachte zwei große Teller, auf denen knusprig gebratene Nackenkoteletts in sämiger brauner Soße lagen. An den Kartoffeln steckte ein kleiner Petersilienstrauß. »Guten Hunger, die Herrschaften!«, rief er, holte Pfeffer- und Salzstreuer vom Tresen und tauschte den Aschenbecher mit den Stummeln gegen einen sauberen.

Auch während des Essens versiegte das Gespräch nicht. Alex war ein fröhlicher Unterhalter, der zu jedem Thema etwas sagen konnte.

Nur als er auf Politik zu sprechen kam, winkte Minna ab. »Ich interessiere mich nicht für Politik. Und in den Zeiten, in denen sie mich interessiert hat, konnte ich nichts daran ändern. Unterhalte dich darüber mit meinem Bruder Karl, der will immerzu über Politik reden.«

Nach dem dritten Bier fühlte Minna sich leicht beduselt und lehnte das vierte nicht ab.

»Soll ich dir den neuesten Witz erzählen?«, fragte Alex.

Minna mochte keine Witze. Aber Alex wartete ihre Antwort nicht ab und legte los: »Also: Klein Fritzchen soll in der Schule ein Gedicht aufsagen. Sagt er: Ein Fischer saß am Elbestrand und hielt ’ne Angel in der Hand. Er wollte fangen einen Barsch, das Wasser ging ihm bis zum Knie. Sagt der Lehrer: Fritzchen, das reimt sich doch gar nicht! Sagt Fritzchen: Na, warten Sie mal, bis die Flut kommt, dann reimt sich das!«

Alex musste über seinen Witz genauso lachen wie das Paar am Nachbartisch, das alles mit angehört hatte.

Minna lächelte höflich.

Der Wirt kam mit vier Schnäpsen, stellte zwei vor Minna und Alex hin und zwei auf den Nebentisch. »Sie wurden eingeladen!«

Man prostete einander zu, und Minna trank den ersten Wacholder ihres Lebens. Ach du liebe Güte, war das ein ekelhaftes Zeug! Sie zog eine Grimasse und schüttelte sich. So etwas Widerliches hatte sie noch nie getrunken.

Alex und die Spender vom Nebentisch grölten.

»Richtig so, schüttele dich, damit überall was hinkommt!«, rief Alex, was erneut alle, außer Minna, lustig fanden.

Alex revanchierte sich mit einer weiteren Runde. Nach dem zweiten Schnaps fühlte Minna sich großartig, beschwingt, voller Leichtigkeit. Wie lange hatte sie keinen Schwips mehr gehabt? Sie hatte vergessen, wie angenehm dieser Zustand sein konnte. Eigentlich fand sie die Leute am Nebentisch doch ganz nett, und so hatte sie nichts dagegen, sich mit Alex zu ihnen zu setzen.

Die beiden stellten sich als Peter und Erika vor, sie wohnten direkt gegenüber und kamen jeden Samstag hierher. Erika kannte Minna vom Sehen und versprach, ihre Änderungen künftig dort machen zu lassen.

Es gab noch eine Runde Schnaps. Und noch eine Runde Bier.

Die Stimmung wurde immer ausgelassener. Alex erzählte wieder einen Witz, Erika und Peter ermunterten ihn durch ihr Gelächter zu einem weiteren. Irgendwann gab Alex eine Kostprobe seiner Englischkenntnisse in einem Kinderreim zum Besten.

Minna wurde plötzlich schwindelig. »Ich muss mal verschwinden …«

Am Eingang hatte sie ein Schild gesehen: WC eine Treppe höher. Schlüssel an der Theke.

Sie stand auf. Hui, hier drehte sich ja alles! Sie räusperte sich. Brust raus, Bauch rein, Schultern zurück, wies sie sich selbst an, ging, als habe sie einen Stock verschluckt, zum Tresen und wandte sich an den Wirt. »Ich möchte bitte den Schlüssel für das … für den …«

»Kurz warten, die Dame, der Schlüssel ist gerade unterwegs.«

Der Engländer, der sich vorhin mit den Männern unterhalten hatte, stand neben ihr.

»Hello«, sagte er.

»Hello«, antwortete Minna.

»Do you speak English?«

»A little bit.«

Er nickte anerkennend, grinste breit und sagte: »Parlezvous français?«

Minna warf den Kopf in den Nacken und sagte akzentuiert den einzigen kompletten französischen Satz auf, den sie kannte: »Le bœuf, der Ochs, la vache, die Kuh, fermez la porte, die Tür mach zu.«

Das dumme Gesicht des Briten gefiel ihr. »Fehlt nur noch, dass sie Polnisch spricht«, murmelte er.

Und Minna posaunte mit theatralischer Betonung und rollendem R einen russischen Satz heraus. Dabei kümmerte es sie nicht, ob sie es richtig aussprach: »Nir ma panje pa polski per russki!« Was in ihrer verschwommenen Erinnerung so viel hieß wie: Ich spreche nicht nur Polnisch, sondern auch Russisch. Karl hatte ihr diese Wörter beigebracht.

Die umstehenden Männer begannen zu lachen und klatschten Beifall, der Brite zog eine Schnute und drehte ihr den Rücken zu.

Minna nahm dem feixenden Wirt den Schlüssel aus der Hand, ging durch den Gastraum und genoss die Aufmerksamkeit.

Oben, auf der Toilette, übergab sie sich.

Nachdem sie sich den Mund mit Wasser ausgespült und den Tisch wieder erreicht hatte, ergriff sie ihre Handtasche und sagte freundlich: »Ihr Lieben, ich habe mir den Wacholder noch mal durch den Kopf gehen lassen und muss nach Hause. Ist ja nicht weit.« Sprach’s, wartete keine Antwort ab, verließ das Jägerstübchen und schaffte es, die zweihundert Meter zu gehen, ohne über ihre eigenen Füße zu stolpern.

Sie schaffte es auch, die Korridortür leise aufzuschließen und an der Kemenate vorbeizuschleichen, ohne Hanne aufzuwecken.

Lilo saß in der Stube im Schein der Stehlampe, rauchte und las ein Buch. »Das war aber ein kurzes Rendezvous. Es ist ja erst zehn! Alles in Ordnung?«

Minna streifte die Pumps von den Füßen und streckte die Beine aus. »Jawoll, all’s in Ordnung, keine b’sondren Vorkommnisse.«

Lilo grinste, ging in die Küche und kam mit einem Glas Wasser zurück.

»Hier ist eine Prise Salz und ein bisschen Zucker drin, das verdünnt den Alkohol und vertreibt den Schwindel im Gehirn. Meine englische Schwiegermutter schwor Stein und Bein, dass man davon wieder nüchtern wird.«

Minna setzte an, trank alles aus, hob das leere Glas vor ihr rechtes Auge, sah hindurch, während sie das andere Auge zukniff und Lilo betrachtete. Sie konzentrierte sich auf jedes Wort und sprach langsam und übertrieben deutlich. »Vielen Dank für die Schuhe. Ich revanchiere mich mit einer Änderung eines Kleidungsstückes deiner Wahl.« Sie nickte heftig, als müsse sie das Angebot bekräftigen.

»Nicht nötig. Wir sind doch Nachbarinnen, vielleicht werden wir sogar Freundinnen.«

»Freundinnen«, wiederholte Minna. »Ja, das wäre schön. Ich habe eine Freundin, Anni, aber sie wohnt weit weg, im Rheinland. Wir waren schon als Kinder ein Kopp und ein Hintern. Meine Freundin Hannchen ist im KZ