Romy. Mädchen, die pfeifen - Felicitas Fuchs - E-Book
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Romy. Mädchen, die pfeifen E-Book

Felicitas Fuchs

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Beschreibung

Das Finale der bewegenden Mütter-Trilogie

Bad Oeynhausen 1983: Die 23-jährige Romy arbeitet in einer Diskothek. Sie ist schon früh zu Hause ausgezogen, weil sie sich mit ihrer Mutter Hanne nie gut verstanden hat. Nach außen wirkt sie stark und selbstbewusst, doch im Innersten ist sie sehr verletzlich. Als sie die Hochzeit mit ihrer großen Liebe Falco vorbereitet, stolpert sie in den Familienpapieren über einen Namen, den sie nicht kennt, und es reißt ihr den Boden unter den Füßen weg. Romy macht sich auf die Suche nach der Wahrheit, ohne ihrer Mutter Hanne davon zu erzählen.

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Seitenzahl: 620

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Das Buch

Bad Oeynhausen 1983. Romy ist eine aufgeweckte, lebenslustige junge Frau, die kein Blatt vor den Mund nimmt. Sie verliebt sich in den selbstbewussten Falco, der als DJ in der angesagtesten Disco der Stadt auflegt. Als er ihr einen Antrag macht, scheint die Geborgenheit, die sie in ihrer eigenen Familie immer vermisst hat, endlich zum Greifen nah. Doch dann hält sie ihre Abstammungsurkunde zum ersten Mal in den Händen und kann es nicht fassen: Der Mann, den sie bis gerade eben für ihren Vater gehalten hat, ist gar nicht ihr Vater! Was haben ihre Mutter Hanne und ihre Großmutter Minna ihr all die Jahre verschwiegen? Für Romy steht fest: Sie wird alle Hebel in Bewegung setzen auf der Suche nach ihren Wurzeln. Nur ahnt sie nicht, dass sie dabei auf eine ungeheure Lüge stoßen wird, die nicht nur in ihrem Leben tiefe Spuren hinterlassen hat.

Die Autorin

Felicitas Fuchs ist das Pseudonym der Erfolgsautorin Carla Berling, die sich mit Krimis, Komödien und temperamentvollen Lesungen ein großes Publikum erobert hat. Schon bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete, war sie als Reporterin und Pressefotografin immer sehr nah an den Menschen und ihren Schicksalen. In ihrer dramatischen Familiengeschichte verarbeitet sie autobiografische Elemente zu einer packenden Trilogie über drei starke Frauen.

Lieferbare Titel

978-3-453-42643-6 - Minna. Kopf hoch, Schultern zurück

978-3-453-42620-7 - Hanne. Die Leute gucken schon

FELICITAS

FUCHS

Romy

Mädchen,

die pfeifen

Roman

BAND 3

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Das Zitat siehe hier aus »1000 und 1 Nacht« von Klaus Lage drucken wir mit freundlicher Genehmigung der © EDITIONMUSIKANTMUSIKVERLAG GmbH c/o SUNROCK Publishing

Den Auszug aus dem Artikel »Entartung ausdünnen«, DERSPIEGEL 12/1987, Seite 131, siehe hier drucken wir mit freundlicher Genehmigung der © SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG

Das Zitat siehe hier aus »Du hast mich tausendmal belogen« von Andrea Berg drucken wir mit freundlicher Genehmigung der © Hanseatic Musikverlag GmbH

Trotz intensiver Recherche konnte der Verlag nicht alle Rechtegeber ermitteln. Bitte wenden Sie sich gegebenenfalls an den Wilhelm Heyne Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH.

Originalausgabe 07/2023

Copyright © 2023 by Felicitas Fuchs

Copyright © 2023 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Steffi Korda, Büro für Kinder- und Erwachsenenliteratur, Hamburg

Covergestaltung: zero-media.net, München,

unter Verwendung von Getty Images (middelveld); FinePic®, München

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-28666-8V002

www.heyne.de

Für meine Familie

1

Romy

Juni 1978

Romy stellte sich auf die Zehenspitzen, um wenigstens ihren Oberkörper in dem halb blinden Spiegel über dem Waschbecken sehen zu können. Die Schleife der gestärkten Servierschürze saß perfekt, die weiße Hemdbluse war vorbildlich gebügelt. Sie schaute an sich herunter: Auf dem schwarzen knielangen Rock befand sich kein einziger Fussel, die Laufmasche der Strumpfhose hatte sie mit farblosem Nagellack am Oberschenkel gerade noch stoppen können. Mit einem geübten Handgriff band sie ihr schulterlanges glattes Haar im Nacken zum Pferdeschwanz. Sie durfte es während der Arbeit nicht offen tragen, aber die Strähnen, die sie an den Schläfen herauszupfte und lässig herabhängen ließ, die waren erlaubt. Auch gegen ihr dunkles Augen-Make-up hatte niemand etwas, nur allzu knalliger Lippenstift war verboten. Romy nahm ihr speckiges schwarzes Kellnerportemonnaie und steckte es in die Filztasche unter der Schürze, klemmte sich den Kugelschreiber hinters Ohr und sah sich in dem winzigen Raum um. Das Bett war ordentlich gemacht, das Waschbecken mit dem braunen Sprung in der Keramik glänzte pieksauber, der Boden war gefegt, nichts lag herum. Auf der Fensterbank stand ein Transistorradio, es liefen die Nachrichten. Romy hörte einen Augenblick zu. Es ergab sich immer wieder, dass sie im Gespräch mit einem Gast auf das Tagesgeschehen reagieren musste, dann war es gut, wenigstens die Schlagzeilen zu kennen. Die Vereinten Nationen hatten eine Untersuchung veröffentlicht, aus der hervorging, dass weltweit neun von zehn Verbrechen von Männern begangen wurden. Bretonische Separatisten hatten nachts das Schloss Versailles durch einen Sprengstoffanschlag beschädigt. Und in Amerika hatten Spezialisten elektronische Abhöranlagen des sowjetischen Geheimdienstes KGB in einer Botschaft entdeckt.

Romy drehte das Radio aus und verließ zwanzig Minuten vor Dienstbeginn ihr Zimmer im Personalhaus. Die Tür blieb unverschlossen. Niemand, der hier wohnte, schloss ab. Ein Grund, ihr kleines Reich immer aufgeräumt zu verlassen. Wer wusste schon, ob Krüger, der Ausbildungsleiter, nicht auch den Privatbereich des Personals kontrollierte. Das Mitnehmen von Besteck oder Geschirr hatte schon einige Kollegen den Job gekostet. 

Sie hatte Teildienst, und ihre zweite Schicht begann um zwölf, eine Beerdigungsgesellschaft war zum Mittagessen im kleinen Saal angekündigt. Romy hatte Frühdienst gehabt, von sechs bis zehn. Das war eine ihrer Lieblingsschichten.

Sie mochte es, wenn es im Haus fast still war, die leisen Geräusche eines Hotels im Tiefschlaf hatten für sie einen besonderen, beruhigenden Klang. Die Gäste schliefen noch, die Putzfrauen waren schon fertig, der Koch kam erst um sieben. Bis dahin musste sie das Frühstück im Kaminzimmer angerichtet haben. Auf jeden Tisch gehörten Étagèren mit Schnitt- und Streichkäse, Frischwurst, Salami und Schinken, appetitlich angerichtet und mit Petersiliensträußchen, Salzstangen, Gurken und Tomatenscheiben verziert. Butter und Margarine lagen in abgepackten Portionen in Schälchen mit Eiswasser, aus dem Radio erklang leise Musik.

Während der Kaffee durchlief und der köstliche Duft durch die Flure zog, schaute Romy in die Zimmerbelegungsliste. Heute waren es zwanzig Gäste, die zwischen sieben und neun zum Frühstück kommen würden.

Sie presste Orangen und Grapefruits aus und brachte den Saft in gläsernen Kannen in den Frühstücksraum. Um halb sieben lieferte die Bäckerei drei Sorten Brot und lauwarme, frische Brötchen, die Romy in Körbchen auf den Tischen verteilte. Dann setzte sie in der Küche Töpfe mit Wasser auf. Wenn ein Gast ein Ei bestellte, musste man es nur noch ins Wasser geben, die Eieruhr auf die gewünschte Zeit stellen und sie möglichst nicht vergessen oder überhören. Um Punkt sieben stand auf jedem Tisch eine silberne Thermoskanne mit Filterkaffee, außerdem Honig und drei Sorten Marmelade in Kristallschälchen mit Silberdeckel, passend zu den Menagen.

Diese Silberdeckel waren Romy ein Graus, sie mussten aufwendig geputzt und gepflegt werden. Der Klang beim Verschließen der Deckel erinnerte sie immer an das Zufallen einer schweren Autotür bei einem Oldtimer.

Das Hotel Hahnenkamp gehörte zu den edlen Häusern in Bad Oeynhausen und war fast immer ausgebucht, obwohl es außerhalb lag. Geschäftsleute, Vertreter und Tagungsgäste logierten hier, das Restaurant war weithin für seine gute Küche bekannt, die Säle wurden für Feste und Feiern gebucht. »Der Hahnenkamp« war ein historisches Fachwerkhaus und wirkte mit den weißen Sprossenfenstern, den blütenweißen Raffgardinen und roten Geranien in grünen Kästen von außen rustikal, war aber innen modern und elegant.

Als Romy zum ersten Mal eins der Zimmer betreten hatte, war ihr ein begeisterter Ausruf entwichen, den die Hausdame mit strengem Blick kommentiert hatte. »Contenance, Fräulein Lindemann, Contenance!«

Na, die hatte gut reden! Romy war gerade sechzehn geworden und kam aus einfachen Verhältnissen – natürlich hatte das luxuriöse Ambiente des Hotels sie schwer beeindruckt. Dabei kannte sie sich im Gastgewerbe aus: Ihre Eltern betrieben im Kurviertel die Pension Villa Hanne und die Gaststätte Latüchte, dort waren sie und ihre Geschwister aufgewachsen. Und im Hotel ihrer Tante Änne in Minden hatte sie manchmal ein paar Ferientage verbracht und hinter die Kulissen schauen können. Beides waren solide Häuser, aber vom Niveau des Hotels Hahnenkamp Lichtjahre entfernt.

Hier schliefen die Gäste in modernen französischen Betten, deren gepolsterte Kopfteile mit nougatfarbenem Samt bezogen waren. Er hatte denselben Braunton wie der flauschige Teppichboden, mit dem alle Hotelzimmer und die Flure ausgelegt waren. In der Pension ihrer Mutter gab es bloß Linoleumboden und bunte, nachgemachte Perserbrücken. Anstelle biederer Nachtkonsölchen aus Eichenholz standen im Hahnenkamp Rauchglastische mit blanken Messinggestellen neben den Betten, darauf Lampen mit Kristallfuß und braunen Veloursschirmen. Jedes Kopfkissen zierte ein Petit Four aus der Küche, um dem Gast als Betthupferl den Eintritt in den Schlaf zu versüßen. Und dann die Bäder! Jedes einzelne war ein Traum in marmorierten Cremetönen, mit blanken Armaturen sowie mit flauschigen braunen Handtüchern, die mit dem goldenen Logo des Hauses bestickt waren. Man sollte schließlich nicht vergessen, wo man verwöhnt wurde. Die bestickten Handtücher gehörten zu den am häufigsten geklauten Artikeln des Hotels.

Wenn Romy die Zimmer sauber machte, entging ihr kein Detail, und manchmal stellte sie sich vor, auch so feudal übernachten zu dürfen. Sie bewunderte die eleganten Stöckelschuhe der Damen, drapierte ihre duftigen Seidennachthemden auf dem Bett, wischte die Parfümflakons im Bad ab und roch heimlich daran. Chloé, Miss Dior, Lou Lou von Cacharel, Chanel Nº 5, Rive Gauche von Yves Saint Laurent. Das waren ganz andere Düfte als Tosca und Uralt Lavendel, die ihre Oma immer benutzt hatte, oder der Geruch ihrer Mutter nach Creme 21 aus dem orangefarbenen Plastiktiegel. So geht Leben auch, dachte Romy und wünschte sich, mal sehr erfolgreich zu werden, viel Geld zu verdienen und sich auch so schöne Dinge leisten zu können.

Inzwischen war sie im dritten Lehrjahr und wurde nur noch selten auf der Etage eingesetzt. Sie arbeitete im Service oder an der Rezeption, und auch das liebte sie.

Vom Personalhaus bis zum Hotel waren es nur wenige Schritte.

Thomas war schon da. Wie immer zupfte er zuerst an seiner Fliege, dann wischte er einen nicht vorhandenen Fussel vom Ärmel seines schwarzen Anzugs, plusterte sich auf und moserte: »Soll ich mich etwa allein ums Mise en Place kümmern? Moltons und Tischdecken sind hier, aber wo sind die Mitteldecken?«

»Ich hole sie.« Romy drehte auf dem Absatz um.

»Dafür hätte eigentlich der Frühdienst sorgen müssen«, rief er ihr hinterher. Romy blieb einen Moment stehen, atmete tief durch und ging dann wortlos weiter. Thomas war jetzt Commis de Rang und führte sich gegenüber den Lehrmädchen auf wie der Chef persönlich, dabei bedeutete seine Berufsbezeichnung bloß, dass er ausgelernt hatte und nun als Jungkellner arbeitete. Noch ein weiteres Lehrjahr, dann war Romy auch so weit, hatte ihr Zeugnis als Hotel- und Gaststättengehilfin in der Tasche und die ganze Welt würde ihr offenstehen. Und dann würde sie sich in einem Luxushotel bewerben, im Hilton oder im Maritim, auf einem Kreuzfahrtschiff oder als Stewardess bei der Lufthansa.

Die erste große Entscheidung hatte sie erst kürzlich getroffen: Sie hatte zu Hause ihre Sachen gepackt und war ausgezogen. Mit siebzehn, jawohl. Die Eltern waren stinksauer gewesen, aber sie hatten nichts dagegen tun können, wenige Tage später war sie volljährig geworden. Seitdem sah sie ihre Familie nur noch selten, aber sie vermisste sie nicht.

Romy Lindemann war mit einsfünfundsiebzig ziemlich groß, schlank, hübsch, volljährig, optimistisch, diszipliniert und fleißig. Ihre Zukunft würde großartig werden. Ihre Oma hatte immer mit ihr angegeben: »Meine Enkeltochter geht auf die Höhere Schule, als Erste in der Familie. Mittlere Reife macht sie, aus ihr wird mal was werden, sie wird es besser haben als unsereins.«

Es sah so aus, als würde Omi recht behalten.

Romy holte einen Stapel Mitteldecken aus dem Wäscheschrank und begann, die Tafel für die Beerdigungsgesellschaft einzudecken. Als sie fertig war und den Raum kontrollierte, zeigten alle Bügelfalten der Tischdecken in dieselbe Richtung, die Stühle waren exakt parallel ausgerichtet, die Servietten waren zu Fächern gefaltet und mittig platziert. Die Besteckteile lagen eine Daumenbreite von der Tischkante entfernt und eine Messerlänge auseinander, die Dessertlöffel zeigten mit dem Stiel nach rechts. Die blitzblanken Gläser platzierte Romy rechts oberhalb des Bestecks. Sie fasste sie nur mit der blütenweißen Handserviette an, die über ihrem linken Arm hing. Zuletzt stellte sie Kerzenleuchter und Blumenvasen hin. Ein prüfender Blick, ja, alles war perfekt. Bevor die Gesellschaft kam, konnte sie noch eine rauchen.

Typisch, Thomas lungerte im Office herum, qualmte, trank Kaffee und quatschte mit dem Koch; die Vorbereitungen im Saal, das Mise en Place, hatte er mal wieder komplett ihr überlassen.

Sie schnorrte eine Zigarette von ihm und ließ sich Feuer geben. Dass er dabei in ihren Ausschnitt gaffte, entging ihr nicht.

»Schöner BH!«, sagte er grinsend.

Romy zog an der Zigarette, blies den Rauch aus und schaute ihn ausdruckslos an. »Ja, der ist wirklich schön. Du musst nicht traurig sein, dass du ihn nie ganz zu sehen bekommen wirst.«

Der Koch kicherte, und Thomas bemühte sich um ein Pokerface.

Bis auf die Köche, Thomas, Restaurantchef Krüger und den Hotelbesitzer arbeiteten nur Frauen im Hotel. Die Serviererin machte die Spätschicht im Restaurant und vertrat Krüger, wenn er nicht da war. Außer Romy gab es zwei weitere Lehrmädchen, eins im ersten und eins im zweiten Lehrjahr. Auf der Etage arbeiteten die Zimmermädchen, und auch in der Wäscherei, der Heißmangel und im Spülbereich der Küche gab es nur Frauen. Es war nichts Besonderes, dass sie sich von den Männern anzügliche Bemerkungen anhören mussten. Romy war die Einzige, deren Contra so gefürchtet war, dass sie in Ruhe gelassen wurde. Nur Thomas versuchte manchmal, sie zu provozieren. Seit sie im ersten Lehrjahr mit ihm aneinandergeraten war und ihre Reaktion sich wie ein Lauffeuer unter den Kollegen verbreitet hatte, wagte sich sonst keiner mehr an sie heran.

Sie war noch ein Frischling gewesen, hatte erst wenige Tage gearbeitet, als sie im Office gestanden und Rechauds geputzt hatte. Die Schwingtür war aufgeflogen, Thomas kam rein, hatte sein Tablett auf die Durchreiche zur Spülküche gestellt und war ganz dicht hinter Romy getreten. Er war kleiner als sie, sie hatte seinen Atem in ihrem Nacken gespürt. Als sie seine Hand auf ihrem Hintern gefühlt hatte, hatte sie sich ganz langsam zu ihm umgedreht, auf ihn herabgesehen und ihm lächelnd in die Augen geschaut. Und dann hatte sie ihm mit festem Griff in den Schritt gefasst, sich an seinem Entsetzen geweidet und geflüstert: »Meine Oma hat immer gesagt, was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem andern zu. Wenn du nicht willst, dass ich deine mickrigen Geschlechtsteile anfasse, dann lässt du meine auch in Ruhe.«

Thomas war die Kinnlade runtergeklappt, er hatte glühend rote Ohren bekommen und sich wortlos verdrückt. Was beide nicht bemerkt hatten: Krüger hatte in einer Ecke der Küche gestanden und was gegessen – er hatte die Szene beobachtet. »Alle Achtung, Fräulein Romy«, hatte er gesagt, als er hervorgetreten war, »alle Achtung.«

Die Gruppe schwarz gekleideter Trauergäste kam pünktlich. Romy und Thomas halfen den Damen aus den Mänteln, geleiteten sie in den Saal und warteten, die Hände auf dem Rücken, den Blick überall, bis alle saßen.

Jedwede Animosität war während der Arbeit vergessen; flink und freundlich nahmen sie die Getränkebestellungen entgegen und brachten die Bons ans Büfett, wo die Lehrmädchen die Tabletts bestückten.

Die Klingel aus der Küche signalisierte, dass die Consommé aufgetragen werden konnte. Romy und Thomas schulterten die großen, rechteckigen Tabletts, genannt Schlitten, setzten sie an den Serviertischen ab und verteilten die Suppentassen. Die Gesellschaft nahm anschließend einen Hauptgang aus Roastbeef, Bratkartoffeln und kleinem Salat, das Dessert bestand aus Vanilleeis mit Rahm und frischen Beeren. Jemand hielt danach eine Rede über den Verstorbenen, während die Damen Spitzentaschentücher zückten und an ihren Augen herumtupften.

Romy und Thomas standen rechts und links neben der Tür, bereit, die Wünsche der Gäste zu erkennen, bevor sie ausgesprochen wurden.

Nach dem Essen servierten sie Kaffee, Likör und Aquavit aus geeisten Gläsern. Während Thomas die Spirituosen brachte, standen auf Romys Tablett mehrere Biere, eine Cola, eine Flasche Mineralwasser und das dazugehörende Glas. Natürlich wusste sie, wer was bestellt hatte, jeder bekam sein Getränk, fast zuletzt der attraktive Herr mit der Löwenmähne und dem Grübchen im Kinn. Der Mann trug ein weißes Hemd mit gestärktem Kragen, der hinten ein bisschen vom Hals abstand.

Romy positionierte sich hinter ihm, hielt das Tablett in der linken Hand und fixierte den Fuß des Wasserglases mit dem Daumen. Nur die grüne Wasserflasche stand noch daneben, nachdem sie das Pils heruntergenommen hatte. »Ein Pils für den Herrn, bitte schön!«

Romy servierte von der rechten Seite und drehte das gefüllte Bierglas scheinbar zufällig und doch bewusst mit dem Namensschriftzug zum Gast. So viel Zeit musste immer sein.

»Vielen Dank.« Der Mann lehnte sich ein wenig zurück. Dabei tippte er mit dem Kopf das Tablett an. Die Perrierflasche fiel mit dem Flaschenhals auf den Rand des Tabletts und das Mineralwasser sickerte in den abstehenden Kragen des Mannes.

Der Mann erschrak, sprang auf und patschte mit der Hand in seinen nassen Nacken.

Sofort stellte Romy das Tablett ab, griff nach ihrer Handserviette und wischte an seinem Hals herum.

Natürlich hatte jeder im Saal das Malheur mitbekommen und natürlich waren in dem Moment alle Gespräche verstummt.

Thomas stand an der Tür und feixte sich eins.

»Es tut mir unendlich leid, entschuldigen Sie bitte vielmals! Gott sei Dank ist es nur Wasser und kein Rotwein oder gar heißer Tee«, sagte Romy mit ihrem schönsten Lächeln. Gleichzeitig griff sie nach einer frischen Handserviette vom Serviertisch und hielt sie dem Mann hin, damit er sich abtrocknen konnte. Jetzt bemerkte sie, wie groß er war, breitschultrig und gut aussehend.

Alle Augen waren auf sie gerichtet, als sie sagte: »Wenn Sie mir das Hemd geben, lasse ich das sofort in Ordnung bringen!«

Der Mann lächelte ein bisschen süffisant. »Und wie soll ich den Rest des Tages hier verbringen? Oben ohne?«

Darauf antwortete Romy mit einem ganz kurzen, frechen Grinsen und einem ebenso frechen Schulterzucken, das aber nur dieser Mann sehen konnte. Amüsiert schaute er ihr in die Augen. »Belassen wir es bei einem Handtuch, wenn das möglich ist?«

Romy verließ den Saal und holte ein Handtuch, das er sich in den Nacken legte. Sein amüsierter Blick zeigte ihr, dass er ihr das Malheur nicht übel nahm.

An ihrem freien Tag ging Romy ins Brunnen-Café. Sie fand einen Platz am Fenster, von dem aus sie die Kuchentheke im Nebenraum sehen konnte. Und wer stand dahinter? Tatsächlich der »Nassnacken«, wie Thomas ihn respektlos genannt hatte, als er Romys Missgeschick lang und breit in der Küche zum Besten gegeben hatte. Was machte der denn hier?

Er dirigierte das Personal, trat souverän auf und nach wenigen Augenblicken war ihr klar: Er war der Chef.

Romy griff nach der Speisekarte und schlug sie auf. Ja, auf der Innenseite standen unter dem Schriftzug Brunnen-Café Adresse, Telefonnummer und der Name des Inhabers: Theo Grote.

Romy beobachtete den Mann. Er trug einen schwarzen Rollkragenpullover und eine schwarze Hose. Sein dichtes Haar war ein bisschen zu lang, aber es stand ihm.

Jetzt hatte er sie bemerkt und stutzte. Offensichtlich überlegte er, woher er sie kannte.

Sie ließ ihn nicht aus den Augen.

Als er seinen Pullover glatt strich und hinter dem Tresen hervorkam, wusste sie: Er hat mich gesehen. Er kommt an meinen Tisch.

Und richtig, er steuerte auf sie zu.

Meine Herrn, er sah wirklich gut aus. Wie alt mochte er sein? Bestimmt an die vierzig, die Haare wurden an den Schläfen grau. Schöne Hände, gepflegte Fingernägel, kein Ehering. Romyschaute einem Mann immer zuerst in die Augen und dann auf die Fingernägel.Wenn sie nur die Spur eines Trauerrandes darunter entdeckte, erlosch ihr Interesse sofort.

»Guten Tag, ist alles zu Ihrer Zufriedenheit?«, fragte er. Sein beflissener Ton passte nicht zu seinem flirtenden Blick.

»Aber ja, danke!« Sie nahm den Zuckerstreuer und kippte eine Portion in ihren Kaffee. Sie rührte gewissenhaft um und sah ihn dabei herausfordernd an. »Ich kann hören, was Sie denken: Woher zum Teufel kenne ich diese Person?«

Sein Lachen und das Blitzen in den blauen Augen signalisierte ihr, dass es ihm in diesem Moment eingefallen war. »Sie haben mich neulich im Hahnenkamp nass gemacht!«

»Und Sie haben sich geniert, Ihr Oberhemd auszuziehen.« Romy legte den Kaffeelöffel ab, nahm die Tasse in beide Hände und schaute ihn über den Rand unverwandt an.

Er ging auf ihren Tonfall ein. »Na hören Sie mal, das war schließlich eine Beerdigung!«

»Wenn es eine Verlobung gewesen wäre, hätten Sie sich ausgezogen?«

Wie frech er guckte!

»Ich ziehe mich niemals vor fremden Frauen aus.«

Siestellte die Tasse ab und streckte ihm die Hand entgegen. »Ich heiße Romy Lindemann.«

Schmunzelnd reichte er ihr die Hand. »Theo Grote.«

»Na, dann ist das mit der fremden Frau ja geklärt.« Sie freute sich über seinen amüsierten Blick.

Eine Serviererin kam an den Tisch. »Herr Grote, Sie werden am Telefon verlangt!«

Er verabschiedete sich mit einem Kopfnicken und verschwand hinter einer Tür neben dem Tresen.

Romy wusste, dass sie mit diesem Mann ins Bett gehen würde. Sie wusste es einfach. Wahrscheinlich war er älter als ihre Mutter, aber das störte sie nicht.

Ihr letzter Freund war über dreißig gewesen, da war sie gerade siebzehn geworden. Sie fand erwachsene Männer wesentlich spannender als die unsicheren, dünnen Bubis in ihrem Alter.

Spontan dachte sie an Frank, ihren Ersten.

Es war im Sommer nach ihrem fünfzehnten Geburtstag gewesen. Frank hatte fusseliges blondes Haar, schulterlang, und Akne. Er hatte immer versucht, sie mit hautfarbenem Kompaktpuder zu verdecken, aber es war ihm nicht gelungen: Die Pickel sah man trotzdem.

Sie kannten sich aus der Schule, hörten manchmal bei ihm zu Hause Musik. Beatles, Donovan, die ganzen alten Sachen.

Romy und Frank verband eine lockere Freundschaft, deswegen hatte sie es auch mit ihm zum ersten Mal getan. Sie hatte immer wieder in der Bravo gelesen: Den ersten Jungen vergisst du nie! Und immer wieder hatte sie gehört, dass Mädchen an schrecklichem Liebeskummer litten, nachdem sie »es« das erste Mal getan hatten. Das wollte sie nicht erleben. Und weil Frank ein netter Kerl war, und ihre Freundinnen es alle schon mal gemacht hatten und sie nicht, hatte Romy ihn eines Nachmittags gefragt, ob er das erste Mal nicht bei ihr erledigen könnte.

Frank war zuerst die Kinnlade runtergefallen, dann hatte er gegrinst. »Ja klar, null Problemo, wird gemacht, wann immer du willst.«

Seine Eltern waren nicht da gewesen, als sie an diesem heißen Sommertag in seinem Zimmer gesessen und Platten gehört hatten. Obladi oblada, Mr. Postman, Strawberry Fields. In der Ecke hatte es ein selbst gebautes Sofa aus Matratzen und Decken gegeben. Hier wird es gleich passieren. Hier werde ich meine Unschuld verlieren. Und wenn ich hier heute rausgehe, werde ich nie mehr dieselbe sein. Romy hatte viel über diese Sache gelesen. Was genau man wie machte, wusste sie nicht, aber der Satz von Tante Änne klang ihr immer im Ohr: »Du musst es mit den Männern tun, die rufen sonst nicht wieder an!« Gut, Frank war sechzehn und noch kein Mann gewesen. Aber für den Fall, dass er nachher nichts mehr mit ihr hätte zu tun haben wollen, wäre das zwar schade gewesen, aber sie würde wenigstens keinen Liebeskummer haben. Über Liebeskummer hatte ihre Oma Minna mehr als genug erzählt. Sie hatte ihr ganzes Leben lang Liebeskummer gehabt, weil ihr Mann, Opa Fritz, sie wegen einer Jüngeren verlassen hatte. Und deswegen hatte sie Romy immer vor kleinen Männern mit braunen Augen gewarnt. Frank war groß, blond und blauäugig.

»Wollen wir anfangen?«, hatte er sie mit belegter Stimme gefragt.

Romy hatte genickt, sie hatten geknutscht, und Frank hatte unter ihrem Minirock rumgefummelt. Unangenehme Sache, aber nun hatte sie zugesagt und es gab kein Zurück.

Irgendwann hatte er sich keuchend zurückgelehnt und mit rotem Kopf, glasigem Blick und zitternden Fingern etwas aus seiner Hosentasche gezogen. »Guck mal, was ich habe!«

»Was ist das?«

»Patentex oval, hab ich meiner Mutter geklaut.«

»Oh.«

Verhütungszäpfchen. Daran hatte sie gar nicht gedacht. Wie gut, dass er so ein vernünftiger Junge war.

Er hatte an der Plastikverpackung herumgefriemelt, bis eine zähe weiße Masse herausgequollen war. »Mist, es ist geschmolzen!«

Romy hatte sich das Lachen verkneifen müssen.

»Ich hole ein neues, warte!« Frank war auf Socken hinuntergelaufen, atemlos zurückgekommen und hatte ein neues Zäpfchen geschwenkt. »Das ist hart, kann gleich losgehen.«

Blitzschnell hatte Romy ihren Minirock ausgezogen, das Top über den Kopf gestreift, sich auf die Seite gelegt und die Arme vor der Brust verschränkt. Noch nie hatte ein Junge sie nackt gesehen.

Aus dem Augenwinkel hatte sie Frank beobachtet. Er war wie Rumpelstilzchen auf einem Bein herumgehüpft, als er seine Nietenhose abstreifte. Er war dünn. Lange, knochige Füße, und O-Beine hatte er auch.

Und so sah also ein … Dingens … aus.

Hübsch ist es ja nicht, hatte Romy gedacht.

Frank hatte sich neben sie gelegt, und sie hatten wieder geknutscht. Aufgeregt war Romy nicht gewesen, höchstens neugierig. Als sie gespürt hatte, wie schnell Franks Herz schlug, hatte sie sich auf den Rücken gedreht und ihn machen lassen.

An der Zimmerdecke war ein bräunlicher Wasserfleck gewesen. Er hatte die Form von Italien.

Lange hatte das Ganze nicht gedauert, und auf dem Nachhauseweg hatte Romy enttäuscht gedacht: Deswegen machen alle so einen Aufstand? Nicht zu fassen.

Ihr Bedarf an Beischlaf hatte sich erledigt, sie hatte dieser langweiligen Aktion absolut nichts abgewinnen können.

Zwei Jahre später war Bert der zweite Mann gewesen, mit dem sie geschlafen hatte. Sie hatten es in seinem Apartment getan, aber es war immer alles ein bisschen eilig gewesen, weil Bert bis um sechs als Dekorateur im Kaufhaus gearbeitet hatte und Romy um halb neun zu Hause sein musste. Obwohl sie schon siebzehn gewesen war, hatten ihre Eltern keinen Spaß verstanden: Um halb neun war Zapfenstreich gewesen. Für jede Minute, die sie zu spät gekommen war, hatte sie einen Tag Hausarrest bekommen. Romys Ankündigung, dass ihr diese Strafen piepegal seien, weil sie mit achtzehn sowieso ausziehen würde, hatten sie gebetsmühlenartig mit dem Satz von den Füßen unter ihrem Tisch kommentiert.

Mit Bert war nach kurzer Zeit wieder Schluss gewesen, weil er sich in Maren verliebt hatte. Maren hatte bis zehn gedurft, damit war Bert besser zurechtgekommen.

Romy hatte sich dann nicht weiter nach einem neuen Freund umgesehen, weil das Unfassbare geschehen war: Ihre Oma Minna war gestorben.

Romy hatte nicht mehr schlafen, nicht mehr denken und zuletzt auch nicht mehr weinen können. Sie war in den ersten drei Jahren bei ihrer Omi aufgewachsen, hatte sie mehr geliebt als jeden anderen Menschen.

Ihre Mutter Hanne hatte gewusst, dass Minna sterben würde, aber sie hatte Romy angelogen und behauptet, alles sei harmlos und würde wieder gut. Nach der Beerdigung hatte es einen heftigen Streit gegeben, und Romy hatte ihre Ankündigung wahr gemacht: Ohne große Worte hatte sie ihre Siebensachen gepackt und war ins Personalhaus des Hotels gezogen. Das nagende Gefühl, dass niemand sie zu Hause vermisste, hatte sie verdrängt. Dass die Eltern sie in ihrem ersten eigenen Reich nicht besuchten, hatte sie traurig gemacht, aber sie hatte es sich natürlich nicht anmerken lassen, wenn sie ihre Stippvisiten absolvierte.

Nun, das war Vergangenheit.

Jetzt war die Gegenwart. Und dieser attraktive Theo Grote war auf ihren Flirt eingegangen. Mal schauen, wie sich das entwickelte.

2

Suse

Juni 1978

Als Suse an diesem Sonntagmorgen gegen sieben Uhr die Augen aufschlug und ihr Blick auf das leere Bett auf der anderen Seite des Zimmers fiel, konnte sie es wieder kaum glauben: Romy war tatsächlich weg.

An den ersten Abenden, nachdem ihre Schwester ausgezogen war, hatte Suse geheult, schließlich hatte sie zuvor noch nie allein geschlafen. Nur wenn Romy in den Ferien bei Oma Minna gewesen war, aber das war anders gewesen als jetzt. Jetzt war sie für immer weg.

Zuerst fand Suse es gruselig, nachts nichts zu hören, kein Atmen, kein Schnaufen, keine raschelnde Bettdecke. Aber sie hatte sich schnell daran gewöhnt.

Ganz früher hatten sie ein Kinderzimmer zu dritt gehabt. Als die Eltern die Latüchte übernommen hatten und sie in die Innenstadt gezogen waren, hatte es ein Mädchenzimmer gegeben und Michis Zimmer. Sie waren in den Ferien vor Suses Einschulung umgezogen, das alles war ziemlich plötzlich gekommen. Suse hatte später von Romy gehört, dass Mutti von Vati regelrecht überrumpelt worden war: Er hatte die Kneipe samt Wohnung ohne ihr Wissen gepachtet, war mit ihr spazieren gegangen, vor dem Haus stehen geblieben und hatte gesagt: »Hier ziehen wir nächsten Monat ein, kannst schon mal packen.«

Typisch.

Von da an hatten Suse und Romy ein eigenes Zimmer gehabt.

Michi hatte es noch besser getroffen, mit einem großen Raum ganz für sich allein. Na ja, er war der Junge, der Stammhalter. Und sowieso Muttis Liebling. Obwohl … jetzt würde Suse nicht mehr mit ihm tauschen wollen. Weil nur in Michis Zimmer genug Platz gewesen war, hatte er ein Bett und eine Couch. Und als Oma Minna krank gewesen war und gepflegt werden musste, war sie in Michis Bett untergebracht worden.

Vor drei Wochen war sie in diesem Bett gestorben.

Michi hatte sich seitdem verändert. Er war sowieso ein ruhiger Typ, dem man jedes Wort aus der Nase ziehen musste. Aber seit er mitgekriegt hatte, wie jemand nur zwei Meter von ihm entfernt den letzten Atemzug getan hatte, hatte er irgendwie ’nen Hau. Sprach kaum einen ganzen Satz, antwortete nicht, wenn man ihn was fragte, tat oft so, als würde er nichts hören.

Darüber hatte Romy sich furchtbar aufgeregt. »Sie müssen sich um ihn kümmern, sie müssen mit ihm reden, sie können das nicht einfach übergehen …«

Romy eben. Die große Schwester, die sich immer in alles einmischte. Was sollten die Eltern denn tun? Ja, die Oma war tot, sie war alt gewesen, alte Leute starben nun mal. Mutti hatte gesagt, sie hätte Wasser in der Lunge gehabt, was immer das bedeutete, und daran sei sie gestorben.

Aber Romy meinte, das sei gelogen. »Sie hat fast jeden Tag eine Flasche Wacholder getrunken. Sie hat Tabletten genommen, Polamidon C, starkes Zeug gegen ihre Rückenschmerzen, und Adumbran, Schlaftabletten. Davon hatte sie eine kaputte Leber, und sie hat geraucht wie ein Schlot.«

»Aber alle Erwachsenen rauchen, oder kennst du jemanden, der nicht raucht? Ich nicht. Du rauchst doch auch.«

»Ja, aber nicht viel. Die Kombination aus den Medikamenten und dem Schnaps hat es bei ihr ausgemacht, und die Menge.«

»Woher weißt du das?«

»Ich habe den Arzt im Krankenhaus gefragt.«

Das war genau das, was Suse an ihrer großen Schwester nicht ausstehen konnte: Sie mischte sich ein, quatschte sogar einen Doktor einfach an, und dann wusste sie alles besser und tat, als wäre sie erwachsen. Dabei war sie bloß vier Jahre älter als Suse. Na gut, viereinhalb.

»Mutti hat aber gesagt, es wäre Wasser in der Lunge gewesen.«

»Ach, die will natürlich nicht, dass die Leute erfahren, dass Omi eine Trinkerin war und daran gestorben ist.«

»Und deswegen willst du ausziehen, weil Mutti nicht will, dass die Leute was Falsches denken?«

Obwohl es gar nicht falsch war: Oma Minna war zweifellos eine Trinkerin gewesen. Suse hatte von kleinauf einen Blick dafür gehabt, ob Erwachsene angeheitert, besoffen oder nüchtern waren. Und Oma Minna war selten nüchtern gewesen.

Romy hatte sich wieder künstlich aufgeregt. »Nein. Nicht nur. Mutti kann mich nun mal nicht ausstehen, wir streiten uns wegen jedem Mist, außerdem sind sie furchtbar streng. Ich bin fast volljährig und muss um halb neun zu Hause sein.« Sie hatte sich an die Stirn getippt und einen Vogel gezeigt. »Alle meine Freundinnen dürfen bis zehn und am Wochenende bis zwölf.«

Insgeheim fand Suse, dass die Eltern keinesfalls ohne Grund streng waren. Romy hatte sich schließlich schon eine ganze Menge erlaubt. Sie war letztes Jahr zum Beispiel während eines Hausarrestes durchs Kellerfenster abgehauen, um sich mit ihrem damaligen Freund zu treffen. Suse hatte Bescheid gewusst und das Fenster hinter ihr schließen müssen. Romy hatte ihr einen Wecker unters Kopfkissen gelegt, der nachts um drei geklingelt hatte. Dann hatte Suse in der Dunkelheit auf Socken in den Keller schleichen und Romy wieder reinlassen müssen. Nicht auszudenken, was für einen Ärger es gegeben hätte, wenn die Eltern sie erwischt hätten!

Aber das hatte sie sich nicht lange bieten lassen. Romy ging immer davon aus, dass man ihr selbstverständlich helfen müsse. Suse fand das gar nicht selbstverständlich. Immerhin stand auch für sie was auf dem Spiel. Auf Anschnauzer, Fernsehverbot, Taschengeldentzug oder Hausarrest hatte sie keine Lust.

»Gib mir zwei Mark, sonst mach ich das Fenster nicht auf«, hatte sie gefordert.

Romy hatte ziemlich verdattert aus der Wäsche geguckt, aber sie hatte ihr das Geld gegeben.

Suse sparte es für später. Wer weiß, wofür man es mal brauchte. Ihre Schwester gab ihr Geld für Schminke und Klamotten aus und war immer knapp bei Kasse, aber das hatte nun ein Ende. Künftig würde sie sparsamer sein müssen.

Jetzt war sie ausgezogen, und Suse hatte das Zimmer für sich allein. Es war nicht gerade groß, hatte aber immerhin Platz für zwei Betten und zwei Nachtkonsölchen, die sich gegenüberstanden. Unter dem Fenster: der Schreibtisch, den sie bisher zu zweit benutzt hatten. Genau in der Mitte hatten sie mit Tafelkreide eine Linie gezogen, damit Romy sich nicht immer so breit machte. Auf ihrer Seite hatte Romy einen Spiegel und ihre ganzen Schminksachen aufgebaut, während Suse ihren Bereich für Schulbücher, Hefte und Stifte brauchte und ihre Hausaufgaben machte.

An der linken Seite des Raumes standen zwei einfache braune Kleiderschränke, die gleichen, die es auch oben in den Pensionszimmern gab. Als Mutti die Zimmer hatte einrichten lassen, hatte sie gleich drei »Garnituren« für die Kinderzimmer mitbestellt. Das einzig Moderne im Mädchenzimmer war die Tapete mit den großen geometrischem Mustern in kräftigen Grüntönen, aber die klebte nun auch schon seit ein paar Jahren an den Wänden.

Romy hatte ihrer kleinen Schwester beschrieben, wie beengt sie im Personalhaus wohnte: Bett, Schrank, Stuhl, kleiner Tisch, Wandregal, Waschbecken. Dafür zogen sie ihr hundertfünfzig vom Lehrlingslohn ab. »Rechne mal nach!«, hatte Suse gesagt. »Hier gibst du fünfzig Mark Kostgeld ab, dafür kannst du wohnen, essen, trinken. Im Personalhaus hast du nur halb so viel Platz, teilst dir das Badezimmer mit etlichen Leuten und zahlst das Dreifache. Das ist doch einfach dumm!«

Romy hatte sie ausgelacht. »Erstens ist darin das Personalessen enthalten, und das schmeckt tausendmal besser als zu Hause. Im Hahnenkamp benutzen sie kein Maggi, kein Fondor, nicht mal Brühwürfel, alles wird frisch zubereitet. Kein Dosenfutter, keine Tütensuppen, kein fettes Fleisch. Und zweitens musst du nicht immer ans Geld denken! Aber du bist erst dreizehn, für dich ist Freiheit nicht so wichtig. Das kommt schon noch.«

Ja, so arrogant konnte Romy sein.

Suse hatte ihren letzten Streit mit den Eltern mitgekriegt. Romy hatte sich tatsächlich herausgenommen, sie dafür zu kritisieren, wie sie mit Michi nach Omas Tod umgingen. Meine Güte, so ein Zirkus.

Suse hatte die Oma nicht besonders gemocht, sie war eine merkwürdige alte Frau gewesen: laut, auffällig angezogen, nie war sie ohne Hut, Handschuhe und rot geschminkte Lippen aus dem Haus gegangen. Sie hatte immer nur den linken Handschuh getragen und den anderen in der linken Hand gehalten.

Romy hingegen hatte immer von ihr geschwärmt. »Sie hat Stil und Klasse, lässt sich nie gehen und ist immer schick.«

Geschmackssache. Suse fand die affige Aufmachung einfach nur peinlich. Ab und zu hatte sie übers Wochenende zu Oma Minna fahren müssen, es hatte ihr nicht gefallen. Was Romy als »ihr kleines Reich« bezeichnete, war ein winziges Kabuff unter der Dachschräge gewesen, das sie »Kemenate« genannt hatte. Suse hatte es gehasst, dort zu schlafen. Unter dem quietschenden Bett stand ein Nachttopf. Wenn Suse nachts pinkeln musste, hatte sie in den Topf machen müssen.

Oma Minna hatte in ihrem Schlafzimmer einen Eimer mit Deckel gehabt, den sie mit einem Gestell umbaut hatte. Das Gestell war mit Schaumgummi umwickelt gewesen, damit man es darauf »bequem« hatte. Manchmal hatte Suse abends den Deckel scheppern hören, dann hatte sie gewusst: Die Oma hatte keine Lust, die Toilette im Treppenhaus aufzusuchen. Wenn Suse am nächsten Morgen gefragt worden war, ob was in ihrem Topf wäre, hatte sie es in den Eimer schütten, den runtertragen und im Klosett entleeren müssen. Das war doch einfach nur widerlich!

Und überhaupt hatte Oma Minna dauernd von früher geredet, vom Krieg, von Leuten, die Suse nicht kannte. Wenn sie an manchen Tagen besonders weinerlich gewesen war, diese olle Geige rausgeholt und darauf schnulzige Lieder gespielt hatte, hätte Suse sich am liebsten die Ohren zugehalten. Und dauernd diese Operetten! Wann immer im Fernsehen eine Operette gezeigt wurde, hatte Oma Minna mitsingend davor gesessen.

Nein, warum Romy so an ihr gehangen hatte, das konnte Suse nicht begreifen.

3

Hanne

November 1979

Hanne schlug die Zeitung zu, klemmte sie in den Zeitungshalter und hängte sie an die Garderobe. Meine Güte, da hatten Studenten in Teheran mehr als sechzig Geiseln genommen, um die Amis zu erpressen! Sie sollten den Schah von Persien freilassen. Zustände waren das in der Welt. Und dieser Ayatollah, den sie jetzt hatten – wenn der ihr auf der Straße begegnen würde, würde sie laufen, so schnell sie konnte. Der war ihr unheimlich.

Die ganze Welt war doch bekloppt. Weil in Persien der Schah getürmt war, musste man jetzt 56 Pfennig für den Liter Heizöl beschucken, letztes Jahr waren es noch 31 gewesen. Alles wurde teurer. Für ein Kilo Butter hatte Hanne gestern über neun Mark bezahlt, aber wenn sie den Preis für ein Glas Bier nur um zehn Pfennig anheben würde, blieben die Gäste weg. Gut, dass sie die ganzen Jahre immer ein bisschen Geld auf die Seite geschafft hatte.

Aber es gab auch endlich gute Nachrichten: Im Juni hatte Romy ihre Ausbildung mit Bestnoten abgeschlossen, na, das war doch mal was. Nachdem sie eine faule und renitente Schülerin gewesen und in der zehnten Klasse sogar absichtlich sitzengeblieben war, hätte Hanne es kaum für möglich gehalten, dass sie sich im Hotel Hahnenkamp bewährte. Obwohl sie sich immer wieder mit den männlichen Lehrlingen angelegt hatte. Meine Güte, dachte Hanne, wenn einer mit ihr flirtet, glaubt sie gleich, es wäre ein unsittlicher Antrag, und fährt den Männern übers Maul. Lehrjahre sind nun mal keine Herrenjahre, wie oft hab ich ihr das gesagt.

Nun war Romy seit geraumer Zeit mit Theo Grote liiert, und damit war Hanne sehr einverstanden. Theo war ein schicker Mann, Inhaber des florierenden Brunnen-Cafés. Er hatte Romy die ewigen Flausen ausgetrieben. Noch vor einem Jahr hatte sie davon geredet, sich in einem Düsseldorfer Luxushotel oder auf einem Kreuzfahrtschiff zu bewerben. Wie das Mädchen immer auf solche hochtrabenden Ideen kam, würde Hanne nie verstehen. Sie hätte ja auch zu Hause in der Pension arbeiten können oder in der Latüchte, Arbeit gab es hier genug. Aber das wollte sie nicht. Insgeheim war Hanne aber froh darüber, dass Romy weg war. Ihre Älteste hatte ein extrem loses Mundwerk und konnte ziemlich frech sein. Wenn es nach Hanne ging, hätte sie nicht gleich mit diesem Mann zusammenziehen müssen, aber Romy hatte sich entschieden und tat sowieso, was sie wollte.

Eben hatte sie angerufen. »Mutti, ich muss dir was zeigen, eine Überraschung!«

Typisch. Sie fiel immer mit der Tür ins Haus, ohne Rücksicht darauf, ob man selber gerade was zu tun hatte. Wenn ihr in den Kopf kam: »Jetzt will ich zu Mutti«, dann brach sie sofort auf.

Hanne stand am Fenster und rauchte eine, dabei behielt sie die Straße im Auge, um ihre Tochter kommen zu sehen. Sie sollte nicht klingeln, Otto lag auf dem Sofa und hielt seinen Mittagsschlaf. Das tat er jeden Tag, wenn er vom Frühschoppen zurückkam. Wenn er zu früh wach wurde, war er noch nicht wieder nüchtern genug, um abends die Wirtschaft zu öffnen und vernünftig zu arbeiten.

Ein grasgrüner Kadett hielt vor dem Haus und aus der Fahrertür stieg – Romy. Romy? Sie fuhr ein Auto? Sie hatte einen Führerschein? Wie zum Teufel …

In diesem Moment hatte ihre Tochter sie am Fenster entdeckt und winkte wie eine Verrückte. »Mutti, komm mal raus!«, rief sie.

Hanne drückte ihre Kippe aus und eilte vor die Tür.

Romy lehnte an diesem grässlich auffälligen Auto und grinste. Meine Güte, ihr vorn geknöpfter Wildlederrock war entschieden zu kurz, der gestreifte Pullover zu eng, die Haare waren zu lang, die Fingernägel zu rot, die Schuhe zu hoch.

»Was schreist du in der Mittagsruhe so rum, du scheuchst ja die ganze Nachbarschaft auf!« Kopfschüttelnd ging Hanne auf ihre Tochter zu. Und wie sie wieder geschminkt war! Diese schwarz bemalten Augen, die Leute würden sie gewiss für ein leichtes Mädchen halten.

»Hallo, Mutti, ja, ich freue mich auch, dich zu sehen. Danke, es geht mir gut. Ja, das ist mein Auto, ich habe seit einer Woche den Führerschein. Das wolltest du doch fragen, oder? Ich wollte dich damit überraschen.«

»Kannst du auch mal Luft holen, wenn du redest?«, rügte Hanne. Sie musterte den Wagen mit zusammengekniffenen Augen. »Führerschein, soso. Und gleich ein Auto unterm Hintern …«

»Ist gebraucht, ich hab es auf Raten gekauft, in einem Jahr ist es bezahlt.«

Hanne schüttelte missbilligend den Kopf. »Ihr jungen Leute wollt immer alles jetzt und sofort, meine Güte … Ich wäre froh gewesen, wenn ich in deinem Alter …« Sie beendete den Satz nicht. Sie hatte erst mit Anfang dreißig fahren gelernt. Vorher hatte Otto ihr nicht erlaubt, den Führerschein zu machen. Die Mädchen hatten es heutzutage so leicht, sie brauchten niemanden zu fragen, zelebrierten die »Gleichberechtigung der Frau« und nahmen auf niemanden Rücksicht. Romy war im Juni neunzehn geworden, und nun stand sie hier mit einem eigenen Auto. Ausgelernt, Führerschein, Auto, wilde Ehe. Was andere in zehn Jahren erlebten, passierte bei ihr in Nullkommanichts.

»Ist der schick?«, fragte Romy.

»Schick! Ein Auto muss anspringen und fahren, das muss nicht schick sein. Ist dir klar, dass ein Liter Sprit bald eine Mark kostet?«

Romy nahm ihre Handtasche und einen Blumenstrauß vom Beifahrersitz und schloss die Autotür ab. Sie drückte Hanne den Strauß in die Hand.

»Was soll das, ich hab doch nicht Geburtstag!«

»Man kann sich auch über einen Blumenstrauß freuen, wenn man nicht Geburtstag hat.«

»Du sollst dein Geld zusammenhalten!«

Romy antwortete nicht und marschierte zur Haustür.

»Sei leise, Vati schläft!«

»Klar«, flüsterte Romy, »es ist halb drei, er schläft immer um diese Zeit.«

Sie ist noch keine fünf Minuten hier und geht mir schon auf die Nerven, dachte Hanne.

In der Küche stellte sie die Blumen ins Wasser. Sie rauchten eine, tranken Kaffee mit Büchsenmilch.

»Hast du schon gegessen? Du siehst schlecht aus, richtig abgemagert. Ich hab Grüne-Bohnen-Eintopf.«

»Nein danke, ich hab im Café gegessen.«

»Mit Kassler und Mettwurst!«

»Nein danke, ich hab im Café gegessen.«

»Ist dir wohl nicht fein genug, so ein Eintopf?«

Romy schnaubte und verdrehte kopfschüttelnd die Augen.

»Du musst gar nicht so hochnäsig gucken! Wenn du schon mal nach Hause kommst, willst du nix essen.«

»Mutti, noch mal: Ich hab gegessen, wir haben Mittagstisch im Café.«

»Ist ja schon gut.«

Sie rauchten schweigend. Die Küchenuhr über der Tür tickte, das Radio lief so leise, dass man es kaum hörte.

Im Grunde war Hanne froh, dass Romy mit Theo Grote zusammenlebte. Es war ein bisschen plötzlich gekommen, sie und Otto waren vor vollendete Tatsachen gestellt worden, aber was sollten sie machen, Romy war volljährig. Theo war ein gut aussehender Mann und wohlhabend. Das Café war seit Generationen im Familienbesitz und lief nun unter seiner Regie.

Als Romy nach ihrer Freisprechung verkündet hatte, dass sie im Hotel aufhören, zu Theo ziehen und im Café mitarbeiten wollte, hatte Hanne gefragt, wieso sie nicht eher von ihm erzählt hatte. »Dann hätte ich mir manche schlaflose Nacht mit der Sorge um deinen guten Ruf ersparen können.«

»Du immer mit deinem Ruf …«, hatte Romy gesagt.

»Was gibt’s Neues bei euch?«, fragte sie jetzt.

»Was soll’s Neues geben. Die Zimmer sind ausgebucht, aber nur, weil ich mit dem Preis runtergegangen bin. Die Kneipe läuft. Vati und ich machen sie jetzt allein, Michi hilft manchmal, wenn er von der Arbeit kommt.«

»Wie gefällt es ihm bei Ford Geyer?«

»Wie soll’s ihm gefallen, weiß nicht, er redet nicht viel. Dass er früh aufstehen muss, gefällt ihm nicht, aber er will Autoschlosser werden, dann gehört das eben dazu.«

»Was macht Suse?«

Zum ersten Mal lächelte Hanne. »Sie ist gut in der Schule und kann nächstes Jahr bei Imhoff in der Möbelfabrik ihre Lehre machen. Herr Imhoff ist Stammgast in der Latüchte, Vati hat das schon mit ihm abgemacht.«

»Was will sie werden?«

»Industriekaufmann, das ist eine gute Wahl, da kann sie später noch halbe Tage arbeiten, wenn sie verheiratet ist und Kinder hat.«

»Na, hoffentlich dauert das noch mit den Kindern. Suse ist erst vierzehn!«

Ohne darauf einzugehen, meinte Hanne: »Hoffentlich bist du klug genug, Theo zu heiraten.«

»Ich bin neunzehn!«

»Na und? Ich war zwanzig, als du geboren wurdest, worauf willst du warten, auf besseres Wetter? Und außerdem ist es kein Zustand, unverheiratet zusammenzuleben. Ich bin sicher, dass die Leute sich ordentlich das Maul über euch zerreißen.«

Romy zuckte mit den Schultern. »Zu mir hat noch niemand was gesagt. Warum sollte ich ihn heiraten? Und ich will sowieso keine Kinder, ich hab doch gesehen, wie du dich immer abgerackert hast.«

Nachdenklich sah Hanne ihre Tochter an. Vielleicht machte Romy es richtig. Heiratete nicht, wollte nicht schwanger werden, wohnte in wilder Ehe mit einem gut situierten Mann. Es war eine andere Zeit als in ihrer Jugend. Aber wie würde Romy enden, wenn das mit den beiden nicht gut ging? Dann hatte sie keine Bleibe und keine Arbeit mehr. Es war in jedem Fall leichtsinnig.

Romys Blick fiel auf einen Reisekatalog, der neben Hannes Strickzeug auf der Eckbank lag. »Wollt ihr endlich mal verreisen?«

»Ich. Das letzte Mal, dass ich Ferien hatte, ist dreizehn Jahre her.« Hanne dachte an die Reise nach Waging am See, die Otto organisiert hatte, ohne sie zu fragen. Da hatte sie sehen müssen, wo sie drei kleine Kinder auf die Schnelle unterbringen konnte.

»Wohin soll’s gehen?«, fragte Romy.

Hanne seufzte. »Jetzt halt mich nicht für größenwahnsinnig, aber ich möchte unbedingt mal auf die Malediven.«

Nachdem sie letztes Jahr einen Roman gelesen hatte, der auf einer Teeplantage in Ceylon spielte, hatte sie sich im Reisebüro einen Katalog geholt. Und dann hatte sie dieses Angebot gefunden.

»Malediven? Wo ist das? Nie gehört.«

»In Erdkunde hast du also auch nicht aufgepasst«, sagte Hanne, aber sie meinte es scherzhaft und nicht vorwurfsvoll. Sie griff nach dem Katalog, schlug ihn auf und schob ihn über den Tisch. »Das würde ich gerne erleben, eine Woche Ceylon mit Besichtigung einer Elfenbeinschnitzerei, eines Elefantenwaisenhauses und einer Teeplantage, dann Badeurlaub auf dem Embudu-Atoll. Das ist im Indischen Ozean. Neunundzwanzig Grad warmes Meerwasser!«

Romy studierte das Angebot und reagierte begeistert. »Mensch Mutti! Da sieht es ja aus wie im Paradies! Palmen, Strand und Meer, und sieh mal, da gibt es auch einen Swimmingpool. Und diese hübschen Bungalows, herrlich! Habt ihr schon gebucht?«

Verblüfft schaute Hanne ihre Tochter an. Dass sie ihr überhaupt nicht widersprach, war ungewöhnlich.

»Ich habe gebucht«, sagte sie.

»Und wann fliegt ihr?«

»Nicht wir, ich fliege.«

Romy schaute sie irritiert an. »Verstehe ich nicht.«

»Vati will nicht mit. Er sagt, dass er unter keinen Umständen in ein Flugzeug steigen wird.«

»Ja, dann wird’s schwierig, da fährt kein Taxi hin …« Romy stutzte. »Moment mal, er will nicht mit, und du hast trotzdem gebucht?«

»Ja.«

»Du fliegst zum ersten Mal in deinem Leben und dann gleich ans andere Ende der Welt, ohne Vati, ganz allein?«

»Nein, nicht allein. Meine Friseuse Viola hat auch immer von so einem Urlaub geträumt. Wir fliegen zusammen. Die Reise wird von der Volksbank organisiert, man spart eine Summe an, dann regeln die alles. Ist ja wichtig, wenn man in einer fremden Kultur ist und die Sprache nicht kann, dass sich jemand kümmert. Viola und ich teilen uns einen Bungalow. Im Februar geht’s los.«

»Oha. Was hat Vati dazu gesagt?«

»Er war sauer und hat tagelang nicht mit mir geredet. Kennst ihn ja. Aber es ist doch so: Ich will reisen, er nicht. Entweder hätte er nachgeben und mitkommen können, oder ich hätte nachgeben und darauf verzichten müssen. Dieses Mal habe ich nicht nachgegeben.«

Romy nickte, in ihrem Blick lag Anerkennung. »Finde ich klasse.« Sie streichelte mit der Hand über Hannes Arm. »Man darf sich auch nicht immer nur unterbuttern lassen und nach der Pfeife des Mannes tanzen.«

Das war ein Thema, über das Hanne gewiss nicht mit ihrer Tochter reden wollte, und solche Vertraulichkeiten mochte sie schon gar nicht. Sie war Romys Mutter und nicht ihre Freundin.

Rasch lenkte sie ab: »Wie geht es Theo? Versteht ihr euch?«

»Schon. Aber … na ja… wir sehen uns bei der Arbeit den ganzen Tag, begegnen denselben Leuten, erleben dasselbe, da hat man sich nicht viel zu erzählen. Also, ich meine, die Abende sind sterbenslangweilig.«

Nichts zu erzählen? Das konnte Hanne nicht nachvollziehen. Man konnte auch alles zerreden. Romy neigte dazu. Immer sprach sie jeden Gedanken aus, sie hatte einem schon als Kind Löcher in den Bauch gefragt, und in der Schule war sie wegen ihrer Geschwätzigkeit oft ermahnt worden.

»Was soll ich denn sagen? Vati und ich sind fast zehn Jahre in der Latüchte und arbeiten zusammen. Worüber willst du abends reden? Sei froh, dass ihr zu tun habt und dass du überhaupt so einen Mann abgekriegt hast.«

Den Blick ihrer Tochter konnte Hanne nicht deuten, sie wirkte einen Moment lang direkt unsicher.

»Ich weiß nicht«, sagte Romy nachdenklich. »Es ist langweilig, jeder Tag läuft gleich ab. Wir gehen nie aus, wir sind im Café und abends auf dem Sofa. Ich möchte mal in eine Disco und auf Partys gehen.«

»Ach, Mädchen, ich bin in meinem ganzen Leben noch nie in so einem Beatschuppen gewesen und hab’s auch überlebt! Und auf welche Partys willst du gehen, wenn du früh wieder raus musst?«

Romy starrte auf ihre Fingernägel. »Weiß nicht. Ich hab einfach Lust auf tolle Klamotten. Die knielangen schwarzen Röcke, die ich bei der Arbeit anziehen muss, sind altmodisch und furchtbar. Ich will laute Musik, ich will tanzen und neue, junge Leute kennenlernen. Liegt vielleicht am Altersunterschied, Theo ist ja noch zwei Jahre älter als du.«

Hier hörte Hannes Verständnis endgültig auf. »Du hast dir diesen Mann ausgesucht, du wolltest unbedingt mit ihm zusammenziehen. Jetzt schüttelst du wieder so lange deinen Kopf, bis du das Haar in der Suppe findest. Ich glaube, dir geht’s zu gut!«

4

Romy

August 1980

Schwarzwälder Kirsch, Frankfurter Kranz, Käse-Sahne, gemischtes Obst. Romy hatte die Torten in der Kuchentheke platziert. Jetzt fehlten noch Windbeutel, Amerikaner, Nougatringe, Sandtaler und der Nusskuchen.

Sie ging ins Büro, zog die Schuhe aus, legte die Füße auf den Schreibtisch und spielte eine Runde mit dem Zauberwürfel. Es war ihr noch nie gelungen, die einzelnen Teile so zu drehen, dass auf jeder Seite des Würfels nur eine Farbe zu sehen war. Angeblich sollte es dreiundvierzig Trillionen Ausgangspositionen geben, na, da hatte sie noch ein paar Möglichkeiten vor sich.

Eigentlich war heute ein besonderer Tag: Heute vor einem Jahr hatte sie das Personalhaus des Hotel Hahnenkamp verlassen, war zu Theo gezogen und hatte im Brunnen-Café angefangen.

Romy arbeitete gerne, scherzte mit den Gästen, bekam gutes Trinkgeld, besonders von den älteren Herren. Das Publikum bestand überwiegend aus Kurgästen und gut situierten Rentnern, was sicherlich auch an der altmodischen Einrichtung lag: Chippendalemöbel in Himmelblau und Weiß, Tische mit Wiener Geflecht unter Glasplatten, Perserteppiche auf dem Boden, das war ja ziemlich überholt. Viele Stammgäste aßen seit Jahren hier zu Mittag und blieben bis zum Nachmittagskaffee. Von eins bis drei, wenn die Läden zumachten, kamen die Abteilungsleiter der großen Geschäfte Hagemeyer, Eisenreich und Hitzemann, nach drei waren viele Lehrer unter den Stammgästen, ältere Jugendliche trafen sich nachmittags und diskutierten rauchend über Politik und Schlagzeilen. Im Café war Romy in ihrem Element, sie arbeitete schnell, umsichtig und verlor nie die Ruhe, selbst in der größten Hektik blieb sie freundlich und gut gelaunt.

Aber irgendwie war sie nicht glücklich. Sie hatte sich ihr Leben anders vorgestellt. Eigentlich hatte sie sich ein solches Leben gar nicht vorgestellt, sie war da so reingerutscht. Theos gutes Aussehen, sein Alter, sein Geschäft, das alles hatte ihr imponiert. Und dass Mutti ihn ohne Wenn und Aber akzeptiert hatte, war eine ungewohnte, aber angenehme Situation. Wie hatte sie sich vorher über Romys Freunde aufgeregt, meine Güte, es war immer irgendwas falsch gewesen! Der eine hatte den falschen Vater (»Du weißt, dass sie dem Vater den Führerschein abgenommen haben und dass er zum Idiotentest muss?«), der nächste den falschen Beruf (»Installateur? Er hat den ganzen Tag mit Gas, Wasser und Scheiße zu tun, willst du so einen?«), der andere war Kriegsdienstverweigerer und damit ein Weichei.

Nur gegen Theo hatte Mutti nie was gesagt, im Gegenteil.

Romy dachte daran zurück, wie sie Theo näher kennengelernt hatte.

Wenige Tage nach der Beerdigung und dem Malheur mit dem Mineralwasser hatte er mit einem Blumenstrauß vor dem Personalhaus gestanden, nachdem sie sich im Café zufällig wiedergesehen hatten. Natürlich hatte sie ihn nicht reingebeten, ihr Kämmerchen wäre für Besucher eine Zumutung gewesen. Sie waren spazieren gegangen. Am nächsten Tag hatte er sie wieder abgeholt, ihr Parfüm geschenkt, Opium von Yves Saint Laurent. Er hatte sie an ihrem freien Tag in die Pizzeria am Wilhelmsplatz eingeladen. Romy liebte Pizza.

Theo war witzig, gebildet und souverän. Nach dem dritten Treffen war sie mit ihm in seine Wohnung gegangen. So eine Bude hatte Romy noch nie gesehen: rote Auslegware, schwarze Ledersofas mit Chromgestell, Tische aus weißem Marmor. Sogar das Schlafzimmer hatte schwarze Möbel auf schwarzem Teppichboden. Theo hatte rote Bettwäsche, die Tapeten waren weiß, ohne Muster, es war der totale Gegensatz zum plüschigen Brunnen-Café.

Die erste Nacht mit ihm war nicht überwältigend gewesen, aber auch nicht unangenehm. Romy hatte sich Mühe gegeben, ihm zu gefallen, ein bisschen lauter gestöhnt, ein bisschen mehr gekeucht. Tante Ännes Worte hatten dabei wie ein Mantra in ihrem Ohr geklungen: »Du musst es mit den Männern tun, sonst rufen sie dich nicht wieder an!«

Als Romy diesen Satz zum ersten Mal gehört hatte, war sie zwölf gewesen. Nun, sie tat es mit Theo, er schien danach zufrieden, und von da an schlief sie nie wieder im Personalhaus. Er hatte sie in seinem BMW zur Arbeit gebracht und nach der Schicht wieder abgeholt. Irgendwann hatte er morgens gesagt: »Eigentlich kannst du ganz hierbleiben.«

So einfach war das gewesen.

Dass er sie nach der Lehre im Café anstellte, war klar. Natürlich konnte sie sich jetzt nicht auf einem Schiff bewerben oder in einer anderen Stadt.

Sie war in festen Händen.

Romy schuftete, als sei das Café ihr Laden: sechs Tage die Woche, von morgens um acht bis abends um sieben. Schwarze Klamotten, weiße Schürze, Gesundheitsschuhe, immer gut gelaunt, immer fleißig, nie krank, kein Urlaub. Sogar an ihrem zwanzigsten Geburtstag hatte sie gearbeitet. Theo war oft weg, zum Großmarkt, zur Süßwarenmesse, Kaffeeverkostung, zu Fortbildungen, Gastronomiemessen. Dann zählte Romy abends die Portemonnaies der Serviererinnen aus und brachte die Geldkassette zum Nachttresor.

Wenn Theo unterwegs war, besuchte sie abends ihre Eltern.

Mutti war nach ihrer Maledivenreise wie ausgewechselt, ließ sich von Vati kaum noch etwas sagen, gab manchmal direkt patzige Antworten. Sie färbte sich die Haare kastanienbraun und trug sie modisch kurz. Außerdem hatte sie sich ein neues Auto gekauft, einen tomatenroten Mitsubishi.

Im März war sie vierzig geworden. In der Latüchte hatte es eine schöne Feier gegeben, sogar zwei von Vatis älteren Schwestern waren gekommen. Als Romy noch ihre Ferien und viele Wochenenden bei ihrer Oma in Minden verbracht hatte, hatte sie Tante Änne und Tante Lisa gern besucht.

Lisa begann jedes Gespräch mit den Worten: »Hast du es warm, Kind? Hast du es hell?« Sie war im Krieg nach einem Bombenangriff verschüttet gewesen, das erklärte die Fragen. Und Änne hatte nach ihrer Scheidung von Onkel Alois mitansehen müssen, wie er mit einer Frau, die halb so alt war wie er, vor ihren Augen poussierte.

Romy war nicht mal halb so alt wie Theo, aber das war was anderes, weil er, im Gegensatz zu Onkel Alois, nicht verheiratet war.

Änne war Romys Lieblingstante, obwohl sie ein solches Biest war, dass einem zuweilen der Atem stockte. Auch an Muttis Geburtstag hatte sie kein Blatt vor den Mund genommen – als habe sie sich geschworen, es im Alter zu ihrem Markenzeichen werden zu lassen, alle vor den Kopf zu stoßen.

Mutti war zu vorgerückter Stunde ziemlich betrunken gewesen, und Änne hatte gesagt: »Mensch, Hanne, du spuckst aber auch nicht ins Glas! Nicht, dass du endest wie deine Mutter.«

Hätten Blicke töten können, wäre Tante Änne auf der Stelle umgefallen. Dabei hatte sie recht. Mutti war seit der Rückkehr von den Malediven lockerer geworden, aber sie trank auch wesentlich mehr. Schon am Nachmittag, sobald sie die Latüchte öffneten, ging es mit dem ersten Wein los.

Neulich war von ihr wieder die Frage gekommen, ob Romy und Theo nun endlich heiraten wollten.

»Nein, warum sollte ich?«

»Damit du versorgt bist!«

»Wenn ich einen Mann brauche, um versorgt zu sein, geb ich mir die Kugel!«, hatte Romy patzig geantwortet.

Auf dem Heimweg war sie ins Grübeln gekommen. Wollte sie heiraten? Versorgt sein? Heiraten? Kinder kriegen? Kinder machten schlechte Laune und hängende Mundwinkel. Lebte sie nicht irgendwie das kleine, enge Leben ihrer Eltern nach? Gastronomie, Sechs-Tage-Woche, am freien Tag schlafen …

Es gab einen weiteren Grund, der Romy seit einiger Zeit an ihrer Beziehung zweifeln ließ, den sie aber niemals jemandem erzählen würde. Theo hatte eines Tages im Scherz gesagt, sie könne froh sein, dass er sie genommen habe. So dünn und mit diesen flachen Brüsten, das sei echt nicht jedermanns Geschmack. »Kein Arsch und kein Tittchen, aber ’n Blick wie Schneewittchen«, hatte er gesagt.

Darüber hatte Romy nicht lachen können, aber sie glaubte ihm. Sie war nicht blind, sie wusste, wie sie aussah. Er hatte recht. Sie trug Kleidergröße sechsunddreißig und war obenrum flach wie ein Brett. Mutti hatte mal was Ähnliches gesagt: »Sei froh, dass du überhaupt so einen Mann mitgekriegt hast.«

War das so? Konnte sie froh sein?

Wieder fragte sie sich, ob sie in zwei oder drei Jahren noch immer leben wollte wie bisher, gleichförmig, mit viel Arbeit und wenig Abwechslung. Sie hatte schon als Kind in der Pension helfen müssen, als Jugendliche hatte sie etliche Wochenenden putzend bei der Oma verbracht, und später, in der Lehre, hatte sie am Wochenende selten frei gehabt.

Irgendwie war ich noch nie richtig jung, dachte sie, während sie die Teile des Zauberwürfels immer schneller hin und her drehte. Es musste doch zu schaffen sein, dass sie das Rätsel löste.

Neulich war eine frühere Mitschülerin im Café gewesen und hatte von ihren Reisen erzählt, mit Interrail kreuz und quer durch Europa. Romy hatte keine Ahnung, was das war. Sie hatte vor den Gästen so getan, als wisse sie Bescheid und später Theo gefragt. »Das sind billige Bahntickets für junge Leute, die mit dem Rucksack durch die Gegend reisen, sehr einfach, unkomfortabel und recht gefährlich«, hatte er erklärt. Das klang allerdings nicht so toll, schade.

Es gab auch einen neuen Pub, das Baumhaus. »Können wir da mal hingehen?«, hatte sie Theo gefragt.

»Da treibt sich bloß Jungvolk rum, und die Musik ist viel zu laut«, hatte er gebrummt.

Ich bin Jungvolk, hatte Romy gedacht. Sie war noch nie in einem Pub gewesen. Was unterschied so ein Lokal von einer Kneipe wie der Latüchte? Die war für sie ein echter Albtraum mit den dunklen, holzvertäfelten Wänden, karierten Tischtüchern, Kupferlampen mit Brauereireklame und einer Sammlung Zinngeschirr.

Das Baumhaus war ein Laden für junge Leute, gewiss sah es dort nicht so piefig aus wie im Kurgastschuppen ihrer Eltern. Aber Romy konnte sich nicht vorstellen, allein in einen Pub zu gehen, und eine Freundin hatte sie nicht. Leute, die in der Gastro arbeiteten, waren auch in der Freizeit meistens unter sich, weil sie immer dann ranmussten, wenn andere freihatten.

Romy verbrachte also ihre Freizeit mit Theo auf der Couch. Er liebte Abendshows, sah sich alle an: Dalli Dalli, Spiel ohne Grenzen, Auf los geht’s los, Was bin ich. Romy hingegen schaute am liebsten Musiksendungen: Plattenküche, Hitparade, Disco, Musikladen, Starparade. Sie schwärmte für Marianne Faithfull und Kate Bush, Queen und Abba, aber damit konnte Theo nichts anfangen. Nur wenn er nicht da war, fuhr sie zu den Eltern, hielt sich aber nie lange auf. Auf die flirtwütigen Kurgäste in der Latüchte hatte sie keine Lust. Außerdem waren die Eltern nie nüchtern. Vati kannte sie fast nur im angetrunkenen Zustand, der war gar nicht ansprechbar, wenn er kein Bier getrunken hatte, und Mutti wurde neuerdings aggressiv, wenn sie zu viel Wein intus hatte.

Manchmal traf Romy in der Latüchte