Hanni - Ulrike Blanke - E-Book

Hanni E-Book

Ulrike Blanke

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Beschreibung

Breslau 1929: Die Jüdin Hanni lernt den christlichen Journalisten und Theologen Jochen kennen. Die Liebesgeschichte, die sich zwischen beiden entspinnt, steht von Beginn an unter dem Unstern des Nationalsozialismus. Das Buch schildert den ungleichen Kampf zwischen privatem Glück und mörderischen Antisemitismus des Regimes aus der Sicht der Betroffenen. Jahrzehnte später recherchiert die nachgeborene Johanna die bewegende Geschichte ihrer Urgroßmutter.

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Inhalt

Johannas Entdeckung

Ein neuer Untermieter Breslau im Frühjahr 1929

Eine Reise nach Paris September 1930

Leben und Lieben in schweren Zeiten Breslau Ende 1931

Fröhliche Leute – auf dem Papier Berlin September 1933

Flucht in die Kindheit Weihnachten 1935

Hitler schaut zu Dezember 1938

Dichtung und Sorgen November 1940

Keine Hilfe, nirgendwo September 1941

Sommer im Riesengebirge August 1942

Die Nacht ist vorgedrungen 9. Dezember 1942

Nachwort

Biographische Daten

Johannas Entdeckung

Sie ist in den letzten Tagen alle Wege nochmals gegangen. Jeden Ausblick, jede Hofeinfahrt kennt sie, weiß Bescheid über das Wer, Wo und Mit-Wem. Die Gesichter, Winkel und Wege sind vertraut – und zugleich fremd. Alles noch da, aber nicht mehr Teil von ihr. Es hat aufgehört zu ihr zu sprechen. Die Häuser, die Personen und Adressen sind in ihren Augen belanglos. Selbst die Landschaft, die ihr so lieb war, ist stumm und dumpf geworden. Oder umgekehrt: Sie selbst ist schmerzhaft taub und blind für all das, weil das Entscheidende fehlt und weggebrochen ist.

Es war alles lebendig durch sie, um ihretwillen, die jetzt in der Erde ruhen. Und selbst dort nicht mehr zu finden sind. Sie haben das Licht dieser Wege und Ausblicke, den Klang der Namen mit hinab genommen in ihr Grab. Wenn sie all das wiederfinden will, darf sie nicht dort umherstreifen, wo ein Außen war. Sie müsste hinabsteigen ins Reich der Vergangenheit und von dort an sich nehmen, was bewahrt werden und bleiben soll.

Genau da kommt Johanna aber nicht weiter, öffnet sich in ihr neben der akuten Trauer eine weitere Wunde. Was weiß sie denn von der Familiengeschichte? Nie haben die Großeltern mit ihr darüber gesprochen. Warum gingen sie kurz vor dem Krieg nach England? Und kamen Ende der Fünzigerjahre aus London hierher zurück in den Süden Deutschlands?

Johanna fingert in ihrer Manteltasche nach dem Schlüssel und öffnet die Haustür. Heute ist der letzte Tag, den sie hier verbringen wird. Sie will noch einige Dinge erledigen und fühlt gleich beim Eintreten Beklommenheit. Wie eine schwere Decke, die auf ihr lastet und ihr den Atem abschnürt. Die Räume klagen sie mit leeren Fensteraugen an. Keiner wird winken, wenn sie am Abend weggehen wird. Frei gegeben zur Plünderung sind hier nurmehr tote Gegenstände versammelt. Sie wird ein paar Erinnerungsstücke auswählen. Der Rest wird den Container füllen, der auf dem Hof abgestellt ist. Schnelle Entscheidungen sind gefragt. Rasch, bevor Reue sie erfasst.

Bilder hängen nicht mehr an den Wänden, haben aber dunkle Schatten hinterlassen dort, wo ihre Rahmen die Staubpartikel anzogen; und weiße Vierecke innen, wo die Tapete vor dem Vergrauen geschützt war. So sind an die Stelle der bunten Aquarelle ihrer Großmutter Nebelbilder getreten. Johanna steht vor der Bücherwand. Rings um sie her Umzugskisten, teils voll gepackt, teils halbleer über den Fußboden verteilt. Auf den Regalbrettern stehen noch alle Bände, dicht an dicht aufgereiht, gediegenes Leinen und Leder neben Pappe; einige Buchrücken vom vielen Gebrauch verschlissen und im Stadium der Auflösung begriffen. So wie Granny und Granpa´s Wohnung im Ganzen im Stadium der Auflösung ist.

Johanna neigt dazu, in allem, was ihr begegnet eine Allegorie ihres Verlustes zu sehen. Die Wandlung vom Vertrauten zum Verlorenen dehnt sich auch auf die Menschen aus. Die Verkäuferin in der Bäckerei an der Ecke kennt sie seit ihrer Kindheit. Doch heute stockte ihr Gespräch schon nach wenigen Sätzen. Der Nachbar, den sie immer traf, wenn er mit seinem Hund Gassi ging und mit dem sie regelmäßig einige Sätze wechselte, winkte heute nur von weitem. Nun sieht sie ihn durchs Fester hügelan stapfen. Diesen Weg will Johanna heute Abend selbst zum Abschied gehen. Er führt hinter Granpa´s Garten in die Felder und hält eine Aussicht bereit, wenn man bis oben zur runden Kuppe des Buchbergs durchgehalten hat. Es war immer Johannas Lieblingsspaziergang. Wie oft hat sie dort auf der Bank unter der alten Linde gesessen. Neben ihr der Großvater, der ihr die Namen der Vögel nannte, während sie die Beine baumeln ließ. Wenn sie heute vom Hügel zurückkehrt, wird sie die Wohnung abschließen und das Dorf ihrer Kindheit für immer verlassen. So hat sie es sich vorgenommen.

Wenige Wochen später. Johanna ist nach Berlin zurückgekehrt und forscht in der Vergangenheit. Das Leben ihrer Urgroßmutter. Unglaublich, dass sie bisher ahnungslos in genau der Stadt gelebt hat, in der die Tragödie dieser Frau sich abspielte. Ihr kommt es vor, als versänke sie in einer Nebelwelt. Sie will Kontur bringen in ihre Vorgeschichte, will die Schleier endlich lüften. Seit sie in Granny´s Bücherschrank jenes Buch mit der Widmung entdeckte, lässt es ihr keine Ruhe. »Meiner Nichte Brigitte mit herzlichen Grüßen zugeeignet. Berlin, den 25. Juli 1956, deine Tante Hildegard.«

Johannas Verwunderung und Neugier erwachten sofort. Brigitte, so hieß Granny. Doch nie hatte diese ihr etwas von Verwandten erzählt, schon gar nicht von einer Tante Hildegard, die ja folglich ihre Urgroßtante gewesen sein müsste. Dabei hatte Großmutter bis zuletzt eine klaren Kopf, berichtete von weit zurückliegenden Ereignissen ebenso spannend und farbig wie sie die gegenwärtige Politik mit wachem Interesse wahrnahm und kommentierte. Bis in ihr hundertstes Lebensjahr, als der Schlaganfall sie dahinraffte. Von sich selbst jedoch, von ihrem eigenen Leben, erzählte Granny höchstens andeutungsweise. Wenn Johanna mehr wissen wollte, wiegelte diese ab und wedelte mit beiden Händen, als ob sie eine Fliege verscheuchen wolle. Sie muss lächeln, wenn sie an diese typische Geste denkt.

Johannas Fund ist ein Buch in blauem Leineneinband, das sich hinter einem fleckigen, eingerissenen Schutzumschlag verbirgt. ›Unter dem Schatten deiner Flügel‹ lautet der Titel. Der Autor heißt Jochen Klepper. Von ihm hat Johanna flüchtig gehört. Ein Christ, der im dritten Reich mit seiner angeheirateten jüdischen Familie unter die Räder kam. Der zerschlissene Band sah zunächst wenig spektakulär aus, Tagebücher der Jahre 1932 bis 1942, so der Untertitel. Ein gewisser Reinhold Schneider hat ein Nachwort verfasst. Johanna wollte das Büchlein gerade in die Kiste für den Sperrmüll versenken, als ihr Blick auf die Widmung in der Umschlagseite fiel. Die allerdings klang spektakulär, wie elektrisiert starrte sie darauf.

Innerhalb weniger Tage verschlang Johanna den Inhalt des Buches. Nun führt sie ihr Weg täglich zur Bibliothek. Über die Fernleihe bestellt sie alles, was über Jochen Klepper und sein Leben Auskunft geben kann. Zeitweise gleicht ihr Platz im Lesesaal einer Zelle, um sie herum Mauern aus Büchern. Während der Lektüre wird ihr zur Gewissheit, was anfangs als vage Ahnung aufblitzte. Sie gehört in diese Geschichte hinein. Als Klepper, seine Frau Hanni und deren Tochter Renate sich am 10. Dezember 1942 in Berlin das Leben nahmen, wurde diese persönliche Tragödie von der Terrorwelle des Holocaust überlagert. Eine ausgelöschte jüdisch-christliche Familie, das war in diesen Jahren kein Einzelfall. Die Verfolgten kamen der drohenden Deportation durch Freitod zuvor. Was sie jedoch ebenfalls aus den Tagebüchern erfährt: Es gab eine ältere Tochter und Schwester Renates namens Brigitte. Brigitte, die im Frühjahr 1939 mit 18 Jahren nach England auswanderte, in London einen Österreicher namens Fritz Molnar heiratete. 1942 kam deren gemeinsame Tochter Katharina zur Welt.

Endlich fügen sich die Puzzleteile zusammen, die Johannas eigene Geschichte ins Bild setzen. Brigitte und Fritz Molnar, das sind Granny und Grandpa. Sie kehrten Ende der fünfziger Jahre aus England in die Bundesrepublik zurück. Wahrscheinlich hat Jochen Kleppers ältere Schwester Hildegard damals versucht, Kontakt aufzunehmen, das Tagebuch mit der Widmung als Akt der Wiedergutmachung geschickt. Ob es daraufhin eine Begegnung gab, bleibt offen. Jedenfalls: Katharina ist der Name ihrer Mutter, die sich immer Kate rufen ließ und in Deutschland nie Fuß fasste. Als Korrespondentin verschiedener großer Zeitungen bereiste sie die Welt. Irgendwo hatte sie eine Affäre mit einem Pressemenschen, eine kurze Liebelei. Deren bleibendes Ergebnis ist sie, Johanna Molnar, genannt Jenny. Ende der siebziger Jahre in Berlin zur Welt gekommen, wuchs sie bei ihren Großeltern auf. Im Schwarzwalddorf, wo Granny und Grandpa ihr Heim gründeten und dort zurückgezogen gelebt hätten – wäre sie nicht gewesen. »Jenny, du warst immer unsere Brücke zur Welt«, sagte Granny zu ihr bei einem ihrer letzten Besuche. Als Teenager hatte sie sich über ihren altmodischen Namen beschwert. Johanna: kein Mädchen in ihrer Klasse hieß so und Claudia, von denen es gleich drei gab, wäre ihr wesentlich lieber gewesen. Da drückte Granny sie an sich und sagte: »Es tut mir leid, Liebes, aber das war meine Idee. In meinem Leben war eine Johanna die wichtigste Person überhaupt.« Als sie mehr wissen wollte, blockte Granny jedoch ab, vertröstete sie auf später.

Nun endlich: der Schlüssel zu den Geheimnissen von Mutter und Großeltern ist gefunden. Der Ariadnefaden entrollt sich, ausgehend vom Tagebuch, das sie in Händen hält. Die nebulöse Vergangenheit, über die nie mit ihr gesprochen wurde, lichtet sich. Wer als Jude nach Deutschland zurückkehrt, spricht am besten nicht darüber, nicht einmal mit den engsten Familienmitgliedern. Das war die Maxime, die ihre Großeltern auch gegenüber ihr, der Enkeltochter, nicht gebrochen haben. Zu tief hat sich ihnen der angehängte Makel eingebrannt.

»Zeit, das Schweigen zu brechen,« sagt sich Johanna und macht sich an die Arbeit. Sie recherchiert, besucht Museen, sieht Briefe ein, arrangiert Treffen mit Vertretern der Kirche und der jüdischen Gemeinde. Ein Projekt, in das sie sich mit dem Eifer der Betroffenen und um ihre Geschichte Betrogenen stürzt. Sie will ihrer Urgroßmutter Hanni Stimme und Gesicht geben.

Ein neuer Untermieter Breslau im Frühjahr 1929

Hanni hat sich bei Schreibwaren-Obermann eine Kladde gekauft. Das Bedürfnis aufzuschreiben, was mit ihr geschieht, regte sich plötzlich.

Als wäre die Zeit stillgestanden, lange stillgestanden. Und nun läuft sie wieder voran. Als hätte jemand das Pendel einer Uhr angestoßen und nun geht sie wieder. Seit Felix´ Tod war ich nur noch für die Kinder da, dafür sie großzuziehen, für ihre Zukunft zu sorgen. Die Leere in mir ignorierte ich. Allmählich regt sich etwas Neues. Ich verspüre Durst. Und Hunger. Hunger nach Erlebnissen. Ich möchte etwas empfinden, will wieder spüren, dass ich lebe. Gestern musste ich plötzlich weinen. Ich habe seit damals nicht mehr geheult, plötzlich kam es über mich, wie eine Welle.

Äußerlich geht ihr Leben weiter wie immer. Kinder, Haushalt, Arbeit, ein wenig Lektüre am Abend, falls sie dafür nicht zu müde ist. Bis zu jenem Mittwoch im März, der die Weichen neu stellt.

Es klingelt in der Mittagszeit. Hannis geheiligte halbe Stunde, in der sie nicht gestört zu werden wünscht. Den Kindern ist ihre Siesta Gesetz, deshalb gehen sie öffnen. Ihre tappenden Schritte auf dem Flur lassen ihr einen kurzen Moment, um die Frisur in Ordnung zu bringen. Innerlich Missmut und Abwehr. Wer dringt ohne Anmeldung in ihre private Burg ein?

Währenddessen hört sie, wie sich ihre beiden Schwälbchen munter unterhalten. Mit wem? – Dann ahnt sie es. Natürlich, das muss der merkwürdige Freund sein, von dem ihre Töchter erzählten: Ein netter Herr mit Hut, der sie angesprochen habe, freundlich nach ihrem Namen und ihrer Adresse fragte und sogar eine Runde Himmel und Hölle mit ihnen gehüpft sei.

All das macht sie natürlich misstrauisch. Ein fremder Mann, der sich an ihre Mädchen heranpirscht. Sie hat Brigitte aufgetragen, ihn zu bitten, dass er mit ihr Kontakt aufnehmen solle – warum eigentlich? Im Grunde will sie nur, dass er die Kinder in Ruhe lässt, da hätte es ausgereicht, den beiden den Umgang mit ihm zu untersagen. Warum also? Sie weiß es nicht.

Auf dem Flur ist es dämmrig. Ihre Augen nehmen zunächst nichts als eine dunkle Gestalt vor der Türöffnung wahr. »Na, dann komme ich wohl besser ein anderes Mal wieder. Wir wollen doch die Mama nicht um ihre Mittagspause bringen,« hört sie eine sanfte, angenehme Männerstimme sagen. Fast flüstert er. Da geht sie mit schnellen Schritten zur Tür, ruft dabei: »Nicht nötig, ich komme!« Während Gitte und Renerle sich zu ihr umdrehen, tritt sie vollends ins Licht.

»Mama, das ist er, unser Freund, der Herr Klepper«, rufen sie. Mit einem Schlag ist der Bann gebrochen, er lacht, sie lacht, die Kinder strahlen über beide Backen. »Den Freund meiner Töchter muss ich wohl auch kennenlernen dürfen,« ruft sie aus, »treten sie näher, Herr Klepper. Nehmen sie einen Tee mit mir?«

Er ist nicht, was sie einen schönen Mann nennen würde. Aber er hat etwas, das sie auf den ersten Blick fesselt und anzieht. Sein schmales blasses Gesicht unter einer hohen Stirn, Geheimratsecken an den Schläfen. Die dunklen Haare trägt er nach hinten gekämmt.

Ich schätze, er ist jünger als ich, aber nicht all zu viel. Vielleicht Mitte dreißig. Und er hat etwas an sich, was mich berührt. Dieses eigentümliche Miteinander von großem Ernst im Blick und kindlichen Zügen um die Mundpartie. Zufällig arbeitet auch er beim schlesischen Radio. Merkwürdig, dass wir uns dort noch nie begegnet sind. Am rätselhaftesten sind seine Augen, dunkel und irgendwie traurig. Alles in allem eine geheimnisvolle Erscheinung, die mich umtreibt.

Am Ende sind es tatsächlich seine Augen, in die Hanni sich verliebt, und die ihr den Weg zu seinem Inneren bahnen. Aber von Verlieben ist ja noch nicht die Rede, jedenfalls, was sie angeht. Später, viel später, wird er ihr beichten, dass er es gleich wusste. Diese Frau und keine andere werde er heiraten.

Sie sitzen also beim Tee und plaudern, Belangloses zunächst. Er lobt die wohlerzogenen Töchter, bewundert den Sekretär aus Nussbaumholz, den ihr Gatte Felix ihr einst zum fünften Hochzeitstag schenkte. Der Gast zeigt Sinn für Schönheit, ein Umstand, der Hanni für ihn einnimmt. Auch, wie er sich kleidet, gefällt ihr: Anzug, Weste, Hemd und Krawatte, sogar ein Einstecktuch, farblich abgestimmt. Dazu an der linken Hand ein Siegelring. Nicht diese legere Mode mit Schillerkragen und Pluderhosen, die in der Studentenschaft um sich greift. Später schwenkt ihr Gespräch aufs Berufliche über. Er sei Jour