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Hans Weigel – wer erinnert sich nicht an die Ohrfeigen der Schauspielerin Käthe Dorsch oder an den „Brecht-Boykott“? Doch Hans Weigel war mehr: Er galt als die literarische Instanz Österreichs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Durch sein umfangreiches literarisches Werk, seine geschliffenen Molière-Übersetzungen, die deutschen Theatermaßstab setzten, ist er heute noch vielen bekannt – den Älteren auch als streitbarer Zeitzeuge mit unzähligen Beiträgen in Zeitungen, Zeitschriften, Radio und Fernsehen. Die neue, umfassende Biografie ist das erste Werk, das Leben und Wirken Hans Weigels in seiner Gänze – durchaus kritisch – beleuchtet und anlässlich des 25. Todestags des großen Österreich-Liebenden erscheint. Eine persönliche Einführung der bekannten Schauspielerin Elfriede Ott und ein Beitrag von Dr. Johann Hütterer, Nestroy-Kenner und Professor für Theaterwissenschaft, über Hans Weigel und Johann Nestroy bereichern das Buch um spannende Aspekte.
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Seitenzahl: 651
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Hans Weigel, gezeichnet von Elfriede Ott, 1987
Wolff A. Greinert
Hans Weilgel
»Ich war einmal …«
Eine Biografie
Mit einem Vorwort von Elfriede Ott und einem Beitrag von Prof.Dr.Johann Hüttner
Man ruft im Geist die Zukunft an:
Ihr seid die Richter unsres Tuns,
Blickt gut auf das, was wir getan,
Richtet uns gnädig, lernt an uns.
Hans Weigel
Am Abend einer Zeit
(Sechste, letzte Strophe)
Ja, es müsste etwas geschehen –
Und was geschieht?
Das einzige, was geschieht, ist,
dass man sagt, dass etwas geschehen sollte.
Aus dem Motto von Hans Weigels Artikelserie in Welt am Montag
Cover
Hans Weigel
Titel
Zitate
Elfriede Ott: Hans Weigel hat mir seine Gegenwart und Vergangenheit für meine Zukunft geschenkt
Erste Begegnungen mit Hans Weigel
Kindheit
Jugend
Lehrjahre in Hamburg, Berlin, Paris und Wien
Wiener Kleinkunst und Operette vor 1938
Im Exilland Schweiz
Johann Hüttner: Hans Weigel und Nestroy
Neubeginn
Als Geburtshelfer eines Romans
Der Mentor der österreichischen Nachkriegsliteraten
Im Dienste anderer
Jude oder Österreicher?
Der Kritiker – Verrisse und Hymnen
Die Affäre Dorsch und andere Verfahren
Die „Kalten Krieger“ des Kalten Krieges
Der sogenannte „Brecht-Boykott“ in Wien
Der Lebensmensch
Eine Erfolgsgeschichte: Weigels Molière-Übersetzungen
Eine gut funktionierende Ehe
Eine besondere Liebe
In unseren Gräbern leben wir
Dank
Lebensdaten im Überblick
Anmerkungen
Bibliografie
Personenregister
Bildnachweis
Impressum
Elfriede Ott
Es war schon lange mein Wunsch, dass eine objektive, umfassende Biografie über Hans Weigel geschrieben wird, denn er war nicht nur für mich alles: Literat, Prophet, Liebender des Theaters, der Musik, des Kabaretts, der Schauspieler, die gut waren, der jungen Literaten, des Fußballs, der Musik, der Komponisten und vor allem Österreichs. Er war übertrieben in Zuneigungen und Abneigungen, sehend mit schwachen Augen, als Theaterkritiker gefürchtet und anerkannt, liebevoll und streng. Von vielen abgelehnt und doch geachtet, mit offenen Armen und introvertiert, schweigsam und redegewandt, anbetend und ablehnend und vor allem großherzig. Er war – auch im Alter – so jung, immer aufmüpfig, frech und immer zeitgemäß, nie seiner Zeit hinterher.
Viktor Frankl, sein Freund seit den ersten Nachkriegsjahren, hatte durchaus recht, als er in einem Zeitungsinterview für ein Hans-Weigel-Porträt im April 1991 Hans mit den Worten charakterisierte: „Wann immer man etwas braucht, er ist da, für jeden seiner Freunde; tut, was er kann für seine Freunde. Er ist kein Opportunist und er traut sich etwas. Er hat Zivilcourage, nein, ich möchte sagen: Für mich ist er die Zivilcourage in Person.“
Und er war vor allem ein besonderer Mensch, der so vielfältig war in seinen Interessen, in seinen Einfällen, der so ernsthaft und so ungeheuer witzig war, ein Meister des Ad-hoc-Witzes (Aussprüche, in der Sekunde geboren, wurden zu Lach-Witzen), der literarisch so bewandert war und trotzdem jede Art von Unterhaltungsartistik bewundert und verstanden hat, der Mozart und Schubert in sich hatte und die Werger und den Fendrich gewertet hat und, und, und …
Wie kann einer, der das innere Erleben des Schauspielers nie selbst mitgemacht hat – wie kann der in seinem Buch Masken, Mimen und Mimosen die Seele des Schauspielers so aufblättern? Wie kann er wissen, was ewig gültig ist? Er hat extrem abgelehnt, aber auch extrem gejubelt, wenn ihm etwas gefallen hat. Aber ich glaube nicht, dass es unser Zueinander auch gegeben hätte, wenn er weiterhin Kritiken geschrieben hätte. Ich hätte das nicht ausgehalten. Dabei war er ein außergewöhnlicher, aber auch schwieriger Partner. Ich bin nicht in allen Dingen seiner Meinung gewesen, teilte durchaus nicht alle seine Ansichten: Wenn er zum Beispiel in aller Öffentlichkeit äußerte, was ihm in der heimischen Kulturlandschaft missfiel, hätte ich in einem Mauseloch verschwinden gemocht. Ein Beispiel von einigen: Bürgermeister Helmut Zilk lud viel Prominenz zu Hans Weigels 80. Geburtstag ins Rathaus ein. Am Ende seiner Geburtstagsrede zu dem neben ihm stehenden Jubilar: „Lieber Hans, wir freuen uns, dass wir dich ehren können, und zeigen dir jetzt, was für ein Geschenk wir für dich haben.“ Er drehte sich um, nahm ein großes Bild, drehte es nach vor: eine große Radierung des Burgtheaters von Luigi oder Robert Kasimir. Hans übernahm das Bild, bedankte sich, sagte nicht nur, welche Ehre das für ihn sei, sondern fügte noch hinzu, dass er diesem Bild in dem Moment einen Ehrenplatz geben würde, da Peymann nicht mehr Burgtheaterdirektor sein werde. Dass mir in diesem Augenblick das Herz stillstand, kann ich erwähnen, denn wenn der Hund aus dem eigenen Haus bellt und beißt, ist das nicht so angenehm.
Am nächsten Tag war für ihn eine Feier im Unterrichtsministerium. Ich flehte ihn an, Ähnliches wie am Vortag nicht mehr in der Öffentlichkeit zu sagen. Mich beruhigte er, aber in seiner Rede kam er darauf zurück: „Gestern habe ich etwas gesagt, das ich heute bestärken muss. Ich habe das Recht zu sagen: Wenn ein Burgtheaterdirektor nicht das Wort Chance sagt, sondern Schangse, dann gehört er zurück nach Bochum und hat hier nichts zu suchen!“ Konkret wehrte sich Weigel gegen die Beschimpfung und Verfolgung verdienter Schauspieler durch Peymann, dagegen, dass „der Burgtheaterdirektor negative Kritiken damit quittiert, dass er den Kritikern das Götzzitat schriftlich anschafft“. Danach ist Hans gleich zum Auto hinuntergelaufen, um zu hören, ob und was im Mittagsjournal darüber berichtet wurde. Strahlend – wie ein kleiner Giftzwerg – kam er zurück: Nicht nur in diesem Mittagsjournal, sondern jahrelang war Peymanns „Schangse“ ein geflügeltes Wort in den Medien, am Theater, in den Kabaretts. Niemand konnte ihn richtig einordnen: in seiner Liebe, seinem Zorn, seiner Zuneigung, seiner Ablehnung, seiner Zurückhaltung, seinen Beschimpfungen, seiner Großzügigkeit, seiner Härte, seinem Fleiß, seiner Schweigsamkeit, seinen offenen Armen, seiner Verschlossenheit, seinem Sarkasmus, seiner Hilfsbereitschaft, seinem Verstehen, seiner Wärme, seiner Kälte, seiner Unnachgiebigkeit, seiner Verlässlichkeit, seinem Wissen, seiner Kraft … Und das alles in zehnfacher Ausführung. Nicht normal verteilt, sondern von allem ein bisserl mehr. Und immer arbeitend. Nicht von früh bis abends, sondern von Anfang bis zur letzten Stunde.
Mir hat er auch beigebracht, dass das Leben ganz mit dem gefüllt sein muss, zu dem man bestimmt ist. Er hat mich geführt, geleitet, mir gesagt, was falsch und richtig ist. Durch das Zusammenstellen und Finden meiner Duett- und Soloprogramme hat er mir eine zusätzliche Dimension als Diseuse verliehen. Er hat mir viel mitgegeben, zum Beispiel Mut zum Entscheiden. Ich durfte durch Hans viele Persönlichkeiten kennenlernen, hatte Begegnungen mit großen Kolleginnen und Kollegen, die ich ihm zu verdanken hatte. Er wurde anerkannt und so öffneten sich Türen für mich. Ich weiß, dass er mich bewusst geführt hat, um mir Werte mitzugeben, um mir Erinnerungen zu schenken: Er hat mir die Anna Freud gezeigt und die Lotte Lehmann, ich durfte dem Erich Fried begegnen und der Christine Busta – seine Freunde wurden zu meinen. Es ergab sich eine enge Bindung zu Marlen Haushofer und zu Hermann Friedl. Mit Arthur Miller und Inge Morath habe ich Kaffee getrunken. Franz Nabl, Paula Grogger, Julian Schutting, Georg Kreisler, Paul Flora, Pavel Kohout, Gottfried von Einem, Paul Burkhard, von vielen Burki genannt, und Lotte Ingrisch zählten durch Hans auch zu meinem Bekannten- und Freundeskreis – und natürlich nicht zu vergessen Heimito von Doderer und Viktor Frankl. Gerhard Fritsch, Hertha Kräftner, Wolfgang Kraus, Herbert Zand, Jörg Mauthe und viele andere Autorinnen und Autoren kamen dazu. Wir waren, als zu ihm gehörig, bei den großen Abenden von Karl Böhm in Salzburg. Immer wieder das Alban Berg Quartett. Hans zeigte mir die Bachmann, die in seinem Leben der End-Vierzigerjahre eine große Rolle gespielt hat.
Elfriede Otts Lieblingsbild
Er hat mich zum Rilke-Stein in Sils Maria geführt, wir waren mit der geliebten Lilly Sauter am Grab von Georg Trakl. Ich habe mit Elias Canetti geplaudert, wir haben den Herbert Eisenreich besucht. Ich war einmal im Haus von Susi Nicoletti, wo zu Ehren der Knef eine Party veranstaltet wurde – eine so ausgefallen schöne Frau und ein reizender Mensch. Sie wusste, dass ich Chansons singe, und hat mich plötzlich aufgefordert, mit ihr zu kommen. Wir gingen in einen Raum, wo der große Tisch voll mit Noten war – sie sagte: „Nimm dir, was du willst, such dir was aus für deine Programme, ich schenk dir alles.“ Und das durch ihn! – Natürlich immer wieder sein Freund noch aus der Schweizer Emigration: Fritz Hochwälder. Dabei zeigte er eine ständige Präsenz für alle, die ihn brauchten, denn er war ein Mensch ohne Egoismus. Ob böse oder gut: immer für die Sache oder den Menschen seiner Überzeugung. Nie für sich.
Erwähnen muss ich seinen „fünfeinhalbten Sinn“, wie er es nannte. Dieser Über-Sinn war eine sehr starke prophetische Begabung. Sie spiegelt sich auch in seinen Romanen und frühen Texten. Dort kann man oft Stellen finden, die in der Zeit ihrer Entstehung grausam und allzu abwertend geklungen haben mussten. Aber heute weiß man: Er hatte recht, als hätte er es gerochen, vieles ist so eingetreten, wie er es geschrieben hat. So konnte man sich auch auf seine Voraussagen verlassen, die mit Bestimmtheit vorgetragen wurden. Seine Prognosen, Entwicklungen betreffend, waren stets sicher.
Ich könnte lange fortsetzen mit den Bereicherungen meines Lebens, die ich durch Hans erfahren habe. Er hat mir seine Gegenwart und seine Vergangenheit für meine Zukunft geschenkt. Solange er lebte, konnte ich mir ein weiteres Leben ohne ihn nicht vorstellen, denn ich wusste nicht, dass es möglich ist, an einen Menschen so gebunden zu sein. Dabei konnte er selbst glücklich sein. Aber nicht über Dinge, die andere Menschen glücklich machen. Immer nur über Momente, in denen anderen, die ihm wichtig waren, etwas geglückt war.
Jeder Mensch hat Schattenseiten, auch er! Zum Beispiel seine Strenge, die Unpünktlichkeitsneurose, die durch nichts zu beeinflussen war. Verzweifelte Besucher mussten umdrehen und weggehen, ohne mit ihm gesprochen zu haben, weil sie die vereinbarte Zeit nicht genau eingehalten hatten oder nicht einhalten konnten. Zum Beispiel kam ein Chefredakteur einer bekannten deutschen Zeitung aus Hamburg extra zu einem Interview nach Maria Enzersdorf. Er kam verspätet, weil das Flugzeug Verspätung hatte. Hans ließ ihn nicht ins Haus. Wie ungerecht in vielen Fällen, wie hart. Fast wie eine Krankheit. Grundlose Härte. Gekränkte Menschen. Unnachgiebige Strenge. Während einem seiner Vorträge hustete eine Frau ständig. Er hat sie hinausgeschmissen! Im Alter milderte sich das dann. Auch habe ich nie verstanden, wenn er etwas behauptete, ohne seine Gründe dafür anzugeben, ohne aufzuklären. Kämpfe standen wir deswegen aus. Bewusst wollte er provozieren. Er behauptete Dinge, stellte sie in den Raum, ohne den Beweis dafür anzutreten, ohne das Warum zu erklären, aus welchem Grund er diese oder jene Ansicht vertrat.
Er besaß einen prophylaktischen Hass auf Apparate. Er erwartete sozusagen die Funktionsuntüchtigkeit von Aufnahmegeräten der Interviewer; er bebte schon im Vorhinein vor Wut auf ein sicher nicht funktionierendes Mikrofon. Sein Zorn übertrug sich auf alle armen Leute, die die Anlagen bedienten. Dieser Zustand wurde immer ärger. Dieser Zustand wurde zu einer Mikro-Neurose. Das ging so weit, dass er mitten in einem Vortrag das Auditorium sitzen ließ und fortging, weil ständig einer gekommen war, das Mikrofon zu richten. Er fühlte sich gestört, konnte das nicht ertragen. Er war „fehlersüchtig“, weil falsche Sachen immer weiter falsch weitergegeben und zitiert werden, weil Fehler sich vervielfachen.
Er wurde seiner Ansichten wegen oft beschimpft; jeder andere an seiner Stelle hätte sich dagegen verwahrt, er ist lächelnd dort gesessen und ließ alles über sich ergehen. Ich hätte es so nicht ertragen können. Er hat sich aber auch über Kritik lustig gemacht. Ich habe ihn nur lächelnd erlebt, wenn irgendetwas war. Er hat sich durch das Leben gelächelt. Dabei war er konsequent in seinen Urteilen – und in seinen Sympathien.
Seine Großzügigkeit erwähnte ich schon. Ein besonderes Beispiel: Nach der Öffnung der tschechischen Grenze kam ein Strom von Tschechen mit ihren alten Autos nach Wien. Er war glücklich, weinte fast, verehrte er doch Václav Havel sehr. Es war am Donaukanal: eine Schlange dieser alten tschechischen Vehikel. Ich sollte beim Überholen langsamer fahren. Er winkte, klopfte an die Scheibe. Ein Tscheche kurbelte seine Scheibe hinunter; er nahm einen Tausender aus seiner Brieftasche und hat ihn ihm gegeben. – Ich hatte an diesem Tag Unterricht, wir hatten uns danach verabredet. Er kam und kam nicht. Spät war er dann doch da; er war auf der Kärntner Straße gewesen, hatte sich eine Frau ausgesucht, eine ärmlich aussehende Tschechin, ging mit ihr in ein Schuhgeschäft, kaufte ihr ein Paar Schuhe. Ich hoffe, sie haben ihr gepasst, denn er erzählte, dass sie sich genierte, in dem teuren Geschäft Schuhe zu probieren.
Auch von seinem Fleiß war schon die Rede. Sein ganzes Leben hat er in seiner Schriftstellerwerkstatt gearbeitet; er zählte zu den ganz großen Handwerkern. Viel hat er geschrieben, sehr, sehr viel. Er war doch auf allen Gebieten so beschlagen, hat zu so vielem in seiner Zeit Stellung bezogen. Im Laufe der Jahre nach seinem Tod ist es still um ihn, um seine Schriften geworden. Oft habe ich mir gedacht, es könnte aus dem Werk Hans Weigels etwas entstehen. Nichts ist bisher entstanden. So hege ich bei dieser Biografie den Wunsch, dass doch noch etwas entsteht, dass einiges aus seinem vielschichtigen Werk, seinen Ideen, seinen Aussagen, seinen Bemühungen, seinen Ansichten, seinen Grundsätzen auferstehen möge.
Maria Enzersdorf, im Mai 2015
Wie das von Elke Vujica herausgegebene Styria-Buch mit Erinnerungen an Hans Weigel, Im Dialog mit Hans Weigel, seinen Weg in unseren Bücherschrank fand, kann ich nur deshalb sagen, weil ich darin ein Glückwunschbillett zu meinem 60. Geburtstag, unterzeichnet von Hanni und Hans Hagen, fand. Seit 2004 stand es jahrelang ungelesen neben einigen Taschenbüchern von Hans Weigel, die ich schon viel früher erstanden hatte. 1998 zu Weigels 90. Geburtstag und sieben Jahre nach seinem Tod erschienen, hatte ich es damals nicht gekauft, obwohl es mich als Weigel-Anhänger interessiert hätte. Und eben dieser Hans Hagen war es, durch den ich Hans Weigel noch zu Lebzeiten kennengelernt hatte.
Ganz im Nebel meiner Erinnerung liegen Hans Weigels Theaterkritiken im Bild-Telegraf. Im Haushalt eines Auslandsjournalisten hatten wir jeden Morgen in den Fünfziger- und Sechzigerjahren alle Wiener Zeitungen im Haus, so auch die Boulevardblätter Bild-Telegraf und Express. Als Student der Theaterwissenschaft habe ich beim Frühstück alle Feuilletonseiten der Tageszeitungen regelrecht studiert, so auch die Kulturseite des Bild-Telegraf. An Spezielles von Hans Weigel kann ich mich nicht erinnern, es ist alles schon mehr als vierzig Jahre her. Nur ganz dunkel ist in meiner Erinnerung hängen geblieben: Seine Artikel waren pointiert, oft scharf und gelegentlich sehr subjektiv, seine Glossen In den Wind gesprochen waren aktuell und trafen oft den Nagel auf den Kopf.
Wir Theaterwissenschaftler besuchten damals alle wichtigen Wiener Generalproben und am Stehplatz die Premieren im Theater in der Josefstadt. Meine Kollegin Renate Wagner mit der hinreißenden Radiostimme wurde wenige Jahre später in Hans Weigels Bannkreis gezogen. Im Weigel-Erinnerungsbuch hält sie fest: „[…] ich schien ein Geschöpf, über das Hans Weigel gewillt war, seine schützende und auch fördernde Hand zu halten, ohne dass ich ihn je darum bitten musste. […] Dass er mich gefördert hat, fand ich deshalb so besonders ehrenvoll, weil ich schließlich nicht – wie viele andere seiner ‚Kinder‘ – eine Dichterin, sondern nur eine Journalistin war, wenn auch mit dem Anspruch, solide und dabei lesbare Sachbücher zu schreiben. Und dabei hat er mich nach Leibeskräften unterstützt. Er war, man kann’s nicht anders sagen, Mentor aus Leidenschaft.“1 Es war das Theater in der Josefstadt, in dem ich Aufführungen der geschliffenen, musikalisch klingenden Molière-Übersetzungen von Die Schule der Frauen und des Menschenfeind von Hans Weigel in deutschen Alexandrinern als Student Mitte der Sechzigerjahre zum ersten und leider einzigen Mal hörte und sah.
Das sind die wenigen vagen Erinnerungen aus meiner Studentenzeit, in der der Weigel, geohrfeigt von der durch eine seiner Kritiken erzürnten Burgschauspielerin Käthe Dorsch – auch das war uns Studenten der hohen Kunst des Theaters natürlich bekannt –, weit entfernt und unnahbar erschien.
Es mussten erst Jahre, nein Jahrzehnte vergehen, bis ich ihm, dem überall bekannten Hans Weigel, gegenüberstand. Ich war dem Theater abtrünnig geworden und erb- und familienbedingt in der Papierindustrie gelandet. Einer meiner Freunde, der als Leiter des niederösterreichischen Heimatwerks im Bezirk Scheibbs weithin bekannte Hans Hagen Hottenroth, war damals Direktor der Volksschule in Reinsberg bei Scheibbs und wollte in unserem niederösterreichischen Städtchen literarisch-musikalische Abende organisieren, fand aber dafür keinen passenden Saal mit Atmosphäre.
Eines Abends, bei einem guten Glas Wein, klagte er mir sein Leid. Wir hatten in dem zu dieser Zeit uns gehörenden Schloss Neubruck mehr als einen Saal, der für derartige Veranstaltungen geeignet war, und wir wählten den ebenerdigen sogenannten Speisesaal aus. Er war wunderschön an Decke und Wänden getäfelt, mit echten, die Arbeiten in den Jahreszeiten zeigenden Kachelbildern und einem großen offenen Kamin. Mit wenigen anderen zusammen gründeten wir den vom niederösterreichischen Heimatwerk geförderten Verein Literatur am Kamin. Den Saal rüsteten wir mit viel Liebe, einem Podium, Lichtspots auf den Lesetisch mit alter Leselampe – sie steht heute noch auf meinem Wiener Schreibtisch – und zu dimmendem Saallicht aus.
Hans Hagen Hottenroth lud 1983 Hans Weigel zu einer Lesung ein. Wir hatten schon davor eine illustre Runde von Vortragenden: Von 1980 bis 1982 versprühten unter anderem Reinhard P. Gruber, Humbert Fink, Julian Schutting, Barbara Frischmuth, Alois Brandstetter, Hans Krendlesberger und Andreas Okopenko ihren hohen Geist in unseren getäfelten Wänden. Jörg Demus hatte sein fingerfertiges Klavierspiel wiederholt bei uns unter Beweis gestellt – und nun sollte Hans Weigel, der große, alte Herr, das Literaturjahr 1983 bei uns anlässlich des Erscheinens seines neuen Buches Das Schwarze sind die Buchstaben eröffnen.
Es war ein besonderer Abend. Als Honorar hatte Hans Weigel sich – und als Einziger unter all den Vortragenden – etwas Besonderes ausbedungen: Zu unserer Verwunderung nichts weiter als eine Schale Kaffee mit einer Buttersemmel und für die junge Dame, die ihn chauffierte, ein paar Blümchen. Dies war für unseren kleinen Verein eine besondere Großzügigkeit, hatte doch Hans Weigel ein Jahr davor für eine Lesung von der Gemeinde Neusiedl 5.000 Schilling erhalten.
Schon eine halbe Stunde vor Lesungsbeginn brachte ihn an einem feuchten, kalten Februarabend die damals noch unbekannte Autorin Marianne Gruber in einem eher wackeligen Gefährt die über hundert Kilometer aus Maria Enzersdorf in unser Nest Neubruck. Jeder, der ihn kannte, sieht ihn vor sich: heller Rollkragenpulli mit dunkler Brille und einer zweiten auf der Stirn, die vom Zahn der Zeit und seinen vielen Auftritten abgeschabte lederne Schultasche – nicht wie sonst so oft dick gebauscht, sondern eher spärlich mit einigen losen Manuskriptseiten, zwei, drei seiner Bücher und seinen unbedingt notwendigen zusätzlichen Brillen gefüllt. Er lehnte es ab, in unserer Wohnung auf den Lesebeginn zu warten, sondern zog sich bescheiden in mein damaliges Büro zurück.
Ich brachte ihm sein Honorar: das Schalerl Kaffee mit der Buttersemmel. Es tat beiden gut, sich bei uns erst einmal aufzuwärmen. Auch waren sie erfreut über das rege Interesse der kulturbeflissenen Scheibbser. Hans Weigel gefiel es, dass unsere Buchhändlerin Christa Radinger den Büchertisch nicht nur mit teuren Hardcoverbüchern, sondern auch vielen preiswerten Taschenbüchern bestückt hatte. In seinem Manuskript aus dem Nachlass, Über den Umgang von Autoren mit Buchhändlern und umgekehrt, äußerte sich Hans Weigel zum Büchertisch: „Da lass’ ich ihnen [den Buchhändlern] vorher sagen, sie mögen, bitte, von meinen Büchern auch preiswerte Taschenbücher anbieten. Wenn ich das nicht sagen lasse, liegen auf dem Büchertisch nur wenige oder keine preiswerten Bücher. Da ärgere ich mich. Und nehme mir vor, beim nächsten Mal ausdrücklich auf die von mir erhältlichen preiswerten Bücher hinzuweisen. Einmal hab’ ich das getan, doch die Buchhandlung kam meiner Bitte nicht nach. Da warf ich die Buchhandlung hinaus. Brutal? Ich hab’ dem Auditorium erklärt, und sie haben’s verstanden.“2
So konnte er sein, der Hans Weigel, genauso wie er einmal zu einer Lesung extra nach Graz gefahren ist. Im Schaufenster der Buchhandlung war die Lesung groß angekündigt, doch stand da: „Hans Weigl“ (ohne „e“). Er las es, sagte sich, das bin ja nicht ich, drehte um und führ zurück nach Wien, ohne die Lesung gehalten zu haben.
Überrascht war er, dass an die hundert Zuhörer nach Neubruck gekommen waren. Das hatten Weigel und seine Chauffeuse dort hinter den Bergen in den Voralpen nahe dem Ötscher nicht erwartet. Es war meine Aufgabe als Hausherr, den Gast in kurzen Worten anzukündigen und offiziell zu begrüßen.
Wir hatten mit unserem populären Vortragenden eine Pause vereinbart, bis zu der er wie alle anderen auch wirklich vorlas. Das schien ihm an diesem Abend wahrscheinlich wegen seiner Sehschwierigkeiten nicht recht zu behagen. Für ihn war die Pause mit dem Signieren seiner Bücher gefüllt. Danach las er nur einen kurzen Text gegen Wagner und die Wagnerianer und forderte alle zu einem Gespräch heraus. Es kam nur stockend zustande. Nach ersten zaghaften Fragen und ausführlichen Antworten Weigels wurde der Dialog angeregter, und als einige Opernfreunde und Wagneranhänger ihre Verteidigungsposition ergriffen, entwickelte sich das Gespräch zur ausführlichen Diskussion, die sich über zwei Stunden hinzog.
Für uns Veranstalter war es ein überaus gelungener Abend. Ich glaube auch für Hans Weigel, denn in unser Gästebuch schrieb er: „,Come in!‘ sagt der Kamin! Und er weiss, wovon er knistert! Sehr dankbar: Hans Weigel.“
Hans Weigel bei seiner Lesung in Neubruck
Hans Hagen Hottenroth berichtete in unserer Lokalzeitung, dem Erlauftalboten, den es heute nicht mehr gibt, am 22. Februar 1983 von diesem Abend unter dem Titel Begegnung mit Hans Weigel: „Freitag, den 18. Februar las Hans Weigel in Neubruck aus eigenen Werken. [… Er] begann plaudernd, […] las dann aus seinem jüngsten, noch gar nicht im Handel erschienenen und nur für die Buchhandlung Radinger in ersten Exemplaren ausgelieferten Werk Das Schwarze sinddie Buchstaben: über das Werden eines Buches, die Ängste und Nöte eines Autors, des Verlegers, des Herstellers […] Nach der Pause eine Plauderei Publikum – Autor: ‚Warum mögen Sie Wagner nicht?‘, ‚Wann und wo schreiben Sie?‘, ‚Welche jungen Autoren halten Sie für gut?‘, ,Was halten Sie von …?‘
‚Gibt es, Gott soll es verhüten, noch eine Frage?‘ beendete Hans Weigel das erste (!) wirklich gelungene Publikumsgespräch in Neubruck und las noch Satirisches und Feuilletons, dankbar und anhaltend akklamiert. Wieder einmal bewährte sich die persönliche Begegnung, überzeugte die persönliche Ausstrahlung und wurde eine Brücke Leser – Autor geschlagen.“
Und noch einmal sollte ich drei Jahre später mit der Literatur-Instanz Weigel zusammentreffen: In ehrlicher Bewunderung für meinen Dozenten der Theaterkritik an der Wiener Universität wollte ich 1986 gesammelte und ausgewählte Theaterkritiken, Feuilletons und Artikel von Piero Rismondo herausbringen. Schon bei der Konzeption des Buches erhoffte ich mir ein paar Zeilen eines Vorwortes von Hans Weigel, waren doch der etwas jüngere Hans Weigel und Piero Rismondo im Geiste verwandt: beide Liebende des Theaters und seiner Akteure, der eine oft offen polemisch, nach eigenen Worten seiner Natur nach radikaler, oppositioneller, der andere immer „darüber“-stehend, seine Polemik zwischen den Zeilen versteckend. Was also lag näher, als den durch seinen Auftritt in Neubruck mir bekannten Hans Weigel um das Vorwort zu bitten.
Ich schrieb ihm von meinem Vorhaben und bat ihn darum. Seine Zusage vom 26. September 1985 befindet sich noch heute als wohlgehüteter Schatz in meinen Unterlagen und beginnt: „[…] ich trau’ mich nicht zu sagen ‚Ich bin glücklich‘, aber ich freue mich sehr, dass die Chance besteht, Piero Rismondo zu Buch zu bringen […]“ Und endet: „Hoffentlich haben Sie Erfolg mit Ihren dankenswerten Bemühungen. Wenn ja, will ich – es wird mir eine Ehre sein – gern das Vorwort schreiben, das Sie mir vorschlagen […]“
In seinem Buch Nach wie vor Wörter hielt Weigel in der Einleitung einen scherzhaften Ausspruch fest: „Die Autorin-Komponistin-Sängerin-Pianistin [und Freundin des Ehepaares Elfriede Ott/Hans Weigel] Lore Krainer hat in einer Conférence neulich gesagt: ,Jetzt hab ich mir wieder ein schönes Buch gekauft, ein schweres Buch, aber schön: die Bibel. Sehr schön, trotzdem war ich ein bisserl enttäuscht: Weder am Anfang noch am Schluß ein Vorwort von Hans Weigel!‘“3 Denn dieser war bekannt für seine vielen Vor- und Nachworte. Ironisch bezeichnete er sie als äußeres Zeichen des Älterwerdens, betonte aber: „Angeboten hab’ ich mich, bitte, nie. Immer wurde ich gefragt beziehungsweise [so wie von mir] gebeten.“4
Der Böhlau Verlag hatte für mein Buch 1986 schon eine Förderzusage der Stadt Wien und ich – Monate nach Weigels Vorwort-Zusage – zwei prall gefüllte Ordner mit eingeklebten Kopien von über sechshundert Zeitungsausschnitten sowie die Niederschrift des sechzigseitigen Werkstattgespräches, das ich an mehreren Samstagnachmittagen mit meinem unvergleichlichen Lehrmeister geführt hatte. Ich durfte Hans Weigel die Ordner in die Barmhartstalstraße 55 nach Maria Enzersdorf bringen. Weigel nahm das Manuskript an der Haustüre erfreut entgegen und versprach, sich in Kürze zu melden. Schon nach wenigen Tagen erhielt ich einen Brief von ihm, einen Einzeiler: „[…] anbei mein Vorwort. Hoffentlich ist’s recht. Das Manuskript folgt demnächst. Herzliche Grüße […]“
Das, was Weigel im Vorwort über Rismondo schrieb, trifft auf ihn selbst zu: „Was er gesagt und geschrieben hat, ist von grossem spezifischen Gewicht, vorbildlich, das darf man mit gutem Gewissen sagen.“ Denn er schätzte Piero Rismondo, der 1979 von Bürgermeister Helmut Zilk mit dem Goldenen Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Wien ausgezeichnet wurde und 1987 von Unterrichtsministerin Hilde Hawlicek den Österreichischen Staatspreis für literarische Übersetzungen (vor allem von Italo Svevo und Alberto Moravia) erhielt. Die Laudatio dazu hielt – „aus voller Überzeugung“, wie er in seinem Abendbuch vermerkte – Hans Weigel. Denn „Laudator und Vorwortler [waren] mein Altersbrot“5, wie er ebenfalls darin festhielt.
Stolz war, nein bin ich auch heute noch auf dieses Vorwort. Dass der Vielbeschäftigte sich sogar wirklich mit dem Manuskript beschäftigt hatte, zeigten mir zwei Namensausbesserungen, die er auf den Seiten 11 und 41 anmerkte.
Durch den Ausgleich des Böhlau Verlages 1986 erschien mein Rismondo-Buch erst 1999 – nach dem Tod der beiden großartigen Kritiker und Literaten – bei einem anderen Verlag, aber mit Weigels Vorwort. Es macht mich heute traurig, dass ich mein erstes Buch weder dem einen noch dem anderen persönlich überreichen konnte. Beide hätten sich darüber sicher gefreut!
Als Laudator bei der Verleihung des Österreichischen Staatspreises für literarische Übersetzungen an Piero Rismondo, der zwischen Unterrichtsministerin Hilde Hawlicek und seiner Schwiegertochter sitzt.
Jahre später, ich hatte schon drei Schauspielerbiografien veröffentlicht und immer wieder Weigel-Kritiken zitiert, schloss sich der Kreis: Sein früherer Verleger Gerhard Trenkler äußerte in seiner Erinnerung an Hans Weigel in Im Dialog mit Hans Weigel den bis dahin unerfüllten Wunsch nach einer Hans-Weigel-Biografie, dem auch Elfriede Ott nachhing. Es war Renate Wagner, die mich 2011 der Ott vorstellte und sagte: „Der kann’s machen!“ Ihre Antwort: „Wenn du ihn vorschlägst, dir kann ich vertrauen!“ Und so begann ich im Herbst 2011 mit den Vorarbeiten zu dieser Biografie.
Oberpiesting, im Mai 2015
Die Hoffnung vieler Wiener Juden, durch Assimilation Integration zu erreichen, war in der jüdischen Mittelschicht Wiens am Beginn des vorigen Jahrhunderts weit verbreitet. Geradezu exemplarisch zeigte sich diese – wie sich leidvoll herausgestellt hat – Illusion bei Hans Weigels Eltern. Sein Vater Eduard, ältestes Kind von Lazar Weigl und seiner Frau Babette, 1874 in Markt Eisenstein, einem kleinen böhmischen Ort nahe der bayrischen Grenze, geboren, kam schon in den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts in die Residenzstadt der Monarchie.
In Eisenstein, dem heutigen Zeležná Ruda, lebten nur zwei jüdische Familien, die als Kaufleute ihr Fortkommen hatten. Lazar Weigl, sein Sohn Eduard fügte erst in den 1920er-Jahren in Wien das „e“ in den Namen „Weigl“ ein, besaß nicht nur eine Gemischtwarenhandlung, „den Laden“, wie er genannt wurde, sondern auch Felder und Wiesen und führte eine kleine Milchwirtschaft. Er lebte streng nach den jüdischen Gebräuchen: „[…] in seinem Haus wurde koscher gekocht, Geschirr und Besteck für Fleisch und ‚Milchiges‘ getrennt – es wurde kein Schweinefleisch zubereitet.“1
Dieser Großvater Lazar, Ludwig, „war ein verständiger, recht kluger Mann, der auch Humor hatte. […] Ich hatte ihn sehr gern, er war stolz auf mich, wie auf seinen Sohn Eduard, der es in Wien weit gebracht hatte“2, als Handelsakademiker bei der Glasfabrik Stölzle, bei der er seine berufliche Laufbahn begonnen hatte und bei der er zuerst als Prokurist und dann als Direktor Karriere machte. So schrieb Hans Weigel in seiner 2008 posthum von seiner Lektorin Elke Vujica herausgegebenen Autobiografie In die weite Welt hinein, in der er sein Leben von 1908 bis 1938 behandelte.
Eduard hatte drei jüngere Schwestern: die Älteste, Franziska, genannt Fanni, hatte fünf Kinder: Ernst, Otto, Klara, Emma und Hedwig. Hans Weigel war in den Ferien seiner Volksschulzeit gerne bei ihnen in Chotieschau (Chotěšov). Die Mittlere lebte mit ihrem Mann Robert Abeles und ihrer Tochter Irma in Karlsbad (Karlovy Vary), während Regine, die Jüngste, mit ihrem Mann Emil Siller in Eisenstein blieb, zwei Töchter, Roselle und Mitzi, hatte und mit ihrem Mann das Geschäft von Lazar Weigl übernahm.
Der Großvater von Hans Weigel mütterlicherseits, Julius Fekete, war Kaufmann aus dem ungarischen Gyon, heute Dabas, und kam mit seiner Frau Katarina, geborene Boskowitz, schon vor der Jahrhundertwende nach Wien. Sie wohnten in Margareten, dem 5. Wiener Gemeindebezirk, und führten in der nahe gelegenen Schönbrunner Straße 31 das „Zentralversandhaus Julius Fekete“, einen Gemischtwarenhandel. Sie waren typische Vertreter des liberalen jüdischen Bildungsbürgertums, hatten drei Söhne und zwei Töchter.
Hugo übernahm als Ältester, der Not gehorchend, das Zentralversandhaus, da sein Vater 1903 mit nicht einmal fünfzig Jahren verstorben war. „Onkel Hugo musste das Geschäft führen, und das war wohl tragisch, denn er war sehr musikalisch, spielte großartig Klavier, war charmant und witzig und hatte gewiß ein unerfülltes Leben. Er mochte mich sehr gern, manchmal saß ich neben ihm, wenn er am Klavier improvisierte.“3 Albert, der mittlere der drei Söhne, lebte als Ingenieur bei den Saurer-Werken in Arbon am Bodensee in der Schweiz. „Der dritte Bruder war Onkel Theo, klein und rundlich, er spielte Geige und war angestellt bei der Filmfirma Projektograph. Er schwärmte von der neuartigen Erfindung und prophezeite ihr eine große Zukunft – und wurde in der Familie nur belächelt.“4 Nach ihm wurden die beiden Mädchen Regine, die spätere Mutter von Hans Weigel, und Lilly geboren, die Leopold Kandler heiratete, deren Tochter Alice später mit Henry Steiner verheiratet war und mit ihm eine Tochter, Lillian, hatte.
Die Kinder des Ehepaars Fekete wurden von französischen Kindermädchen großgezogen und sprachen fließend Französisch. Schon mit siebzehn Jahren heiratete Regine am 13. September 1903 Eduard Weigel, bekam einige Jahre vor Sohn Hans Tochter Alice, die wenige Tage nach der Geburt verstarb. Am 29. Mai 1908 kam Hans Weigel im Haus Franzensgasse 11 in WienV. zur Welt. „Ich bekam den Namen Julius Hans, denn es war Usus in der mosaischen Religionsgemeinschaft, Kinder nach ihren Großeltern zu benennen, wenn diese nicht mehr am Leben waren. […] Helfer bei meinem Eintritt in die Welt war Dr.Theodor Stern, praktischer Arzt, ein kluger, gebildeter Mann und der engste Freund der Familie, mit besonderem Interesse für Philosophie und für humoristische Literatur.“5
Hans Weigels Kindheitserinnerungen reichten weit zurück, an eine Sommerfrische in Rodaun, wohin der Vater und sein Onkel Leo Kandler nach der Arbeit mit der Elektrischen kamen, oder an den Geburtstag des alten Kaiser Franz Joseph, den 18. August 1913: Beim abendlichen Fackelzug sang der Fünfjährige mit einer schwarzgelben Fahne in der Hand das Kaiserlied mit. Auch berichtete er von zwei Aufenthalten „in Grado (Italien), weil man glaubte, der Sand dort sei heilkräftig und gut für meine Gesundheit“.6
Als Sechsjähriger, bei einem Ausflug zum „Roten Stadl“ in Kaltenleutgeben, erfuhr seine Mutter von der Ermordung des Thronfolgers in Sarajevo am 28. Juni 1914. „[…] aber noch konnte ich mit der Politik nicht mit. Und dann der 1. August 1914 in unserer Sommerwohnung in der Schreckgasse in Rodaun. Mein Vater, Onkel Hugo und Onkel Theo mit Tornister. Sie nahmen Abschied. Ob meine Großmutter dabei war, ist mir nicht erinnerlich. Sie umarmen meine Mutter und Tante Lilly. Ich musste denken: das Sterbebussi. Soviel verstand ich. Aber noch lange nicht mehr.“7
In seiner Autobiografie beschrieb Hans Weigel seine Erinnerungen an den Kriegsbeginn, als es schon im August 1914 hieß: „Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Franzos, jeder Tritt ein Brit’.“ Später, 1983, sollte sich Weigel mit der Rolle der deutschen Schriftsteller zu Kriegsbeginn und ihrer Kriegshetze auseinandersetzen, mit Beispielen akribisch belegt in der im Christian Brandstätter Verlag herausgegebenen Dokumentation der literarischen und grafischen Kriegspropaganda Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Franzos: Dabei hat er „in einem längeren Beitrag, der dem Buch vorangestellt ist, die Horror-Exzesse der Dichter und Denker Österreich-Ungarns und des Deutschen Reiches dem Verschweigen entrissen“, wie es im Klappentext zu diesem Buch heißt, „bekannte, ja illustre Namen (Thomas Mann, Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke etc., etc.) haben sich in diese Literaturgeschichte wider den Frieden eingetragen, manche nur am Anfang, manche aber bis zum bitteren Ende. Weigel dokumentiert aber auch die wenigen Verweigerer, wie Hermann Hesse (‚O Freunde, nicht diese Töne!‘) oder Karl Kraus, der schon 1914 bemerkt hatte: ‚Die freiwillige Kriegsdienstleistung der Dichter ist ihr Eintritt in den Journalismus […] mit Anspruch auf eine Dekoration in der vordersten Front und hinter ihnen kämpft der losgelassene Dilettantismus.‘“8
Als Sieben- oder Achtjähriger, also schon in den ersten Kriegsjahren, besuchte Hans mit der Mutter seinen Onkel Albert in der Schweiz: „[…] es war meine erste bewusst erlebte Reise.“9 Er hob den familiären Zusammenhang hervor, wenn er schrieb: „Auffallend, aber für mich damals selbstverständlich, war – ist – der ungeheure familiäre Zusammenschluß, die selbstverständliche Verbindung […], als wären wir eine Minderheit; und eine solche waren wir nicht. Wir alle waren kaum religiös. Unser Jüdischsein war um uns herum nicht umstritten, nicht einmal äußerlich bemerkbar. Meine Mutter war besonders beliebt, sie sprach wienerisch, sie verstand sich auf den Umgang mit Lieferanten. Es gibt, denke ich, diesen Familiensinn vor allem bei mosaischen Familien, sie halten zusammen ohne aggressive Spitze gegen andere, einfach aus dem, Clan‘-Geist. […] Ob meine Eltern eine gute Ehe führten, weiß ich nicht. Eher ja. Weil ich ein frecher Fratz war, antwortete ich einmal als ganz junger Fünf- bis Sechsjähriger auf die blöde Standardfrage ‚Wen hast du lieber, den Vater oder die Mutter?‘: ‚An Wochentagen die Mutter, an Sonntagen den Vater.‘ – Beide liebten mich, waren stolz auf mich. – Als ich sechs Jahre alt war, verließ er uns, ich habe ihn dann sechs Jahre lang nicht mehr gesehen.“10
Als die Männer der Wiener Familien Fekete/Weigel in den Krieg gezogen waren, übersiedelte Regine Weigel mit ihrem Sohn zu ihrer Mutter Katarina – als „eine kluge, temperamentvolle Frau“ bezeichnete Hans Weigel, der sich im sogenannten Herrenzimmer breitmachen durfte, seine Großmutter später. „In diesem Zimmer befand sich auch ein Bücherkasten. Oft wachte ich sehr früh auf, holte mir ein Buch [im Alter von sechs bis acht], ging mit dem Buch und einer Lampe unter die Decke und las.“11
Der Volksschüler mit seiner Mutter
Er durfte alles lesen, was er sich aussuchte, denn seine Mutter „war ungeheuer fortschrittlich, und ich kann mir nicht erklären, woher das kam. […] Als mein Eintritt in die Volksschule bevorstand, begann meine Mutter sich verschiedene Schulen anzusehen [wollte jedoch keine von der ,guten Gesellschaft‘ frequentierte Privatschule wie die ,Mendel-Schule‘]. Endlich fand sie eine Schule nach ihren Wünschen, die war in der Albertgasse 23, weit, weit von unserer Gegend entfernt. Der Schulweg mit der guten alten Straßenbahnlinie 13 erforderte etwa eine halbe Stunde. Eine Hausgehilfin brachte mich hin, meine Mutter holte mich meist ab. […] Diese Schule war ganz besonders erfreulich, sie war ein ,Musterschulhaus‘ des Vereins Freie Schule, ein Verein im Rahmen der Sozialdemokratischen Partei mit entsprechend fortschrittlichen Lehrern und Lehrerinnen, einem gescheiteren Lehrplan“12 sowie „modernen Methoden: Knaben und Mädchen in einer Klasse [und das 1914!], beim Religionsunterricht sass ein Lehrer einer anderen Konfession mit dabei, auch gab es den obligaten Französisch-Unterricht“.13
Für den Sohn war seine Mutter von größerer Bedeutung als der Vater, alleine schon durch dessen Kriegsgefangenschaft, durch die Vater und Sohn das Aufwachsen des Jungen nicht gemeinsam erleben konnten. Seine Mutter war für ihn perfekt, modern, witzig, erzog ihn zur Selbstständigkeit, bei ihr durfte er schon sehr früh alles lesen, was er wollte. Sie führte ihn in Konzerte, wodurch für ihn sein Leben lang Musik vorrangig gegenüber dem Theater und der Literatur wurde.
Seinen Vater beschrieb Hans Weigel als gütig, liebevoll. Er bemühte sich vor allem nach seiner Kriegsgefangenschaft um ihn, doch war es dann nach 1920 zu spät, eine wirklich gute Beziehung zwischen Sohn und Vater aufzubauen. In den Augen des Sohnes galt der Vater als erstaunlich gebildet und ambitioniert, aber auch schwermütig und ernst, er sprach Französisch und Englisch. Obwohl er die eigentliche Karriere seines Sohnes nach 1951 nicht mehr miterlebte, war er zeitlebens sehr stolz auf ihn.
Mit Kriegsbeginn begann eine rege Korrespondenz der Männer an der Front mit den Daheimgebliebenen. Wenn auch nicht alle, so sind doch sehr viele Briefe erhalten, die Veronika Silberbauer in ihrer Diplomarbeit und als szenische Lesung für eine Bühne in vorbildlicher Weise aufgearbeitet hat. Der Vater an der Front hatte alle ihm zugestellten Briefe aufgehoben. Als er 1920 aus der russischen Gefangenschaft nach Hause kam, konnten sie mit seinen Briefen an seine Frau und seinen Sohn zusammengelegt werden. Sie wurden in die Emigration der Eltern nach Amerika mitgenommen und kamen nach der Rückkehr aus dem Exil wieder nach Wien zurück, weshalb sie im Zweiten Weltkrieg nicht verloren gingen und nun im Nachlass von Hans Weigel in der Wienbibliothek im Wiener Rathaus erhalten sind. Der Brief von Hans vom 21. September 1914 an den Vater ist ein kleiner, einseitig mit der Maschine beschriebener Zettel:
Liebster Vater
Ich hoffe es geht Dir gut. Denn mir und der Mutter geht es gut. Morgen beginnt meine Schule. Ich freue mich schon sehr darauf. Dort werde ich recht brav und fleissig sein. Damit Du und die liebe Mutter Freude hat.
Grüsse und Küsse Hans14
Einblick gewährt auch Hans’ kurrent geschriebener Wunsch ans Christkind, auf Kinderbriefpapier aufgezeichnet:
Liebes Christkind
Landkarten von jedem Kriegsschauplatz und von jedem Land. 2. 3 Geografische Spiele. 3. Der Tausendkünstler.
4. Motorwagenbau.
5. sämtliche botanische Geräte
6. 100 Stück Reklame-Marken
Unterstrichenes bei Pichler zu kaufen.
Hans Weigel
Viele Jahre später gab Hans Weigel eine Erklärung, warum für ihn die „Landkarten von jedem Kriegsschauplatz und von jedem Land“ an erster Stelle seiner Wünsche gestanden waren. In seiner Autobiografie hielt er zum Zeitraum ab dem frühen Winter 1914, also mit sechseinhalb Jahren und in den ersten Volksschulklassen, fest: „Ich konnte lesen, ich konnte (wenn auch nicht schön) schreiben, meine Mutter erlaubte mir, Zeitung zu lesen, ‚nur die Kriegsberichte‘, natürlich las ich die ganze Zeitung und habe auch nicht Schaden an meiner Seele genommen. – Das Kriegsgeschehen und das politische Geschehen faszinierten mich (so frühreif war ich), obwohl ich von all dem nichts verstand (so frühreif war ich wieder nicht). Ich liess mir von einem etwa zehn Jahre Älteren vieles erklären, fragte ihn aus, und als ich den Sommer in Eisenstein verbrachte (1916 oder 1917), führte ich mit ihm eine ‚politische Korrespondenz‘.“15
Eduard Weigel war als Oberleutnant im Kronland Galizien in Przemyśl stationiert, das wegen seiner verkehrswichtigen Lage ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zur imposanten Festung ausgebaut worden war. Am 9. November 1914 begannen die Russen, Przemyśl bereits zum zweiten Mal zu belagern. Sie erreichten ihr Ziel, die Festung auszuhungern. Als Ende Februar 1915 Conrad von Hötzendorf den Festungskommandanten davon informierte, dass keine weiteren Hilfsmaßnahmen zu erwarten seien, hatte Feldmarschall-Leutnant Hermann Kusmanek keine andere Wahl, als mit 117.000 Soldaten am 22. März 1915 zu kapitulieren. Erfasst wurden neun Generäle, 93 höhere Stabsoffiziere und 2.500 Offiziere, darunter auch Eduard Weigel, die alle in russische Gefangenschaft kamen. Seine Verwandten dürften vom Fall Przemyśls aus der Zeitung erfahren haben. Sie waren anfangs entweder im Unklaren über das Schicksal von Eduard Weigel oder sie erfuhren von seinem Überleben und seine Gefangennahme durch seinen Offiziersstatus aus der Zeitung.
Der erste Brief von Eduard Weigel aus der Gefangenschaft an seine Frau ist, wie einige weitere auch, erhalten:
Birsk in Russland [kleine Stadt im südlichen Uralvorland], 25. April 1915
Meine Liebe!
Es ist wieder ein Sonntag und der erste Sonntag in Birsk! Vier Wochen seit jenem schaurigen 22. März seit der Übergabe Przemysls, seit meiner neuen Eigenschaft als russischer Kriegsgefangener. – Und in dieser Gefangenschaft der erste Sonntag eines menschenwürdigeren Daseins. Es läßt sich kaum schildern, was diese Zeit seit Przemysl an Erlebnissen traurigsten Angedenkens enthält. […] Es ist in diesem Sinne eine Errungenschaft, daß ich mit unserem ehemaligen Regim. Adjutanten Dr.Alfred Spitzer, ein Wiener, allein in einem primitiven aber ziemlich reinlichen Häuschen wohne, und halbwegs wie ein zivilisierter Mensch leben, schlafen, mich reinhalten kann, ausgehen darf und im Rahmen dieses Städtchens von ca.12000 Bewohnern nach Art eines Pensionisten, wenn auch beobachtet, mich bewegen und benehmen kann. […] Soweit wäre nach diesen bitteren Wochen Ruhe und etwas Menschlichkeit abseits der Kriegsfurie eingezogen; […] es ist nur eine andere Form der Haft, so unendlich weit von Dir mein Alles, von meinem Kind, von Euch allen […]16
In einem anderen Brief nimmt Eduard Weigel ebenfalls auf die Situation seiner Familie zu Hause Bezug:
Birsk, Sonntag 2. Mai 1915
[…] Ich habe Nachricht von Dir – das trägt mich über all das hinweg! Am 29/4 ist die Depesche von Schönfeld eingetroffen: ‚Ihre Familie wohlbehalten‘. Und ich will hoffen, daß dem auch wirklich so ist, daß Du mein Lieb, mein Hans, meine Eltern, Ihr alle, alle gesund und aufrecht seid! […] Ich möchte so gerne wissen, ob Du meinen Przemysler Brief vom 11/II erhalten hast, worin ich Dich gebeten habe, im Sommer doch auf´s Land zu gehen, eventuell nach Eisenstein. Weder Du noch unser Kind sollen nach dieser Richtung büßen müssen – und da das Ende so ferne wie je, soll für Euren Sommer gesorgt sein nach bester Möglichkeit! […]
Im Mai 1915 feierte Hans seinen siebten Geburtstag. Der Wunschzettel, an die Mutter adressiert, blieb erhalten und darf als nicht gerade bescheiden gewertet werden, wünschte er sich doch unter anderem einen Atlas, sechs Bücher, eine Theaterkarte und eine komplette Uniform.17 Er erhielt aber wohl nicht alles, denn seinen ersten Besuch im Theater stattete er erst nach der Rückkehr des Vaters aus der russischen Gefangenschaft ab.
Wie der Vater in seinem Brief geraten hatte, verbrachte Hans den ersten Kriegssommer bei den Großeltern Weigl in Eisenstein (ersichtlich aus einer Feldpostkarte an den Vater vom 30. August 1915), in Karlsbad und auch in Chotieschau bei den zahlreichen Verwandten, denen er sich mit eigenen Briefchen ankündigte. Es wurde jedoch eine tragische Zeit: „Während des Sommeraufenthaltes 1915 ereilte die Familie eine schreckliche Nachricht: Onkel Hugo war gefallen. Ein großer Schock für die Familie – man trauerte sehr um den Sohn, Onkel und Bruder“, wie sich Hans Weigel erinnerte. „Doch es sollte noch schlimmer kommen: Onkel Theo wurde kurz darauf als vermisst gemeldet, er ist nie aus dem Krieg zurückgekommen.“18
Viele Einzelheiten der ersten Kriegsjahre, die Hans aus den Zeitungsberichten aufsog, blieben ihm, wie er in seiner Autobiografie anmerkte, in Erinnerung. Jahre später setzte er sich mit der unglücklichen Rolle des letzten Habsburger-Kaisers KarlI. auseinander: „Vermutlich hätte auch ein weniger Unbedeutender, ja sogar ein Napoleon oder Bismarck, vom Dezember 1916 an die Katastrophe nicht mehr aufhalten können. Karl war nicht auf seinen Kaiser-Beruf vorbereitet […], er schmiss zwar alle hinaus, aber er holte nicht die Richtigen und hatte es schwer, sich intern durchzusetzen. […] Mir kommt vor, dass die gesamte Geschichte Österreichs seit 1848 (spätestens) ein einziges schleichendes Ende gewesen ist, personifiziert in der Figur Franz Josefs, der achtundsechzig Jahre regiert hat und, wie mir scheinen will, in diesen achtundsechzig Jahren überhaupt nichts Bedeutendes oder Positives vollbracht hat.“19
Schon vorher hatte er seine Ansicht über den zu lange regierenden Kaiser zusammengefasst: „[…] man neigt zu einer idealisierenden Verklärung dessen, was vorher [vor dem Ersten Weltkrieg] war, und vergisst, dass diese unsere belle époque ja nicht von aussen her beendet wurde, sondern dass sie das, was folgte, verursacht, veranlasst hat. Dem Kaiser Franz Josef verdankt die Welt die zweifachen Millionenopfer der Weltkriege. Den Hitler, dem es den Stalin verdankt, verdankt Europa dem Kaiser Franz Josef.“20
Derartige Gedanken hegte natürlich der Volksschüler Hans noch nicht. In dieser Zeit war er durch die liebende Mutter wohlbehütet, schrieb dem Vater wiederholt nur kurz auf Feldpostkarten, dass es ihm und auch der Mutter gut gehe und er dasselbe für den Vater erhoffe. Einem etwas längeren Brief aus dem Winter 1916 ist trotz Krieg und Gefangenschaft des Vaters ein scheinbar normales Kinderdasein zu entnehmen:
Liebster Vater!
Seit vorgestern schneit es hier heftig und der Schnee ist schon 1/4m. hoch, morgen gehe ich nach Hütteldorf rodeln. (Ich habe schon vorigen Winter eine famose Rodel bekommen.) Und nächsten Sonntag vielleicht zum Anninger, fein was? Am 10. Februar ist ein Kränzchen der Tanzschule und ich darf als Bajazzo hin, morgen ist Probe, ich freue mich sehr darauf. Auch bin ich neugierig, ob ich was kann, ich werde dir nachher über den Verlauf der Sache ausführlich Berichte erstatten; hoffentlich gute! Ich habe jetzt sehr, sehr viel zu lesen, hoffentlich werde ich bis zu meinem Geburtstage damit fertig.
Viele Grüße & Küsse von Hans
Ab 1916 führte Hans Weigel über viele Jahre hin ein „Konzert- und Theater-Merkbüchlein“. Darin vermerkte er in den Spalten „Namen des Interpreten“, „Autor oder Komponist“, „Wo aufgeführt“, „Wann“ und „Bemerkungen“ seine Konzert- und Theaterbesuche. Auf einzelne Beispiele soll später noch eingegangen werden. Die Bemerkungen können nicht als erste Kritiken gewertet werden, sondern waren meist allgemein gehaltene, kurze, ganz subjektive Stellungnahmen des Jugendlichen.
Das trotz des Krieges fast normale Leben von Hans Weigel spiegelt sich auch in anderen Briefen wider, zum Beispiel wenn er dem Vater am 28. Februar 1916 mitteilte, dass es ihm „in der Schule gut geht“ und er „ziemlich fleissig“ sei. „In der Freien Schule stellten ‚jüdische‘ Kinder mindestens die Hälfte meiner Mitschülerinnen und Mitschüler. Ich war mit Ihnen befreundet, ohne diese Tatsache bewusst wahrzunehmen oder die anderen abzulehnen: mit dem Gerhart Pisk [mit dem Weigel eine lebenslange Freundschaft verband], dem Walter Braun, dem Hans Schwarz, dem Paul Strassberg, der Lili Munk, der Edith Wolf … – unsere Eltern waren befreundet, sie war ‚meine Braut‘ und starb mit acht Jahren.“21
Von Edith Wolf schrieb er seinem Vater am 25. März 1916: „Mit Edith komme ich oft zusammen, wir machen täglich gemeinsame Spaziergänge […]“22, oder am 13. April 1916: „Montag war ich bei der Edith zum Geburtstag eingeladen. Es waren noch 3 andere Kinder dort. Wir haben uns sehr gut unterhalten […]“ Am Tag seines Geburtstags folgte an den Vater eine genaue Aufzählung der Geburtstagsgeschenke. Dabei zeigte Weigel, dass er Worte richtig abteilen konnte:
29. Mai. Liebster Vater!
Gestern habe ich au=ßer dei=nem Buche wofür ich herz=lich danke folgendes be=kommen:
1. Eine glückli=che Familie von Tony Schumacher.
2. Peter Pan im Waldpark von Barrie frei ins Deutsche übertra=gen von J. Funke.
3. Robinsohn Crusoe von Daniel Defoe, für die Jugend bearbeitet von Albert Geyer.
4. Die Biene Maja und ihre Abenteuer von Waldemar Bonsels.
5. Kipling’s Märchenbuch.
6. Seybolds Taschen-Welt-Atlas.
7. Einen Ankersteinbaukasten.
8. vier Gesellschaftsspiele heißen: Halma, Tombola, Glocke und Hamer Wettrennen.
9. Ein Kanarienvogel.
Dem Datum nach ist der Geburtstag erst Heute, er wurde gestern gefeiert, weil gestern Sonntag war. Wie geht es dir? Viele recht herzliche Grüße von deinem Sohn Hans
Auch 1916 war ein trauriges Jahr für die Familie Weigel. Wenige Wochen vor Weihnachten starb Hans’ Großmutter unerwartet im 65. Lebensjahr. Hatten er und seine Mutter im Geschäft schon seit Kriegsbeginn mitgeholfen, so ruhte nun die ganze Last auf Regine Weigel, die ein Französisch sprechendes Kindermädchen, Fräulein Ella Specht, einstellte, das mit Hans lernen und auch spazieren gehen sollte.
Regines in der Schweiz lebender Bruder Albert überlegte, nach Wien zu kommen, um das Versandhaus zu übernehmen, doch ließ er länger auf sich warten. Von all dem spiegelt sich nichts in Hans’ Briefen an den Vater. Am 6. Dezember 1916 berichtete er vom Besuch des „Krampus mit einer großen Rute, einem Schlitten und einem Sackerl voll Zuckerln“ und am 22. Dezember vom Beginn der Weihnachtsferien „um 12 Uhr Mittag und ich habe folg. Zeugnis bekommen: ‚Das Betragen zufriedenstellend, der Fleiß gleichmäßig, in den Fertigkeiten (Schreiben, Zeichnen) geschickt, der Fortgang vollkommen enschpr.‘, kurz sehr gut“.
Dass der neunjährige Hans dem Weihnachtsgeschenk für seine Mutter, einer Vase, einen eigenen Reim beifügte, mag noch nicht verwundern, auch das Gedicht zu ihrem Geburtstag ist noch nichts Außergewöhnliches. Bemerkenswert ist aber die Fantasie eines Schulaufsatzes, den Regine ihrem Mann am 18. März 1917 weiterleitete:
Mein Liebster!
Nachstehend übersende ich Dir Deines Sohnes letzten Aufsatz, dessen Inhalt Dir wegen der großen darin enthaltenen Gedankenfülle gewiss ebenso große Freude wie mir machen wird; die Abschrift ist mit allen Fehlern des Originals erfolgt:
„Was ein Brief erzählt.
Ein Brief erzählte seinen Kameraden in der Kriegserinnerungs-Lade: ‚Ich bin in der Wiener Papierfabrik M. Munk‘ entstanden. Als ich Papier wurde kam ich in eine Schachtel und wurde in eine Papierhandlung getragen. Hier lag ich lange Zeit bis einmal ein Herr, mit einer schönen Uniform und mit vielen Orden, eintrat und fragte: ‚Was kostet dieses Briefpapier, Fräulein.‘ Das Fräulein sagte darauf etwas was ich nicht verstand der Herr nickte und sagte: ‚Ich werde es dann abholen lassen‘ und ging weg. Bald darauf kam wieder ein Mann und sagte: ‚Ich soll das Briefpapier für den Kaiser abholen.‘ Ich war sprachlos. Der Kaiser sollte auf mir schreiben, na so etwas! Ich konnte meinen Gedanken und Gefühlen nicht mehr nachhängen, denn ich wurde unsanft gehoben so daß mir die Sinne vergingen. – Als ich erwachte lag ich in einem schönen Zimmer am Schreibtische. Da ging die Türe auf und herein trat der – Kaiser. Er setzte sich zum Schreibtisch öfnette die Schachtel und nam mich als erstes Blatt heraus und schrieb einen Armee- und Flotten-Befehl auf mir nieder. Er lächelete als ich in mit meinen großen Augen unverwandt anblickte. Als er schon die Unterschrift gesetzt hatte stekte er mich in ein dunkles Gefägnis das die Menschen Briefumschlag nennen. Ich wurde hin- und her gerüttelt und schlief bei diesen regelmäßigen Bewegungen ein. Ich erwachte als die Bewegungen aufhörten. Das Gefängnis wurde gesprengt und ich sah wieder das Tageslicht. – Ich befand mich in einem großen, geräumigen Zimmer wo viele Menschen versammelt waren. Alle lasen mich und ich wurde so lange herum gereicht bis mich alle gelesen hatten und ich hirher kam.“
Hier das Duplikat von Hansens Aufsatz […]. – Hoffentlich erhältst Du es, denn ich bin sicher Du wirst Dich damit freuen. – Es ist ganz besonders, was der Bub für Einfälle hat, und Freund Dr. ist nach wie vor der Ansicht seine Interessen einzudämmen, statt wachzurufen. – Schwer möglich bei seiner körperlichen und geistigen Regsamkeit. – Momentan liest er mit dem größten Interesse die Weltgeschichte und hat sich auch bereits, wie er Dir schrieb, entschlossen das Gymnasium zu besuchen; doch bis dahin hoffe ich Dich ja trotz allem hier zu haben. –
Deine Nachrichten treffen nun wieder fleißig ein […] Lebe wohl und bleibe weiter gesund, wie auch wir es sind.
Eduard Weigel berichtete in langen Briefen seinem Sohn Hans von seiner intensiven Beschäftigung mit Pflanzen, bedauerte, dessen Entwicklung nicht miterleben zu können, lobte die gute lateinische Schrift seines Sohnes, der bald auch Lateinschüler im Hinblick auf das Gymnasium sein würde, und beklagte, dass die Post so lange unterwegs sei und oft gar nicht komme.
Hans benachrichtigte den Vater von seinem Ferienaufenthalt in Böhmen, wo es ihm Freude bereitete, bei der Ernte zu helfen, und von den vielen Büchern, darunter auch drei von Jules Verne, die er zum Geburtstag erhalten hatte. Auch das Münzen- und Markensammeln hatte er angefangen. Die Briefe und Karten an seine Mutter, die sich eine Woche Urlaub auf dem Semmering gönnte, sind jedoch viel herzlicher, während die an den Vater einen eher respektvollen Ton anschlagen.
In der letzten Volksschulklasse bekam Hans eine Lehrerin, auf die er sich schon gefreut hatte, da sein alter Lehrer „fad war“. Er bekam viel „Lob und Auszeichnungen in Hülle und Fülle“ und bezeichnete sich dem Vater gegenüber als „Musterknabe“. Seine Fantasie war für sein Alter von neuneinhalb Jahren erstaunlich: Er erfand Rätsel, die er an abonnierte Zeitungen schickte, auch wenn noch keines veröffentlicht wurde. Drei Beispiele davon sandte er dem Vater als Scherzfragen in seinem Brief vom 13. Dezember 1917:
1. Wer hat die meisten Verehrer und ist doch schon eine Mutter. (Die Natur.)
2. Das Zweite kommt als erstes in den Magen; im ganzen muß der Kurzsichtige sein Augenlicht tragen. (Futteral) und ein Rebus:
Zu Weihnachten bekam Hans wieder viele Bücher, darunter Rudyard Kiplings Dschungelbuch, Durch Wille zum Erfolg von Georg Biedenkamp, Sagen und Geschichten aus Wien und Das Nibelungenlied von Eduard Bürger, sowie eine Karte – Logensitz – für eine Lesung von Otto Tressler im Großen Musikvereinssaal, von der er seinem Vater natürlich erzählte: „Er las sehr schön vor und zwar: die Teufel auf der Himmelswiese, Dornröschen. Aschenputtel und das Märchen von einem, der auszog, um das Fürchten zu lernen von Grimm und eine Lausbubengeschichte von Thoma (ersteres ist von Baumbach) ich unterhielt mich dabei sehr gut.“
In seinem bereits erwähnten „Konzert- und Theater-Merkbüchlein“ ist als einzige Anmerkung der Saison 1917/18 als Nachtrag nach der Saison 1918/19 nur eingetragen: „Zwei Märchen-Vorlesungen von Tressler – Gr. Musikvereinsaal – I. Loge, II. Pat. [statt der Termine die Sitzplätze] – Märchen, Gedichte, Lausbubengeschichten sehr hübsch; jedoch etwas zu klein dazu.“
Mehr als ein Jahr nach dem Tod von Regine Weigels Mutter, Katarina Fekete, zog ihr Bruder Albert mit seiner Frau Trudy – davor seine Sekretärin – von der Schweiz nach Wien. In der Zwischenzeit hatte Regine Weigel das Geschäft geführt. Wenn Hans in seinem Briefchen an die Mutter vom 4. August 1917 sie mit „Prokuristengattin dzt. Stelle Chefin“ bezeichnete, zeigt dies, wie stolz er auf sie war. Albert Fekete übernahm nun die Leitung des Versandhauses und ließ den Zentralversand auslaufen, um vornehmlich landwirtschaftliche Geräte zu führen. Dass er sich auch in die Erziehung von Hans einmischte, trug ihm dessen Ablehnung ein: „Ich habe ihn nicht gemocht, wir waren jahrelang verfeindet.“23 Auch seine Frau Trudy blieb Hans in schlechter Erinnerung, denn noch 1980 schrieb er über sie: „Eine kluge und witzige Freundin meiner Mutter, Frau Hedwig Freund, war, wie wir alle, unglücklich darüber, dass mein Onkel eine Frau geheiratet hatte, die unpünktlich und untüchtig fast bis zur Lebensunfähigkeit war.“24
Zudem rief auch das bereits erwähnte Französisch sprechende Kindermädchen Ella Specht durch kleinbürgerliche Beschränktheit Hans’ Unmut hervor, die der Zehnjährige in einem Pamphlet aufs Korn nahm:
Ich geb dieses Büchlein heraus.
Ich halte es nimmer aus.
Vor lauter Qual von diesem Menschen hier
Den ich hiemit bringe auf Papier
Der Verfasser Hans Weigel
(verfaßt im Jahre 1918)
Zur Beachtung.
Ella Specht ein tierisches Wesen aus dem Geschlechte homo bestialus schimpfe ich mein Fräulein und leider Gottes ist sie es.
Sie hat folgende schlechte Eigenschaften: Sie kann Französisch, Englisch und Wienerisch und was ihr sonst noch im Verkehr mit Gebildeten aufstößt spricht sie in einer dieser Sprachen.
2. Wenn ich 2 Worte gesagt habe, ist ihr die Sache schon zu kompliziert, und sie sagt: Schweig, mit dir wird man ja nie fertig.
3. Sie ist ungebildet im höchsten Grade. Wie schon bemerkt, kann sie einem nicht 3 Worte sprechen lassen. Wenn man mit einem Wort anfängt, das ihr nicht geläufig ist (z.B. Deutschösterreich, Republik u.w.) sagt sie: „Du hör mir damit auf. Dazu bin ich zu ungebildet.“ Und das ist sie.
Meiner verblendeten Mutter gewidmet. Ella Specht ihr Leben und ihre Missetaten. Ein Büchlein zum Lachen aber auch zum Weinen.
Von Hans Weigel sXX, schlimm […]25
Und dann zählte er auf wenigen Seiten einige der „Untaten“ auf, die er ihrer Dummheit anrechnete, etwa wenn sie, zu spät kommend, als Entschuldigung hervorbrachte, ihre Uhr müsste schlecht gehen – und dabei habe sie gar keine Uhr, oder sie schwärmte am Markt eine prachtvolle Kalbsbrust gesehen zu haben, die sie aber dann in der Kriegszeit, wo es so wenig gab, nicht kaufte. Gegen Ende klagte er an: „Ich führte es nicht zu Ende, da der Zweck, den es bezweckte, sich auf unblutigere Weise erreichen lies. – Nun ist sie dahingegangen wo sie mehr Lohn bekommt. Das Schlagen mit der Faust ins Auge, mit dem Stock ins Auge hat aufgehört. Aber noch aus dem Grabe würde ich (wenn ich könnte) rufen: J´accuse!! Weigel.“26
Auch in seiner Autobiografie widmet der erwachsene Hans Weigel ihr noch eineinhalb Seiten: „Ich komme […] nicht um die Phrase ‚Sie war eine gute Seele‘ herum […], aber mir nicht gewachsen. Sie war einfältig. […] Einmal, als ich schlimm war, sagte sie: ‚Schade, dass deine Mutter mir verboten hat, dich zu schlagen, sonst würdest Du jetzt eine Ohrfeige bekommen.‘ Ich sagte: ‚Mir hat sie das Schlagen nicht verboten‘ – und schlug die Frau Specht. Da meine Mutter meine Mutter war, musste sie lachen, als Frau Specht ihr empört über den Vorfall berichtete. Mein Hauptzorn gegen Frau Specht flammte auf, als einmal ein sehr merkwürdig aussehender Herr ganz in unserer Nähe auf einem Sessel im Volksgarten Platz genommen hatte. Auf dem Heimweg erst sagte sie mir, dass dies Herr Peter Altenberg gewesen war, und ich wütete, weil sie mir’s nicht gleich gesagt hatte, denn dann hätte ich ihn ja viel genauer betrachtet.“27 Erstaunlich für einen Zehnjährigen an der Schwelle zum Gymnasium, dass er damals schon wusste, welche Bedeutung Peter Altenberg in Wien hatte.
Auch wenn er es wollte, konnte Hans Weigel der Volksschule nicht dankbar sein, denn trotz „Handfertigkeitsunterricht“ blieben seine Hände ohne Fertigkeit, er, der Musik auch später über alles liebte, lernte nicht singen, nicht zeichnen. Diese Schule besuchten bürgerliche Kinder, sodass er nie das Wienerische wirklich erlernte. Er empfand das später als arges Manko und seufzte in seiner Autobiografie: „Komisch, dass eine sozialdemokratische Schule mir das angetan hat.“28
Jedoch hatte Weigel etwas wesentlich Wichtigeres in den ersten Jahren seines Lebens mitbekommen. Der Komponist und Musikpädagoge Herbert Zipper erzählte in einem Interview von der großartigen Erziehung, die er – um vier Jahre älter als Weigel – ebenfalls erhalten hatte: Er und seine Geschwister waren so wie Hans Weigel, mit dem er in den Dreißigerjahren an den Wiener Kleinkunstbühnen zusammenarbeitete, in einem jüdischen Haushalt Jahre vor dem Ersten Weltkrieg aufgewachsen. In seinem Elternhaus wurde Kunst, vor allem Musik – ähnlich wie in Hans Weigels Familie – hochgehalten. „Diese Erziehung“, sagte er in einem Interview im Oktober 1989, „hat uns geholfen, all die Tragik, alle diese Schwierigkeiten, alle diese entsetzlichen Dinge, die wir [als Juden im KZ und als Emigranten] mitgemacht haben, mit Leichtigkeit zu überwinden. Weil uns vom ersten Tag an ein Vorbild gegeben wurde, was wirklich wichtig ist. Ich bin überzeugt, dass alle, die in der ganz frühen Kindheit das Privileg einer großartigen Erziehung hatten, viel besser mit dem Leben fertig werden als die anderen.“29 Diese Ansicht trifft ebenso auf Hans Weigel zu, denn auch er genoss – im selben Milieu wie Zipper aufgewachsen – dieses „Privileg einer großartigen Erziehung“ in der ganz frühen Kindheit.
Die vier Volksschuljahre haben Hans Weigel jedoch nicht so „wehgetan“ wie die folgenden acht Gymnasialjahre, die er als verlorene Zeit – für ihn ein Trauma – betrachtete. Zudem lernte er in dieser Volksschule seinen lebenslangen Freund Gerhart Pisk kennen, der später Medizin studierte, sich in Amerika, wohin er emigrierte, Piers nannte und ein prominenter Psychoanalytiker wurde.
Hans Weigel fiel der Übertritt von der Volksschule ins Gymnasium leicht: „Ich musste eine Prüfung in einer öffentlichen Schule ablegen, um für das Gymnasium angemeldet zu werden, diese Prüfung war lächerlich einfach für mich, und dann die Aufnahmeprüfung im Akademischen Gymnasium, Wien, Beethovenplatz, die war ärgerlich einfach.“1
Der Herbst 1918 war vor allem durch das Ende des Ersten Weltkriegs geprägt. Die Ausrufung der „Republik Deutschösterreich“ durch die Nationalversammlung erfolgte am 12. November 1918 vor dem Parlament. Allerdings sollten die Siegermächte im am 10. September 1919 unterfertigten Staatsvertrag von Saint-Germain-en-Laye diese Bezeichnung verbieten, weshalb „der Staat, den keiner wollte“, schließlich den Namen „Republik Österreich“ erhielt. Seinen 1978 im Artemis Verlag erschienenen Bericht Das Land der Deutschen mit der Seele suchend (einem „Bericht über eine ambivalente Beziehung“, so der Untertitel) begann Hans Weigel mit dem Ausruf: „,Jetzt sind wir also Deutsche.‘ Ich höre meine Mutter, […] ich sehe sie vor mir, sie und das Morgenblatt der ‚Neuen Freien Presse‘, das die Entscheidung der neugegründeten Republik Deutschösterreich bekanntgab. […] Daß die Monarchie gestürzt und die Republik ausgerufen wurde, habe ich hingenommen. […] Mit dem Zusammenbruch der Monarchie war für mich nichts zusammengebrochen. Ich nahm hin, sehr interessiert, aber noch nicht kritisch, was sich vollzog. […] Ich war glücklich gewesen, dass ich ein Deutscher hätte werden sollen.“2