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Andreas Marquardt war einer der brutalsten und gefährlichsten Zuhälter Berlins. Mit Anfang 40 wird er zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt. Erst dort vertraut er sich einem Therapeuten an: Der Vater war ein sadistischer Schläger, der die Familie früh im Stich ließ. Und seine Mutter missbrauchte ihn jahrelang und fügte ihm seelische Wunden zu, die bis heute nicht verheilt sind … Die erschütternde Lebensgeschichte über eine traumatische Kindheit, den Teufelskreis der Gewalt – und den Weg zurück ins Leben.
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Das Buch
Bis zu seiner Verhaftung Mitte der neunziger Jahre galt Andreas Marquardt als einer der brutalsten und gefährlichsten Zuhälter in der Berliner Halbwelt. Im Gefängnis vertraut er sich einem Therapeuten an und spricht erstmals offen über das, was er in seiner Kindheit durchleiden musste: Der Vater war ein sadistischer Schläger, der die Familie früh im Stich ließ, und von der Mutter wurde er jahrelang systematisch sexuell missbraucht. Obwohl diese seelischen Wunden sicher nie ganz verheilen werden, hat Andreas Marquardt es geschafft. Er brachte die Kraft auf, sich dem Einfluss der Mutter zu entziehen, und mit Hilfe einer Therapie die extrem traumatischen Erfahrungen seiner Kindheit zu verarbeiten und so den Weg zurück ins Leben zu finden.
Seine Geschichte ist der erschütternde Bericht über eine gestohlene Kindheit, ein extremes Leben im Berliner Rotlichtmilieu und eine schwierige, allmähliche Läuterung. Heute unterrichtet Andreas Marquardt in einem Sportstudio in Neukölln voller Enthusiasmus Kinder in Karate und engagiert sich für zahlreiche soziale Projekte.
Die Autoren
Andreas Marquardt, geboren 1956, war ein international anerkannter Kampfsport-Champion und über zwei Jahrzehnte lang Zuhälter in Berlin. 2003 wurde er nach insgesamt acht Jahren aus der Haft entlassen und ist heute zusammen mit seiner langjährigen Lebensgefährtin in einer Sportschule in Berlin-Neukölln tätig.
Jürgen Lemke, geboren 1942, Diplom-Sozialpädagoge und Psychotherapeut, arbeitet seit 16 Jahren bei der Berliner Beratungsstelle »Kind im Zentrum« (KiZ). Er hat Andreas Marquardt während der Haft als Therapeut begleitet und seine Geschichte aufgeschrieben. Jürgen Lemke ist Autor von mehreren Büchern (Ganz normal anders, 1988; Hochzeit auf Dänisch, 1992 und Verloren am anderen Ufer, 1994) sowie Texten fürs Theater.
Für Marion
1 Ich bin keine Puschmütze!
2 Ein Bett für mich allein
3 Silvia, Petra und Judith
4 Häng nicht wie ein Mehlsack!
5 Ich mach dich zur Hure, du merkst das nicht!
6 Ganz ohne Frauen geht es nicht
7 Sehnsucht
8 Dienst beim Beerdigungsfuhrwesen
9 »Max, der Taschendieb«
10 In jedem Mann steckt ein bisschen vom Freier
11 Aufbau Ost auf dem Straßenstrich
12 So eine wie Mutter
13 Cholera oder Pest?
14 Die Abrechnung
15 Wieder in Freiheit
1 Es gab Plätze in der Wohnung, die ich mit Vater verband. Dazu gehörten ein Stuhl am Wohnzimmertisch und unser Balkon, von dem man auf die Straße schauen konnte. Familienbesuch nannte er seine Auftritte. Er kam in die Wohnung, und gleich war dicke Luft. Meistens ging es um Unterhaltszahlungen, das leidige Dauerthema zwischen meiner Mutter und ihm. Vater führte sich auf wie ein Schwein.
Ich war noch klein, als er Mutter und mich verließ, und ich erinnere mich nicht, dass er mit uns zusammen gewohnt hat. Was er bei seinen Besuchen abzog, war der reinste Terror. Wie soll man das sonst nennen, wenn ein Vater versucht, aus seinem eigenen Sohn einen Krüppel zu machen? Nein, nein, nicht im Suff, er war stocknüchtern. Mutter, Großmutter und Großvater haben mir das bestätigt, und zwar unabhängig voneinander. Seine gewalttätigen Exzesse zog er bei klarem Verstand durch.
Ich bin sechs, da zerquetscht er mir die rechte Hand. Er poltert in unser Wohnzimmer, ich verdrücke mich in eine Ecke, ich will ihm nicht die Hand geben. Von seinem Stuhl am Wohnzimmertisch pfeift er mich heran wie einen Hund:
»Komm her, gib deinem Vater wenigstens die Hand!«
Achtung, denke ich, wieder dicke Luft! Ich strecke ihm meine Hand entgegen und laufe ganz vorsichtig auf ihn zu. Er drückt die Hand – noch ist alles normal –, ich halte gegen, ganz leicht, und flüstere: »Guten Tag, Vati.« Ich ahne schon etwas.
»Na wat denn«, blafft er mich an. »Fass mal zu hier, ick denk, du bist Sportler. Na, drück schon, bist doch ’n Kerl, Mann, oder biste ’ne Memme, ’ne Pfeife, ’ne Puschmütze? Wat biste denn, bist ja wie’n Mädchen.«
Und dann drückt er zu.
An die zwei, drei Minuten liegt meine Hand in einem Schraubstock, und der Schraubstock schließt sich Millimeter für Millimeter.
Mir schießen die Tränen in die Augen.
Ich flehe ihn an:
»Meine Hand! Bitte nicht! Du zerquetschst meine Finger!«
Ich winde mich wie ein Aal, ich beiße in seinen Oberschenkel, alles umsonst. Er lässt sich nicht erweichen, er presst und presst, dabei hat er dieses fiese Grinsen im Gesicht.
Den Schmerz vergesse ich nie. Ich brülle wie am Spieß: »Meine Hand, meine Hand!«
Endlich kann Mutter ihn von mir wegreißen.
Ich puste mir die kaputten Finger und wimmere ganz erbärmlich: »Ich bin keine Puschmütze, ich bin keine Puschmütze.«
Auf dem Weg ins Krankenhaus bläut Mutter mir ein, was ich dem Arzt sagen darf und was nicht. Die Wahrheit verbietet sie mir. Es wird schon einen Grund dafür geben, denke ich mir, warum der Doktor nicht erfahren darf, dass Vater der Übeltäter ist. Ich verstehe nicht, was gemeint ist, wenn sie sagt: »Sonst holt dich das Amt.« Aber dass sie mich nicht verlieren will, das fühle ich schon. Selbstverständlich lüge ich, was das Zeug hält: »Herr Doktor, ich habe mir in einer Schublade die Finger geklemmt. Ich weiß selber nicht, wie ich da reingekommen bin.« Der Arzt sieht sich die Hand an, schüttelt den Kopf und tut mir noch einmal weh.
Monatelang laufe ich mit einem Gipsverband herum. Ich bin in der ersten Klasse, schreiben kann ich damit nicht. Das Einzige, was läuft: Ich kann mit den anderen Schülern im Chor das Alphabet rauf- und runterleiern. Mutter erzählt in der Nachbarschaft, an meiner Schreibhand war eine Knochenrichtung nötig, damit der Junge später einmal eine sehr schöne Handschrift bekommt. Ich nicke artig mit dem Kopf, wenn sie die Geschichte mit dem Gips und der schönen Handschrift erzählt. Dass es darum geht, meine rechte Hand überhaupt noch einmal benutzen zu können, verschweigt sie.
Opa stellt Vater zur Rede, und in seiner Schimpfkanonade fällt mehrmals das Wort Jugendamt. Was dahintersteckt, weiß ich nicht.
Der Arzt bastelt monatelang an meiner Hand herum, denn die Knochen sind völlig ineinander verdreht und verschoben. In Abständen von zwei Wochen muss er den Gips öffnen, die Hand röntgen, die Knochen korrigieren und mit einer Schraube passgerecht machen. Bis alles wieder einigermaßen ordentlich zusammengewachsen ist, vergeht ein halbes Jahr.
Als mich nach den Osterferien meine Lehrerin das erste Mal an die Wandtafel holt und mich auffordert, meinen Vornamen mit Kreide an die Tafel zu schreiben, ist im Klassenzimmer schlagartig Stille. Ich erhebe mich, gehe nach vorn, greife mit der linken Hand nach einem Stück Kreide, überlege kurz, und nehme es in die rechte. Meine Finger zittern, das Kreidestück fällt mir aus der Hand und zerbricht auf dem Fußboden in mehrere Teile. Ich bücke mich, sammle die Teile auf, lege sie vorsichtig auf die Tafelablage neben den Schwamm und schaue hilflos zur Lehrerin. Sie kommt auf mich zu, reicht mir ein neues Kreidestück, und mit ihrer Unterstützung krakele ich mit der genesenen Hand meinen Namen in Großbuchstaben an die Tafel. Das leise Gekicher, das im Klassenzimmer aufgekommen war, verstummt. Ich drehe mich um zu den anderen und strahle über das ganze Gesicht.
Ich war kein Wunschkind. Vater heiratete meine Mutter, weil ich unterwegs war. Und wenn schon ein Kind, dann wollte er unbedingt ein Mädchen, auf gar keinen Fall einen Jungen. Als er einmal auf mich aufpassen musste, weil Mutter kurz einkaufen ging, stellte er mich bei null Grad – ich war noch ein Baby – auf den Balkon und bespritzte mich mit kaltem Wasser. Prompt hatte ich einen Tag später eine Lungenentzündung.
Das war schon die Härte, das muss man sich mal reinziehen. Fehlte nur, dass er mich mit nacktem Po auf die heiße Herdplatte gesetzt hätte. Ich vermute, Mutter konnte sich so schlecht gegen ihn wehren, weil sie jahrelang die Hoffnung nicht aufgab, dass er doch noch zur Vernunft kommen würde, um mit uns als Familie zusammenzuleben.
So klein, wie ich war, ich, der Sechsjährige, legte einen Schwur ab: Nie wieder Keile, nie wieder darf mir jemand so wehtun. Ich bin keine Puschmütze, ich bin ein Harter, ich werde es euch allen zeigen!
Eigentlich Wahnsinn, was sich der Knirps da vornimmt. Heute ziehe ich den Hut vor diesem Kind. Klar, dahinter standen die pure Verzweiflung und ein ausgeprägter Überlebenswille. Bei einem Sechsjährigen sicherlich eine Instinktsache, und trotzdem: Kinder in Not entwickeln diese Kräfte oder gehen vor die Hunde. Ich vergleiche mich mit einem Straßenkind, das, ganz auf sich gestellt, miese Erfahrungen macht und dabei lernt, sich wie ein kleiner Erwachsener durchzubeißen. Entweder es kommt durch, oder es bleibt auf der Strecke und verreckt erbärmlich. Ein behütetes Kind muss sich nicht selber aus seinem Elend befreien und Schwüre ablegen, um zu überleben.
Opa war Feuer und Flamme, als sein Enkel daraufhin in einen Sportverein wollte. Zuerst ging er mit mir in einen Ringerverein. Aber nach kurzer Zeit wollte ich dort weg. Das, was da auf der Matte ablief, war doch nur albernes Rumgebalge, reinster Kinderkram, viel zu lasch für mich. Dort hätte ich nie geschafft, was ich mir vorgenommen hatte.
Anschließend nahm er mich zu einem Boxverein mit. Bevor ich mich in die Mitgliederkartei eintragen ließ, sahen wir uns erst einmal ein Training an. Boxen – das kam schon besser.
Keine vier Wochen vergingen, und wir hatten den zweiten Reinfall. Ich war wieder enttäuscht. Boxen war ja genauso läppisch wie Ringen, da passierte auch nicht viel mehr, boxen konnte doch jedes Kind auf der Straße. Da würden Jahre vergehen, bis ich ein ernstzunehmender Kämpfer war.
Opa verstand sofort, tröstete mich und meinte, wir würden schon noch das Richtige finden. Bestimmt gäbe es eine Sportart, die genau zu mir passen würde. Die Woche drauf marschierten wir zusammen zu einem Judoverein. Ich war hellauf begeistert, das war’s! Umschlagen, hebeln, würgen, auf den Boden drücken, festhalten, kampfunfähig machen. Der Gegner blieb auf der Matte liegen und konnte sich nicht mehr bewegen. Hier war ich in meinem Element. Judo, das war kein Kinderkram. Ich wollte unbedingt bleiben, ich hatte gefunden, womit ich meinen Schwur erfüllen konnte. Opa war so glücklich wie ich. Sah er doch, wie meine Augen leuchteten.
Er wäre weiter mit mir auf die Suche gegangen, wenn mich Judo auch nicht gefesselt hätte. Opa war die Ruhe in Person und wäre wer weiß wohin mit mir marschiert, nur um mich glücklich zu machen.
2 Ich hatte keine rosigen Startbedingungen, aber unglcklich war meine Kindheit nicht. Na gut, mit Einschrnkungen. Aber vor allem Oma und Opa haben getan, was sie konnten. Sehr gern erinnere ich mich an die Wochenenden und die Schulferien in unserer Laube. Drei kleine Zimmer und Kche, gut zweihundertfnfzig Meter von der Mauer entfernt. Ein groer Garten mit Obstbumen, Tannen und Struchern, insgesamt an die fnfhundert Quadratmeter. Von zu Hause in der Mainzer Strae bis dorthin brauchte man zu Fu ungefhr vierzig Minuten, mit dem Fahrrad knapp zehn. Ich habe mich oft im Indianeranzug und buntem Federschmuck auf dem Kopf, eine Streitaxt in der Hand, an die Erwachsenen herangepirscht und sie beim Dsen unter den Tannen erschreckt. In der Bullenhitze im Sommer bin ich zum Schwimmen in den nahe gelegenen Teltowkanal, und vor dem Schlafengehen bin ich meistens noch einmal in die Zinkbadewanne unterm Apfelbaum gesprungen. War kein Badewetter, habe ich mich aufs Fahrrad geschwungen und bin stundenlang in der Gegend herumgefahren.
Das Essen, das Oma zu Hause vorgekocht hatte, wrmte sie auf dem Propangaskocher auf, und am Gartentisch schmeckte es noch besser als am Esstisch im Winterquartier, wie Opa unsere groe Drei-Zimmer-Wohnung in der Nhe vom U-Bahnhof Boddinstrae nannte. Viele Arbeiterfamilien aus Neuklln hatten neben der Wohnung ein Grundstck mit Laube, wo sie den grten Teil ihrer Freizeit verbrachten. In diesen Jahren kam ein Neukllner noch nicht auf die Idee, im Urlaub nach Italien zu fahren.
Mir wird ganz warm ums Herz, wenn ich daran denke, wie Grovater mir abends die Sternbilder erklrte. Den Polarstern, den Groen und den Kleinen Wagen und all die anderen Sterne, von denen ich die Namen lngst wieder vergessen habe. Schweigsam wurde er, wenn ich ihm Fragen nach dem Krieg stellte, den er als einfacher Soldat bis zum Schluss mitgemacht hatte.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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