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Rock auf der Reeperbahn, Reggae in Jamaika »Kopfkino vom Feinsten.« Nils Kahlefendt Es sind die Monate nach der großen norddeutschen Schneekatastrophe im Winter 1978/79: In Hamburg wird eine unbekannte Tote gefunden. Zur selben Zeit brechen drei junge Männer nach Jamaika auf. Sie wollen zu den Roots des Reggae, in die Berge und ans Meer, auf den Spuren des Kultfilms »The Harder They Come«. Die Schwester des einen bleibt zurück, ihr Weg führt in den Musikclub Chikago und das Kiez-Milieu dieses zu Ende gehenden Jahrzehnts. Die Geschichte der Reisenden verzahnt sich mit den Aktivitäten der Daheimgebliebenen und den Ermittlungen um die tote Frau, die bis in die Politik führen. Neue Drogen erobern den Kiez, Freundschaften zerbrechen, Schuldzuweisungen vertiefen die Kluft. Und doch bleibt die Sehnsucht nach einer Befreiung aus der realen und emotionalen Kälte jener Tage. In kurzen, schnellen Szenen entwirft der Meister des deutschen Noir eine spannende Geschichte zwischen Hamburger Kiez und Jamaika. »Göhre hat einen scharfen Blick für die verschiedenen Milieus und braucht immer nur ein paar Sätze, um eine Szene so lebendig werden zu lassen wie in einer guten Reportage.« FAZ »Virtuos demonstriert Frank Göhre, wie Noir auf Deutsch gehen kann.« Tages-Anzeiger
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Seitenzahl: 158
Rock auf der Reeperbahn, Reggae auf Jamaika – der neue Roman des mehrfachen Deutschen-Krimipreis-Gewinners. Es sind die Monate nach der großen norddeutschen Schneekatastrophe im Winter 1978/79: In Hamburg wird eine unbekannte junge Frau tot aufgefunden. Zur selben Zeit brechen zwei Abiturienten mit einem ehemaligen Schulkameraden nach Jamaika auf. Sie wollen zu den Roots des Reggae, in die Berge und ans Meer, auf den Spuren des Kultfilms »The Harder They Come«.
Eine Studentin aus ihren Kreisen bleibt zurück, ihr Weg führt in das Kiez-Milieu dieses zu Ende gehenden Jahrzehnts. In kurzen, schnellen Szenen entwirft der Meister des deutschsprachigen Noir eine spannende Geschichte zwischen Hamburger Kiez und Jamaika. Die Geschichte der Reisenden verzahnt sich mit den Aktivitäten der Daheimgebliebenen und den Ermittlungen um die tote Frau. Freundschaften zerbrechen, Schuldzuweisungen vertiefen die Kluft. Und doch bleibt die Sehnsucht nach einer Befreiung aus der realen und emotionalen Kälte jener Tage.
In kurzen, schnellen Szenen entwirft der Meister des deutschen Noir eine spannende Geschichte zwischen Hamburger Kiez und Jamaika.
»Frank Göhres Stimme ist einzigartig in der deutschsprachigen Kriminalliteratur.« Sonja Hartl, Zeilenkino
»Kopfkino vom Feinsten.« Nils Kahlefendt Börsenblatt
Frank Göhre
Harter Fall
Kriminalroman
Jan – Abiturient
Ulrike – Studentin
Monika und Nicolas Böhm – Jans und Ulrikes Eltern
Torsten –Abiturient
Franziska und Carl Steffens – Torstens Eltern
Peter – Kfz-Mechaniker
Bonnie – Wirtschafter
Elvis – Lokalbesitzer
Der Hesse – Peepshow-Betreiber
Gigi – Pizza-Service-Inhaber
Karate-Kalle –Sportstudio-Betreiber
Ingo – Jungsozialist
Kügel – Ingos Mentor
Kirsten – eine junge Dänin
Hinnerk – Ermittler
»The Harder They Come« – Kultfilm
Ein jamaikanischer Kinofilm des Regisseurs Perry Henzell aus dem Jahr 1972. Ein Kultfilm mit dem Reggae-Star Jimmy Cliff, der vor allem in den Spätvorstellungen der Großstadtkinos gezeigt wurde. Die bei Jugendlichen unterschiedlichster Schichten sehr beliebten Vorstellungen begannen meist gegen Mitternacht. Durch das Zusammentreffen von Kinobesuchern in den nächtlichen »Palästen der Träume« bildete sich eine cineastische Szene, deren kulturelle und intellektuelle Aussagen als Gegenentwurf zum Leben der Elterngeneration und der sogenannten kulturellen Elite sowie zum Mainstream zu verstehen war.
Aber so sprach Jah ich werde gehen und euch einen Platz vorbereiten denn wo ich bin, da sollt ihr bleiben so sprach Jah
Ein Rasta in den Bergen Jamaikas
1 »The Harder They Come«
Der Film: Die Küste, der Palmenwald, ein rot-weißer Bus auf der Straße entlang am Meer, Sonne und Strand, und die ersten Takte des Songs ertönen … »the harder they com …« Der Bus, voll besetzt und mit Kisten und sonst was beladen, fährt durch eine Ortschaft, fährt auf einer schmalen, kurvenreichen Straße einen dicht bewaldeten Hang hinab. Ein Laster kommt dem Bus entgegen, es ist kein Ausweichen möglich, beide Fahrzeuge werden knapp vor einem Zusammenstoß abgebremst … »but between the day you’re born and when you die, they never seem to hear even your cry«, singt Jimmy Cliff.
Er kommt aus den Bergen Jamaikas mit dem Bus nach Kingston. Er kommt in die Stadt.
Es ist eine lärmende, eine pulsierende, eine große Stadt.
Überall ist der Reggae zu hören.
Wabernde Rhythmen in Endlosschleife.
Dominosteine werden auf Holztische geknallt.
Billardkugeln klacken aneinander.
Gras wird geraucht. Ganja, Ganja.
Kiff, Kiff.
Jimmy lacht.
Er lacht ein breites Lachen aus dem Rückfenster des Busses heraus. Das Leben beginnt. Ein neues Leben.
Sein neues Leben.
2 Dänemark, Herbst 1978: Sie schlich in der Morgendämmerung aus dem Haus. Nebel hing über dem flachen Land, es war kühl. Sie ruckelte ihren Rucksack zurecht und marschierte los. Sie marschierte quer durch den Ort bis zum Kreisverkehr. An der Ausfahrt in Richtung Süden stellte sie sich auf.
Sie musste nicht lange warten.
Der Fischhändler stoppte seinen Lieferwagen und ließ sie einsteigen.
»Ich will meinen Freund besuchen«, sagte sie. »Er lebt in Flensburg.« Es gab für sie keinen Grund, daraus ein Geheimnis zu machen. Auf dem Zettel für ihre Mutter, den sie an die Kaffeemaschine gelehnt hatte, stand nicht viel mehr.
Sie hieß Kirsten Poulsen, und sie war siebzehn. Sie war das einzige Kind einer ledigen Mutter. Über ihren leiblichen Vater bekam sie nur zu hören, dass er sich irgendwo in Europa herumtrieb und gelegentlich als Gärtner oder Bademeister arbeitete.
Kirsten hatte den schon voll entwickelten Körper einer jungen Frau, ihr Gesicht aber war das eines Kindes. Aus ihren großen blauen Augen blickte sie in eine Welt, die ihr weitgehend fremd und unheimlich erschien.
Dennoch aber war sie von zu Hause aufgebrochen.
Sie war verliebt. Sie war verliebt in Rainer.
Sie nestelte an ihrer dünnen Halskette mit dem dunkelgrünen Plastikring. Das Zeichen ihrer Liebe.
Rainer hatte mit seinen Eltern die Sommerferien in einem der von ihrer Mutter betreuten Häuser am Meer verbracht, und sie hatte sich jeden Tag heimlich mit ihm getroffen.
»Flensburg?« Da wirst du ’ne Zeit für brauchen«, sagte der Fischhändler und klemmte sich eine Zigarette zwischen die Lippen. »Ich fahre nur bis Esbjerg.«
»Das ist ja schon ganz schön weit«, sagte Kirsten.
Der Fischhändler sagte nichts dazu. Bis Esbjerg waren es achtzig Kilometer. Er rauchte. Kirsten mochte den Rauch nicht und schloss die Augen. Ihr entging, wie der Frühnebel sich lichtete und eine blasse Sonne sichtbar wurde. In Esbjerg musste sie geweckt werden.
»Ich hab mir gedacht, am besten nimmst du den Zug«, sagte der Fischhändler. Er wies auf das alte Bahnhofsgebäude. »Dann bist du in zwei Stunden bei deinem Freund.«
»Danke«, sagte Kirsten. »Danke, aber das Geld möchte ich lieber sparen.«
»Hmm. – Es ist aber sicherer.« Der Fischhändler dachte einen Moment lang nach. Dann klappte er seine lederne Geldbörse auf und hielt Kirsten lächelnd einen Zweihundertkronenschein hin.
»Das kann ich nicht annehmen«, sagte Kirsten.
»Kannst du. – Sonst werde ich euch keinen Fisch mehr verkaufen.« Er lächelte sie an und drückte ihr den Schein in die Hand.
»Deutschland ist brandgefährlich«, sagte der Mann, der Kirsten im Zugabteil gegenübersaß. Er hatte sein »Ekstra Bladet« aus der Hand gelegt und sich zu Kirsten vorgebeugt. Sie hatte das Gefühl, dass er sie strafend ansah. »Da sind längst noch nicht alle Terroristen hinter Gittern. Die legen Bomben und morden weiter. Die scheuen vor nichts zurück.«
»Nun machen Sie dem Mädchen doch nicht solche Angst«, sagte die an der Abteiltür sitzende junge Frau. Sie trug einen Norwegerpullover, Jeans und Wildlederstiefel mit Schnüren und Fransen. »Ich habe regelmäßig ein paar Tage in Flensburg zu tun und bin kein bisschen beunruhigt.«
»Flensburg.« Der Zeitungsleser schnaubte verächtlich.
Die junge Frau bot Kirsten ein Käsebrot an.
Bevor der Zug Kolding erreichte, wurde für alle nach Deutschland Weiterreisenden eine Passkontrolle angekündigt.
Kirstens Herz pochte heftig. Schlagartig wurde ihr klar, dass man sie aufgrund ihres Alters erst einmal festhalten und dann nach Hause zurückschicken würde. Doch das durfte nicht sein. Sie sah Rainer vor sich. Sein schönes Gesicht, seine graugrün glitzernden Augen. Sein lachender Mund.
Er war so lieb. Er war so klug. Rainer. Ihr Rainer aus Flensburg. Sie sehnte sich so sehr nach ihm.
Er breitete die Arme aus und drückte sie an sich.
Er küsste sie. Ihr wurde schwindelig vor Glück.
Aber sie musste was tun. Einen Weg finden.
Den Weg über die Grenze zu ihm.
3 Norddeutschland. Jahreswechsel 1978/79: Es waren ungewöhnlich milde Weihnachtstage mit fast schon frühlingshaften Temperaturen, aber Jan blieb weitgehend im Haus. Er büffelte für das Abi. Er war ehrgeizig. Wie immer, wie bei allem.
Jan war ein schlanker, sportlicher Typ mit blonden glatten Haaren und einem offenen Gesicht. Er trug in diesen Tagen eine ausgebleichte Jeans, ein gelbes Sweatshirt mit »California«-Aufdruck und Fellschlappen.
Jan machte sich Notizen für eine Interpretation von Hermann Hesses »Der Steppenwolf«, trank Tee und rauchte stündlich eine Selbstgedrehte.
Es war ein altes Fachwerkhaus in Klein Gaddau, einem Rundlingsdorf im Wendland mit knapp hundert Einwohnern. Jans Eltern hatten das Haus vor einigen Jahren preisgünstig erworben und es gemeinsam mit Freunden nach und nach renoviert und ausgebaut. Inzwischen war es neben der Hamburger Etagenwohnung in Harvestehude der offizielle Zweitwohnsitz des Ehepaars Monika und Nicolas Böhm. Jan und seine vier Jahre ältere Schwester Ulrike hatten unterm Dach ihre eigenen Zimmer.
Am Morgen des Siebenundzwanzigsten packte Nicolas Böhm seine Manuskripte und den Stapel neuer LPs zusammen, um für ein paar Tage nach Hamburg zum NDR zu fahren. Er war als Jugendfunk-Redakteur und Moderator unter anderem auch für die Musiksendung »Der Club« zuständig.
Beim Frühstück blätterte Jan die Alben durch und zog eins heraus.
»Kann ich die erst noch hören?«, fragte er.
»Welche ist das?«
»Public Image«, sagte Jan.
»Tut mir leid, aber da hat der Kollege für heute ’nen Text zu geschrieben. – Wie kommst du auf die Gruppe? Die ist so gut wie unbekannt.«
»Mir nicht.«
Sein Vater hob überrascht die Augenbrauen.
»Ich bring sie dir am Wochenende wieder mit«, sagte er. »Ich sollte stolz auf dich sein.«
»Kannst du auch.«
Ulrike nippte an ihrem O-Saft. Für Jan war deutlich erkennbar, dass sie sich in der Nacht mit Gras oder sonst was zugedröhnt hatte. Sie war noch im Dschum.
»Das hat er von mir«, sagte sie zum Vater.
Jan verdrehte die Augen.
»Musst du nicht auch zurück?«
»Ich werd später abgeholt«, sagte sie und trat mit dem Glas ans Fenster. »Von Ingo. – Das Wetter geht mir echt auf’n Geist. Das ist doch nicht normal.«
Mutter Monica räumte wortlos den Tisch ab.
Ingo.
Ingo war Ulrikes ehemaliger Mitschüler, ein dicklicher Typ mit extrem dünnem Haar. Er studierte Jura und war Asta–Vorsitzender. Bei den Jusos war er einer der Wortführer des rechten Flügels und hatte einen wöchentlichen Zwölf-Stunden-Bürojob bei seinem Mentor Helmut Kügel, dem SPD-Kreisvorsitzenden Hamburg-Mitte. Regelmäßig besuchte er einen in Dannenberg lebenden Bildhauer mit NS-Vergangenheit: »Der hat ganz vernünftige Ansichten, das ist ein Guter.«
Ingo-Arschloch für Jan. Ein Schleimer.
Ein Fehlgeleiteter für Jans Vater.
Für Ulrike: keine Ahnung.
Am nächsten Tag gab es einen Temperatursturz. Es begann zu schneien. Innerhalb weniger Stunden versank ganz Norddeutschland im Schnee. Es schneite mehrere Tage. Es schneite ununterbrochen. Es stürmte.
In Klein Gaddau reichten die Schneewehen bis hoch über die Türen und Fenster der Fachwerkhäuser. Es gab keinen Strom und keine Telefonverbindung. Jan und seine Mutter Monica waren wie alle Dorfbewohner von der Außenwelt abgeschnitten. Sie ernährten sich von Dosensuppen und Ravioli, die sie auf dem Camping-Kocher erhitzten. Wie auch das Wasser für Tee, Reis und Spaghetti. Sie kamen damit zurecht. Jan rauchte die Kyriazi Finas, die seine Mutter keineswegs unkompliziert aus der Türkei besorgt und dem Vater zu Weihnachten geschenkt hatte.
Jan liebte seine Mutter nahezu abgöttisch. In seinen Augen war sie die schönste und klügste Frau überhaupt. Sie war als Übersetzerin aus dem Schwedischen tätig, für Verlage und Firmen, war sehr gefragt.
Schnee und Eis forderten in den nächsten Wochen zahlreiche Todesopfer. Mindestens zwölf Menschen starben in der Region.
In Hamburg-Winterhude wurde in der Holzhütte auf dem Spielplatz des Kinderhauses Grasweg die nur leicht bekleidete Leiche eines jungen Mädchens entdeckt. Die Tote hatte eine schwere Kopfverletzung, die auf einen Schlag mit einem Kantholz oder Ähnlichem hinwies. Totschlag oder auch Mord also. Es fand sich aber nichts bei ihr, was auf ihre Identität hinwies. Niemandem der befragten Anwohner war sie bekannt.
4 Hinnerk warf noch einmal einen Blick auf das Foto, bevor er den knapp formulierten Bericht über das Auffinden der jungen Frau ablegte und sein Büro im vierten Stock des Präsidiums am Berliner Tor verließ.
Er hasste den Winter. Er hasste diesen Winter. Er hasste jeden Winter. Die Monate rochen nach Tod.
Hinnerk nahm den Fahrstuhl. Er zog seinen Jagdhut mit Feder tief in die Stirn und ging über den Platz zu seinem alten Opel. Fünfzehn Minuten später parkte er den Wagen vor dem Mietshaus in Stellingen, schloss auf und betrat sein Einzimmerapartment mit winziger Küche und Bad.
Hinnerk lebte nur knapp einen Kilometer von seiner früheren Wohnung entfernt. Dreieinhalb Zimmer, Hochparterre, Zugang zum Hof, eine große Rasenfläche mit begrenzenden Bäumen und dichtem Gebüsch.
Eine Idylle.
Ideal für die heranwachsende Tochter.
Für Sylvie.
Die Ähnlichkeit des tot aufgefundenen Mädchens mit Sylvie hatte Hinnerk für Sekunden den Atem stocken lassen. Beinahe wäre er in der Gerichtsmedizinischen aus den Pantinen gekippt. Er war ins Freie gestolpert, hatte sich in der eisigen Kälte an die Mauer gelehnt und mit zitternden Händen eine geraucht.
Seine Tochter.
Nein! Nein, nein!
Seine Tochter war nicht tot.
Sie war weg – ja. Aber nicht tot.
Sie lebte bei ihrer Mutter in Arizona.
Cathrin war zurück auf die Farm ihrer Eltern. Sie versuchte, sich als freischaffende Gebrauchsgrafikerin zu etablieren. Sie hatten sich getrennt und gütlich geeinigt. Auch darüber, dass Sylvie bei ihrer Mutter blieb.
Hinnerk telefonierte regelmäßig mit ihr.
Es tat ihm nicht gut.
Er spürte dann, wie sehr er sie vermisste.
Jetzt hatte es ihn voll erwischt.
Beim Anblick eines ihr ähnlich sehenden toten Mädchens.
Hinnerk pellte sich aus seinen Klamotten, duschte heiß und hüllte sich in einen Hotelbademantel.
Er gönnte sich ein Bier.
Er rauchte eine Lucky.
Er knackte eine weitere Dose und schob eine Tiefkühlpizza in den Ofen.
Er schaltete den Recorder ein. Melodischer Jazz. Gerry Mulligan. Hinnerk rauchte. Hinnerk trank.
Die Pizza war fertig. Er aß ein Stück, er trank, er rauchte.
Hinnerk versuchte, nicht länger an Frau und Tochter zu denken. Es gelang ihm nicht. Wie auch?
Impulsiv griff er zum Telefon und wählte die Nummer des »Relax«, fragte nach Barbara. Es dauerte, bis sie sich meldete.
»Es wird spät«, sagte sie.
»Ich warte«, sagte er. »Bring noch was zu trinken mit.«
5 Sie legten die Mathebücher beiseite.
Jan lockerte die verspannten Muskeln. Torsten drehte die Anlage auf, seine Blues-Boogie Top Ten. Er machte ein paar Fingerübungen, schlug Akkorde auf der Tischplatte an.
»Der Steinway«, sagte er, »das ist das Einzige, was mir hier fehlt, ehrlich.«
Sie waren in der Wohnung von Torstens Tante, Nobelausstattung, Eppendorf, beste Lage. Tante Bea war Model, international gefragt. Zurzeit in Paris.
»Du kannst doch locker wieder zu deiner Mutter«, sagte Jan. Er zündete sich eine Zigarette an. Eine von Torstens.
»Ich kann mir auch die Kugel geben.«
»Wenn du ’ne Knarre hast.«
»Nee, du, bei der Alten hab ich die Hölle.«
»Kapier ich zwar immer noch nicht, aber …«
»Ey, sie lässt ihren ganzen Frust mit Pa an mir ab. Und sie trinkt, das ist widerlich. Ich kann das jedenfalls nicht ab. Solange Tante Bea unterwegs ist, hab ich hier meine Ruhe.« Er nahm sich auch eine Kippe, rauchte sie an. »Blöd, dass deine Schwester nicht auf mich steht.«
Jan winkte ab.
»Die ist doch durchgeknallt.«
»Nee!«
»Aber voll.«
»Hat sie jemanden?«
»Frag sie. Mir zeigt sie nur den Finger.«
»Blöd«, sagte Torsten noch einmal. Er fand Ulrike super. Schlank, sportlich und das dichte rotes Haar, immer flippig gekleidet. So wie die Uschi, die Uschi Obermaier. Die jetzt mit so ’m Kiez-Typ abgedüst war. Meine Fresse. Das konnte man nicht verstehen, so was.
Er trat ans Fenster und blickte über die Dächer des Viertels. Es schneite. Unten auf der Straße schlitterten die Leute zum Stadtteil-Italiener.
»Ich denk, für heute sind wir durch«, sagte Jan. »Gehen wir noch auf ’n Bier?«
»Ins ›Pö‹«, sagte Torsten. »Da hab ich vielleicht die Chance, noch bei ’ner Jam Session einzusteigen.«
6 Ulrike musste sich einiges von ihren Mitbewohnern anhören. Sie waren eine WG in einer acht Zimmer großen Altbauwohnung in der Brahmsallee.
Antje und Hajo, Jutta und Rolf und sie.
Antje und Hajo waren ein Paar, studierten beide auf Lehramt. Nette Typen, ein bisschen naiv vielleicht.
Rolf war auf der Schauspielschule Frese. Er war schon für kleinere Fernsehspielrollen engagiert worden. Nach eigener Aussage war er bi.
Jutta war die »Politische«. KBW. Kommunistischer Bund Westdeutschland. Sie führte das große Wort. Sie warf Ulrike vor, jeden Morgen zu lange im Bad zu sein.
»Das geht bis zu ’ner Stunde! Eine Stunde – und du schließt ab!«
Ulrike reichte es.
»Willst du mein Kacken kontrollieren?!«
»Das ist unsolidarisch!« Kreisch! Kreisch!
»Und was ist mit dir? Mit deinem seltsamen Gast?«
»Wie? Was?« Augenblicklich war Jutta äußerst irritiert. »Was soll das jetzt?«
»Der Typ hängt die ganze Zeit bei dir rum, lässt sich nicht blicken und beteiligt sich an nichts. Aber er geht heimlich an den Kühlschrank! Ja, was ist mit ihm? Zahlt er was in die Kasse? Tut er irgendwas? Hat er außer ›Genosse‹ auch noch ’n Namen …«
»Das geht dich gar nichts an!«
»Klasse«, sagte Ulrike. »Super.« Sie schaute auf die Uhr. »Ich muss los«, sagte sie. »Hängt mir ’n Zettel mit eurem Gejammer hin, ich werd sehen.«
7 Ingo wurde bereits ungeduldig von seinem Mentor Helmut Kügel erwartet. Der Kreisvorsitzende trug einen Smoking und eine rote Fliege.
»Alles glatt gelaufen?«, fragte er.
Ingo hielt ihm einen prall gefüllten Umschlag hin.
»Ich musste noch was mit ihr trinken.« Er war blass, und seine Hände zitterten. Er hatte nichts getrunken. Er hatte geredet, viel geredet. Und dann auch noch einen Weg machen müssen.
»Sie wollte so zwischen fünfzehn und zwanzig locker machen«, sagte Kügel. »Für die Partei.« Er lächelte ein schmallippiges Lächeln.
»Das … keine Ahnung, ich hab nicht nachgezählt«, sagte Ingo.
Kügel winkte ab.
»Egal. – Bring es morgen als Erstes zur Bank. Ins Schließfach. Notier den Betrag. Ich verbuch das dann später. Ich hab dir den Schlüssel rausgelegt.« Er wies zum Schreibtisch am Fenster.
Der Raum war ansonsten nur noch mit zwei kaum bestückten Regalen und einer schlichten Sitzecke ausgestattet. An der Wand Wahlplakate. Kügel im Anzug, Hemd mit offenem Kragen. »Die Nase vorn! Mit Hamburg voran!«, »SPD – Wir sind Europa!«
Helmut Kügel trat dicht an Ingo heran.
»Du kannst mich nächste Woche nach Bonn begleiten, mein Hase.« Er strubbelte spielerisch Ingos dünnes Haar. In Ingo stieg Widerwille auf, eine bittere Übelkeit.
8 Bonnie trat aus dem »Chikago« am Hans-Albers-Platz ins Freie. Zwei Hells Angels machten die auf Einlass wartenden Mädel übel an. Verbal und gestisch. Bonnie erkannte unter ihnen die Rothaarige. Ein scharfes Gerät. Manchmal ließ sich auch ihr Daddy blicken. Stimme der Jugend im NDR. Wichtiger Mann für den Laden.
Bonnie ging auf die beiden Angels zu.
Federnder Gang, die Arme locker an den Seiten.
Er war nicht sehr groß, aber kräftig gebaut. Trug Jeans und einen James-Dean-Blouson über’m blendend weißen T-Shirt. Die Haare halblang und geföhnt, ein sauber gestutzter Schnäuzer. Am Handgelenk ein goldenes Kettchen, dazu eine teuer aussehende Uhr.
»Lasst das«, sagte er. »Das mögen wir hier nicht.«
Die beiden Typen lachten ein Nikolaus-Lachen: »Ho! Ho! Ho!« Sie schlugen sich gegenseitig auf die Schulter: »Hast du gehört? Er mag das nicht!« – »Wer ist er denn?« – »Was will er denn?«
»Verpisst euch«, sagte Bonnie.