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Ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimipreis 2020 Ausgezeichnet mit dem Stuttgarter Krimipreis 2021 Platz 2 Buchkultur: Die besten Krimis der Saison Auf der Krimibestenliste von Dradio und FAS »Göhre schreibt Kino – Zeitreisen, Liebe, Schmerz und Erlösung inbegriffen.« Friedrich Ani »Endlich ist diese ganz besondere Stimme wieder da – sprachgewaltig, schnell, milieustark. Frank Göhre ist ein Meister, das dunkle Leuchten seiner Figuren einzigartig.« Simone Buchholz Ein Toter auf einem Autobahnrastplatz, eine verschwundene Fünfzehnjährige, korrupte Polizisten – und mittendrin ein Mann, der wissen will, warum sein Bruder sterben musste. Zehn Jahre nach seinem letzten Roman zeigt sich der zweifache Gewinner des Deutschen Krimi Preises auf der Höhe seines Könnens. Ein rasantes Roadmovie zwischen Hamburg, Köln und Amsterdam. Der Hamburger Restaurantbetreiber Schorsch Köster bekommt einen Anruf. Sein Bruder Michael wurde tot auf einem Autobahnrastplatz gefunden, erschlagen und vollständig ausgeraubt. Von dem Täter fehlt jede Spur. Schorsch begibt sich auf Spurensuche und muss erkennen, kaum etwas von Michael und dessen Leben gewusst zu haben. Und was hat Michaels Tod mit einer verschwundenen Fünfzehnjährigen zu tun, die von Zuhause ausgerissen ist? Seine Recherchen führen Schorsch von Hamburg über Köln ins Rotlichtmilieu von Amsterdam. Mitten hinein in die Abgründe von Familiengeschichten, auch die der eigenen. »Ein Mann versucht, den vergifteten Tentakeln der Vergangenheit zu entfliehen, und gerät in die Untiefen eines Lebens, das ein Fremder geführt hat: sein Bruder. Ein Trip in die Arktis der menschlichen Seele. Atemholen verboten.« Friedrich Ani Pressestimmen »Frank Göhres Protagonisten sind tapfere Glücksritter, Leute, die frei sind in ihren Berufen, auf dem eigenen vergeblichen Weg ins Glück, der bestenfalls mit etwas Knete endet. Gegen die Anstandsgebote der Spießerwelt gehorchen sie ihren eigenen Regeln, lustbetont und widerständig. Die Welt wäre besser, wenn es mehr Kriminalromane wie diesen gäbe.« Tobias Gohlis »Frank Göhre: Der Klassiker der deutschen Genreliteratur.« Ulrich Noller, WDR »Ein wunderbarer, böser, trauriger, zärtlicher Roman über kaputte Typen, die man manchmal aus dem eigenen Spiegel zu kennen glaubt … große Krimikunst!« Marcus Müntefering »Unterhalb der Spießerlatte: schwarze Romantik, rauhes Leben. Das kann nur Göhre.« Jury Krimibestenliste DLF Kultur und FAS
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Seitenzahl: 157
eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2020
Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg
Tel. +4940 31108081, [email protected]
www.culturbooks.de
Porträtfoto Frank Göhre: @ Greta Windfuhr
Alle Rechte vorbehalten
Redaktion: Jan Karsten
Covergestaltung: Cordula Schmidt
eBook-Herstellung: CulturBooks
Erscheinungsdatum: 2020
ISBN 978-3-95988-163-0
Ein Toter auf einem Autobahnrastplatz, eine verschwundene Fünfzehnjährige, korrupte Polizisten – und mittendrin ein Mann, der wissen will, warum sein Bruder sterben musste. Zehn Jahre nach seinem letzten Roman zeigt sich der zweifache Gewinner des Deutschen Krimi Preises auf der Höhe seines Könnens. Ein rasantes Roadmovie zwischen Hamburg, Köln und Amsterdam.
Der Hamburger Restaurantbetreiber Schorsch Köster bekommt einen Anruf. Sein Bruder Michael wurde tot auf einem Autobahnrastplatz gefunden, erschlagen und vollständig ausgeraubt. Von dem Täter fehlt jede Spur. Schorsch begibt sich auf Spurensuche und muss erkennen, kaum etwas von Michael und dessen Leben gewusst zu haben. Und was hat Michaels Tod mit einer verschwundenen Fünfzehnjährigen zu tun, die von Zuhause ausgerissen ist? Seine Recherchen führen Schorsch von Hamburg über Köln ins Rotlichtmilieu von Amsterdam. Mitten hinein in die Abgründe von Familiengeschichten, auch die der eigenen.
»Ein Mann versucht, den vergifteten Tentakeln der Vergangenheit zu entfliehen, und gerät in die Untiefen eines Lebens, das ein Fremder geführt hat: sein Bruder. Ein Trip in die Arktis der menschlichen Seele. Atemholen verboten. Göhre schreibt Kino – Zeitreisen, Liebe, Schmerz und Erlösung inbegriffen.« Friedrich Ani
»Endlich ist diese ganz besondere Stimme wieder da – sprachgewaltig, schnell, milieustark. Frank Göhre ist ein Meister, das dunkle Leuchten seiner Figuren einzigartig.« Simone Buchholz
Frank Göhre, geboren 1943, aufgewachsen im Ruhrgebiet, lebt in Hamburg. Gleich sein erster Krimi, »Der Schrei des Schmetterlings« (1986) – Auftakt der inzwischen legendären Kiez Trilogie –, wurde mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichnet, ebenso wie sein Roman »Der Auserwählte« von 2010. Frank Göhre gab das Gesamtwerk des Schweizer Autors Friedrich Glauser neu heraus und schrieb seinen Lebensroman »Mo«. Mit Alf Mayer veröffentlichte er Bücher über Ed McBain (»Cops in the City«) und Elmore Leonard (»King of Cool«). Zu seinen Drehbucharbeiten zählen »Abwärts« (mit Götz George) und »St. Pauli Nacht« (Deutscher Drehbuchpreis, verfilmt von Sönke Wortmann).
Frank Göhre
Verdammte Liebe Amsterdam
Kriminalroman
Hochgeschwemmte Erinnerungen, Träume, diese Blutergüsse der Seele.
Nach Hans Henny Jahnn,
Am zwanzigsten kurz nach neun nahm Schorsch den Anruf entgegen. Der Himmel grau in grau, der Strand menschenleer, das Meer aufgewühlt. Schorsch stand auf der Terrasse der Inselpension, die brennende Zigarette in der hohlen Hand, ein nasskalter Wind blies ihm ins Gesicht. Der Anrufer nannte Name und Dienststelle. Er entschuldigte sich und drückte sein Bedauern aus, bevor er Schorsch darüber in Kenntnis setzte, dass sein Bruder Michael auf einem Rastplatz der A3 kurz vor Köln tot aufgefunden worden war. Nach ersten Erkenntnissen sei er hinterrücks überfallen, niedergeschlagen und komplett ausgeraubt worden. Todesursache sei ein kräftig ausgeführter Schlag mit einem Knüppel oder einem Stahlrohr gewesen.
Schorschs Blick fixierte einen imaginären Punkt am bleiernen Horizont. Auf die Frage des Beamten antwortete er mit einem knappen »ich komme« und beendete das Gespräch. Er blieb noch eine Weile auf der Terrasse stehen und versuchte sich zu erinnern, wann genau er seinen Bruder zuletzt gesehen hatte. Nah stand er ihm schon lange nicht mehr, aber wie auch immer, er war das einzige noch lebende Familienmitglied gewesen.
Michaels schmales Gesicht war gebräunt, das dichte dunkelblonde Haar ordentlich gekämmt, rasiert hatte man ihn nicht. Um seinen Mund lag ein spöttischer Zug, Ironie, Überheblichkeit. So jedenfalls kam es Schorsch vor. So kannte er ihn, herablassend. Er nickte und wandte sich dann zur Tür.
»Ich habe noch ein paar Fragen«, sagte die ermittelnde Kommissarin. Schorsch hatte ihren Namen schon wieder vergessen. Sie war extrem dünn, hatte eine stark ausgeprägte Nase und trug eine John-Lennon-Brille.
»Ja?«, sagte Schorsch.
Die Kommissarin räusperte sich.
»In meinem Büro«, sagte sie.
Es war ein schlecht gelüfteter, fast quadratischer Raum im Parterre. Zwei Fenster zur Straße hin, auf den Fensterbänken verschiedene Kakteen und ein goldglänzendes Gießkännchen. Aktenschrank, Schreibtisch, zwei Besucherstühle. Behördenstandard.
Die Kommissarin nahm Platz und bedeutete Schorsch, sich ebenfalls zu setzen.
Er tat es.
»Sie haben also Ihren Bruder eine Ewigkeit – sagen Sie –, eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. – Er lebte in Köln.«
Schorsch zuckte die Achseln.
»Gab es dafür einen Grund? Ich meine …« Sie blickte auf irgendein vor ihr liegendes Papier. »Ich meine, für den mangelnden Kontakt.«
»Wir hatten uns nicht mehr viel zu sagen.«
»Inwiefern?«
»Er hat sein Leben geführt, ich meins. Da gab es keine Gemeinsamkeiten.«
»Ihr Bruder hat dem Vernehmen nach als IT-Berater gearbeitet.«
»Sagt wer?«
»Seine Lebensgefährtin – eine Jutta Kotzke.«
Jutta! Seine Lebensgefährtin! Schorsch glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Er brauchte einen Moment, bevor er reagierte.
»Nett«, sagte er dann.
»Wie bitte?«
»IT-Berater. Freiberuflich, nehme ich an. Was anderes wäre für ihn ja auch nicht infrage gekommen. Nur nichts Festes, nichts Bindendes. Frei, immer frei sein, von allem unabhängig. War ja auch möglich, anfangs jedenfalls. Aber wenn man mit Geld nicht umgehen kann – ach, was soll’s!« Er machte eine knappe, abschließende Geste, hatte schon zu viel gesagt, zu emotional, zu heftig.
Die dürre Tante glotzte ihn an.
»War’s das?«, fragte er.
Jutta Kotzke wohnte in der Altstadt, im vierten Stock über einer Eckkneipe, kein Fahrstuhl, die Treppe mit grün gesprenkeltem Linoleum ausgelegt. Schorsch war gut trainiert, nahm jeweils zwei Stufen auf einmal und war kein bisschen außer Atem, als er an der Wohnungstür klingelte.
Jutta schien nicht überrascht. Sie bat ihn herein, ging vor in einen großen, hellen Wohnraum, karg eingerichtet, den eine karminrot bezogene Récamiere dominierte.
»Seit wann wart ihr zusammen?«
Sie hob abwehrend die Hände.
»Das waren wir nicht«, sagte sie. Sie hatte sich kaum verändert. Sportlich schlank, das kupferfarbene Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, perfektes Make-up, aber die Augen – er hatte sie anders in Erinnerung. »Das einzige Stück Papier, das Mike noch bei sich hatte, war meine Geschäftskarte. Ich habe denen gesagt, dass wir locker liiert waren. Mehr nicht – genau. Was die daraus machen, ist nicht mein Problem.«
Schorsch wischte sich mit der flachen Hand übers Gesicht.
»Hast du ’n Schluck Wasser?«
Sie sah kurz auf ihre Armbanduhr und ging wortlos nach nebenan. Er hörte sie mit Gläsern und Flaschen hantieren. Als sie zurückkam, reichte sie ihm ein hohes, geriffeltes Glas.
»Wodka Tonic«, sagte sie. »Ich nehme an, du hast deine Gewohnheiten nicht geändert. – Wie lange bleibst du?«
»Bis alles geregelt ist.«
»Ich habe noch einen Wohnungsschlüssel.«
Er nickte.
»Locker liiert also«, sagte er.
Jutta schüttelte den Kopf, nahm einen Schluck und trat ans Fenster, wandte ihm den Rücken zu. Schorsch registrierte, dass sich unter dem dünnen Stoff des beigefarbenen Kostümrocks ihr Slip abzeichnete. Es hatte Zeiten gegeben, da hätte ihn das erregt. Jetzt stellte er lediglich fest, dass ihr Hintern doch etwas breiter geworden war.
»Eines Abends stand er plötzlich vor der Tür. Keine Ahnung, wie er rausgekriegt hat, dass ich nach Köln gezogen war. Aber so was war für ihn ja schon immer ein Leichtes – genau. Wir haben miteinander geschlafen und dann immer wieder mal. Wenn es sich ergab. Zufrieden?«
»Wie gehabt. Mal mit ihm, mal mit mir.«
Sie lachte.
»Mein Gott! Ich hab keinem von euch je was versprochen.«
»Nur meine Kohle abgegriffen. Aber geschenkt. – Was war es bei Mike?«
Sie drehte sich zu ihm um, fixierte ihn.
»Zumindest in einem Punkt war er dir über«, sagte sie. »Er hatte Humor.«
Gegen drei in der Nacht wachte Schorsch auf. Er musste pinkeln. Im Bad sah er ungewollt in den Spiegel, schlaftrunken. Das Gesicht blass, tiefe Kerben an den Mundwinkeln, graue Bartstoppeln. Er sah scheiße aus. Er glaubte, von Jutta geträumt zu haben, von irgendeinem Badesee und einer Bullenhitze. Über nackte Haut krabbelnde Insekten. Leuchtendes Haar. Ein brennendes Gebüsch. Er drehte den Wasserhahn auf und trank einen Schluck.
Und dann war da wieder der reißende Bach. Die scharfkantigen Steine. Die Waldlichtung. Die durch das Geäst fallenden Sonnenstrahlen, ein Strahlenkranz. Und der Schrei, der durchdringende Schrei. Den hörte er seit Jahren immer und immer wieder, das ging nicht vorbei, war jedes Mal wie ein Stich ins Herz, mit eiskaltem Stahl.
Er fühlte sich einsam, alleingelassen, mehr denn je zuvor. Er dachte flüchtig daran, ob er mit Jutta hätte vögeln sollen. Der alten Zeiten wegen. Er betrachtete sein Spiegelgesicht, schüttelte den Kopf. Nein, es war gut, so wie es war.
Er ging zurück ins Zimmer, nahm ein Bier aus der Minibar und sah aus dem Fenster auf Bahnhof und Dom.
»M. Köster«. Computerschrift. Der schmale Papierstreifen war mit Tesa auf die dunkel gemaserte Holztür geklebt. Sie war nicht versiegelt. Schorsch schloss auf.
Es war ein geräumiges Einzimmerapartment mit Küchenzeile, möbliert mit Schlafcouch, Buchregal und Schreibtisch. Drei aufeinandergestapelte Alukoffer, ein Kleiderständer, an dem Hemden, Jacken und Hosen hingen, ein Trainingsbike am Fenster. Spartanisch. In der Hinsicht waren sie und auch Jutta sich ähnlich. Nur das Notwenigste an Einrichtung, kein Schnickschnack, keine Pflanzen, keine Blumen.
Die Luft war stickig.
Schorsch öffnete das Fenster.
Die hagere Tante im Präsidium hatte gesagt, dass Michaels PC noch gecheckt werde. Auf mögliche Tatverdächtige.
Schorsch hatte nur müde gelächelt.
Sein Blick fiel jetzt auf den Schreibtisch, auf das, mit dem er insgeheim gerechnet hatte. Das alte Einmachglas …
Frühjahr 1976 Sie sprangen aus dem Schulbus und rannten zum Haus. Hin zum Flachbungalow hoch über dem Fluss mit dem Blick auf die alte Burg. Mama Tilde stand in der offenen Haustür, und sie erschnupperten schon die Küchendüfte, Gebratenes und einen Hauch von Knoblauch.
»Spaghetti?«
»Das heißt Pasta, du Hirni!« Michael gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf.
Er schlug zurück. Mama Tilde trennte sie energisch.
»Nudeln mit Hack«, sagte sie. »Nudeln! Wascht euch die Hände und dann an den Tisch. Ich muss gleich noch mal los.«
»Wohin denn? Wohin?«
»Dürfen wir mit?«
»Was hab ich gesagt? Die Hände.«
Sie beeilten sich. Sie rückten ihre Stühle näher an den Tisch und verfolgten aufmerksam, was Mama Tilde dem einen und dann dem anderen auf den Teller schaufelte, bevor sie sich selbst bediente.
»Euer Vater hat angerufen, er bringt heute Abend jemanden mit. Er wünscht sich ein paar besondere Sachen, die bekomme ich nur in der Stadt.«
»Wer kommt denn?«
»Ja, wer wohl?«, sagte Michael. »’ne Tussi.«
»Michael! Das will ich nicht gehört haben.« Mama Tilde gab sich empört. Sie trampelten mit den bloßen Füßen auf den gekachelten Küchenboden, jauchzten.
»Hast du aber! Hast du aber!«, krähte Michael.
»Nee, mal ehrlich. Bringt er wirklich schon wieder ’ne Neue mit?«
»Was weiß ich. Er hat nichts weiter gesagt. Und jetzt Schluss damit«, sagte Mama Tilde und beugte sich über ihren Teller. Michael wechselte einen Blick mit ihm.
Später lungerten sie auf der breiten Couch vor dem Fernseher herum und sahen sich ein Video aus der Sammlung ihres Vaters an, »Columbo«. Sein Geistesblitz. Nicht das, was auf der Aufzeichnung des Telefonats zu hören ist, bringt die Lösung, sondern das, was nicht darauf zu hören ist.
»Wow!«, sagte Michael. »Das isses! Andersrum denken!« Er klatschte sich begeistert auf die Schenkel. »Wie wär’s mit ’ner Runde Action?«
»Spritztour?«
»Ich weiß was Besseres.« Michael stand auf und winkte ihn mit sich. Er folgte ihm ins Arbeitszimmer ihres Vaters, an den Wänden gerahmte Stiche, Szenen aus dem Bergbau. Die Jalousien waren heruntergelassen, in der Luft der Geruch nach »Schwarzer Weisheit«, Papas Lieblingszigarre. Auf dem Schreibtisch eine schwarzlederne Federschale mit dem Logo des Konzerns und neben dem Telefon in einem schmalen Silberrahmen das Foto ihrer drei Jahre zuvor tödlich verunglückten Mutter.
Da waren sie zehn und elf gewesen.
Einen Moment lang betrachtete Michael das Bild, die Lippen zusammengepresst. Dann griff er nach dem bauchigen, mit Geldmünzen aus aller Welt gefüllten Glas: »Hier versteckt der Alte den Schlüssel zu seinem Waffenschrank, super, was …?«
Im Bankfach der regionalen Sparkasse befanden sich einige Schmuckstücke der verstorbenen Mutter, dabei ein Amulett mit dem Porträtfoto der Brüder im Vorschulalter, fröhlich lachende Jungs, Kopf an Kopf. Außerdem eine Dokumentenmappe, ein schmales Notizheft mit einem zeitlosen Kalender und zu Schorschs größter Überraschung Wertpapiere in einem Gesamtwert von etwa fünfundsiebzigtausend Euro, Teufel auch. Da hatte Mike sich ja doch was beiseitegelegt. Interessant.
Schorsch steckte alles ein, ging nach oben in den Kassenraum und verabschiedete sich. Es war nicht mehr ganz so schwül wie gestern, es sah nach Gewitter und Regen aus. Schorsch strebte zügig auf ein nahe gelegenes Café zu. Es war klein und hatte etwas von einer bürgerlichen Wohnstube mit Kamin. Auf einem antiken Sideboard lagen Tageszeitungen, darüber hing eine alte Bahnhofsuhr. Eine gemütliche Atmosphäre, heimelig.
Schorsch bestellte Rührei mit Bacon, Marmelade und Toast und eine große Portion Kaffee. Noch bevor ihm das Frühstück serviert wurde, begann er, das Notizheft durchzublättern.
Es waren ausschließlich Zahlen und Daten aufgelistet, versehen mit Kürzeln, offenbar Abkürzungen von Städten, kreuz und quer durch die Republik: Mü und HH, Ro., Fl., Bi., Stg. und andere. Gleich mehrere Male war Amst. notiert, mit dem Zusatz P Hendrik H., das Prins Hendrik Hotel, Amsterdam vermutlich, in dem Chet Baker bei einem Sturz aus dem Fenster ums Leben gekommen war. Schorsch kannte es, hatte vor Jahren selbst dort übernachtet.
Er blickte auf.
Eine junge Serviererin trat an seinen Tisch und erledigte routiniert ihren Job. Inklusive eines Lächelns. Schorsch lächelte zurück. Das Rührei war mit Schnittlauch garniert, der ihm eingeschenkte Kaffee roch gut. Schorsch nahm einen Schluck. Er entdeckte ein weiteres Amst., versehen mit einem Fragezeichen und darüber Kö. => Minetti St./M. Campmann.
Schorsch glaubte zu wissen, was das hieß. Aber er kam nicht sofort darauf. Minetti Stadt, Minetti Stadt – das war klar. Aber … beim Verzehren des Rühreis hatte er es dann.
Ihr Vater. Der Herr Papa. Seine morgendlichen Kommentare zu Zeitungsmeldungen und Berichten. Zu Politik und Kultur: »Minetti! Der große Minetti! Dieses Jahr muss ich es schaffen! Er ist mit seinem Thomas-Bernhard-Stück auf den Ruhrfestspielen!«
Die Ruhrfestspiele in Recklinghausen. Die Minetti-Stadt ihres Vaters.
Und Campmann? M. Campmann?
Der Himmel hatte sich noch mehr bezogen. Aus weiter Ferne war ein Donnergrollen zu hören. Passanten hasteten an Schorsch vorbei.
Hohe Straße. Der WDR. Die Domplatte.
Auf den Treppenstufen hockten abgewrackte Typen, umklammerten Bierdosen, bedröhnten sich. Zwei magere Hunde hechelten asthmatisch.
Im Hauptbahnhof suchte Schorsch sich eine einigermaßen ruhige Ecke. Er zog sein schlichtes Handy hervor und wählte die gespeicherte Nummer seines Hamburger Lokals. Bonnie meldete sich.
»Wie läuft’s auf der Insel?«
»Ich musste nach Köln«, sagte Schorsch. »Mein Bruder ist tot.«
»War er krank?«
»Ein Überfall. Angeblich. Dünn, sehr dünn. Eine scheiß Ermittlung – kommt ihr zurecht?«
»Immer. – Mein Beileid. Brauchst du Hilfe?«
»Nein, im Moment nicht. Ich melde mich dann.«
»Jederzeit«, sagte Bonnie.
»Wie macht sich Khasib?«
»Er ist in Ordnung«, sagte Bonnie. »Guter Typ. Ich hab ihm Papiere besorgt.«
Schorsch sagte nichts dazu. Nachdem er sich ausgeklinkt hatte, suchte er in den Kolonnaden des Bahnhofs nach der Parfümerie.
Jutta war allein im Geschäft. Sie hatte ihr Haar heute hochgesteckt, trug einen dunklen Hosenanzug, das auf Taille geschnittene Jackett über der weißen Bluse stand offen, alles top.
»Wie ist das Hotel?«, fragte sie.
»Ich habe von dir geträumt.«
Sie lachte. Es war ein gelöstes, ein fröhliches Lachen.
»Soll ich raten?«
»Was?«
»Deinen Traum. Ich bin sicher, es ging um Sex.«
»Der Gedanke kam mir erst, als ich wach war.«
»Ich schließe um achtzehn Uhr«, sagte sie. »Wir können zusammen essen gehen.« Schorsch sah sie mit hochgezogenen Brauen an. Sie zuckte mit den Schultern. »Es gibt keinen Grund, sich gegenseitig was nachzutragen. Ich seh das locker – genau.«
Schorsch tat, als müsste er darüber nachdenken. Abwägen.
»Wenn ich rechtzeitig zurück bin«, sagte er dann. »Ich hab noch was zu erledigen. – Hat Mike mal Recklinghausen erwähnt? Was er dort zu tun hatte?«
»Schorschi – ich hab’s dir gestern schon gesagt. Wenn wir zusammen waren, hatten wir Spaß. Was er sonst noch getrieben hat, hat mich genauso wenig interessiert wie umgekehrt. Nenn es oberflächlich oder wie auch immer, aber das war nie Thema …«
Sommer 1976 Sie hechtete ins Wasser, kraulte raus bis zur Begrenzung des Freibads, die Clique am Ufer johlte, schickte ihr anfeuernde Rufe hinterher. Sie war der Star. Die rote Jutta, einfach spitze, ein Wahnsinnsgeschoss. Von allen Jungs begehrt, doch keiner konnte mit ihr angeben.
Es war Hochsommer, Sommerferien in NRW. Sechs Wochen mit endlos erscheinenden Tagen. Tage im Freien, unten am Fluss oder mit dem Fahrrad raus an den See.
Er hockte mit Mike etwas abseits.
Mike zeichnete Striche und Kreise in den Sand, irgendwelchen kruden Scheiß. Er war sauer, stinksauer.
»Ich lass mir nichts mehr von der Ziege sagen, die kann mich. Sie ist nicht unsere Mutter, sie ist gar nichts, sie ist ’ne scheiß dämliche Kuh.«
»Dafür hat sie den Alten aber ganz schön eingewickelt. Echt raffiniert, das muss man ihr lassen.«
Mike war noch nicht fertig.
»Noch so ’n Klopper«, sagte er, »und ich feg ihr eine, ehrlich!«
Sie hatte ihn aufgefordert, den Abfluss der Duschkabine sauber zu machen. Er war verstopft. Mit Haaren. Mit ihren Haaren. Nur sie stand täglich unter der Dusche, ewig lang. Blockierte das Bad, hinterließ es wie Sau und gab ihnen die Schuld – den pubertierenden Flegeln, aufsässig und respektlos. Sie ließ nichts aus, um sie schlecht zu machen, schikanierte sie, war hundsgemein. Und Papa sagte nichts.
»Vielleicht ’n Fegeschuss.«
»Fangschuss, du Hirni!«, blaffte Mike ihn an.
»Weiß ich doch.«
»Dann sag’s auch. Ist nämlich gar nicht so blöd.«
»Wie meinst du?«
»Sollte man in Erwägung ziehen.«
»Was? Du spinnst doch!«
Mike stand auf. Er wischte mit dem Fuß weg, was er in den Sand gekritzelt hatte, zog seine Badehose zurecht, schlug ein Rad und noch eins und ging am Ufer breitbeinig in die Hocke. Er sah Jutta entgegen, die nach einer Runde im See brustschwimmend auf ihn zu kam.
»Hol uns mal drei Capri!«, rief er ihm zu.
Fangschuss! Das war doch krank, das konnte Mike nicht ernst meinen.
Er sah ihn vor sich, Vaters Jagdgewehr im Anschlag, den Finger am Abzug. Ein Schuss. Ein tödlicher Schuss. Ein Mord.
Er kaute noch daran herum, als Jutta aus dem Wasser stieg und zu ihnen kam. Sie rissen das Papier von den Eislutschern, Jutta sah von einem zum anderen.
»Miese Laune?«
»Strategiespiele«, sagte Mike. »Ich bin dabei mehr der offensive Typ.«
»Wobei?«
»Was würdest du tun, wenn dich jemand total abnervt?«
»Gar nicht erst hinhören«, sagte Jutta.
Mike sah sie mitleidig an.
»Wie Schorschi – wegducken und die Schnauze halten.«
»Ey, das stimmt nicht! Das hab ich nie gesagt!«
»So bist du aber!«
»Das ist jetzt echt mies!«
»Das finde ich auch«, sagte Jutta. »Und wenn du meinst, das imponiert mir, hast du dich geschnitten.« Sie beugte sich zu ihm rüber und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Ihm! Dem Kleinen! Dem Hirni! Sein Herz klopfte wie verrückt. Er wurde knallrot.