Hass ist keine Meinung - Renate Künast - E-Book

Hass ist keine Meinung E-Book

Renate Künast

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Beschreibung

Ein Aufruf zum Mut

»Du ekliges Wesen«, »Gesindel«, »du dummes Stück grüne Scheiße« – vermeintlich besorgte Bürger machen ihrer Wut in Hassmails oder feindseligen Kommentaren auf Facebook und Twitter Luft. Adressaten sind engagierte Menschen: Flüchtlingshelfer ebenso wie sozial Engagierte, Journalisten ebenso wie Politiker. Auch Renate Künast bekommt täglich den Hass zu spüren. Doch sie geht in die Offensive, reist zu den Absendern, sucht das Gespräch.

In klarer Sprache analysiert sie nun, woher der Hass kommt, warum AfD, Trump und Co. die Wut schüren und wie sie ihnen nützt – und sie warnt davor, wohin der Hass führen wird, wenn wir jetzt nicht eingreifen.

Ein eindringlicher Debattenbeitrag.

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Seitenzahl: 205

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Ein Aufruf zum Mut

»Du ekliges Wesen«, »Gesindel«, »du dummes Stück grüne Scheiße« – vermeintlich besorgte Bürger machen ihrer Wut in Hassmails oder feindseligen Kommentaren auf Facebook und Twitter Luft. Adressaten sind engagierte Menschen: Flüchtlingshelfer ebenso wie sozial Engagierte, Journalisten ebenso wie Politiker. Auch Renate Künast bekommt täglich den Hass zu spüren. Doch sie geht in die Offensive, reist zu den Absendern, sucht das Gespräch.

In klarer Sprache analysiert sie nun, woher der Hass kommt, warum AfD, Trump und Co. die Wut schüren und wie sie ihnen nützt – und sie warnt davor, wohin der Hass führen wird, wenn wir jetzt nicht eingreifen.

Ein eindringlicher Debattenbeitrag.

RENATE KÜNAST

HASS

IST KEINE

MEINUNG

WAS DIE WUT IN UNSEREM LAND

ANRICHTET

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Originalausgabe 08/2017

Copyright © 2017 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Ulrike Strerath-Bolz

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-21978-9V001

www.heyne.de

Inhalt

Die Lage

Etwas hat sich verändert

Der Anlass für dieses Buch

Enttäuschte Hoffnungen

Erste Hausbesuche

Eigentlich ein ganz zufriedener Mann

Ein alter Bekannter

Im Internet ist jeder König

Fluch der Digitalisierung?

Filterblasen und Echokammern

Der Rentner und sein syrischer Nachbar

Eine Art Heimsuchung

Gefährliche Technik …

… oder gefährliche Politik?

Rechtsextremismus: eine (immer noch) unterschätzte Gefahr

Auf dem rechten Auge blind

Die Neue Rechte

Erst gegen den Euro, dann gegen Flüchtlinge

Fake News

Alles halb so schlimm?

Die sogenannte Lügenpresse

Politische Korrektheit

Die Grenzen der Toleranz

Hass ist keine Meinung

Die Ursachen

Zwischenstand

Krise

Angst

Globalisierung

Hass

Orientierungslosigkeit

Teile und herrsche

Was tun?

Die lokale und die globale Dimension des Problems

Strafanzeigen und Strafanträge: Viel Lärm um (fast) nichts?

Notice and Take Down

Das Löschen von Hass-Kommentaren: ein harter Job

Mensch oder Maschine?

Wie es gehen könnte

Neue gesetzliche Regelungen

Öffentliche, transparent organisierte Löschverfahren, von Online-Dienstleistern finanziert

Wie geht es weiter?

Zerbrochene Fenster

In der Schule

Hatespeech trifft besonders häufig Frauen

Hass ist gefährlich

Rechtsradikal nennen, was rechtsradikal ist

Wir müssen reden

Anmerkungen

Die Lage

Etwas hat sich verändert

Am Anfang war es nicht mehr als ein Gefühl: »Etwas hat sich verändert.«

Mit Facebook, Twitter und Co. hat sich etwas verändert. Als die Kommunikation sich zu einem großen Teil in die virtuellen Räume des Internets verlagerte, blieb mir nichts anderes übrig, als zu folgen. Nie waren die Hürden für die Teilnahme am öffentlichen Diskurs niedriger als heute, wo die Qualifikation nur noch darin besteht, einen Computer bedienen zu können. Die sozialen Netzwerke haben den Meinungsaustausch rasant vereinfacht. Kann es für eine demokratische Gesellschaft ein größeres Glück geben?

Für Politiker war der Schritt in die sozialen Netzwerke eine Selbstverständlichkeit. Seit Juni 2009 bin ich bei Facebook aktiv, seit Mai 2013 bei Twitter. Das sind vier bzw. acht Jahre, eine kurze Zeit. Wie fast alle Kollegen nutze ich die sozialen Netzwerke, um Veranstaltungen anzukündigen, von ihnen zu berichten und mich zu politischen Fragen zu äußern. Zwar haben Online-Plattformen die traditionellen Kanäle der politischen Kommunikation nicht ersetzt – die Interviews in analogen Printmedien, Funk und Fernsehen, die Gespräche in Bürgerbüros oder bei politischen Diskussionsveranstaltungen. Doch Updates, Posts und Tweets nehmen immer mehr Raum ein. Sie sind zu alltäglichen Handlungen geworden, wie das Sichten der Post, die sich im Büro immer noch auch in Papierform anhäuft.

Ebenso schleichend tauchten irgendwann, zunächst noch vereinzelt, die ersten Hass-Kommentare auf.

»Sie sind das Letzte.« – »Sie sind einfach dumm und hässlich.« – »Noch hässlicher.« – »Müll und Unrat.«1

Ich weiß nicht, wie lange ich solche Botschaften gedanklich einfach weggeklickt habe. Ich las sie und vergaß sie wieder. Doch ihre Zahl wuchs und mit ihnen das Gefühl, dass sich etwas veränderte.

Mit richtiger Wucht traf mich die verbale Gewalt zum ersten Mal am 13. Januar 2016, am Morgen nach der Talkshow Hart aber fair, die am Vorabend in der ARD gelaufen war. Die Gäste: Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, Kristina Schröder (CDU), der Polizeigewerkschafter Rainer Wendt, Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung und ich. Die Schande von Köln – was sind die Konsequenzen? lautete der Titel der Sendung. Es ging um die Ereignisse am Kölner Dom in der Silvesternacht 2015/2016.

Keine zwölf Stunden nach der Talkshow saß ich mit Mitarbeitern in meinem Büro vor zweihunderteinundsiebzig Posts, die sich auf meiner Facebook-Seite gesammelt hatten. Nur drei oder vier konnte man als unfreundliche, aber immerhin noch inhaltliche Diskussionsbeiträge betrachten. Der Rest: Beschimpfungen, Beleidigungen, Pöbeleien. Einfach Hass.

Das Erschreckende an den digitalen Beschimpfungen: Sie sind oft unfassbar roh und aggressiv, in einem Ausmaß, das wir bisher nicht kannten. Anders als auf der Straße oder bei öffentlichen Veranstaltungen, wo handelnde Personen sich den Blicken und Urteilen anderer aussetzen, scheinen manche im Internet alle Hemmungen und jeglichen Anstand zu verlieren. Sie ergehen sich in Gewaltfantasien, verletzen, erniedrigen, beleidigen.

Leute wünschen sich ein Enthauptungsvideo von Renate Künast. Träumen wird man ja wohl noch dürfen.

User x: »Du bist eine kleine dumme F…«

User y: »Angenommen, du würdest in Begleitung von Gattin und Arbeitskollegen zufälligerweise mit Frau Künast in einem Lokal an einem Tisch sitzen, würdest du es wagen, deinen Satz mit dem ›F‹ vom Stapel zu lassen?«

User x: »Wenn ich nicht bestraft werden würde, würde ich sie töten. Ist deine Frage damit beantwortet.«

Solche Äußerungen gehen unter die Haut. Anfangs habe ich mich ernsthaft gefragt: Sieht so die Forderung nach einem politischen Dialog aus? Muss man darauf reagieren? Rausgehen? Auch wenn mich die Kommentare persönlich nur bedingt verletzen, belasten sie doch auf jeden Fall meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, allen voran eine studentische Hilfskraft, zu deren Aufgaben es gehört, meine Facebook-Seite zu betreuen. So beschlossen wir am Morgen nach der Talkshow bei Plasberg, diese Vorfälle nicht mehr zu ignorieren. Wir wollten allerdings auch nicht zu viel Arbeitszeit darauf verwenden. In ungefähr zehn Fällen stellten wir Strafanzeigen und Strafanträge.

Aber es trieb uns irgendwie um. Was wollen diese Leute eigentlich? Andersdenkende fertigmachen? Sie einschüchtern?

Da entstand im Büro eine Idee: Wir wandeln das für uns in positive Energie um. Ein bisschen Humor, etwas Poesie … Und so entstand in einem kreativen Prozess, der uns sogar Spaß brachte, unser Hate-Tool. Eine Art Formatvorlage für den perfekten Hass-Post. Wir wollten reagieren, ohne den Hass mit Hass zu beantworten, das war unsere Messlatte. Uns von würdelosen Kommentaren nicht dazu verleiten lassen, selbst andere herabzuwürdigen. Es störte mich, dass Politiker begannen, die Leute »Mob« und »Pack« zu nennen. Das ist nicht mein Weg. Man kann nicht fordern, dass Menschen die Würde anderer respektieren, und sich dann selbst nicht daran halten. Hass kann man nicht mit Hass bekämpfen.

Das Ergebnis war eine Hass-Netiquette, eine Art Anleitung, die wir auf meiner Seite posteten:

Hallo,

Sie wollen mir einen Hass-Kommentar schicken? Sich mal so richtig auskotzen? Vielleicht, weil ich in einer Talkshow nicht das erzählt habe, was Sie hören wollten? Oder weil Ihnen meine Politik nicht passt? Oder weil Sie meine Frisur nicht mögen?

Sie wissen aber noch nicht genau, was Sie schreiben sollen? Oder Sie haben eine ausgeprägte Rechtschreibschwäche? Dann gebe ich Ihnen hier ein paar Hinweise, die Ihnen das Schreiben und mir das Lesen erleichtern:

1. Grußformel

Die meisten Hass-Kommentare kommen ganz ohne Anrede aus. Tun Sie sich keinen Zwang an. Manche schreiben auch »Frau Künast!«, und manche bringen den immer wieder neuen Witz und nennen mich »Frau Knast«. Alles ist möglich. Sie können mich aber jederzeit auch mit »Sehr geehrte Frau Künast« anreden.

2. Inhalt

Hauen Sie einen raus. Seien Sie kreativ. Hier ein paar Dinge, die fast noch niemand geschrieben hat:

»Pfui!!!!«, »Unerträglich!!!!!«, »Peinlich!!!!!!«, »Sie sollten sich schämen!!!!!!!«

»Wenn ich die schon sehe!«

»Früher habe ich mal die Grünen gewählt, spätestens jetzt sind sie unwählbar!«

»Es wird bald Prozesse für Politiker (sic!) wie dich geben!«

»Noch schlimmer als die Roth!«

»Nie wieder Grün!«

»Und das von meinen Steuergeldern!«

»Dumm wie Brot!«

»Zieh die Schuhe aus!«

»Armes Deutschland!«

»Lern erst mal Türkisch!«

»Volksverräterin!«

»Wie war das noch mit Lincoln und Washington?«

Es gibt natürlich noch viel mehr Möglichkeiten. Schauen Sie sich die Kommentare Ihrer Vorgängerinnen und Vorgänger an. Kopieren Sie es einfach. Hauptsache, es geht Ihnen danach besser.

3. Stil

Sparen Sie nicht an Ausrufezeichen. Schreiben Sie einzelne Worte, Sätze oder gleich den gesamten Kommentar ruhig in Versalien.

4. Soziales

Sie werden bestimmt einige Likes bekommen. Je früher Sie posten, desto wahrscheinlicher ist das. Sehen Sie das als Bestätigung und liken Sie dafür die Hass-Kommentare der anderen. Solche Gruppenerfahrungen bei gleichzeitiger Einsamkeit daheim kann ich Ihnen dank meines Facebook-Profils kostenlos anbieten.

5. Konsequenzen

Sie brauchen die großen Worte nicht zu scheuen. Denn Sie wissen: Ich stelle zwar regelmäßig Strafanzeigen wegen Beleidigung und Volksverhetzung, die Ermittlungsbehörden verfolgen Ihre Taten aber nur vereinzelt und stellen die Verfahren rasch ein.

Trotzdem kann es unangenehm sein, wenn gegen Sie ermittelt wird. Erst kürzlich bekam ich diese E-Mail:

* * *

hallo frau kühnast

wie ich heute erfuhr, haben Sie mich wegen Beleidigung in Ihrer

facebookseite angezeigt.

natürlich war meine Wortwahl Ihnen gegenüber nicht richtig und total

überzogen und deshalb entschuldige ich mich auch in aller form deswegen. was

mich bei diesem beitrag geritten hatte kann ich jetzt nicht mehr

nachvollziehen denn ich finde diesen beitrag nicht mehr.

es war denke ich mal ein beitrag zur aktuellen Flüchtlingsdiskussion und in der aufgeheizten Stimmung bin ich wohl weit über das ziel hinausgeschossen … der Ermittlungsbehörde habe ich in meiner Stellungnahme mitgeteilt das ich den Tatbestand zugebe und ich mich bei Ihnen entschuldigen werde …

das ist mir jetzt eine Mahnung zurückhaltender in den sozialen medien zu sein. eine Geldbuße werde ich wohl leisten müssen.

mfg n bxxx

***

Mit unserem Hass-Tool hatten wir einen Weg gefunden, uns zu befreien und über die Kommentare zu lachen. Und wir hatten den Hatern im Netz einen Spiegel vorgehalten, ohne selbst unsere Haltung zu verlieren. Ich staunte nicht schlecht über die Zustimmung, die wir dafür erhielten. Schon an einem Tag hatten mehr als vierhundertfünfzig Nutzer unser Tool mit dem »gefällt mir«-Button geliked, mehr als hundert einen Kommentar hinterlassen. Überwiegend positive Reaktionen. Die anderen mussten sich wohl erst mal sortieren über unsere Art zu sagen: Ihr kriegt uns nicht.

Wir erhielten E-Mails, in denen Menschen uns mitteilten, dass sie sich »kaputtlachten«. Und auf einmal auch ruhige, sachliche Kritik an Politik.

Doch die Erleichterung war nur von kurzer Dauer. Denn täglich werden unzählige Betroffene erneut Opfer von Angriffen im Netz. Als befänden wir uns in einer digitalen Wildnis, machen die Täter Jagd auf ihre Beute. Und sie tun das in der Gewissheit, dass sie nicht zur Verantwortung gezogen werden.

Der Anlass für dieses Buch

Mir ist klar, dass ich keine Ausnahme bin. Fast jeder, der als Politiker, Journalist oder Prominenter in der Öffentlichkeit steht und aufrichtig Position bezieht, macht dieselben Erfahrungen. Der Hass im Netz beschäftigt und bedrängt uns, und das bringt nicht nur mich zum Nachdenken. Mich ließ das Thema nicht mehr los, und so habe ich versucht herauszufinden, ob es sich eher um die negative Begleiterscheinung einer neuen Technik handelt, eine Folge der Digitalisierung und der veränderten Kommunikation in den sozialen Netzwerken. Oder doch um ein politisches Phänomen.

Seit Monaten bewegen mich dieselben Fragen. Genau wie alle anderen, denen der Hass im Netz und seine Folgen Sorgen bereiten. Uns alle beschäftigt die Spaltung der Gesellschaft, die seit der Flüchtlingskrise im Sommer 2015 nicht mehr zu leugnen ist, als wütende Bürger sich vor eine Flüchtlingsunterkunft in Heidenau stellten und die Bundeskanzlerin beschimpften. Als Pegida-Anhänger Plakate hochhielten, auf denen sie dem damaligen Vizekanzler Sigmar Gabriel den Galgen wünschten. Besorgt schauen wir auf die Länder, in denen diese Spaltung noch weiter fortgeschritten ist. Besorgt sehen wir mit an, dass die Zahl der Menschen wächst, die sich in der freien, demokratischen Gesellschaft nicht mehr aufgehoben fühlen. Die meisten von uns können sich nicht vorstellen, dass diese Menschen zur Mehrheit werden. Aber in Großbritannien hat eine solche Mehrheit für den Brexit gestimmt. Und in den USA hat eine solche Mehrheit Donald Trump zum Präsidenten gewählt. Seither fragen wir uns, was hinter alldem steckt. Waren die Polarisierung der Gesellschaft und das Erstarken der Rechten nicht schon lange abzusehen?

Im Netz ergießt sich der Hass häufig anonym, viele Akteure bleiben unsichtbar. Das war ein Grund für Spiegel-Autorin Britta Stuff und mich, im Sommer 2016 loszugehen und bei einigen von ihnen an der Tür zu klingeln. Doch anstelle der Antworten, die ich zu finden hoffte, häufen sich die Fragen. Deshalb versuche ich im ersten Teil meines Buches eine Zustandsbeschreibung. Dazu gleiche ich das, was ich bei meinen Hausbesuchen und in vielen seither geführten Gesprächen erlebe, mit den Analysen von Historikern, Soziologen, Journalisten und Extremismusforschern ab. Auf diese Weise versuche ich, mir ein Bild zu machen über das, was wir im Moment erleben.

Enttäuschte Hoffnungen

Der Hass im Netz hat so zugenommen, dass das Thema Hatespeech inzwischen allgegenwärtig ist. Mein anfangs diffuses Gefühl hat sich in ein sichtbares Schreckgespenst verwandelt, das überall auf der Welt diskutiert wird. Auf einmal fragen sich alle: Was ist da los? Wo kommt das her?

Politik- und Medienbeobachter reiben sich verwundert die Augen über sogenannte Trolle: ein Pseudonym für Personen, die im Internet offenbar allein das Ziel verfolgen, andere zu demütigen und zu verletzen. Manche Opfer reagieren ähnlich offensiv-kreativ wie wir mit unserem Hate-Tool. Wie die Journalisten um Mely Kiyak, Yassin Musharbash, Deniz Yücel und andere, die Hate-Poetry-Lesungen veranstalten, bei denen sie ausgewählte rassistische Beschimpfungen öffentlich vortragen. Meine Kollegin Katrin Göring-Eckardt las schon im September 2015 in einem Facebook-Video Hate-Posts vor, die sie erhalten hatte. In den USA bittet die Fernsehshow Jimmy Kimmel Prominente zu solchen Lesungen vor die Kamera. Der norwegische Dokumentarfilmer Kyrre Lien spricht von Internet-Kriegern, die das Netz mit Hass überziehen.2 Er fand sie in Norwegen, den USA, England, Russland, Syrien. Und im US-amerikanischen Time Magazine geht der Autor Joel Stein der Frage nach, warum das Internet gerade dabei ist, sich in eine »Klärgrube der Aggression und Gewalt«3 zu verwandeln.

Ausgerechnet das Internet, das in seinen Anfängen so viele Hoffnungen weckte! Auf einen ungehinderten Fluss von Informationen, den Austausch von Meinungen und Bildung für alle. Selten war Kommunikation so total, selten war sie so demokratisch. Viele glaubten, die sozialen Medien würden politisch-revolutionäre Kräfte entfalten. Die Piratenparteien verschiedener Länder läuteten gar ein neues Zeitalter der Netzdemokratie ein, sie propagierten die Liquid Democracy, die jeden Einzelnen noch viel unmittelbarer an politischen Entscheidungen beteiligen sollte.

Die Piraten machten die Netzpolitik zu ihrem Kernthema und versprachen, mithilfe der digitalen Technik die Demokratie zu erneuern: Sie wendeten sich gegen den etablierten Politikbetrieb, nicht etwa, weil sie Politiker pauschal für unfähig hielten, sondern in dem Glauben, nur Digital Natives könnten die politische Revolution verstehen, zu deren Anführern sie sich aufschwangen. Als ich 2011 für das Amt der Regierenden Bürgermeisterin in Berlin kandidiert habe, spürte ich, wie die Technik-Nerds uns alle unter Druck setzten. Es war damals schwer, in Diskussionen einfach mit politischer Sachkenntnis zu punkten. Wer wie ich und so manche Kollegen die digitale Technik nicht als das neue Wunderwerkzeug anerkannte – geeignet, die Demokratie zu verjüngen –, wer sich skeptisch zeigte, der setzte sich dem Urteil aus, der politischen Steinzeit anzugehören.

Am Ende scheiterten die Piraten – wer hätte das vermutet – an einem Mangel an Demokratie. Weil sie glaubten, die Möglichkeiten der digitalen Vernetzung würden Strukturen überflüssig und jede Form von Hierarchie obsolet machen, wurden ihre Entscheidungsprozesse undurchschaubar. Anstatt Anträge vorzusortieren, sahen sie sich auf Parteitagen vor der unlösbaren Aufgabe, Tausende von Tagesordnungspunkten zu diskutieren. Sie mussten erfahren: Ohne Regeln und eine gewisse Ordnung geht es nicht. Fehlende Strukturen und ausufernde Entscheidungsprozesse führten dazu, dass nur die sich wirklich beteiligen konnten, die extrem viel Sitzfleisch und keine drängenden Verpflichtungen (zum Beispiel Kinder) hatten. Viele andere schloss das ausufernde Chaos aus Zeitgründen einfach aus.

Am Scheitern der Piraten wurde sichtbar, dass es die Menschen sind, die Demokratie machen, nicht die Technik. Sie entbindet uns nicht von der Verantwortung, uns darüber zu verständigen, wie wir leben wollen. Worüber wir sprechen wollen, welche Werte uns wichtig sind, aber auch, welche Tabus wir setzen.

Ungeachtet meiner Skepsis gegenüber den Demokratie-Versprechungen der Piraten glaube ich: Noch vor wenigen Jahren ahnte niemand von uns, dass wir das Thema Digitalisierung mal unter derart kritischen oder gar negativen Vorzeichen diskutieren würden. Im Gegenteil, wir trauten digitalen Medien die Kraft zu, die Welt selbst dort zu verändern, wo autoritäre Regimes mit aller Macht an ihrer Herrschaft festhielten. Als die arabische Welt im Dezember 2010 eine Serie von Protesten erlebte und der »Arabische Frühling« wesentlich durch Facebook, Twitter und Online-Blogs organisiert und befördert wurde, schienen sich diese Hoffnungen zu bewahrheiten. Das Internet lässt sich nicht kontrollieren, lautete die Botschaft. Es wird die Welt gerechter machen und Diktatoren das Fürchten lehren.

Doch nun sind wir es, die Anhänger der Demokratie, die sich fürchten. Bestürzt sehen wir, wie moralische Standards, die sich in der Gesellschaft über Jahrhunderte herausgebildet haben, von einem Sturm aus Tweets und Posts hinweggefegt werden.4 Wir fürchten uns auch deshalb, weil sich der Hass nicht auf die virtuellen Räume des Internets beschränkt, sondern vielerorts auf die Straße getragen wird, wo er quasi parallel stattfindet. Rechtspopulisten von Trump bis Marine le Pen, von Viktor Orbán bis zur AfD und den Aktivisten von Pegida münzen die Wut der Internet-Hater in eine Politik um, die den Demokratien in Europa und den USA gefährlich wird. Sie spalten unsere Gesellschaften und bedrohen damit ihren Zusammenhalt.

Das Phänomen Hatespeech beschränkt sich dabei nicht nur auf hin und wieder auftretende Shitstorms, die auf etwas reagieren. Nein, es geht auch ohne Anlass. Ich habe es mir zur Regel gemacht, jeden Montag auf Facebook eine Blume zu posten und das Foto mit einem Satz zu kommentieren, der mit dem Wunsch endet: »Euch eine gute Woche.« Das kann das Bild von einem Krokus sein, wenn der Frühling wieder einmal auf sich warten lässt: »Es bewegt sich was, es gibt Grund zur Hoffnung. Euch eine gute Woche.« Oder die bizarre Struktur einer Pflanze: »Die Natur schafft bizarre Gebilde, wie im wirklichen Leben. Euch eine gute Woche.« Auf diese Posts reagieren immer ein paar Nutzer, die sich bedanken oder das Foto kommentieren. Doch auch hier mischen sich die unvermeidlichen Posts voller Hass und Häme darunter.

Hass als Antwort auf eine Blume? War das der Moment, in dem ich angefangen habe, mich tiefer mit dem Thema zu beschäftigen? Es ging mir jedenfalls wie vielen, ich fragte mich immer häufiger: Was ist passiert? Warum verbringen Menschen ihre Zeit im Internet damit, andere zu verletzen, zu erniedrigen und zu beleidigen? Vor allem fiel es mir schwer, sie mir vorzustellen: Wer sind diese Menschen?

Erste Hausbesuche

Internet-Hater verbergen sich oft hinter der Anonymität digitaler Identitäten. Wir wissen also nicht, wer sie sind. Wir wissen nur, dass sie wütend sind. Doch woher kommt ihre Wut?

Die gängigste These zur Erklärung lautet: Es sind »Abgehängte«, sozial Benachteiligte, die ein kalter, menschenverachtender Kapitalismus in Zeiten der Globalisierung auf der Strecke gelassen hat. Viele sehen in den Internet-Kriegern vor allem Verlierer, die ihrem Frust über die eigenen prekären Lebensverhältnisse Luft machen.

Mit der Zeit empfand ich es aber als unbefriedigend, nur darüber zu spekulieren, wer hinter den Hass-Botschaften steckt und was ihre Motive sind. War die Erklärung wirklich so einfach? Haben wir mit unserer Politik in den letzten Jahrzehnten eine wachsende Gruppe von Verlierern geschaffen, die sich in ihrem Frust rechtsextremen Positionen zuwenden? In einem Gespräch mit der Journalistin Britta Stuff vom Magazin Der Spiegel entstand die Idee, der Frage nachzugehen. Mal loszugehen und herauszufinden, wie die Leute leben, die Hassbotschaften verbreiten. Wie sie denken.

Also beschlossen wir, einige Verfasser von Hass-Kommentaren zu besuchen. Britta Stuff verfasste eine Reportage über unsere Reisen, die am 29.10.2016 im Spiegel erschien.5

Die Recherche von Hassmail-Verfassern ist aufwendig, das wusste ich, seit ich die ersten Strafanzeigen gestellt hatte. Deshalb hätte ich mich ohne die Unterstützung von Britta Stuff kaum auf dieses Abenteuer eingelassen. Auch zu zweit blieben wir vorsichtig. Auf der Suche nach Gesprächspartnern, die wir mit ihren eigenen Posts konfrontieren wollten, wählten wir bewusst weniger drastische Kommentare aus. Es kostete mich schon einiges an Überwindung, Menschen aufzusuchen, die mich »Gesindel« oder »senil, geifernd, zickig« nennen. Da wollte ich nicht unbedingt auf jemanden treffen, der mir die Enthauptung wünscht.

Nachdem wir den Absender ermittelt hatten, druckten wir einen Post aus und fuhren los. Ohne Ankündigung. Es konnte passieren, dass wir vor verschlossener Tür stehen und unverrichteter Dinge zurückkehren würden. Was aber erwartete uns, wenn jemand öffnen würde? Wir sollten es bald erfahren. Den ersten Hate-Post-Verfasser, den wir für unser Experiment auswählten, trafen wir tatsächlich zu Hause an.

Eigentlich ein ganz zufriedener Mann

Mensch Künast, das saudumme Geblöke von Dir und deinem grünen Gesocks will doch keiner mehr hören, pack deine sieben Sachen und zisch ab.

Wir fuhren ohne Kamera, ohne Begleitung, nur Britta Stuff und ich, an einem heißen, schwülen Junitag. Leere Straßen, die Häuser mit Deutschlandfahnen geschmückt. Gerade lief die Fußball-Europameisterschaft. Das Navi lotste uns in einen Potsdamer Vorort, bis vor das Vorgärtchen eines Reihenhauses.

Ich erinnere mich an Heuschnupfen. Meine Nase war wegen der Allergie leicht geschwollen, der Kopf wegen der Hitze dick. Es kostete Mut zu klingeln. Und gleich respektvoll drei Schritte zurück. Was kommt jetzt wohl? Was für ein Typ Mensch, der sich auf meine Facebook-Seite begibt und pöbelt? War das wirklich eine gute Idee?, fragte ich mich und antwortete gleich: Ja, doch. Ich will schließlich verstehen, was sich tut in diesem Land. Vielleicht eine Begründung finden. Bleibt der Hass im Netz ein Schreckgespenst, das riesig vor uns steht, oder wird es kleiner, wenn man näher rangeht?

Die Tür geht auf. Vor mir steht ein Mann, in Shorts und mit freiem Oberkörper. »Guten Tag, ich bin Renate Künast.« – »Nein!« Blankes Erstaunen. Es dauert, bis mein Gegenüber sich entschließt zu glauben, dass ich es wirklich bin. Dann aber bittet er uns ins Haus. Schüttelt immer noch den Kopf. »Ich glaube es nicht!« Und geht schließlich doch los, um sich ein T-Shirt überzuziehen. Dann passiert, was ich ehrlich gesagt nicht erwartet habe. Wir sitzen anderthalb Stunden auf dem Sofa. Bei genügsamen anderthalb Litern Mineralwasser entspinnt sich ein intensives Gespräch. Den Fernseher hat mein Gastgeber ausgeschaltet, die Europameisterschaft ist für eine Weile nicht mehr so wichtig.

»Warum haben Sie mir das geschrieben?« Mit dieser Frage und dem Ausdruck des Posts in der Hand sitze ich in seinem Wohnzimmer auf dem Sofa. »Es kommt von meiner Wut«, ist seine Erklärung. Auf seiner Arbeitsstelle würden alle so reden. Sogar inzwischen auch mal die AfD wählen. Wie er.

Ich versuche herauszufinden, wie es ihm geht. Er ist Facharbeiter, sogar Meister. Sagt, er sei eigentlich zufrieden. Auch wenn er eine Gehaltserhöhung von seinem Arbeitgeber nicht ausschlagen würde. Aber dann kommt er zur Sache: Schon beim Lesen der BILD-Zeitung jeden Morgen rege er sich auf. Warum ist denn auf einmal Geld da, jetzt, wo Flüchtlinge gekommen sind? Er sagt keinen wirklich schlechten, abwertenden Satz über Flüchtlinge oder Ausländer. Doch immer wieder weist er darauf hin, wie es Kindern in der Schule und im Hort ergeht. Hier in Potsdam, vor seiner Haustür. Es sei kein Geld da für Essen oder für Ausflüge. Er selbst engagiert sich, investiert sogar privates Geld.

Da sei vor allem das starke Gefühl, dass niemand zuhöre, niemand hinsehe, wie es den Menschen geht. Hin und wieder würde er dann nachts bei Politikern auf Facebook seine Wut rauslassen. Danach gehe es ihm besser, er sagt, er fühle sich dann auf Augenhöhe. Lange sprechen wir über komplizierte Zusammenhänge in der Politik, über die Griechenland-Rettung.

Er wundert sich, als ich ihm erkläre, dass wir Deutschen von der Rettung der Griechen profitieren. »Das steht ja so nirgendwo in einer Zeitung oder im Netz«, behauptet er.

»Sie lesen das Falsche«, erwidere ich.

Und dann sagt er diesen Satz, der ihm wichtig ist: »Alle werden gerettet. Aber kümmert sich auch mal jemand um uns?«

Er erläutert seinen Ärger am Beispiel der Bundeskanzlerin, Angela Merkel. Die sieht er ständig im Fernsehen, immer ist sie gerade dabei, irgendjemanden zu retten. Das Klima, die Griechen, die Flüchtlinge. »Uns haben die da oben vergessen.« Davon ist er fest überzeugt.