Hawaii - Cihan Acar - E-Book

Hawaii E-Book

Cihan Acar

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Beschreibung

Cihan Acars brisantes Debüt über Heimatlosigkeit und Toleranz in unserer zerrissenen Gesellschaft ist „ein rauschhafter Trip durch Heilbronn, der den Leser sofort in seinen Bann zieht.“ Benedict Wells

Es sind die heißesten Tage im Jahr, Hundstage, die, so glauben manche, schweres Unheil bringen. Kemal Arslan läuft durch Heilbronn, ein Fußballstar, der nach einem Unfall seine Karriere beenden und von vorn anfangen muss. Unbeteiligt steht er auf einer türkischen Hochzeit herum, geht in ein Striplokal und ins Wettbüro, gerät mitten hinein in eine Straßenschlacht zwischen Rechten und Migranten, trifft seine Exfreundin Sina und besucht seine Eltern, die, wie die meisten Türken der Stadt, in Hawaii wohnen, einem Problembezirk mit heruntergekommenen Hochhäusern und rauem Straßenleben, der rein gar nichts mit dem Urlaubsparadies gemeinsam hat. Cihan Acar erzählt von zwei Tagen und drei Nächten eines jungen Mannes, in denen er alle Stadien von Illusion, Sehnsucht und Einsamkeit durchquert. Ein Buch über all die Heimatlosen, Nachtgestalten und Romantiker, die im Dazwischen leben.

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Über das Buch

Cihan Acars brisantes Debüt über Heimatlosigkeit und Toleranz in unserer zerrissenen Gesellschaft ist »ein rauschhafter Trip durch Heilbronn, der den Leser sofort in seinen Bann zieht.« Benedict WellsEs sind die heißesten Tage im Jahr, Hundstage, die, so glauben manche, schweres Unheil bringen. Kemal Arslan läuft durch Heilbronn, ein Fußballstar, der nach einem Unfall seine Karriere beenden und von vorn anfangen muss. Unbeteiligt steht er auf einer türkischen Hochzeit herum, geht in ein Striplokal und ins Wettbüro, gerät mitten hinein in eine Straßenschlacht zwischen Rechten und Migranten, trifft seine Exfreundin Sina und besucht seine Eltern, die, wie die meisten Türken der Stadt, in Hawaii wohnen, einem Problembezirk mit heruntergekommenen Hochhäusern und rauem Straßenleben, der rein gar nichts mit dem Urlaubsparadies gemeinsam hat. Cihan Acar erzählt von zwei Tagen und drei Nächten eines jungen Mannes, in denen er alle Stadien von Illusion, Sehnsucht und Einsamkeit durchquert. Ein Buch über all die Heimatlosen, Nachtgestalten und Romantiker, die im Dazwischen leben.

Cihan Acar

HAWAII

Roman

Hanser Berlin

Donnerstag

1

Immer wollen sie, dass man mittanzt.

Bekannte und Unbekannte kamen ständig vorbei, versuchten alles. Komm, stell dich nicht so an, nur einmal, auf. Wenn einer nicht tanzen will, denken die Leute, ihm fehlt etwas. Mir fehlte nichts. Außer halt, dass ich nicht länger als nötig auf dieser Hochzeit bleiben wollte.

Ich saß an einem bestimmt fünf Meter langen Tisch direkt neben der Tanzfläche, wo nur die besten Freunde des Brautpaars sitzen durften. Der Bräutigam hatte sich von mir versprechen lassen, dass ich an diesem Tisch sitzen würde. Ich weiß nicht, warum ihm das so wichtig war. Wir kannten uns zwar schon lange, waren aber nicht gerade Kindergartenfreunde, die im Sandkasten Blutsbrüderschaft geschlossen hatten oder so. Tarık hieß er.

Irgendwann kam auch er an, und zwar in Begleitung des Kamerateams, das ihm überallhin folgte. Er streckte mir seine Hand entgegen, lächelte und sagte nichts. Dank einer großen Leinwand, die direkt neben der Bühne aufgebaut war, konnte man die Szene auch auf den hinteren Plätzen live mitverfolgen. Ich hatte also gar keine Wahl. Hoffentlich war sein Heiratsantrag nicht ähnlich abgelaufen.

Auf der Tanzfläche begrüßten sie mich wie jemanden, der gerade von einer Weltreise zurückgekommen war. Eine Riesenaufregung. Sie bildeten einen Kreis, jemand schubste mich in die Mitte, alle klatschten mir zu. Ganz alter Trick. Zum Glück löste sich der Kreis bald auf, und nach einer Weile konnte ich zurück an den Tisch.

Dort landete ich zwischen zwei Autoexperten. Sie spielten ein Spiel, bei dem sie abwechselnd ihr Traumauto beschreiben sollten. Der linke war gerade dran: »Weißer A6, S-Line, Zweiliter-Diesel, 190 PS. TDI und noch Sportsitze dazu. Ich wär der King von Heilbronn!«

»Brutales Ding, Bruder«, sagte der rechte. Dann bastelte er sich auch einen Wagen aus möglichst vielen Fachbegriffen zusammen. Ich hörte den beiden eine Weile zu und tat beeindruckt, verstand aber kaum ein Wort.

Die Band machte eine Pause. Schreiende Kinder eroberten sofort die leer gewordene Tanzfläche. Der Trommler, der sich unter die Tanzenden gemischt hatte, kehrte zurück zu seinen Kollegen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das Hochzeitspaar setzte sich an den Brauttisch, der genau gegenüber von uns stand und gar nicht wie ein Tisch aussah, eher wie ein kleines Schloss aus Seide. Überall rosa Herzen und weiße Schleifen.

Die Braut verschränkte die Arme auf dem Tisch, lehnte sich nach vorne und sah auf etwas hinab. Sie wirkte irgendwie traurig. Ich wusste über sie nur, was Tarık mir erzählt hatte, nämlich dass sie Ebru hieß und erst seit ein paar Monaten in Deutschland war. Als eine ältere Frau ankam, um Fotos von den beiden zu machen, schaltete sie sofort wieder in den Festmodus. Der traurige Blick war weg. Wahrscheinlich hatte sie sich nur ausgeruht, kurze Pause vom ewigen Pflichtgrinsen.

Aber nein, jetzt sah ich es auch. Es war der Kachelboden.

Er fiel kaum auf. Man wurde abgelenkt durch die vielen Menschen und Stühle im Saal, die Dekoration und den roten schmalen Teppich, der vom Eingang bis zur Tanzfläche reichte. Wenn man es einmal gesehen hatte, gab es aber kein Entkommen mehr. Braune Kacheln überall.

Ebru nahm jetzt Glückwünsche an und verteilte Küsschen. Ich konnte ihren traurigen Blick nicht vergessen. Bestimmt hatte man ihr gesagt: Schau, dass du einen Mann aus Deutschland heiratest, die haben Arbeit und Geld, da hast du keine Sorgen. Und jetzt musste sie auf diesem verdammten Kachelboden heiraten, der eher zu einem Kneipenklo passte. Und das an einem Donnerstag, weil es günstiger war als am Wochenende. Willkommen in der Minderheit. Ich rutschte ein Stück nach hinten und beugte mich zum Boden runter. Mich wirst du nicht kriegen, merk dir das. Ich werde niemals so heiraten, ich nicht. Der Boden aber wurde frech: Alles klar, bei dir wird es natürlich eine Hochzeit im Schloss sein, du bist ja so anders.

Musste ich mir nicht bieten lassen. Ich stand auf und lief in Richtung Ausgang. Gerade wurde das Essen ausgeteilt, fast alle Gäste saßen auf ihren Plätzen. Wer nicht schon mit seinem Teller beschäftigt war, sah mir beim Gehen zu. Ein Mann legte den Arm um die Schultern seines Sohnes, der neben ihm saß und auf seinem Handy zockte. Er sagte etwas zum Sohn und zeigte dann auf mich. Der Sohn fragte etwas zurück. Der Vater schüttelte den Kopf und gab eine kurze Antwort. Der Sohn konzentrierte sich wieder auf sein Spiel.

Ich lief weiter und streckte den Rücken durch. Der Weg zum Ausgang schien immer länger zu werden. Schieb keine Filme, Kemal. Du kennst die Stadt. Die Stadt kennt dich. Ihr müsst nur wieder zueinanderfinden, dauert halt manchmal etwas länger. Das wird schon.

Fast hatte ich es nach draußen geschafft, da rief jemand nach mir.

»Kemal! Lan, Kemal! Komm her!«

Rechts und links vom Ausgang waren ein paar Stehtische aufgestellt, an einem von ihnen stand Osman amca. Er ist gar nicht mein Onkel, aber ich nenne ihn trotzdem amca. Das macht man so. Osman amca war ein kleiner Mann mit Halbglatze, ein alter Freund von meinem Vater. Alles an ihm war grau. Die verbliebenen Haare, die Bartstoppeln, der Anzug, die schiefgebundene Krawatte. Nur die dicken Augenbrauen waren schwarz. Er hielt ein Glas Rakı in der Hand und winkte mich langsam heran, als würde ich gerade einparken. Dann packte er mich am Kopf, gab mir einen Kuss auf die Stirn und betrachtete mich mit dem leeren Lächeln eines Betrunkenen.

»Seit wann bist du zurück?« Obwohl seine Stimme immer heiser klang, schrie er halb beim Sprechen. Er könnte Flüsterpost spielen und man würde im Zimmer nebenan immer noch jedes Wort verstehen.

»Schon eine Weile. Wir haben uns doch letztens erst gesehen.«

Er nickte mehrmals, aber es war klar, dass er sich nicht erinnerte. Dann schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch und rief mit erhobenem Zeigefinger: »Weißt du was? Ich habe deinen Weg verfolgt, von Anfang bis Ende. Ich weiß Bescheid!«

Danach kam ein langer Monolog, dem ich nicht ganz folgen konnte, aber die Grundaussage war: Ich hatte alles falsch gemacht. Wenn ich nur etwas weniger falsch gemacht hätte, wäre ich jetzt berühmt und Multimillionär. Das hört man gern.

Mit einem schnellen Schluck leerte Osman amca sein Glas, legte den Arm auf meine Schultern und drehte mich Richtung Saal. »Schau dich genau um«, sagte er. Mit der Hand machte er einen weiten Bogen von links nach rechts. Ich sah mich genau um. Hochzeitsgäste beim Essen, mindestens dreihundert. »Hier gehörst du hin«, sagte er. »Du bist einer von uns. Das mit dem Fußball mag vorbei sein, aber du hast dein ganzes Leben noch vor dir. Vergiss Fußball. Wenn du dich richtig anstellst, kannst du einer unserer Anführer werden. Wir brauchen junge Leute, die uns voranbringen. Du hast das Zeug dazu. Allein der Wille zählt, mein Junge.«

Ich hatte nur kurz hallo sagen wollen und jetzt hatte ich die Hauptrolle bei König der Löwen im Migrantenremix. So schnell geht das. Um das Thema zu beenden, sagte ich ihm, dass er recht hatte und dass ich darüber nachdenken würde.

Ein Kellner kam vorbei, Osman amca hielt ihn fest. Er bestellte etwas und machte eine Trinkbewegung, die als Frage an mich gedacht war. Ich zuckte mit den Schultern.

Als der Kellner zurückkam, sah er sich ein paarmal um, reichte mir dann unter dem Tisch eine weiße Plastiktüte und machte sich davon. Ich schaute kurz rein: zwei Dosen Jacky-Cola. Osman amca zwinkerte mir zu. So ist das auf solchen Festen: Die Alten schießen sich ab, und die Jungen müssen im Verborgenen sündigen.

2

Ich durchlief das Industriegebiet in all seiner farblosen Pracht.

Bis auf den Feierlärm, der aus den gekippten Fenstern des Salons nach außen drang, war nichts zu hören. Meine Wohnung lag ein paar Kilometer entfernt im Stadtzentrum. Die S-Bahn fuhr um diese Zeit nicht mehr, Taxis waren auch keine in Sicht. Also lief ich weiter und kam in die Austraße, wo immerhin ein bisschen Verkehr war. Wann immer ich von hinten ein sich näherndes Fahrzeug hörte, hob ich den Daumen. Niemand hielt an.

In der Ferne sah ich gelbe Lichter, die alle Gebäude der Stadt weit überragten. Aber auf den Trick falle ich nicht mehr rein. Den bringt Heilbronn oft bei Nacht. Die Lichter sehen nämlich original aus wie ein gerade gelandetes Raumschiff. Erst wenn man ihnen entgegenläuft, merkt man, dass es doch nur die Kräne einer neuen Baustelle sind. Ist mir oft genug passiert.

Kurz vor der Allee kam ich an der Bierhölle vorbei. Die Bierhölle kannte ich gut, aber nur von außen. Auf der Eingangstür hing ein Schild, auf dem mit eisblauen Buchstaben mitgeteilt wurde, dass der Raum klimatisiert war. Ich wollte noch nicht nach Hause, also blieb ich vor der Tür stehen.

Als ich reinkam, drehten sich sechs Augen sofort zu mir, zwei waren geschlossen. Alle Wände waren rot gestrichen. Irgendwo sang Bon Jovi oder so. Überall hingen Fahnen und Wimpel: Deutschland, VfB, Heilbronner Schützenverein. Auf einer kleinen Bühne stand eine Tafel, die mit weißer Kreide beschrieben war und für Freitag Live-Musik mit Berny ankündigte.

Zwischen zwei älteren Herren war ein Platz frei. Der rechte schlief mit dem Kopf auf der Theke. Er hatte kurze weiße Haare, trug Muskelshirt und Silberkette. Der Mann links von mir kam mir bekannt vor. Ich kam aber nicht darauf, woher. Er trank gerade sein Glas aus. Weiter hinten in der Ecke saß noch einer, der so um die vierzig war und Vokuhila mit Überlänge trug.

»Was darfs sein?«, fragte der Wirt, ein Berg von einem Mann mit rotbraunem Schnauzbart.

»Irgendwas Süßes.«

»Also Radler. Und bei dir, Oskar, noch ein Hefe?«

Oskar nickte stumm.

Als er die zwei Getränke abgestellt hatte, deutete der Wirt auf mein Hemd.

»Was gabs zu feiern?«

»Für mich nichts, zwei andere haben geheiratet.«

Aus dem Augenwinkel beobachtete ich Oskar. Es ließ mir keine Ruhe. Der grauweiße Vollbart, die etwas längeren, für sein Alter noch kräftigen Haare. Die tiefen Falten auf den Wangen. Und die blauen Augen, die jetzt ganz kurz auf mich gerichtet waren. Da fiel es mir ein. Ich kannte ihn aus dem Creme, einem der wenigen brauchbaren Clubs der Stadt. Dort hatte ich ihn schon oft gesehen, im Untergeschoss zwischen der Garderobe, den Toiletten und der Sitzecke. Er hatte seinen eigenen Tisch, saß meistens einfach nur da und sprach mit niemandem. Wenn ihn mal ein besoffener Gast anlaberte, nickte er kurz und schaute weg. Ich hatte keine Ahnung, was seine Aufgabe war, aber ich kannte die Gerüchte über ihn: Ex-Millionär, Ex-Polizist, hat mal seine Ex umgebracht und lebenslang bekommen. Alles schon gehört.

»Wo war die Hochzeit, wenn ma mal frage darf!«, rief der Typ mit dem Vokuhila viel zu laut rüber.

»Keine Ahnung, wie die Halle heißt«, sagte ich. »Steht mitten im Industriegebiet.«

»Nazar«, sagte der Wirt, in perfekter Aussprache.

»Hab i mirs doch gedacht!«, rief der Typ in der Ecke. »Wir hams mit nem Türk zu tun. Harry, sagsch dus ihm, oder muss ich?«

Er kam angewackelt, blieb zwischen mir und dem Schlafenden stehen und stützte sich an der Theke ab. Mit seiner Frisur, den goldenen Ohrringen und der zerfransten Jeansjacke sah er aus wie einer der jubelnden Männer in den Mauerfall-Dokus auf YouTube.

»Hör zu, mein Freund. Der Lade hier und du, des passt net. I meins nur gut. Nachher komme hier noch paar Stammgäste, und wenn die sehe, dass hier en Fremde sitzt, des gibt nur Probleme. Deshalb, nehm mirs net übel, aber es wird besser sein, du gehsch.«

Harry sah ihn böse an und schickte ihn mit einer Kopfbewegung zurück an seinen Platz. Der Typ gehorchte. »Hör net auf den«, sagte Harry. »Der hat wieder ein paar zu viel gehabt heute.«

Der Typ meckerte beim Weggehen irgendwas vor sich hin. Der andere war noch immer im Tiefschlaf.

»Sag mal, bisch du net der Fußballer?«, fragte mich Harry. »Kemal Arslan? Des bisch doch du. Oder?«

»Ja.«

Er klatschte mit der flachen Hand auf den Tresen und schaute stolz zur Seite, obwohl da niemand war.

»Fußballer?«, fragte Oskar.

Harry klopfte ihm zweimal auf den Unterarm. »Profi-Fußballer! Türkei, erste Liga, der hat da ein paar Spiele gemacht. Nenn mir einen Kicker hier ausm Unterland, der es so weit gebracht hat. Kann man an einer halben Hand abzählen, wenns reicht. Die Maric-Brüder früher, des wars. Wie gehts seit dem Unfall? Isch der Fuß wieder ganz?«

»Ich kann wieder laufen, das ist schon mal was.«

»Und spielsch irgendwann weiter?«

»In diesem Leben nicht mehr.«

»Unfall?«, fragte Oskar.

»Schade«, sagte Harry.

»Ich hab dich schon oft im Creme gesehen«, sagte ich zu Oskar. »Unten bei der Garderobe.«

Er blickte zum Wirt und hob seine Augenbrauen.

»Hab mich immer schon gefragt, was du dort eigentlich machst.«

Er gab einen leisen Laut von sich, ein halbes Lachen, das eine Sekunde dauerte. Dann rieb er sein Kinn.

»Frag ich mich auch oft.«

»Arbeitest du dort?«

»Mehr oder weniger.«

Diese Sprachgewalt, man kam kaum mit.

Der Alte begann zu schnarchen wie ein kaputter Rasenmäher. Harry neigte sich über die Theke und rüttelte an seiner Schulter. »Longer, des reicht für heut, daheim schläft sichs besser.«

Der Mann schreckte hoch und riss die Augen auf, dann fielen sie wieder zu und sein Kinn drückte gegen die Brust. Harry rüttelte noch mal. Diesmal blieb er wach, schmatzte dreimal und sah sich um. Bei mir blieb sein Blick hängen. Er hob das Glas.

»Oh, neuer Gast. Hier bei uns. Prost, junger Mann.«

Er nickte jeden Satz nachträglich ab. Ich grüßte mit meinem Glas zurück und nahm einen Schluck. Der Mann tippte sich an die Brust.

»Bin hier der Mann für die Musik. Morgen Abend spiel ich wieder.«

»Ah, servus Berny.«

»Ich sags doch!«, rief er in Richtung Harry und breitete die Arme aus. »Man kennt mich in Heilbronn.«

»Also gut, jetzt reichts!« Der Vokuhila sprang wieder auf. »Dann muss ich hier wohl für Ordnung sorge! Wenn sich des rumspricht, dass en Türk hier reinspaziert isch und Kontakte knüpfe durft! Des glaube die mir in hundert kalte Winter net.«

Er kam wieder näher. »Hör zu, nix gege dich. Ihr habt ja hier auch eure, ich sag mal: Berechtigung. Ja? Kein Problem. Ihr lebt hier, mir lebe hier. Ich hab im Geschäft jeden Tag mit Ausländer zu tun, alles feine Leut. Aber die wisse, wo sie hingehöre und wo net. Hört der mir eigentlich zu?«

Er kam noch ein Stück näher und stützte sich an der Schulter des Alten ab. Sein Atem roch nach Schnaps.

»Es langt, Micha!«, rief Harry.

Ich hielt mein Glas so fest, dass es zu zittern begann.

»Du sollsch hier raus. Kapierschs endlich? Hat was mit Respekt zu tun. Kennt ma so was bei euch Anatolier net, Respekt? Mach, dass Land gwinnsch!«

Oskar stand auf, packte ihn mit beiden Händen am Kragen seiner Jacke und zog ihn an sich, bis sie Nase an Nase standen. Dann sagte er ganz leise: »Jetzt ist gut. Ich sags nur einmal.«

Micha verstummte, ging an seinen Platz zurück, trank das Bier aus und legte ein paar Münzen auf die Theke. Kurz bevor er draußen war, drehte er sich noch mal um, hob eine Faust in die Höhe und schrie: »Saftlade hier! Nie mehr!« Dann war er weg.

Eine Weile sagte niemand was. Berny trank weiter und prostete mir vor jedem Schluck zu. Als Harry um die Theke herumkam, um den Hocker aufzuräumen, den Micha beim Rausgehen umgeschmissen hatte, klopfte er mir auf die Schulter. Oskar meinte, dass ich mir nichts daraus machen sollte, und nannte Micha einen Seggl. Ich hätte lieber gehört, was denn nun seine Aufgabe im Creme war.

Ich stand auf, zog mein Jackett an und wollte die Runde zahlen. »Geht aufs Haus«, sagte Harry. Ich klopfte zweimal auf die Theke und ging nach draußen.

3

Letztes Jahr lernte ich in der Abendschule einen Gregor kennen. Ich war frisch zurück in der Stadt und wollte schnell noch das Abitur nachholen. Gregor war einer von den Typen, die auf dem zweiten Bildungsweg die Welt erobern wollen. Er war schon dreißig, fast zwei Meter groß und sprach mit russischem Akzent. Wir saßen zusammen in der hintersten Reihe, und weil sich die meisten in der Klasse schon länger kannten, hingen wir auch in den Pausen zusammen ab. Gregor war schon cool drauf, aber für ihn gab es nur ein Gesprächsthema: Dieter Schwarz, Gregors Chef und Gott in einer Person. Ständig schwärmte er mir vor, wie Dieter Schwarz es zum Milliardär gebracht hatte und wie viele Gebäude und Einrichtungen es nur gab, weil Dieter Schwarz sie gespendet hatte. Hochschulen, Brunnen, Skulpturen und solche Sachen.

Tagsüber arbeitete Gregor als Pförtner am Firmensitz, und sein großer Traum war es, sich einmal mit Dieter Schwarz zu unterhalten. Dann würde er ihm von seiner Idee erzählen, wie die Firma viel Geld sparen könnte. Es ging dabei um ein ganz ausgeklügeltes Kühlsystem oder so, keine Ahnung. Das Problem war, dass er Dieter Schwarz nie zu Gesicht bekam. So ging es den meisten Mitarbeitern, und wer es doch schaffte, der konnte sich etwas darauf einbilden. Gregors Kollege an der Pforte hat Dieter Schwarz einmal die Hand geschüttelt. Weil er ständig damit prahlte, konnte Gregor ihn nicht mehr leiden. Er selbst hat nur einmal das halbe Gesicht von Dieter Schwarz gesehen, als dieser zum Gebäude gefahren wurde und seine verdunkelte Fensterscheibe einen Spaltbreit herunterließ. Ganz knapp war es, als Gregor eines Tages in den Aufzug kam und auf eine Sekretärin traf, die ihm sagte, dass Dieter Schwarz gerade neben ihr gestanden hatte. Die ist seitdem auch unten durch bei ihm.

Ich konnte nicht verstehen, dass man einen Menschen so verehrt, nur weil er viel Kohle hat. Gregor ärgerte sich darüber und sagte: »Wenn Dieter Schwarz dir eine Million Euro dafür geben würde, einmal nackt durch ganz Heilbronn zu kriechen, würdest du es tun, erzähl mir nix.« Ich sagte, dass ich das niemals tun würde, aber er glaubte mir nicht. Für mich war die Sache mit der Abendschule nach ein paar Wochen erledigt. Die anderen waren immer so motiviert und voll dabei, aber ich saß nur herum und wusste nicht mal, was mir das Abitur eigentlich bringen sollte. Außerdem kam ich mir da drin so alt vor. Nichts lässt einen sich älter fühlen, als abends zusammen mit einem Haufen junger Hüpfer im hell beleuchteten Klassenzimmer zu sitzen.

Als ich das alles an meinem letzten Tag Gregor erklären wollte, grinste er nur und sagte: »Einundzwanzig Jahre und will mir was übers Altsein erzählen. Weißt du was, Kemal, du bist ein ganz schön komischer Vogel. Aber ich werd dich nie vergessen.« Dann umarmte er mich. Ich war gerührt, aber auch ein bisschen beleidigt.

4

Ich überquerte die Straße und kam auf die Allee. Vor ein paar Jahren standen dort noch riesige Bäume, alle in einer Reihe. Als die Stadt eine Straßenbahn bekam, wurden die Bäume alle abgeholzt, das war hier ein Riesenereignis. Inzwischen wachsen neue Bäume nach, die sind aber noch keine zwei Meter hoch.

Ganz früher hieß die Straße mal Adolf-Hitler-Allee. Mein Geschichtslehrer hat uns das erzählt, und er wollte, dass wir immer daran denken, wenn wir über die Allee gehen. Er hat uns auch Bilder mitgebracht und gezeigt, wie anders Heilbronn vor dem Zweiten Weltkrieg aussah. Diese Stadt war mal wunderschön, sagte er ständig, ihr müsst euch nur informieren. Das war sein Lieblingsthema. Seit ich an der Allee wohnte, fiel mir das oft ein.

Obwohl es erst kurz nach Mitternacht war, fuhren fast keine Autos mehr. Ein Mann stand in der Tür einer Dönerbude und rief nach einem Ahmed, aber niemand antwortete. Zocker traten aus den Casinos, steckten die Hände in die Hosentaschen und gingen weiter zu den Kneipen, um auf den verlorenen Monatslohn anzustoßen. Am Schaufenster eines leeren Ladens hing ein handgeschriebener Mieter-gesucht-Zettel.

Jemand schlief in stabiler Seitenlage vor einer Hauswand, genau zwischen einem Stromkasten und einem Zigarettenautomaten. Er war ungefähr in meinem Alter und benutzte seine Hände als Kissen. Ich ging in die Knie und fragte, ob er Hilfe brauchte. Keine Reaktion. Nach dem zweiten Versuch flüsterte er, dass ich mich verpissen soll, ich Missgeburt. Ich lief also weiter.

Bis zu meiner Wohnung waren es nur noch dreißig Meter oder so. Auf der anderen Straßenseite sah ich Licht, das so hell strahlte wie im OP-Saal. Ich machte es wie eine Fliege: Nicht groß nachdenken, einfach hin. Das Licht kam aus dem Erdgeschoss im Shoppinghaus. Es ist das höchste Gebäude der Allee. Hoch und weiß überragt der Turm alle anderen Häuser und ruft verlorene Seelen zu sich wie die Freiheitsstatue: Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure geknechteten Massen und so weiter. Hier war ich. Ich folgte den getrockneten Cocktailpfützen, die mich zum Eingang des Eroticon führten.

Die zwei Türsteher wollten meinen Ausweis sehen. Ganz was Neues. Ich muss überall meinen Ausweis vorzeigen, es macht mich noch verrückt. Kam schon vor, dass ich keine Pralinen im Supermarkt kaufen konnte, weil ich den Ausweis nicht dabeihatte. Da ist zwar nur wenig Alkohol drin, sagte die Kassiererin, aber wir haben unsere Vorschriften. Richtiges Mobbing. Es liegt am fehlenden Bartwuchs, da kann man nichts machen.

An der Kasse zahlte ich mit einem Zwanziger und bekam dafür ein Bündel Spielgeld. Dafür, dass er eine eigene Währung hatte, war der Laden ganz schön klein.

Die Beleuchtung tauchte alles in Dunkelrot. Ich ging zur Bar und bestellte etwas. Am anderen Ende der Theke saßen drei Frauen in knappen Glitzeroutfits. Die älteste von ihnen sagte etwas zu ihren Kolleginnen, dann sahen alle drei zu mir und kicherten los. Ich schaute an mir herunter: Keine lustigen Flecken, der Hosenladen war auch zu. Kommt ein Typ an die Bar und bestellt sich ein Getränk, Megabrüller. Ich ging drei Stufen zur Sitzecke hoch und setzte mich in einen der Ledersessel. Die anderen Besucher waren um die Bühne herum verteilt und warteten auf die nächste Vorstellung. Die Bühne war ein kleines Podest in T-Form. In einem der Sessel saß ein Biker mit Lederweste, aß einen Toast und schleckte seine Finger ab. Zwei Meter weiter saß ein dünner Mann im Karohemd und rückte immer wieder seine Brille zurecht. Sein Blick zuckte nervös durch die Gegend. Bestimmt ein Versicherungskaufmann oder so. Zwischen den beiden stand noch ein freier Sessel, alle anderen Plätze waren besetzt.

Jemand stellte die Musik lauter, eine Frau ging auf die Bühne. Der Rauch im Raum reizte meine Augen, durch Reiben wurde es noch schlimmer. Als ich sie wieder aufbekam, hatte ich Besuch. Es war ein Mitglied der Kicherbande von der Theke, eine schmale Frau mit hellbraunen, schulterlangen Haaren. Sie fragte, ob sie sich dazusetzen durfte. Warum nicht. Nachdem sie sich als Jana vorgestellt hatte, sagte sie nichts mehr. Mir fiel auch nichts ein, also fragte ich, ob ihre Wimpern echt sind.

»Ja, natürlich. Und deine?«

»Sind angeklebt.«

»Sieht man.«

»Warum habt ihr mich vorhin ausgelacht?«

»Wie, ausgelacht?«

»Als ich an der Bar stand.«

»Das war kein Auslachen. Wir haben uns gestritten, wer sich um dich kümmern soll, und ich hab gesagt: Der ist Chefsache.«

»Niemals.«

Ich hielt ihr mein Glas hin, sie lehnte ab. Also nahm ich selbst einen Schluck.

»Du bist also die Chefin?«

»Na ja, ich bin halt am längsten dabei. Da hat man etwas mehr zu sagen als die anderen. Bist du zum ersten Mal hier?«

»Nein, war schon mal mit zwei Freunden da. Lange her.«

»Wie wars?«

»Mies. Sehr voll. Und da wurde gerade ein Junggesellenabschied gefeiert.«

»Oje. Das sind die Schlimmsten. Aber gut fürs Geschäft.«

Sie griff sich das Glas und nahm doch einen Schluck.

Wir sahen eine Weile ihrer Kollegin zu, die gerade ein paar Turnübungen an der Stange machte. Dann stand Jana auf und gestikulierte in Richtung Bar. Der Barkeeper sah sie spät, verstand aber sofort. Er ging zur Wand und drückte einen Knopf. Über dem Kopf der Tänzerin zischte eine Nebelmaschine los. Die Arme wurde davon überrascht, sprang zur Seite, hustete den eingeatmeten Nebel aus, schüttelte sich einmal und tanzte schnell weiter. Gott, wie mich dieser Laden deprimierte.

Als die Show vorbei war, drehte die Frau auf der Bühne eine Runde und holte sich ihre Belohnung ab. Die Mittdreißiger bis Mittfünfziger traten brav an und hefteten Spielgeld an ihre Unterwäsche. Und morgen würden sie wieder den perfekten Ehemann spielen. Alles Blender. Auch der Versicherungstyp klemmte ein paar Scheine zwischen Haut und Stoff und eilte sofort zurück an seinen Platz, als wäre er nur schnell aus einem Wagen mit laufendem Motor gestiegen.

»Wie fandest du sie?«, fragte Jana.

»Keine Ahnung. Gut?«

»Ich auch. Ist eine der Besten, die wir haben«, sagte sie. »Aber wart mal, bis du mich siehst.«

Sie lehnte sich nach vorne und legte ihre Hand auf meinen Arm.

»Bist du als Nächste dran?«

»Nein, ich mache nur Privatvorstellungen. Da hinten.«

Sie zeigte auf zwei kleine Kabinen im hinteren Teil des Raums.

»Und? Hast du Lust? Dann kann ich endlich mal wieder für einen Star tanzen.«

»Ich bin kein Star.«

»Meine Mädels meinten, du bist Profi-Fußballer. Der Freund der einen hat mal mit dir gespielt. Soll ich sie kurz …«

Sie drehte sich zur Bar und wollte schon losrufen.

»Passt schon, ich glaubs ja. Aber nein, danke.«

Wir redeten trotzdem noch ein bisschen. Sie erzählte, wie sehr sie sich auf ihren Urlaub in Costa Rica freute. Sie hatte ihn extra so gelegt, dass er am ersten Tag des Sommers begann.

»Und wann ist der erste Sommertag?«

»Na, morgen.«

»Wer sagt das?«

»Google. Immer wenn ich meine Urlaubstage eintragen soll, gebe ich ein: Wann geht dieses Jahr der Sommer los? Und diesmal kam der 21. Juni heraus. Also morgen.«

»Okay. Dabei ist es doch schon seit Wochen übertrieben heiß.«

Ich meinte das gar nicht witzig, aber sie lachte und legte wieder eine Hand auf meinen Arm. Die Hand fühlte sich ganz schön zart an. Dann rief der Typ an der Bar nach ihr. Jana stand auf, beugte sich über den Tisch und gab mir einen Kuss auf die Wange. Ich sah ihr hinterher.

5

Ich erkannte ihn sofort. Ayhan Sezgin, mein alter Türkischlehrer von der Grundschule. Wir mussten ihn damals immer mit Ayhan hoca ansprechen. Er lief an meinem Tisch vorbei, Hand in Hand mit einer von Janas Kolleginnen. Die schwarzen Haare waren grau geworden und er war nicht mehr so schlank wie früher, doch sein aufrechter Gang und die hin und her wiegenden Schultern reichten mir als Beweis.

Wenn die deutschen Kinder Religion hatten, wurden ich und meine türkischen Mitschüler von ihm unterrichtet. Am ersten Tag stellte er sich uns mit einer langen Rede vor. Dann sah er etwas, hörte mitten im Satz auf und rief: »Gesundheit!« Eine halbe Sekunde später nieste jemand. Nach der Nummer war ich ihm schon verfallen. Ich war nicht sein einziger Fan. Die Lehrerinnen machten ihm im Flur oder auf dem Pausenhof ständig schöne Augen. Er sah ja auch verdammt gut aus. Immer fein angezogen und die Haare sauber gescheitelt. Doch er hielt die Kolleginnen auf Abstand, denn er hatte ja schon eine tolle Frau zu Hause, deren Namen ich nicht wusste, die ich aber oft mit ihm beim Einkaufen oder auf Hochzeiten sah.

Und jetzt musste ich mitansehen, wie Ayhan hoca durch die Heilbronner Unterwelt spazierte und in einer der drei Kabinen verschwand. Ich sprang auf und lief los. Inzwischen waren so viele Leute da, dass ich immer wieder ausweichen oder die Richtung ändern musste. Jemand erkannte mich und wollte ein Gespräch anfangen. Ich ließ ihn stehen, keine Zeit. Vor der Kabine angekommen, riss ich den Vorhang auf.

Die Frau saß auf seinem Schoß und hielt sich an seinen Schultern fest. Als sie sich umdrehte und mich bemerkte, stand sie auf und ging zu einem Stuhl, der neben dem Sessel stand. Langsam und ruhig zog sie ihr Oberteil wieder an. Sie wirkte überhaupt nicht überrascht. Die Augen meines alten Lehrers aber waren weit aufgerissen. Seine Hände tasteten die Armlehnen des Sessels ab, als wäre dort ein rettender Alarmknopf. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass die zwei Türsteher bereits in den Raum stürmten.

Es blieb nicht viel Zeit. Ich wollte etwas sagen und machte zwei Schritte auf ihn zu. Und da merkte ich, dass ich mich geirrt hatte. Der erschrockene Mann war gar nicht Ayhan hoca. Er sah ihm ähnlich und war wohl auch Türke, aber einer, den ich nicht kannte und der mir egal war. Einer der Türsteher trat an mich heran, sein Kollege blieb breitbeinig hinter ihm stehen. Ich redete los und wollte alles erklären. Er hörte zwei Sätze lang zu, beim dritten gab er seinem Partner ein Zeichen. Sie griffen mir unter die Achseln und stemmten mich ein Stück hoch. Dann trugen sie mich davon wie einen ohnmächtig gewordenen Teenager beim Boybandkonzert.

Vier massive Hände gruben sich in meine Oberarme, die Schmerzen nahm ich nur entfernt wahr. Alle starrten mich an. Meine Füße schwebten ein paar Zentimeter über dem Boden. Ich wurde immer schläfriger, meine Augen fielen zu. Morgen begann also der Sommer. Früher hätte ich mich darauf gefreut.

Freitag

1

Ich lag im Bett, starrte die Decke an und hatte Kopfschmerzen. Durch das gekippte Fenster hörte ich die Bauarbeiter unten auf der Straße. Sie schrien sich Kommandos zu, als würde es um Leben und Tod gehen. Das Baustellenradio spielte dazu Achtzigermusik, I’m an Englishman in New York. Mein Vater würde darauf abgehen, der hört so was den ganzen Tag. Da fiel mir ein, dass ich bei meinen Eltern vorbeigehen musste. Sie fuhren heute in die Türkei.

Ich stand auf und wankte langsam ins Badezimmer. Der Fuß braucht nach dem Aufstehen immer eine Weile, bis er zu sich kommt. Nachdem ich mein Gesicht gewaschen hatte, ging ich durch die Wohnung, zog alle Rollläden hoch und machte die Balkontür auf. Dann setzte ich mich auf die Couch im Wohnzimmer, klappte den Laptop auf und checkte meinen Kontostand. Rote Zahlen, Minus davor. Jetzt war es also so weit, das Fußballgeld war endgültig aufgebraucht.

Eigentlich schuldete mir der Verein noch drei Monatsgehälter. Aber sie wollten mir das Geld nicht zahlen, weil ich den Unfall selbst verschuldet hatte. Gegen so was hatten sie sich wohl mit irgendeiner Klausel im Vertrag abgesichert. Deswegen wollte ich schon seit Tagen meinen Agenten anrufen, konnte aber nicht, weil ich mein Handy verloren hatte.

Ich ging in die Küche. Zum Frühstück sprang nur noch ein halber Teller Nougat Bits heraus. Die restliche Milch reichte nicht einmal aus, um die Bits richtig schwimmen zu lassen. Ich setzte mich wieder auf die Couch und löffelte mir das Zeug rein, Klumpen für Klumpen. Du musst dir was einfallen lassen, dachte ich, so geht das nicht weiter. Ich brauchte endlich Geld.

Als ich unten die Tür aufmachte, stand ein Mann mit dem Rücken zu mir und hielt sich mit beiden Händen links und rechts am Türrahmen fest. Ich tippte ihm auf die Schulter. Er sprang ganz erschrocken nach vorne, drehte sich um und fragte, was ich von ihm wollte. Ich wunderte mich, dass er mich auf Türkisch ansprach. Das passiert mir selten, selbst im Dönerladen werde ich meistens auf Deutsch angesprochen. Ich machte einen Schritt vor die Tür. Er fragte noch mal:

»Was willst du?«

»Nichts. Ich wohne hier. Das ist meine Tür.«

»Du willst also, dass ich verschwinde?«

»Nein.«

»Willst du überhaupt etwas? Versuchs doch mal.«

»Was?«

»Hör zu, ich bin nur ein alter Mann, der sich kurz ausruhen will. Man bricht ja sonst noch zusammen bei der Hitze! Lieber Gott, schick uns doch endlich wieder Regen!« Er zog ein Tuch aus der Hosentasche und wischte sich den Schweiß vom Hals. Es stimmte schon, die Sonne gab sich zum Sommerstart gleich mal gnadenlos. Selbst hier im Schatten spürte ich das. Der Mann war aber auch viel zu dick angezogen. Er trug einen dunkelbraunen Anzug, der ziemlich alt aussah, und löchrige Schuhe. Der Kragen seines Hemds war nass und etwas dreckig, über dem Hemd trug er eine Weste. Auf dem Kopf hatte er eine Schiebermütze, darunter wellten sich ein paar weißgraue Haare, die in einen schneeweißen Nikolausbart übergingen. Seine kräftige Haut und die vielen dunklen Falten darin erinnerten mich irgendwie an knuspriges Brot.

Wir betrachteten uns ein paar Sekunden wortlos, dann sprang er einen Schritt zur Seite und machte mir den Weg mit einer übertrieben höflichen Geste frei. »Mein Name ist übrigens Şafak«, sagte er. »Vergiss mich nicht, hörst du!« Dann klatschte er in die Hände und lachte mit weit geöffnetem Mund. Ich sah die Füllungen seiner hintersten Backenzähne funkeln. Nur Freaks in dieser Stadt, ohne Witz.

2

Auf der anderen Seite der Allee steht eine alte und ziemlich düstere Parkgarage, direkt neben dem Shoppinghaus. Das breite Tor der Parkgarage ist 24 Stunden lang offen. Innen gibt es nur zwei Etagen und die Parkplätze sind alle übel eng. Das Kassenhäuschen vor dem Eingang ist ungefähr zwei Quadratmeter groß. Darin saß ein älterer Mann, der Zeitung las und mir zunickte. Auf der Scheibe klebte ein runder gelber Aufkleber, auf dem ein schwarzes, weit geöffnetes Auge und dazu der Schriftzug HWA zu sehen war.

Ich kannte das Symbol. Als ich vor ein paar Wochen auf die S-Bahn wartete, tauchten ein paar Männer in gelben Shirts auf und hielten der Menge einen Vortrag darüber, dass Heilbronn nicht mehr sicher war, dass die Stadt vor die Hunde ging, weil zu viele Flüchtlinge und Kriminelle hereingelassen wurden und die Polizei nicht genug tat. Deshalb mussten sie jetzt aktiv werden und die Bürger Heilbronns schützen und so weiter. Am Ende knallte einer von ihnen den Aufkleber an den Ticket-Automaten.

Danach sah ich sie ein paarmal auf der Allee. Sie riefen ständig »Heilbronn, wach auf!« und demonstrierten für Schweinefleisch-Pflicht in den Kitas und solche Sachen. Und vor ein paar Tagen gab es irgendeinen Vorfall vor der Kilianskirche, an dem Flüchtlinge beteiligt waren. Eine Massenschlägerei oder Messerstecherei oder so. Seitdem sah ich sie ständig, und bei jedem Mal waren mehr Menschen dabei.

Die Parkgarage brauchte endlich mal eine neue Beleuchtung. In der Mitte hingen zwar ein paar Lampen unter der Decke, aber jeder Stellplatz war wie ein schwarzes Loch. In der unteren, noch dunkleren Etage hatte ich mir ganz hinten in der Ecke dauerhaft einen Platz gemietet. Dort stand er, rückwärts eingeparkt, mein schwarzer Jaguar.

Mit ihm war alles erst so richtig losgegangen. Damals waren noch ein paar andere Vereine an mir interessiert, und um mich zu überreden, bot mir der Präsident von Gaziantepspor an, in seinem Autohaus einen Wagen im Wert von bis zu 50.000 Euro auszusuchen. Der sagte das so ganz locker, für den war das keine große Sache. Wir fuhren dann zu seinem Autohaus, und der erste Wagen, den ich sah, war der Jaguar. Er stand direkt vorm Eingang, war länglich und flach und ganz schwarz, und er strahlte im Sonnenlicht und sah edel und gefährlich und schnell aus. Ich wusste gleich, das ist mein Wagen.

Autos sind mir eigentlich egal, ich kenn mich da gar nicht aus. Aber als ich in den Jaguar stieg und losfuhr und merkte, wie die Leute große Augen machten, da dachte ich, jawohl, jetzt hab ich es geschafft, jetzt bin ich Fußballer. Jetzt kann mich keiner mehr aufhalten. Aber dann passierte der Unfall. Danach hab ich es irgendwie nicht übers Herz gebracht, ihn dort zurückzulassen. Also ließ ich ihn nach Deutschland transportieren, was massig Geld gekostet hat. Er musste hier bei mir sein. Einmal die Woche kam ich bei ihm vorbei. Er redete aber nur, wenn sonst keiner im Parkhaus war.

»Ist noch jemand da?«

»Nein.«

»Schau noch mal richtig.«

Ich schaute richtig.

»Keiner da.«

»Na gut. Du hast gesagt, du kommst jeden Mittwoch vorbei.«

»Ich weiß.«

»Heute ist Freitag.«

»Ja, stimmt.«

»Wann lässt du mich endlich reparieren?«

»Dauert nicht mehr lange. Ich hab schon abgeklärt, wie viel es kostet. Ich muss jetzt nur irgendwie die 5000 Euro auftreiben, dann bist du wieder wie neu, glaub mir.«

»Kannst dus dir nicht von jemandem leihen? Frag doch deine Eltern.«

»Nein. Ich will mir nichts leihen, ich muss es alleine schaffen.«

»Ich weiß nicht, Kemal, nichts gegen dich, aber ich weiß echt nicht. Wie lange steh ich jetzt hier, ein Jahr, noch länger?«

»Bisschen länger.«

»Das ist nicht fair. Ich steh hier und kann mich nicht bewegen, und jeder, der hier runterkommt, sieht als Erstes meinen zerstörten Reifen, und dann kommen sie her und staunen über den ganzen kaputten Rest. Du hättest mich wenigstens anders parken können, damit die beschädigten Stellen zur Wand hin stehen oder sonst was. Ich kann keinen neuen Schuh darüberziehen wie du.«

»Ich habs ihnen damals extra gesagt, sie haben dich falsch herum geparkt, die Idioten.«