Heal My Scars - Lenore Gregor - E-Book
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Heal My Scars E-Book

Lenore Gregor

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Beschreibung

Liebe und Hass, Hingabe und Verrat: Der mitreißende Dark-Romance-Roman »Heal My Scars« von Lenore Gregor jetzt als eBook bei dotbooks. Er hat ihr Herz gestohlen – nun ist sie dem Untergang geweiht … Nach außen hin ist Cornelia eine Vorzeigeschülerin: Sie schreibt Bestnoten, eckt nirgendwo an und brilliert im Eiskunstlauf. Insgeheim aber fühlt sie sich mutterseelenallein, so als ob niemand sie wirklich kennen würde. Als schließlich Erik neu an ihre Schule kommt, beginnt ihre perfekte Fassade zu bröckeln: Der abweisende Bad Boy hat ein Auge auf sie geworfen – und er schreckt nicht davor zurück, sich gnadenlos zu nehmen, was er will! Cornelia muss all ihre Willenskraft aufbieten, um seiner verhängnisvollen Anziehungskraft zu widerstehen – denn sie ahnt, dass der Preis für seine Liebe hoch sein wird, sehr hoch … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der abgründige Liebesroman »Heal My Scars« von Lenore Gregor – atemberaubend und voller Emotionen für alle Fans der Dark-Romances von L. J. Shen und Tracy Lorraine. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 502

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Über dieses Buch:

Er hat ihr Herz gestohlen – nun ist sie dem Untergang geweiht … Nach außen hin ist Cornelia eine Vorzeigeschülerin: Sie schreibt Bestnoten, eckt nirgendwo an und brilliert im Eiskunstlauf. Insgeheim aber fühlt sie sich mutterseelenallein, so als ob niemand sie wirklich kennen würde. Als schließlich Erik neu an ihre Schule kommt, beginnt ihre perfekte Fassade zu bröckeln: Der abweisende Bad Boy hat ein Auge auf sie geworfen – und er schreckt nicht davor zurück, sich gnadenlos zu nehmen, was er will! Cornelia muss all ihre Willenskraft aufbieten, um seiner verhängnisvollen Anziehungskraft zu widerstehen – denn sie ahnt, dass der Preis für seine Liebe hoch sein wird, sehr hoch …

Über die Autorin:

Lenore Gregor ist das Pseudonym einer Autorin, die in der Fiktion das Abgründige in all seinen Ausprägungen liebt. Außer dem Lesen und Schreiben von Romanen begeistern sie Horrorfilme und Psychologie.

Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihren dunklen Liebesroman »You Are the Dark«.

***

Überarbeitete eBook-Neuausgabe Juli 2022

Dieses Buch erschien bereits 2016 unter dem Titel »Schwarz vor Augen« bei Cupido

Copyright © der Originalausgabe 2016 Cupido Books / Karin Struckmann, Köln

Copyright © der überarbeiteten Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fb)

ISBN 978-3-98690-265-0

***

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Lenore Gregor

Heal My Scars

Roman

dotbooks.

Denn in entscheidenden Momenten

Hab’ ich immer Nadel und Faden dabei

Das werden wir gleich haben

Das wächst wieder zusammen

Es lässt sich alles nähen, schon so gut wie geschehen

Also reiß dich zusammen, realistisch gesehen

Sind es doch nur ein paar Schrammen

Hier hast du Nadel und Faden

Pass damit auf, sonst gibt’s Narben

»Nadel & Faden«, Jan Müller-Michaelis, Finn Seliger

Kapitel 1Rufmord

Draußen schien Finsternis zu herrschen. Das grelle Licht im Inneren des Klassenzimmers verwandelte die Fenster in Spiegel, die es unmöglich machten, hinauszusehen. Auf den Scheiben reflektierten die blassen Gesichter meiner Mitschüler wie Gespenster, die mit der steril weißen Tapete zu verschmelzen drohten.

»Irgendwie habe ich das Gefühl, dass heute kein guter Tag wird«, murmelte ich. »Vielleicht liegt es ja nur daran, dass wir die Klassenarbeit zurückbekommen.«

»Du! Halt ja den Mund!«, antwortete Swantje empört. »Erzähl mir nicht, du hättest Angst vor der Klassenarbeit. Du hast doch immer mindestens 13 Punkte. Und ich zittere jedes Mal, dass ich in Mathe nicht noch einen Unterkurs kriege.«

Ich lächelte gequält. Das war an sich richtig. Dennoch hätte ich am liebsten mit ihr getauscht.

Die Schulglocke dröhnte aus dem Lautsprecher über der Tür, und wie immer rauschte im allerletzten Augenblick Lenny herein und ließ sich neben mir auf seinen Stuhl fallen. Er keuchte, weil er den größten Teil des Schulweges hatte rennen müssen. Während er einen Arm um meine Schultern legte, wedelte er sich mit der anderen Luft zu. »Guten Morgen, Süße. Es wird wirklich Zeit, dass ich den Führerschein mache.«

Ich rang mich zu einem Lächeln durch. »Wohl eher für die Anschaffung eines Weckers mit der Lautstärke eines Düsenjets.« Mein Blick schweifte über meine Mitschüler, deren Plappern wie das Summen aggressiver Bienen die morgendliche Stille störte. Amelie und Nadine starrten gemeinsam auf ein Smartphone, Julie allein, und Malte erzählte lebhaft von aufregenden Erlebnissen, die am letzten Wochenende stattgefunden hatten.

Swantje beugte sich zu uns rüber. »Seid ihr auch schon so aufgeregt?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Wegen der Klassenarbeit? Eher schlecht gelaunt.«

Lenny stöhnte. »Nein, natürlich nicht wegen der Klassenarbeit. Was bekommst du denn überhaupt mit? Wegen dem Neuen!«

Ich sah ihn stirnrunzelnd an. »Ach ja. Wieso sollte man deshalb aufgeregt sein?«

Er grinste breit. »Vielleicht werden meine Gebete ja dieses Mal erhört, und er ist einsneunzig groß, dunkelhaarig – und schwul. Der Partnermarkt könnte hier, am Ende der Welt, durchaus besser aussehen.«

»Vergiss es«, warf Swantje ein. »Ich habe gehört, er ist von seiner alten Schule geflogen, weil er es mit seiner Lehrerin im Kartenraum getrieben hat.«

Ich warf ihr einen verächtlichen Blick zu. »Du glaubst auch jeden Blödsinn, oder? Das ist ja noch bescheuerter als diese Story, nach der Herr Bartz rausgeflogen ist, weil er seiner Ex-Angebeteten die Reifen zerstochen hat.«

»Ich hab’s auch gehört«, warf Lenny ein.

»Was?«, fragte ich mit hochgezogener Augenbraue. »Bartz und die Reifen oder der Neue im Kartenraum?«

»Guten Morgen!« Herrn Kahlbergs Stimme ließ mich abrupt verstummen, und auch der Rest der Klasse wurde nach und nach still. Der weiße Stoffbeutel in seiner Hand konnte nichts anderes bedeuten, als dass heute wie befürchtet die Matheklausuren zurückgegeben werden sollten. Ich spürte, wie mein Herz einen leichten Hüpfer machte. Nervös begann ich, auf meiner Unterlippe zu kauen und bemerkte nur am Rande, dass kein neuer Mitschüler bei ihm war.

Kahlberg palaverte um den heißen Brei – die Vorbereitungen für das Abitur, Curricula, unterdurchschnittliche Ergebnisse, sehr unzufrieden, und so weiter.

Swantje neben mir trommelte nervös auf der Tischplatte herum. Ich hatte den Eindruck, dass die Schatten unter ihren wässrig-blauen Augen in letzter Zeit tiefer geworden waren.

Endlich erbarmte sich Kahlberg und schrieb den Notenspiegel an die Tafel. Tatsächlich waren die Ergebnisse unterdurchschnittlich und es gab nur ein einziges Mal 13 Punkte – nichts Besseres. Meine Füße wippten unkontrolliert.

Wenn ich diejenige wäre, die die Bestnote hatte, wäre mir der Neid meiner Mitschüler sicher; eine Art der Aufmerksamkeit, die ich alles andere als schätzte. Allerdings – wenn ich nicht diejenige mit der Bestnote wäre, würde mich von den gleichen Leuten Häme erwarten. Da konnte ich mit Neid deutlich besser leben.

Herr Kahlberg begann die Hefte zu verteilen, und ich verfluchte meinen Nachnamen, denn mein Exemplar war für gewöhnlich das Letzte auf Kahlbergs Stapel. Mein Blick huschte über die Gesichter derjenigen, die ihre Hefte schon bekommen hatten – bislang kein Ausbruch ekstatischer Freude. Ein gutes Zeichen. Julie heulte mal wieder und Christian brüstete sich damit, das sechste Mal in Folge weniger als drei Punkte erhalten zu haben. Dann, endlich, lag mein Heft vor mir, und ich blätterte hastig auf die letzte Seite.

13 Punkte. Ich überprüfte noch einmal, ob es wirklich die aktuelle Klausur war, schlug dann erleichtert das Heft zu und wandte mich an Swantje, die wie erwartet mit finsterer Miene die roten Markierungen studierte.

»Und?«, fragte ich vorsichtig.

Sie zuckte resigniert mit den Schultern, konnte ihre Frustration aber nur mühsam verbergen.

Noch bevor ich ein tröstendes Wort an meine Freundin richten konnte, hörte ich Kahlberg hinter mir meinen Namen sagen. »Cornelia? Kommst du bitte mal?«

Ich sah ihn verwirrt an. Hatte ich etwas falsch gemacht? Glaubte er vielleicht, ich hätte gespickt?

Mit einem mulmigen Gefühl stand ich auf und ging zum Lehrertisch. Warum musste in unseren Klassenzimmern alles weiß sein? Wände, Möbel, sogar die Tafel – Herr Kahlberg wirkte wie ein Eindringling in seinem braunen Sakko, so sehr er sich auch um ein freundliches Lächeln bemühte. »Ich hätte eine kleine Bitte an dich. Den Rest der Doppelstunde werden wir wohl ausschließlich damit verbringen, die Aufgaben der Klausur noch einmal durchzurechnen. Ich denke, dass du diese Wiederholung am wenigsten brauchst. Wärst du so nett und gehst nach oben ins Sekretariat? Dort wartet euer neuer Mitschüler. Führe ihn doch ein bisschen herum, zeige ihm alles Nötige und bring ihn noch vor Ende der Doppelstunde hierher.«

Ich nickte. »Wie heißt er denn?«

»Erik Lengscheidt.«

Ich drehte mich um und hielt noch kurz bei Swantje und Lenny.

»Was wollte Kahlberg von dir?«, fragte Swantje.

Genervt verdrehte ich die Augen. »Ich soll den Neuen herumführen, während ihr noch mal die Klausur durchkauen dürft.«

Swantje grinste mich breit an. »Zeig ihm doch bei Gelegenheit den Kartenraum.«

Ich warf ihr einen spielerisch drohenden Blick zu und verließ das Klassenzimmer.

In den Gängen war es so früh morgens und während der Unterrichtszeit angenehm ruhig. Der uralte, dreckige Filzteppich schluckte meine Schritte. Mein Klassenraum befand sich in der hintersten Ecke der Schule. In den verwinkelten Gängen gab es keine Fenster, und die dunkelgrün gestrichenen Wände zusammen mit den schwachen Neonröhren schafften es, mich innerhalb weniger Schritte müde zu machen. Ich stieg die Treppen in den ersten Stock hinauf, ging am Lehrerzimmer vorbei bis zum Sekretariat. Nach kurzem Klopfen trat ich ein, ohne auf eine Antwort zu warten.

In der Ecke vor dem Empfangsbereich saß ein nervöser, dünner Junge mit Sommersprossen.

Ich lächelte ihn freundlich an. »Erik Lengscheidt?«

Er sah mich irritiert an und schüttelte den Kopf.

Hinter mir räusperte sich die Sekretärin. »Der ist gerade beim Direktor. Kann ich dir helfen?«

»Ich bin aus der 12.1 und soll ihn rumführen. Hat er schon den Stundenplan?«, antwortete ich.

»Ja, habe ich schon.«

Ich wandte meinen Blick nach links. Die Stimme war aus der Richtung gekommen, in der Harbecks Büro lag. Zumindest in Teilen waren Lennys Gebete tatsächlich erhört worden – Erik war groß und dunkelhaarig. Man sah ihm an, dass er Sport machte, und unter seinem schwarzen T-Shirt lugten Tattoos hervor.

Der Typ gehörte nicht hierher, nicht an eine kleine Dorfschule. Ein Blick genügte, um zu wissen, dass er Ärger bedeutete.

Erik sah mich fragend an und mir wurde bewusst, dass ich ihn schon länger anstarrte, als ich rechtfertigen konnte. Ich räusperte mich. »Schön. Ja. Dann komm einfach mit.«

Ohne ihn noch einmal anzusehen, machte ich auf der Stelle kehrt und verließ das Sekretariat. Er folgte mir und holte schnell auf. »Meine erste neue Mitschülerin. Wie heißt du?«

»Cornelia. Hallo.« Ich warf ihm einen Blick aus den Augenwinkeln zu und sah, dass er lächelte.

»Dann nennen dich wahrscheinlich alle Lia.«

Ich hielt vor dem Schwarzen Brett an. »Die meisten nennen mich Cornelia. Ein paar nennen mich Nelly. Hier hängt der Vertretungsplan.« Ich zeigte auf eine eng beschriebene Tabelle, aber Erik wandte seinen Blick nicht von mir ab.

Wenn er lächelte, erschien auf der rechten Wange ein Grübchen. Trotzdem hatte er eine Ausstrahlung wie ein Wolf, der jeden Augenblick dazu ansetzen konnte, mich in kleinste Teile zu zerreißen. »Dann hast du doch sicher nichts dagegen, wenn ich damit anfange, oder?«

Ich musste mich daran erinnern zu blinzeln. »W-womit?«

»Dich Lia zu nennen.«

Ich wollte Einspruch erheben, aber jetzt wandte er sich doch dem Vertretungsplan zu. »Heute fällt scheinbar nichts aus. Und ich schwänze doch so ungern gleich am ersten Tag.«

Diese Ankündigung machte mich für einige Sekunden sprachlos. »Da-daneben hängen Angebote für AGs. Arbeit im Biogarten, Aktion Mülltrennung, Stepptanz ...« Mit einem Mal kam mir unsere Schule noch sehr viel erbärmlicher vor als sonst. Ich atmete tief ein und lächelte. »Was verschlägt dich denn ausgerechnet hierher? Das Gutenberg-Gymnasium ist nicht unbedingt die beliebteste Schule in der Gegend.«

»Und damit gleichzeitig auch die am wenigsten Wählerische. Ich bin von meiner alten Schule geflogen.«

Wir gingen die Treppe hinunter und ich führte ihn bis in die Aula. »Die Gerüchteküche brodelt schon«, gab ich unbedacht zu.

Erik schenkte seiner neuen Schule deutlich weniger Aufmerksamkeit, als mir lieb gewesen wäre, mir dafür umso mehr. Dass ich seinen Blick nicht einmal interpretieren konnte, machte mich unsicher. »Mein Ruf eilt mir mal wieder voraus. Jetzt bin ich aber neugierig, was du über mich gehört hast.«

Mein Kopf wurde heiß. Normalerweise hätte ich das Gerücht mit einem Lachen abgetan, aber jetzt, wo er mir gegenüberstand, war ich mir nicht mehr so sicher, was den Wahrheitsgehalt betraf. »Hier in der Aula finden alle größeren Veranstaltungen statt, die Abi-Feier und ... Theateraufführungen und ...«

»Auftritte der Stepptanz-AG«, vollendete er mein Gestammel. »Also verrätst du mir jetzt, was über mich erzählt wurde?«

Ich versuchte, so schnell wie möglich zur Cafeteria zu kommen. »Na ja … Was glaubst du denn, was man über dich erzählen könnte?«

Er ließ sich nicht ablenken. »Erst machst du mich neugierig, und dann ist es dir peinlich? So schlimm?«

Ich atmete tief ein und schenkte ihm dann mein zuckersüßestes Lächeln. »Man sagt, du wärst mit einer Lehrerin im Kartenraum erwischt worden. Beim, äh …«

Er lächelte, und meine verknoteten Gehirnwindungen versuchten zu entschlüsseln, ob er sich über diese bekloppte Geschichte amüsierte, oder sich wohlwollend an das Ereignis erinnerte. Wir waren vor der Cafeteria zum Stehen gekommen.

»Das ist ’ne Cafeteria. Du musst mir nicht erklären, was hier passiert.«

Ich führte ihn an den Kunsträumen vorbei, bis hinunter zur Schulbibliothek. »Wieso warst du bei Harbeck?«, fragte ich und hoffte, das Gespräch wieder auf festeres Eis zu bewegen.

»Ich dachte, das wäre bei euch Standard. Schien sehr nett zu sein. Hat mich gefragt, ob ich Drogen nehme und Alkohol trinke, gerne schwarze Kleidung trage, oder sonst wie vorhabe, Ärger zu machen.«

Ich musste lachen. »Ach so, also das Übliche. Er hält selbst unsere ›Aktion Mülltrennung‹ für eine Gefährdung seiner Autorität.« Ich sah zu ihm hinüber. Schwarze Hose, schwarzes T-Shirt – was hatte er wohl geantwortet, bei der Frage, ob er gerne schwarze Kleidung trage? »Tja. Jetzt kennst du die Bibliothek, die Turnhalle und den NaWi-Trakt. Am besten gehen wir zum Klassenzimmer, dann hast du alles Wichtige gesehen.«

Er seufzte und sah auf die Uhr. »Wir haben noch so viel Zeit. Willst du mir nicht vielleicht noch den Kartenraum zeigen?« Sein Wolfslächeln war unmissverständlich.

Ich konnte fühlen, wie mir die Kinnlade herunterklappte. Es brauchte ein paar Sekunden länger, mich zu fangen, als mir lieb war. Dann lachte ich dümmlich, wie über einen misslungenen Scherz, ohne seine Aussage tatsächlich dieser Kategorie zuordnen zu können. »Tut mir leid. Die Karten da drin sind schon so alt und muffig, dass man wirklich Angst haben müsste, sich was Fieses einzufangen. Dieses Risiko würde ich lieber nicht eingehen.«

Er hob eine Augenbraue, und ich glaubte, in seinen Augen eine Spur Anerkennung zu sehen. »Okay. Dann zeig mir, wo eure Raucherecke ist. Die kenne ich noch nicht.«

»Es gibt keine. Rauchen ist auf dem ganzen Schulgelände verboten.«

»Dann bist du herzlich eingeladen, mir auch noch das Gebiet rund um das Schulgelände zu zeigen.« Er setzte sich in Bewegung, ohne eine Antwort abzuwarten.

»M-Moment.« Ich folgte ihm hastig. »Das Schulgelände zu verlassen, ist auch verboten.« Ich wünschte, ihm nicht den Hinterausgang gezeigt zu haben, denn schon waren wir draußen und eisige Kälte biss mir in die Ohren. Der Himmel war noch immer dunkel, als habe die Sonne heute vergessen aufzugehen.

»Mach dir keine Sorgen, Hermine. Dumbledore ist gerade in seinem Büro damit beschäftigt, einen Zehntklässler zur Schnecke zu machen.«

Ich blieb wie angewurzelt stehen. Noch einen Schritt, und ich würde das Schulgelände verlassen. Das hatte ich noch nie während der Schulzeit gemacht. Um genau zu sein, war das, was ich hier gerade tat, Schwänzen. »Ich denke, ich werde wieder zurückgehen«, sagte ich kleinlaut. »Du kannst dann ja nachkommen.«

Erik drehte sich herum und schüttelte enttäuscht den Kopf. »Das ist ja vollkommen verantwortungslos von dir. Wie soll ich denn ohne dich den Klassenraum finden?« Dann ging er weiter, ohne auf mich zu warten.

Ich biss die Zähne zusammen – und folgte ihm in die Dunkelheit.

Kapitel 2Magnetismus

Erik folgte zielsicher dem Trampelpfad in das kleine Waldstück, während ich mich immer wieder umsah. Durch die dichten Äste der Eichen wurde selbst der schmale Streifen Helligkeit ausgesperrt, der sich soeben noch gezeigt hatte, und vor meinem Gesicht verwandelte sich mein Atem in zarte, blasse Wolken. Ich zog den Reißverschluss meines roten Parkas bis hoch an mein Kinn, aber die Kälte fand dennoch ihren Weg meinen Halsausschnitt hinab. »Wir sind doch jetzt wirklich schon weit genug gegangen«, versuchte ich ihn aufzuhalten.

»Was denn? Hast du Angst im dunklen Wald?«, fragte er belustigt.

Ich warf ihm einen bösen Blick zu. »Ich wäre nur gerne wieder rechtzeitig zurück. Weißt du was? Ich beschreibe dir, wo das Klassenzimmer ist, und du kommst einfach nach.« In wenigen Worten erklärte ich Erik den Weg, während er sich eine Kippe ansteckte. Er fragte immer wieder nach, und ich war sicher, dass er mich auf die Palme bringen wollte. Nach dem dritten Mal drehte ich mich herum und stapfte den Weg zurück. Er machte keinen Anstalten mir zu folgen.

Ich hatte schon beinahe die letzten Bäume passiert, als ich vor mir eine Stimme hörte.

Zuerst glaubte ich, es wäre ein Lehrer, also versteckte ich mich hinter einem Baum. Hätte ich bloß besser meinen braunen Mantel angezogen. So fühlte ich mich ungefähr so gut getarnt wie ein Warndreieck.

Als die Stimmen besser zu hören waren, zuckte ich zusammen. Kein Lehrer. Viel schlimmer.

Leon.

Meine Eingeweide machten einen eigentümlichen Satz nach oben, und ich hätte schwören können, dass meine Beine am Boden festfroren. Der Klang seiner Stimme, flankiert von dem Lachen und Brummen seiner Freunde, kam näher.

Ich überredete meine Beine, einen Schritt rückwärts zu machen und stolperte in die Richtung, in der ich Erik zurückgelassen hatte. In der Ferne sah ich einen orange leuchtenden Punkt zwischen den Bäumen schweben und hielt darauf zu.

Um mich herum wurde es heller. Die Sonne hatte doch noch eine Lücke in der dichten Wolkenwand gefunden – ausgerechnet jetzt. Ich beschleunigte meine Schritte.

Erik sah auf und blickte mir überrascht entgegen. »Hast du dich verlaufen?«

»Ich kenne eine Abkürzung«, flüsterte ich und ergriff ihn am Handgelenk, ohne nachzudenken. Statt auf dem Weg zu bleiben, zerrte ich ihn quer durch das Gestrüpp und spitzte die Ohren, ob die Jungs uns folgten. Eriks Kippe flog irgendwo neben uns in das feuchte Laub, das den Boden bedeckte.

Ein paar Schritte lang folgte Erik mir ohne Zögern, dann wurde er langsamer. »Wer ist das?«, flüsterte er mir zu.

Ich schüttelte mit schreckgeweiteten Augen den Kopf und wollte ihn weiterziehen, aber ebenso gut hätte ich versuchen können, die Alpen an die Nordsee zu verlegen.

Erik blickte an den Bäumen vorbei in die Richtung, aus der Leons Stimme kam. Ich konnte sie schon sehen: eine Horde schwarzer Punkte, die größer und größer wurden. Erik lächelte beruhigend. »Die machen nichts anderes als wir, Lia. Kein Grund, Angst zu haben.«

Ich sah ihn noch eine Sekunde lang an, dann ließ ich seinen Arm los und wollte allein verschwinden. Aber jetzt war er es, der mich am Handgelenk packte. Mein Herz machte einen Aussetzer.

Ich sah ihn flehend an. »Bitte!«, flüsterte ich. Der Gedanke, dass Leon mich hier im Wald, allein – nein schlimmer noch – mit Erik im Schlepptau erwischen könnte, war unerträglich.

Etwas in meinem Blick schien Erik dann doch zu überzeugen. Also schlichen wir durch das tote Laub, darum bemüht, die ideale Kombination aus schnell und leise zu finden, in der Hoffnung, dass die Bäume uns Sichtschutz gaben. Es existierte ein Weg, der uns halb um das Schulgelände herumführte, sodass man durch den kleinen Garten neben den Bioräumen wieder hinaufgelangen konnte. Als wir endlich den Pausenhof betraten und ich mir sicher war, dass niemand uns gefolgt war, atmete ich tief ein.

»Wer war das denn?«, fragte Erik.

Ich schüttelte den Kopf. »Niemand. Lass uns jetzt endlich gehen.«

»Okay, wenn du es mir nicht verrätst, werde ich raten.« Erik schlenderte so langsam er konnte neben mir her, und ich musste mein Tempo drosseln, damit er überhaupt hinterherkam. »In dieser Gruppe war deine heimliche große Liebe, und du hattest Angst, er könnte was Falsches von dir denken, wenn er uns zusammen im Wald sieht.«

Ich stöhnte genervt auf. »Jetzt mal ehrlich ...«

»Okay, zweiter Versuch. Es war dein Exfreund, und die Trennung war so schmerzhaft, dass du ihn nicht mehr sehen willst.«

Meine Finger verkrampften sich. Das kam der Wahrheit schon nahe genug, um unangenehm zu werden.

»Ah, das trifft es schon eher, was?«, fragte Erik lauernd.

Ich ärgerte mich über mich selbst. War ich ein so offenes Buch?

»Einen Versuch habe ich noch«, sagte er versonnen.

»Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du schwerer zu ertragen bist als ein Raum voller Schmeißfliegen!?«, giftete ich ihn an. »Wir sind da.« Ich zeigte auf die Tür zu unserem Klassenzimmer. »Da drin sitzen 26 Leute, und ich bin mir sicher, du wirst einen Haufen Gleichgesinnter finden. Aber bitte tu mir den Gefallen und rede nicht mehr mit mir. Sprich nicht über mich. Tu einfach so, als wäre ich nicht da. Vielen Dank!« Ohne abzuwarten, riss ich die Tür auf und erinnerte mich in letzter Sekunde daran, dass es gut wäre, wenigstens einigermaßen neutral zu gucken.

Steifer als jede Barbiepuppe bewegte ich mich zu meinem Sitzplatz zwischen Swantje und Lenny und versuchte, meinen überschnappenden Atem zu beruhigen.

Zum Glück bemerkte es niemand, denn die Blicke aller hingen wie gebannt an Erik. Die Mädchen, die der Tür am nächsten saßen, schienen regelrecht aufzuleuchten, einfach nur, weil er in ihrer Nähe war. Ich warf einen Seitenblick auf Lenny, um zu überprüfen, ob ihm der Sabber aus dem Mund lief, aber er sah einfach nur genauso verzaubert aus wie der Rest meiner Mitschüler.

Auch alle anderen Jungs sahen Erik mit einer Mischung aus Bewunderung und Ehrfurcht an, selbst Herr Kahlberg starrte, als habe ihm jemand die Augenlider operativ entfernt. Ich korrigierte meine Einschätzung, dass Erik Ärger bedeutete: Erik bedeutete einen Riesenhaufen Ärger, nicht nur für die Klasse, sondern vielleicht sogar für den ganzen Jahrgang.

Er lächelte in die Runde, und ich war mir sicher, dass dieses Lächeln pure Berechnung und vielleicht gerade deshalb umso wirkungsvoller war.

Herr Kahlberg fing sich wieder. »Erik. Wie schön. Möchtest du dich nicht vorstellen?«

»Nein«, antwortete er schlicht.

Die Klasse lachte.

Kahlberg wirkt ein wenig aus dem Konzept gebracht. »Na dann ... such dir doch einen Platz aus.«

Eriks Blick fiel auf mich, und ich war heilfroh, dass ich von Swantje und Lenny eingerahmt wurde. Swantje strich sich eine kupferrote Haarsträhne hinters Ohr und flüsterte mir nervös zu: »Er hat in meine Richtung gesehen!«

Schließlich setzte er sich mir genau gegenüber neben Annabell, die fast hyperventilierte. Ich verdrehte genervt die Augen und hoffte, dass es niemand merkte.

»Ihr wart ganz schön lange weg«, raunte Lenny mir zu. »Doch noch im Kartenraum?«

Ich sah ihn säuerlich an. »Wenn ich noch einmal dieses Wort höre, werde ich irgendjemandem etwas sehr Schmerzhaftes antun.«

»Im Kartenraum war sie nicht«, fügte Swantje trotz meiner Warnung an und griff neben mein Gesicht. Aus den Tiefen meiner von Ästen zerzausten Haare holte sie ein vertrocknetes Blatt hervor. »Dafür im Wald.«

Ich griff nach dem Blatt und zerknüllte es in meiner Hand.

»Erwischt!«, flüsterte sie mit einem breiten Grinsen.

»Können wir das Gespräch bitte auf die nächste Pause verlegen?«, erwiderte ich.

Mein Blick streifte Erik, der sich seinen Platz so gewählt hatte, dass ich ihn bei jeder Bewegung meines Kopfes unweigerlich sehen musste. Ich wertete das als böse Absicht. Er beobachtete Swantje, die in meinen Haaren nach weiteren Blättern suchte, und lächelte, als er meinen Blick sah. Ich starrte einen Augenblick reglos zurück und konzentrierte mich dann, wahrscheinlich als Einzige der Klasse, auf den Unterricht.

Zu Beginn der Pause war die Hölle los. Alle stürzten sich auf Erik, als wäre er der personifizierte Sommerschlussverkauf, und es kostete mich einiges an Überzeugungsarbeit, damit Lenny und Swantje nicht auch noch bei dem Schwachsinn mitmachten.

»Du hast gut reden!«, maulte Swantje. »Du hattest ja auch schon jede Menge Zeit, dich mit ihm zu unterhalten. Oder seid ihr dazu gar nicht erst gekommen?«

»Wer hat dir denn heute was in die Cola gemischt? Meine Güte, was ist mit euch allen los? Der Typ ist ein überhebliches Arschloch, und ja, er hat mich in den Wald geschleift – weil er unbedingt noch eine rauchen musste. Jede Wette, ich stinke jetzt nach Qualm und meine Eltern machen mir die Hölle heiß. So ein Idiot!« Ich wühlte in meiner Schultasche, mehr um mich abzulenken, als um tatsächlich nach etwas zu suchen.

Lenny seufzte theatralisch. »So war unsere Nelly schon immer. Nie weiß sie, ob ihr Herz klopft, weil sie verknallt ist, oder wütend. Weißt du noch, Swanny? In der fünften Klasse hat sie Hendrik eine gescheuert, als er ihr einen Liebesbrief gegeben hat.«

Swantje kicherte.

»Nein. So ist es dieses Mal sicher nicht«, sagte ich scharf.

Wir setzten uns an einen der Tische in der Cafeteria, und ich zog willkürlich meinen Notizkalender heraus. Ein rotes Kreuz am heutigen Tag erinnerte mich daran, dass ich nach der Schule zum Training musste. Das hätte ich beinahe vergessen. Es wurde Zeit, die Kontrolle über die Ereignisse zurückzugewinnen. »Swanny? Hast du deine Erdkundehausaufgaben gemacht?«

»Wir hatten Hausaufgaben?«

Ich reichte ihr meinen Hefter und sie begann, meinen säuberlich ausformulierten Text in Stichpunkten auf einen zerknickten Zettel zu kritzeln.

Lenny hielt mir eine Milchschnitte unter die Nase. »Hast du denn heute schon was gegessen?«

Ich nickte. »Hatte ein Riesenfrühstück. Wenn ich noch mehr esse, platze ich.«

Lenny fixierte mich misstrauisch und seine dunkelgrünen Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Ach, komm schon. Für eine Milchschnitte ist immer Platz.«

Ich lächelte ihn beruhigend an. »Lenny. Da drin ist jede Menge Milch und Honig. Wenn Milchschnitten irgendetwas nicht sind, dann vegan.«

»Vegan?« Lenny spuckte das Wort aus, als wäre es etwas Abstoßendes.

Swantje sah von meinem Hefter auf und mich besorgt an. »Ach komm schon. Dieser Vegetarierquatsch hat doch gereicht.«

»Ich kann das nicht mehr mit meinem Gewissen vereinbaren. Kuhmilch trinken – das ist doch total unnatürlich. Die gehört den Kälbern.«

Lenny riss die Verpackung der Milchschnitte auf und biss herzhaft hinein. Einen Augenblick lang musste ich mir vorstellen, wie süß sie wohl schmeckte, und mir lief das Wasser im Mund zusammen. »Als Nächstes isst du nur noch Obst, das alleine vom Baum gefallen ist«, sagte er zwischen zwei Bissen.

»Könnte passieren«, sagte ich und tat, als sei ich beleidigt.

Lenny sah mich verzeihungsheischend an. »Ich mach’ mir doch nur Sorgen. Du hast so abgenommen.«

»Ich?« Obwohl ich froh über diese Worte war, versuchte ich, erstaunt zu wirken. »Das sieht nur so aus wegen der Winterklamotten. Eigentlich habe ich sogar zugenommen«, behauptete ich, obwohl das natürlich nicht stimmte.

Lenny sah mich misstrauisch an, schwieg aber glücklicherweise.

Nach der Pause gingen wir gemeinsam zum Chemieunterricht. Im Lehrsaal standen große Gruppentische. Natürlich gab es Gezicke, wer mit Erik an einem Tisch sitzen durfte. Wahrscheinlich ein Zustand, an den ich mich gewöhnen musste. Wäre ich er gewesen, hätte ich einfach nur allein sitzen wollen, um das ewige Geschleime nicht ertragen zu müssen. Aber ihm schien es zu gefallen, denn er schenkte jedem genau die Menge Aufmerksamkeit, die beim Gegenüber Hoffnung aufkeimen ließ– und keinen Deut mehr. Auf mich wirkte das sehr routiniert und meine Meinung von ihm sank vom Keller in die Tiefgarage.

Besonders interessiert schien er an Annabell zu sein, deren Gesicht feuerrot leuchtete und die alle zwei Minuten ihr Dekolleté nach unten korrigierte.

»Widerlich«, kommentierte Swantje mit deutlichem Neid in der Stimme.

Ich setzte meine Schutzbrille auf und begann, tröpfchenweise Säure in das Reagenzglas zu geben. »Zählst du mit, Lenny?«

Immerhin war dieser Schultag unterhaltsamer als die meisten anderen, zumindest bis auf die letzte Doppelstunde. Denn Erik machte seine Ankündigung wahr und schwänzte schon an seinem ersten Tag. Das wiederum machte mich ein wenig neidisch, denn es gab für mich nichts Schlimmeres als Musikunterricht. Wenn wir singen mussten, bewegte ich zumeist nur alibimäßig den Mund, um nicht aufzufallen.

»Hast du bemerkt, dass Annabell nicht da ist?«, flüsterte Swantje mir zu.

Ich sah mich verstohlen im Raum um.

Tatsächlich. Sie fehlte.

Ich warf Swantje einen vielsagenden Blick zu.

Kapitel 3Hingabe

Egal zu welcher Jahreszeit – es war mir wichtig, den Schulweg mit dem Rad zu fahren, obwohl es bis nach Hause knapp acht Kilometer waren. Lenny gefiel das nicht – er machte sich Sorgen, weil ich häufig im Dunkeln durch den Wald musste. Aber besonders an einem Tag wie heute tat es gut, wenigstens an den Pedalen alle Gefühle herauszulassen.

Um zur Eishalle zu gelangen, musste ich einen kleinen Umweg machen und versuchte, meinen eigenen Rekord von 13 Minuten und 27 Sekunden zu schlagen. Ich verpasste die Bestzeit knapp, aber meine Oberschenkel brannten angenehm, sodass ich gut gelaunt ankam. Vor dem Backsteingebäude wartete schon Anja auf mich.

»Hey, Nelly! Siehst gut aus! Hast du abgenommen?«

Ich strahlte. »Dreieinhalb Kilo in den letzten zwei Wochen. Jetzt hat die Morosow nichts mehr zu meckern.«

Anja verdrehte die Augen. »Da wär’ ich mir nicht so sicher – kannst du dir den Ausdruck von Zufriedenheit auf ihrem Gesicht vorstellen?«

Ich seufzte und öffnete die Eingangstür. »Ich glaube, ihr Gesicht und Zufriedenheit sind zwei unvereinbare Gegensätze. Hey, Mark.«

Mark, der picklige Junge im Kassenhäuschen, nickte uns zu, und ich wusste, dass er uns hinterherstarrte – ich beobachtete ihn häufig, wenn Anja ihre Runden über das Eis zog. Dann sah er durch seine Scheibe verträumt zu ihr herüber.

Wir gingen gemeinsam in die Umkleideräume. Es gab keine getrennten Kabinen für Männer und Frauen, und wir konnten schon froh sein, sie überhaupt nutzen zu dürfen. Eigentlich waren sie für die Eishockeyspieler gedacht, deren Spiele und Trainings deutlich mehr Publikum anzogen. In der Stunde vor uns belegte die Jugend-Eishockeymannschaft das Feld, und wir schauten jedes Mal vor dem Umziehen die Kabinen durch, ob nicht noch ein einzelner Spieler zurückgeblieben war.

Ich holte mein Kostüm und meine Schlittschuhe aus dem Spind und setzte mich neben Anja, die schon ihre Schuhe und ihre Hose ausgezogen hatte. Ihre Oberschenkel sahen so straff und muskulös aus, als wäre kein einziges Gramm Fett daran.

Vor dem kleinen Spiegel kämmte ich meine Haare zurück. Morosow schimpfte immer, ich solle sie kürzer tragen, aber sie waren mein ganzer Stolz. Sie hatten genau das richtige Blond und die perfekte Länge. Seit ich ein kleines Mädchen war, durfte niemand mehr meine Haare schneiden, außer mir selbst.

Mein Blick fiel noch einmal auf Anjas Beine und ich entschied mich, beim heutigen Training einen offenen Pferdeschwanz zu tragen, keinen Dutt. Sollte die Morosow doch meckern – es war schließlich nur ein Training.

Ich zog mein T-Shirt über den Kopf und wandte mich dann meinen Schuhen zu.

»Wie sieht es denn eigentlich dieses Wochenende aus? Wir wollten Plätzchen backen«, erinnerte mich Anja.

Ich lächelte säuerlich. Die dachte ans Plätzchenbacken und war trotzdem so gut in Form. »Klar. Ich freue mich immer, etwas zu haben, das ich an Weihnachten meinen Freunden schenken kann.«

»Ich habe ein neues Rezept. Doppelschokosterne. Mit heller und dunkler Schokolade, als Glasur und im Teig.« Anja schloss die Augen und machte ein genießerisches Geräusch.

»Tja, die kann ich zwar für meine Freunde backen, aber dummerweise nicht selbst probieren. Schokolade ist leider nicht vegan.«

Anja sah mich mitleidig an und zog sich ihr Kostüm über. Ihre Eltern hatten ihr gerade ein neues zum Geburtstag geschenkt – voller Strasssteine, die Blätter und Blumenmuster bildeten; das Grün brachte ihre Augen zum Strahlen.

Meines war älter: Das ehemals dunkle Rot war schon etwas verblasst, und es gab keinen einzigen glitzernden Stein darauf. Ich wollte gerade hineinschlüpfen, als die Tür aufflog. Vor mir stand ein Eishockeyspieler, mit Helm und Schläger.

Ich presste mein Kostüm an mich und brüllte: »Raus!«

Die Tür wurde schneller geschlossen, als dass ich mich hätte wiederholen können.

»Solche Idioten!«, zischte ich.

»Was machen die eigentlich noch hier? Die sollten schon längst Schluss haben.« Anja hatte es gut – sie hatte es rechtzeitig geschafft, ihr Kostüm anzuziehen und war schon bei den Schuhen angelangt.

Ich tat es ihr hastig gleich – nur für den Fall, dass die Typen sich noch einmal denselben Spaß gönnten. Tatsächlich war ich sogar schneller fertig als Anja, denn sie brauchte immer eine Ewigkeit, um ihre Haare zu bändigen. Ich schlüpfte aus der Kabine – und wäre fast in den Eishockeyspieler gelaufen, der uns eben überrascht hatte.

»Ich wollte nur sagen, dass es ein Versehen war.«

Ich erstarrte und versuchte zu erkennen, wessen Gesicht sich hinter dem Helm verbarg, ahnte es aber schon, bevor er ihn abgenommen hatte. Natürlich musste mir Erik auch diesen Teil meines Privatlebens verderben. »Die Jungs meinten, es wäre lustig, mich reinzuschicken, ohne mich zu warnen, dass ihr drin sein könntet.« Er sah tatsächlich ein wenig reumütig aus.

Ich verschränkte die Arme. »Was hast du hier zu suchen?«

Erik zeigte mit dem Daumen hinter sich. »Ich habe für die Mannschaft vorgespielt.«

Hinter mir kam Anja aus der Umkleide. »Ist das ...?« Sie verstummte.

Ich sah Erik finster an und versuchte dann, auf meinen Schlittschuhen so würdevoll wie möglich an ihm vorbei zum Eis zu laufen. Innerlich brodelte ich.

Musste das sein? Schlimm genug, dass ich ihn ab jetzt jeden Tag in der Schule würde ertragen müssen. Jetzt verfolgte er mich auch noch in die Eishalle. Was käme als Nächstes? Würde mein Vater ihn als Hilfe für die Gartenarbeit anstellen?

»Westphal, was ziehst du für ein Gesicht?«, begrüßte mich die Morosow. Ihr pinkfarbener Lippenstift erschien mir heute noch grauenhafter als sonst. Die Farbe war in die kleinen Falten um ihren Mund herum gesickert und biss sich mit der unnatürlichen Solarienbräune ihrer Haut. »Sieht so ein Eiskunstlauf-Star aus? Lächeln, lächeln, lächeln!«

Ich zwang meine Mundwinkel nach oben. »Hallo, Frau Morosow.«

»Und was ist das auf deinem Kopf, Westphal? Nennst du das eine Frisur? Das ist ein Wischmopp. Du kannst nichts sehen, wenn du einen Wischmopp auf dem Kopf hast. Geh jetzt und lauf dich ein!«

Ich betrat das Eis und drehte eine kleine Runde. Wo blieb nur Anja?

»Westphal! Mach einen Lutz.«

Ich tat Morosow den Gefallen, konnte mich aber nicht so recht konzentrieren.

»Rückwärts, auswärts, Westphal! Du siehst aus wie eine Ente! Bist du eine kleine, dicke Ente?«

Ich schluckte meine Wut hinunter und versuchte, sie in meinen nächsten Sprung zu leiten.

»Besser, Westphal, besser!«

Ich musste meinen Körper in den Zustand bringen, in dem ich am besten lief: Auf Autopilot und mit dem Gefühl, als gleite ich zwischen Wolken daher und nicht auf Eis. Ich ließ meinen Blick schweifen – und blieb an einem der oberen Ränge kleben.

Statt sich endlich vom Acker zu machen, hatte Erik sich da oben niedergelassen und auch gleich noch die anderen Eishockeyspieler mit sich geschleppt. Sie alle starrten in meine Richtung und tuschelten leise.

Ein dumpfer Schlag traf mich in der Magengegend und Schmerz jagte durch meinen Körper. Bunte Sternchen tanzten vor meinen Augen, und ich brauchte einen Moment, um zu realisieren, was geschehen war.

Die Bande war schneller näher gekommen, als ich dachte, denn ich war zu beschäftigt damit gewesen, mir über die Idioten in den oberen Reihen Gedanken zu machen. Die konnte ich zu allem Übel bis hier lachen hören. Morosows aufgeregtes Schimpfen drang an mein Ohr. »Was war das? Das war nicht mal eine dicke Ente! Das war ein Pinguin! Im Rollstuhl!«

»Ja, danke, es geht schon wieder besser«, antwortete ich leise zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Könnten Sie vielleicht die Musik anstellen? Ich kann mich so schlecht konzentrieren, wenn ich beobachtet werde.«

Morosow sah mich verständnislos an. »Was ist das für eine Attitüde? Bei Wettbewerben wirst du auch beobachtet.«

Trotzdem tat sie mir den Gefallen und setzte sich wieder. Anja hatte mittlerweile neben ihr Platz genommen und bedeutete mit einer Geste, dass sie mir die Daumen drückte.

Ich glitt bis zur Mitte des Feldes und positionierte mich. Bedächtig sank ich auf die Knie und senkte den Kopf, als wolle ich mich vor dem Eis verneigen. Meinen Oberkörper schmiegte ich so eng an die kalte Oberfläche, dass ich die tiefen Rillen, die die Kufen der Hockeyspieler darin hinterlassen hatten, noch durch mein Kostüm fühlen konnte. Eine Hand hatte ich auf den Rücken gelegt, hinter dem anderen Arm meinen Kopf verborgen wie ein Vogel im Schlaf. Mit geschlossenen Augen lauschte ich dem ruhiger werdenden Schlagen meines Herzens und wartete auf die ersten Takte der Musik. Die Horde Jungs wurde ruhiger und hörte auf zu lachen.

Die ersten, zarten Klänge der Oboen ertönten und ich stellte mir vor, anstelle meiner Arme wüchsen große, weiße Flügel. Morosow hatte mich anfangs wegen meiner Musikwahl kritisiert – Schwanensee sei zu komplex und die Tempowechsel zu anspruchsvoll. Aber mit der Zeit war ihre Kritik verstummt, denn auch sie musste sehen, dass für mich in keinem Musikstück dieser Welt mehr Leidenschaft lag. Wenn ich es hörte, waren mein Körper und das Eis unter mir eins, und jeder Sprung, jede Pirouette fühlte sich an, als wäre sie ein Teil von mir, der seit meiner Geburt darauf gewartet hatte, dass ich ihn zum Leben erweckte. Der Schmerz in meinen Muskeln war eine Belohnung und die Bewegung keine Anstrengung mehr. Meine Füße bewegten sich rückwärts über das Eis wie Fische, die im Fluss dahinglitten, mit dem Strom und auf das Meer zu. Schwebte ich für wenige Sekunden vom Boden losgelöst durch die Luft, dann war mir, als fiele nicht nur die Schwerkraft, sondern alles, was mich an die Erde kettete, für einen Moment von mir. So angespannt jede Faser meines Körpers auch war, so schien er doch mit der Musik zu verschmelzen, in ihr aufzugehen, bis ich endlich ganz verschwunden war. Das Eis unter mir schien zu brechen wie die Oberfläche eines Sees, der mich in seine Tiefen lockte, mich hinabzureißen versprach, wo jede Spur von mir für immer von finsterer Kälte und von Stille bedeckt war.

Ich endete, wo ich begonnen hatte – flach auf dem Eis liegend und meinem eigenen, schwerer gewordenen Atem lauschend.

»Schön. Anja, bitte«, sagte Morosow. Es war das erste Mal, seit ich sie kannte, dass ein Lob aus ihrem Mund kam, auch wenn es so kurz war. Ich lächelte und erhob mich.

Ich setzte mich auf den Platz neben Morosow und sah Anja zu, die sich zum Phantom der Oper auf dem Eis drehte. Pure Zufriedenheit durchströmte meinen Körper.

Die Eishockeyspieler verfolgten nun mit gierigen Blicken Anjas Bewegungen – alle, bis auf einen. Erik starrte zu mir hinüber und wandte seine Augen auch nicht ab, als ich zurückstarrte.

Im Anschluss jagte Morosow mich über das Eis und ließ mich wieder und wieder Pirouetten-Kombinationen wiederholen, bis sich meine Beine eisenhart und verspannt anfühlten. Anja ging es nicht besser. Ihre Schwachstelle waren die Dreifachsprünge und mehr als einmal verlor sie das Gleichgewicht. Morosow schimpfte wie ein Rohrspatz, und wir waren beide erleichtert, als wir endlich nach Hause konnten.

Anja gönnte sich noch eine Portion Pommes mit Mayo, und mir knurrte der Magen bei dem Anblick. Gemeinsam warteten wir auf ihren Bus. »Kommst du noch bei mir vorbei? Wir könnten die nächste Staffel Hannibal gucken. Wir kaufen Chips in allen Geschmacksrichtungen und kloppen alle Folgen noch heute Abend durch!«

»Klingt toll«, antwortete ich lahm. »Aber ich muss noch Hausaufgaben machen.«

Anja grinste mich teuflisch an. »Die können auch mal ausfallen. Dich kontrolliert doch eh kein Lehrer, weil sie wissen, dass du ganz gewissenhaft immer alles erledigst.« Der Linienbus kam und hielt auf uns zu.

Ich schüttelte den Kopf. »Die nächste Klausur steht vor der Tür. Ich brauche die Übung.«

Anja nahm sich drei Pommes auf einmal und zuckte mit den Schultern. »Wie du willst.«

Die Bustüren öffneten sich zischend und Anja stieg ein. »Übermorgen reden wir noch einmal über die Plätzchen. Viel Spaß mit den Hausaufgaben.«

Ich winkte und drehte mich dann um, um zu meinem Fahrrad zurückzugehen.

Inzwischen war es schon wieder stockdunkel, und die Straßenlaternen zeichneten scharfe Schatten in die Gärten. Viel Sonne hatte ich an diesem Tag nicht gesehen. Ich stellte mein Fahrrad für gewöhnlich am Ende des Parkplatzes ab. Bis dort drang das Licht der Straßenlaternen nicht vor, und ich stellte die Taschenlampe an meinem Smartphone ein.

Über eines der Fahrräder gebeugt stand Erik, und ich sandte einen stummen Fluch zum Himmel. Einen Augenblick lang überlegte ich, mich hinter einem Auto zu verstecken und zu warten, bis er sich verzogen hatte, aber es war zu spät. Er hatte mich schon entdeckt.

Wortlos ging ich zu meinem Fahrrad und stellte mich so hin, dass er nicht sehen konnte, welche Kombination ich an meinem Fahrradschloss eingab. Man konnte ja nie wissen.

»Das war beeindruckend.«

Konnte der Kerl nicht einmal die Klappe halten? »Was denn? Mein Zusammenprall mit der Bande?«

»Deine Kür. Ich glaube, ich habe noch nie etwas Schöneres gesehen.« Seine Stimme klang ehrlich, und mir lief ein Schauer über den Rücken.

Ein kleines Lächeln stahl sich auf mein Gesicht und ich war froh, dass ich ihm den Rücken zugewandt hatte. Dennoch versuchte ich, mir nichts anmerken zu lassen. »Wenn dir Eiskunstlauf und Ballett gefallen, solltest du dich mit Lenny anfreunden.« Ich wuchtete mein Fahrrad vom Ständer und wollte aufsteigen, aber Erik stand mit seinem so im Weg, dass ich nicht vorbeikam.

»Ich weiß, wir hatten keinen guten Start. Ich hätte heute Morgen auf dich hören sollen, ich weiß, dass es dir wichtig war. Das war ziemlich respektlos. Es tut mir leid.« Sein Gesicht lag komplett im Schatten. Ihn nicht zu sehen und daher noch schlechter einschätzen zu können, machte mich nervös.

Ich zischte abfällig. »Meine Mitmenschen respektieren. Ein guter Vorsatz fürs neue Jahr, also spar ihn dir für Silvester auf. Kann ich jetzt bitte vorbei?«

Erik zögerte einen Moment und machte dann Platz.

Ich schob mein Rad an ihm vorüber und wollte aufsteigen. Aber ich konnte nicht.

Widerwillig drehte ich mich noch einmal zu ihm um. »Entschuldigung akzeptiert.«

Dann machte ich mich endlich auf den Weg nach Hause.

Gastfreundschaft

Meine Finger waren nach der Fahrt so steif gefroren, dass ich Probleme hatte, den Hausschlüssel zu halten. Nachdem ich die Tür geöffnet hatte, schlugen mir warme Luft und der Geruch von gebratenem Fleisch und Zwiebeln entgegen. Ich stellte meine Tasche in die Ecke und zog meinen Parka und meine Schuhe aus. »Hallo. Ich bin zu Hause.«

Keine Antwort.

Ich wollte gerade meine Tasche wieder nehmen und die Treppe hochgehen, als doch noch meine Mutter um die Ecke sah. »Edna?«

»Nein, ich bin’s.«

Sie seufzte. »Bitte hol deine Schwester zum Essen. Ich habe sie schon so oft gerufen, dass ich ganz heiser bin.« Sie verschwand wieder in der Küche, und ich stieg die Treppenstufen zum ersten Stockwerk hinauf.

Ednas Zimmer lag neben meinem eigenen. Laute Musik drang durch die Tür. Ich klopfte, aber natürlich kam keine Reaktion. Insgesamt drei Mal rief ich so laut ich konnte, aber sie reagierte nicht. Schließlich öffnete ich die Tür – und erntete einen empörten Aufschrei.

Edna hockte gebeugt über ihrem Laptop, wahrscheinlich textete sie mit jemandem. Ihre langen, grünen Haare verbargen den Bildschirm und ihr Gesicht war vor Wut verzerrt. »Spinnst du?«

»Das Essen ist fertig. Mama ruft schon seit Ewigkeiten nach dir, und ich habe geklopft.«

»Ich habe dich nicht reingebeten!«, zischte sie. Ich versuchte mich daran zu erinnern, ob ich mit 16 genauso anstrengend gewesen war.

»Komm einfach runter.«

Edna folgte mir fluchend und das auch erst, nachdem sie ihr Zimmer hinter sich abgeschlossen hatte.

In der Küche rannte meine Mutter nervös von einem Topf zum anderen. Papa saß am Esstisch und hatte seine Unterlagen neben seinem Teller ausgebreitet. Als wir den Raum betraten, blickte er kurz auf und runzelte die Stirn. »Was ist das für ein Halsband, Edna?«

Ich warf meiner Schwester einen Seitenblick zu. Sie trug ein Hundehalsband mit Nieten. Da meiner Ansicht nach Geschmacklosigkeit kein Anlass dafür war, einen Streit zu führen, hörte ich meinem Vater daraufhin nur noch mit halbem Ohr zu, sondern half meiner Mutter beim Auffüllen. Sie wollte einen vierten Teller für mich aus dem Küchenschrank nehmen, aber ich winkte ab. »Ich habe schon mit Anja zusammen gegessen. Ich wollte nicht, dass du dir extra meinetwegen Mühe machen musst.«

Mama stellte den Teller wortlos zurück und setzte sich zu den beiden Streithähnen an den Tisch. Ich folgte ihr und sah dabei zu, wie zartes Bratenfleisch zerteilt wurde, Kartoffeln in Sauce getaucht und mit Möhren vermischt wurden. Mein Magen knurrte leise und ich hoffte, dass es niemand hörte. »Wir haben heute die Matheklausur zurückbekommen«, sagte ich.

»Ach ja«, sagte meine Mutter spitz. »Solltest du deine Klassenarbeit in Latein nicht auch zurückbekommen, Edna?«

Meine Schwester warf mir einen tödlichen Blick zu. »Wen interessiert schon scheiß Latein?«

»Edna! Wir hatten diese Diskussion schon tausendmal!« Mein Vater ließ seine Gabel sinken und eine steile Zornesfalte bildete sich über seiner Nasenwurzel.

Ich schob mein unbenutztes Besteck von mir und stand auf. »Ich muss noch Hausaufgaben machen. Entschuldigt mich bitte.«

»Ist ja nicht so, dass ich jedes Mal wieder anfange, davon zu quatschen!«, keifte Edna.

»Wir erwarten ja keine intellektuellen Höhenflüge! Wir wollen nur, dass du einen Schulabschluss ...« Ich hörte meiner Mutter nicht weiter zu, sondern schlich mich aus der Küche ins Obergeschoss und in mein Zimmer.

Hier oben war es ruhiger, aber das Geschrei aus der Küche konnte ich noch immer hören. Ohne weitere Zeit zu verschwenden, packte ich meine Schultasche für den nächsten Tag, mit Ausnahme der Bücher, die ich noch zum Lernen brauchte.

Die Hausaufgaben schleppten sich dahin und immer wieder schweiften meine Gedanken ab. Mein Magen machte merkwürdige Geräusche und stach so sehr, als hätte ich einen Igel verschluckt. Ich legte eine kurze Pause ein und machte ein paar Kniebeugen zur Ablenkung, aber es half nicht viel. Am Ende hatte ich nicht das Gefühl, mein Bestes gegeben zu haben, und nur die Hälfte des Stoffes war hängen geblieben.

Eigentlich hatte ich zur Belohnung lesen wollen, aber das konnte ich mir nach diesem desaströsen Arbeitsergebnis nicht erlauben. Ich biss die Zähne zusammen und holte die Matheklausur hervor. Vor dem Schlafengehen wollte ich sie zumindest noch einmal durchrechnen. Immerhin fehlten mir vier Punkte für das perfekte Ergebnis und ich konnte mir nicht erklären, wie das passiert war.

Ich quälte mich an Vektoren und Matrizen vorbei und mein Kopf begann im gleichen Maß zu schmerzen wie mein Bauch. Für einen kleinen Moment legte ich den Kopf auf der Tischplatte ab und wollte nur einen Augenblick die Augen schließen. Aber ich hätte es besser wissen müssen.

Beinahe sofort war ich eingeschlafen.

Ich fand mich in meinem Erdkunderaum wieder, und außer mir und der Morosow saß niemand im Klassenzimmer. Meine Socken hatten sich mit Wasser vollgesogen und mit Verwunderung bemerkte ich, dass hinter mir und meiner Trainerin nicht die Wand des Klassenzimmers lag, sondern sich ein See erstreckte, dessen Oberfläche so glatt und dunkel dalag, als bestünde er aus flüssigem Teer.

Vorne an der Tafel stand Erik vor einer Weltkarte. »Lia, kannst du mir sagen, was die Hauptstadt von Kambodscha ist?«

Sofort schoss mir Phnom Penh in den Kopf, aber die Laute wollten nicht über meine Zunge. Stattdessen sagte ich Jakarta.

»Falsch!«, sagten Erik und Morosow wie aus einem Munde.

»Strafe muss sein«, fügte Erik hinzu und machte eine Geste in Morosows Richtung.

Die packte mich am Kinn, und bevor ich etwas dagegen tun konnte, stopfte sie mir eine Milchschnitte in den Mund und zwang mich, sie herunterzuschlucken. »Kleine, dicke Ente!« Mein Bauch schwoll an, als wäre ich schwanger, und mein Stuhl kippte nach hinten. Einsam trieb ich auf den See hinaus, nur an der Oberfläche gehalten von meinem aufgeblähten Leib, fort von der Tafel, von Morosow und Erik, immer weiter über das schwarze Wasser.

Ich schreckte auf und stieß einen leisen Fluch aus. Mein Nacken schmerzte fürchterlich, ein pelziger Geschmack lag auf meiner Zunge und ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass ich in zwei Stunden schon wieder aufstehen musste. Erschöpft schleppte ich mich zum Bett herüber und blieb von weiterem Gehirnsalat verschont.

Der nächste Morgen war die Hölle. Meine Knochen schmerzten, als wären sie über Nacht um mindestens 40 Jahre gealtert, und nach dem Aufstehen war mir so schwindelig, dass ich einige Minuten nicht von meinem Bett aufstehen konnte.

Ich quälte mich ins Bad und dann hinunter in die Küche. Mein Körper protestierte, als ich meinen Plan umsetzen wollte, nur eine Tasse Kaffee zu trinken, um den Kreislauf in Schwung zu bringen. Ohne Essen würde ich es nicht zur Schule schaffen. Wütend hackte ich einen Apfel klein und würgte ihn hinunter, aber das reichte nicht. Mein widerspenstiger Körper nötigte mich, noch eine Scheibe Knäckebrot zu essen, und ich hasste mich für meine eigene Schwäche.

Ich ignorierte Edna, die die Treppe heruntergestürzt kam, während ich meine Schuhe anzog. Auch sie versuchte bestmöglich vorzutäuschen, mich nicht zu sehen.

Von den ersten beiden Stunden bekam ich kaum etwas mit. Ich lief auf Autopilot und registrierte gerade noch so am Rande, dass Swantje mir zuflüsterte, dass Annabell noch immer fehle. Den Rest der Zeit spukten meine Gedanken um das Knäckebrot herum. Erst in der Pause kam Leben in meine Glieder, während ich Swantje und Lenny dabei zusah, wie sie meine Deutschhausaufgaben abschrieben.

Ich versuchte, mich zusammenzureißen, und konzentrierte mich darauf, in der nächsten Doppelstunde wieder geistig anwesend zu sein. Deutsch war mein Lieblingsfach und Frau Lötz eine Lehrerin, die für gute Noten herausragende Leistungen erwartete.

Leider fand Deutsch auch in unserem Klassenzimmer statt, was bedeutete, dass ich wieder Erik gegenübersaß, dem ich böse war, weil er sich erdreistet hatte, sich in meinen Traum einzuschleichen. Zu allem Übel fühlte ich mich auch noch von ihm beobachtet, obwohl das nahezu unmöglich war – denn er war konstant damit beschäftigt, seine Sitznachbarinnen zu bespaßen. Annabell fehlte zwar, aber natürlich war ihr Sitzplatz weniger als eine Nanosekunde frei geblieben. Stattdessen waren heute Nadine und Amelie die Glücklichen.

Nadine warf mir einen Seitenblick aus ihren dunklen, stechenden Vogelaugen zu. Sie schaffte es, mich so angewidert anzusehen, dass ich mich augenblicklich schuldig fühlte. Wahrscheinlich war dies auch das Einzige, das sie hatte erreichen wollen.

Vermutlich hatte sie sogar recht. Was interessierte es mich eigentlich? Ich gab mir größte Mühe, nicht weiter in ihre Richtung zu sehn.

Frau Lötz begann damit, die Hausaufgaben einzusammeln. Lenny und Swantje atmeten erleichtert auf, als sie ihre zusammengeschusterten Abschriften abgegeben hatten.

Danach setzte sich unsere Lehrerin auf ihren Tisch, was diesen gefährlich knarzen ließ. »Jetzt möchte ich mal eure ganz persönlichen Meinungen hören, fernab der Hausaufgabe. Was habt ihr empfunden, als ihr mit der Lektüre von ›Die Verwandlung‹ fertig wart?«

Ich meldete mich, aber Frau Lötz schob gleich Swantjes Namen hinterher.

Die hatte sich nicht gemeldet. Sofern ich wusste, hatte sie nicht einmal das Buch gelesen. »Ähm ... ich dachte an die Gesellschaft. Die Situation, das ist ja quasi ein Teufelskreis, wo der, der ...«, sie stockte, und ich flüsterte ihr den Namen des Protagonisten zu. »... Gregor gar nicht raus kann. Das ist wirklich tragisch.«

Ich versuchte, mir meine Verzweiflung nicht anmerken zu lassen. Hätte sie doch wenigstens einmal meinen Text überflogen, bevor sie die Stichpunkte aufschrieb.

Frau Lötz runzelte die Stirn und ließ ihren Blick durch den Raum wandern. Ich war überrascht zu sehen, dass Erik sich meldete. Schließlich war er erst seit zwei Tagen da und wusste noch nicht einmal, was wir aktuell behandelten. Frau Lötz lächelte ihn dankbar an. Wahrscheinlich war sie froh, dass sich endlich auch mal jemand anderes für das Thema interessierte.

»Ich habe mich geärgert«, sagte Erik mit verschränkten Armen. »Und ich hatte Mitleid mit dem Autor.«

Frau Lötz wirkte überrascht.

»Ich weiß nicht, warum Kafka so hochgelobt wird, wenn er immer nur wieder die alte Beziehungskiste zu seinem Vater ausgräbt. Es tut mir ja leid, dass er offensichtlich so ein geringes Ego hatte und vollkommen von dem Mann besessen war. Aber ein Künstler sollte sich auch einmal von seinem eigenen Problemkreis lösen, sonst bleibt es bei Selbstmitleidsprosa.«

Ich starrte ihn empört an. Mein Kieferknochen verspannte sich, und mein Arm war so kerzengerade aufgerichtet, als wäre er versteinert.

Dennoch ließ Frau Lötz wieder ihren Blick schweifen, in der Hoffnung, es könne noch eine weitere Person in der Klasse eine Meinung haben. Schließlich rief sie doch resigniert mich auf.

»Da muss ich widersprechen«, sagte ich.

Nadine stöhnte genervt und verdrehte die Augen, aber das war mir vollkommen egal.

»Meiner Meinung nach zeugt es eher vom Kleingeist des Lesers, wenn er es nicht schafft, sich davon zu lösen. ›Die Verwandlung‹ hat weit über den autobiografischen Bezug etwas zu sagen.«

»Kleingeist, ja?«, erwiderte Erik lauernd, ohne sich zu melden. »Ich denke eher, dass die Verfechter von Kafka keine eigene Meinung haben und lediglich ihr Fähnchen in den Wind hängen. Egal ob sie erzählen, seine Werke hätten das Dritte Reich vorausgesehen oder sie seien antifeministisch. Das ist Wichtigtuerei.«

»Aber darum geht es doch auch gar nicht!«, warf ich leidenschaftlich ein. »Es geht nicht darum, was wir glauben, was Kafka uns hätte sagen wollen, sondern darum, was wir davon in uns selbst wiederfinden. Ich glaube, dass jeder, der seine Texte liest, ein Stück von seinem eigenen Leben darin erkennen kann.«

Erik lehnte sich zurück und lächelte ein Lächeln, das mir nicht gefiel. »Ich bin gespannt. Was findest du denn aus deinem Leben darin?«

Ich konnte fühlen, wie die Farbe aus meinem Gesicht wich.

Alle Köpfe wandten sich mir zu. Seit wann folgten die dem Unterricht?

Wenn es irgendetwas gab, das ich nicht wollte, dann, etwas so Persönliches von mir vor der Klasse breitzutreten. Aber noch weniger wollte ich Erik gewinnen lassen. Ich sah ihn finster an, weil ich sicher war, dass er mich absichtlich in diese Falle gelockt hatte. »Schuld«, sagte ich angespannt. »Den Wunsch, für seine Fehler bezahlen zu dürfen. Aufopferung, die einem nicht gedankt wird.«

Es war totenstill geworden im Raum. Erik hatte sich vorgebeugt und sah mich an, als wäre ich ein besonders schillerndes Insekt und läge unter seinem Mikroskop.

Frau Lötz versuchte die Situation zu retten, indem sie andere Mitschüler nötigte, ihre Meinung kundzutun, aber mein Herz pumpte bis zum Rest der Stunde auf Hochtouren und ich war so nervös, dass ich mir alle meine Fingernägel abkaute.

Nach der Stunde rief Frau Lötz mich zu sich. Ich versuchte, neutral auszusehen und hoffte, dass sie mich nicht auf diese peinliche Situation ansprach. »Cornelia, ich muss kurz mit dir reden.«

Ich nickte und lächelte angestrengt.

Frau Lötz sah mich nicht direkt an, sondern packte ihre Unterrichtsmaterialien in ihre Tasche. »Es geht um die Hausaufgaben. Es ist nicht in Ordnung, dass du Swantje und Lenny von dir abschreiben lässt.«

Ich wollte protestieren, aber sie winkte ab.

»Ich beobachte das schon länger. Wenn das so weitergeht, muss ich euch allen dafür null Punkte eintragen. Immerhin kann ich nicht beweisen, wer von wem kopiert hat. Außerdem ...« Sie hatte ihre letzten Zettel verstaut und sah endlich zu mir auf. »... wollte ich dich fragen, ob es dir gut geht.«

Überrascht hielt ich ihrem Blick stand. »Natürlich.«

»Du wirkst in letzter Zeit etwas blass. Und du bist so dünn geworden. Ich weiß, dass du sehr ehrgeizig bist und natürlich sind die Abiturprüfungen nicht mehr weit. Aber vielleicht solltest du auch mal eine Pause einlegen.«

Ich lächelte, aber innerlich brodelte es in mir. Was ging sie das an? »Ich denke, ich habe alles im Griff.« Mich umdrehen und gehen war alles, was ich wollte. Meine Mitschüler waren schon längst in die Pause verschwunden.

Aber Frau Lötz rief mich zurück. »Diese Situation vorhin, ich hoffe, das war dir nicht unangenehm.«

»Wie gesagt«, erwiderte ich mit einem eisernen Lächeln. »Ich habe alles im Griff.«

Damit ging ich betont langsam aus dem Klassenraum und machte mich auf die Suche nach Swantje und Lenny. Aber die Pause war schon beinahe vorbei, und sie saßen nicht an unserem Stammplatz in der Cafeteria. Wahrscheinlich waren sie schon zu Französisch aufgebrochen, was für mich eine Freistunde bedeutete. Ich hatte Latein gewählt, daher klaffte für mich an dieser Stelle eine Lücke im Stundenplan.

Wenn ich schon gestern gedacht hatte, der Tag wäre furchtbar, müsste für heute eine neue Kategorie auf der Schreckensskala eröffnet werden. Ich rauschte ins obere Stockwerk, wo es Sitzbänke gab. Die ersten beiden Stunden waren so schlecht gelaufen, dass ich dringend noch einmal den Stoff wiederholen musste.

Aber noch bevor ich auch nur meinen Hefter aufschlagen konnte, wurde mir von der Seite eine Dose mit Keksen unter die Nase gehalten. »Komm auf die dunkle Seite – wir haben Kekse.« Erik grinste.

Ich schloss für einen Augenblick die Augen. Musste das sein? Auch noch in meiner Freistunde? »Nein danke. Weder die dunkle Seite noch die Kekse. Ich schätze, die sind nicht vegan.«

Erik lachte und setzte sich mir gegenüber hin, ohne zu fragen. »Ich habe das Gefühl, du musst mal ein bisschen lockerer werden«, sagte er mit vollem Mund. »Du schwänzt nicht, machst immer deine Hausaufgaben, rauchst nicht, isst nichts, was gut schmeckt – stell dir vor, du würdest heute sterben, dann hättest du alles verpasst, was Spaß macht.«

Ich zog eine säuerliche Miene. »Nur zu deiner Information – ich habe nicht vor, innerhalb der nächsten Tage zu sterben. Und mein geistiger Horizont reicht auch noch über die Party am nächsten Wochenende hinaus.«

Erik lehnte sich zurück und stützte sein Knie gegen den Tisch. Der Stuhl schwebte gefährlich auf der Kante der Hinterbeine, und ich stellte mir vor, dass ich meine Ruhe hätte, wenn er nur kippen würde. Oder zumindest was zu lachen.

»Warst du schon mal auf einer Party?«

Meine Gedanken schweiften zwei Jahre zurück, und ich konnte sehen, dass meine Hände anfingen zu zittern. Ich versteckte sie schnell unter dem Tisch. »Ja. Ist nicht mein Ding. Eigentlich hatte ich gerade etwas zu tun.« Auffordernd sah ich ihn an und hoffte, der Wink mit dem Zaunpfahl, oder vielmehr dem ganzen Gartenzaun, genügte, um ihn loszuwerden.

»Kein Problem. Ich kann auch die Klappe halten. Manchmal.« Er grinste.

»Gibt es nicht noch andere ...« … denen du auf den Keks gehen kannst, dachte ich. »... mit denen du deine Freistunde verbringen kannst?«, sagte ich. »Ich fürchte, ich kann deinen Wünschen nach Aufregung und Unterhaltung nicht gerecht werden.«

Er legte den Kopf schief. »Ich würde es auf einen Versuch ankommen lassen.«

Mein Blick blieb hinter ihm an einer entfernten Gestalt hängen, die sich unaufhaltsam auf uns zu bewegte, und die ich auch im Dunkeln und mit Ohrenschützern noch erkannt hätte: Leon.

Meine Gedanken rasten. Fliehen war so gut wie unmöglich, ohne Eriks Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen.

»Stimmt was nicht? Du wirkst so ...«

Ich duckte mich unter den Tisch und tat, als ob ich etwas in meiner Tasche suchte, aber es war schon zu spät.

Leons Stimme erklang und ich richtete mich so hastig auf, dass ich mir den Kopf an der Tischplatte anstieß.

»Hey, Nelly.«

Ich sah ihn entsetzt an und antwortete nichts als ein tonloses: »Hey.«

Leon blieb nicht stehen und sah auch nur kurz in meine Richtung. Sein Lächeln erinnerte mich an Eriks Wolfslächeln, und ich fragte mich, wann die Schule sich in ein Haifischbecken verwandelt hatte. Ich starrte noch vor mich hin, als er längst verschwunden war.

Erik hatte sich wieder vorgebeugt und seinen Forscherblick aufgesetzt. Am liebsten hätte ich mich in Luft aufgelöst. »Als wir uns kennengelernt haben, dachte ich, du seist ziemlich langweilig«, murmelte Erik. »Aber bei diesem kleinen Waldspaziergang hast du mein Interesse geweckt.«

Ich fühlte mich wie versteinert. Hatte er die richtigen Schlüsse gezogen und Leon sogar erkannt? Und wenn ja, was würde er mit diesem Wissen anfangen?

Seine Augen glühten. »In der Eishalle hat man es auch gesehen und dann eben gerade, im Deutschunterricht. Du glaubst, du würdest mich langweilen? Keine Sorge, ich könnte nicht besser unterhalten sein als in deiner Nähe.«

Entsetzen verzerrte meine Gesichtszüge. War das eine Drohung? Mit Sicherheit konnte ich es nicht sagen. Das Einzige, was ich wusste, war, dass ich mich bedroht fühlte.

Den Blick auf meine Aufzeichnungen zwingend versuchte ich, mich zu konzentrieren. Wie viel Zeit verstrich, bis ich endlich wieder aufsah, konnte ich nicht sagen.

Erik hatte sich erneut zurückgelehnt und stütze sich mit dem Knie an der Tischplatte ab. Gegen die Oberschenkel hatte er ein Notizbuch gelehnt und schien zu zeichnen.

»Kann ich es sehen?«, fragte ich.

Erik schien einen Moment lang nachzudenken. Zwischen seinen Brauen bildete sich eine tiefe Falte ab. Er sah zwischen mir und dem Notizbuch hin und her und zuckte dann mit den Schultern.

Er drehte das Heft so, dass ich die aufgeschlagene Seite sehen konnte, ignorierte aber meine ausgestreckte Hand.