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Mit 300 km/h mitten ins Herz Ihr größtes Ziel ist es, in der Formel 1 erfolgreich zu sein. Doch wie weit gehen sie, um diesen Traum zu verwirklichen? Als Gefühle ins Spiel kommen müssen sie sich entscheiden: Kämpfen sie aller Widrigkeiten zum Trotz für ihre Liebe oder darum, die Erwartungen derjenigen zu erfüllen, deren Geld die Branche regiert? Liam stammt aus einer reichen Rennfahrerfamilie, und auch Ronjas Leidenschaft gilt seit ihrer Kindheit dem Motorsport. Als beide eine Position beim Formel 1 Rennstall Velocità Rossa ergattern und zusammenarbeiten müssen, geraten sie sofort aneinander. Er denkt, sie hat nichts auf dem Kasten, sie denkt, er ist ein arroganter Schnösel aus einer elitären Familie. Während Liam damit hadert, von seinem Vater als Paydriver in das Team eingekauft worden zu sein, hat sich Ronja ihren Posten als Renningenieurin hart erkämpft. Doch es ist nicht nur Liam, der ihr das Leben in der Männerdomäne schwer macht. Und schon bald müssen die beiden feststellen, dass sie zusammen mehr Erfolg haben als alleine. Auf der Rennstrecke … und möglicherweise auch privat.
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Seitenzahl: 481
Originalausgabe
© 2024 reverie in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
Covergestaltung von FAVORITBÜRO, München unter Verwendung von Shutterstock
E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN E-Book 9783745704440
www.reverie-verlag.de
Für alle, denen ihre Träume manchmal zu groß erscheinen. Ich glaube fest an euch.
Liebe Leserinnen und Leser dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr am Romanende eine Themenübersicht, die demzufolge Spoiler enthalten kann. Wir wünschen euch das bestmögliche Erlebnis beim Lesen der Geschichte. Euer Team von reverie
PROLOG
Liam
Kaum ist die Fahrertür meines mitternachtsblauen MaseratiGT ins Schloss gefallen, erwacht der Motor dröhnend zum Leben. Ich drücke das Gaspedal durch, und der Wagen prescht nach vorne. Eigentlich ist dieses Geräusch Musik in meinen Ohren, doch heute stellt sich kein gutes Gefühl ein. Stattdessen liegen mir die letzten Stunden wie Blei im Magen.
Ich jage mein Auto vom Parkplatz und verlasse das Gelände des imposanten Headquarters, ehe jemand bemerken kann, dass ich abgehauen bin.
Hinter mir liegt das nervenaufreibendste Meeting meiner bisherigen Rennfahrer-Karriere.
Erst jetzt wird mir so richtig bewusst, wie sehr es mir gegen den Strich geht, dass mich mein Vater vor vollendete Tatsachen gestellt hat – und das auch noch im Beisein von Matteo Bianchi. Eigentlich sollte mich sein Verhalten nicht mehr überraschen, doch mit dieser Aktion hat er echt ein neues Level erreicht.
Ich steige auf die Bremse, um ein paar mit Regenschirmen bewaffnete Touristen passieren zu lassen, die sich trotz des miesen Wetters haufenweise in der Gegend tummeln.
Einen Moment später ist die Straße vor mir endlich frei, und ich gebe wieder Gas. Ich selbst habe heute keinen Blick für die von Zypressen, Oliven- und Zitrusbäumen durchzogene Landschaft, die an mir vorbeizieht, während ich auf der Hauptstraße das Tempo weiter beschleunige. Der strömende Regen der letzten Tage und die frühlingshaften Temperaturen, die nicht richtig in den Januar passen wollen, haben sich zu einer drückenden Schwüle verbunden, und ich danke stumm der Klimaautomatik meines Wagens, durch die mein ohnehin schon erhitztes Gemüt nicht noch weiter zum Kochen gebracht wird.
Der Scheibenwischer kämpft mit nur mäßigem Erfolg gegen die Regentropfen an, wie ich gegen meine aufbrausenden Gedanken. Was hat sich mein Vater dabei gedacht?
Je schneller ich fahre, desto leiser wird es in meinem Kopf. Wie so oft kann ich alle Probleme ausblenden, sobald ich hinter dem Steuer sitze.
Kurze Zeit später parke ich meinen Wagen vor dem kleinen Landhaus, in das sich mein bester Kumpel einquartiert hat. Wir bereiten uns beide in der Nähe von Mailand auf die neue Saison vor, auch wenn Henrys Team seinen Sitz eigentlich in Kanada hat. Praktisch, weil wir so die freie Zeit außerhalb des Trainings gemeinsam verbringen können.
Ich werfe einen Blick auf mein Smartphone, das mehrere verpasste Anrufe von meinem Vater zeigt. War ja klar, dass er mich nicht einfach davonkommen lassen wird.
Genau in diesem Moment vibriert das Gerät erneut. Leise fluchend ignoriere ich auch diesen Anruf und steige aus. Das Letzte, worauf ich gerade Bock habe, ist, mit meinem Vater zu sprechen! Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie wütend er über meinen Abgang sein wird.
Henry muss die Motorengeräusche gehört haben, denn er erscheint nur mit einem Handtuch um die Hüften in der Eingangstür, als ich gerade den Wagen verriegle.
»Hey, Mann, was machst du denn hier?« Er begrüßt mich mit einem Handschlag, dann stutzt er. »Du siehst beschissen aus. Was ist passiert?«
»Hast du Zeit, ’ne Runde joggen zu gehen? Ich muss mich dringend auspowern.«
Mein bester Freund zieht fragend die Augenbrauen zusammen. »Hast du dich mal umgeschaut? Es regnet Bindfäden, Kumpel. Jetzt ist erst mal Siesta angesagt.«
Lachend bedeutet er mir mit einer Handbewegung, ihm ins Haus zu folgen.
In der aus Terrakottastein gebauten Villa ist es angenehm kühl, und ich bemerke erst jetzt, wie verschwitzt ich bin. Der offen gestaltete Wohn- und Essbereich gibt ein chaotisches Bild ab. Typisch für Henry. Er schafft es keine zehn Minuten, eine Wohnung ordentlich zu halten.
»In der Küche stehen irgendwo Wasserflaschen, bediene dich. Kaffee ist, glaube ich, auch noch da. Ich ziehe mir schnell was an.«
Henry verschwindet im oberen Stockwerk und lässt mich mit der Verärgerung zurück, die noch immer nicht völlig verraucht ist.
Ich gehe hinüber zur Küche und öffne den ausladenden Kühlschrank, der nicht so recht zum restlichen mediterranen Stil des Hauses passen will. Hastig trinke ich ein paar Schlucke aus einer Wasserflasche, die ich in der Kühlschranktür finde, anschließend halte ich meine Hände unter den kalten Strahl des Wasserhahns und reibe mir damit durchs Gesicht. In der Spiegelung der Fensterscheibe erkenne ich, dass meine dunkelblonden Haare völlig zerzaust sind. Mit den noch nassen Händen fahre ich durch sie hindurch, was ihren Zustand jedoch nur verschlimmert.
»Was für ein Mistwetter!« Henry tritt in grauen Shorts und einem T-Shirt seines Rennstalls Fuller Racing zu mir in die Küche. Er reibt sich mit einem Handtuch durch die aschblonden Locken. »So habe ich mir die Woche in Italien nicht vorgestellt.«
»Man sollte meinen, als Brite bist du Regen gewohnt.« Ich grinse und boxe Henry freundschaftlich gegen die Brust.
Wir kennen uns bereits seit unseren ersten Jahren im Rennsport, als wir ins gleiche Trainingsprogramm aufgenommen wurden. Am Anfang jagten wir uns auf den Kartbahnen, später in den Juniorenklassen, inzwischen fahren wir beide in der Formel 2 und gönnen uns hier gegenseitig keinen Punkt, auch wenn wir abseits der Strecke die besten Freunde sind. Ich weiß es zu schätzen, dass wir die Möglichkeit haben, gemeinsam um den Globus zu reisen.
Ich schlucke hart, als mir klar wird, dass unsere gemeinsame Zeit bald vorbei sein könnte.
»Ha! Das ist alles ein Klischee, Australian Sonnyboy.« Er lacht kurz auf, ehe er plötzlich ernst wird. »Verrätst du mir endlich, warum du hier bist?«
»Mein Vater«, antworte ich, als würden diese zwei Worte bereits alles erklären.
»Was auch sonst.« Henry schnauft genervt. Er weiß genau, wie anstrengend meine Familie sein kann.
»Dieses Mal hat er sich selbst übertroffen. Du wirst es nicht glauben, aber wie es aussieht, will er mich in die Formel 1 holen.«
Ich beobachte, wie Henry die Augen aufreißt, ehe er vom Hocker aufspringt, auf dem er es sich mit einem Energydrink gemütlich gemacht hatte.
Stürmisch legt er mir einen Arm um die Schulter. »Glückwunsch, Mann! Davon haben wir schon immer geträumt!«
Ich schüttele seinen Arm ab und nehme stattdessen auf dem frei gewordenen Barhocker Platz. »Du hast ja keine Ahnung«, grolle ich.
»Was ist denn los mit dir? Das sind doch richtig gute Neuigkeiten!« Auf Henrys Stirn erscheint eine steile Falte.
»Ein Paydriver, Henry. Ich wäre ein Paydriver. Und nicht mal einer mit einem Cockpit. Mein Vater hat mir einen Platz als Ersatzfahrer bei Velocità Rossa gekauft.« Ich nehme noch einen großen Schluck aus der Wasserflasche, doch das kühle Getränk spült meinen Ärger leider nicht hinunter. »Ich komme gerade von einem Meeting mit ihm und dem Teamchef, Matteo Bianchi. Wenn es nach denen geht, ist bereits alles in trockenen Tüchern. Es fehlt praktisch nur noch meine Unterschrift auf dem Vertrag.« Ich schnaube abfällig. »Was denkt sich mein Alter dabei, so eine Entscheidung zu treffen, ohne mich zu fragen? Es ist meine verdammte Karriere.«
»Hey, beruhig dich mal.« Henry mustert mich stirnrunzelnd. »Findest du nicht, dass das eine riesige Chance ist? Velocità Rossa ist das aktuelle Weltmeisterteam! Ich meine, okay, dann hat dein Vater eben den entsprechenden Namen, um dir so was möglich zu machen. Aber du hast auch verdammt hart gekämpft, um so gut zu werden, dass eine solche Option überhaupt zur Debatte steht.«
Fluchend stehe ich auf und tigere unruhig im Raum auf und ab.
»Verdammt, Henry, was soll das für eine Chance sein? Ich sitze vermutlich die ganze Saison auf der Ersatzbank. Was bringen mir die paar Testfahrten, die ich da absolvieren werde? Statt im Auto hocke ich in den nächsten Monaten höchstens bei irgendwelchen langweiligen Marketing-Terminen. Glaubst du, da hab ich Bock drauf? In der Formel 2 kann ich Rennen fahren, ich kann mich mit euch messen und meine Fähigkeiten verbessern. Du weißt genau, wie ich mich letzte Saison reingehängt habe, und mein Formel-2-Vertrag wird sicher verlängert. Außerdem kennst du meinen Dad. Er würde mir Druck ohne Ende machen. Noch mehr als sowieso schon.«
Henry wiegt einige Male den Kopf hin und her, dann seufzt er. »Ich verstehe ja, dass du es aus eigener Kraft schaffen willst. Aber warum sollst du die Gelegenheit nicht nutzen, wenn sie dir auf dem Silbertablett serviert wird? Selbst wenn du in der nächsten Saison Formel-2-Weltmeister werden würdest, wäre das noch keine Garantie dafür, den Sprung in die Formel 1 zu schaffen. Die meisten von uns würden alles dafür geben, einen solchen Türöffner zu haben.«
»Tolle Formulierung.«
Henry verdreht die Augen. »Du weißt doch, was ich meine. Der Name O’Brien steht in der Formel 1 für etwas, schau dir deinen Bruder an. Dass dein Vater auch noch das entsprechende Kleingeld hat, ist doch nur der Bonus.«
Ich beiße die Zähne so fest aufeinander, dass ich meinen Kiefer knacken höre. Klar will ich meine Familie stolz machen. Henry liegt nicht ganz falsch, das ist mir durchaus bewusst.
Unser Gespräch wird von meinem Smartphone unterbrochen. Mein Vater, natürlich.
»Jetzt geh schon ran, das Klingeln nervt«, fordert Henry und schiebt es quer über die Küchentheke.
Ehe ich reagieren kann, hat mein Vater jedoch bereits aufgelegt. Ich atmete erleichtert aus.
»Du weißt, dass du diesem Gespräch nicht ewig aus dem Weg gehen kannst, oder?« Mein bester Freund sieht mich mitfühlend an.
»Ich weiß. Aber mal im Ernst: Will ich wirklich einer von denen sein, die nur deswegen aufsteigen, weil ihre Familie Schotter bis zum Abwinken hat? Und mich dann auch noch die ganze Zeit von meinem Vater herumkommandieren lassen? Außerdem würde ich es höllisch vermissen, dich auf der Strecke abzuhängen!«
»Du würdest mir auch ein klitzekleines Bisschen fehlen. Aber warte nur ab, ich werde es auch noch in die Formel 1 schaffen. Und dann wird sich zeigen, wer auf dem Podium steht!«
Mein bester Kumpel lacht auf, und ich kann nicht anders, als mit einzustimmen. Keine Ahnung, wie er es immer fertigbringt, dass ich mich besser fühle. Dass er mich in der letzten Saison mit einem Punkt Vorsprung hinter sich gelassen hat, nagt trotzdem kräftig an meinem Stolz.
Im Gegensatz zu mir hat Henry es wirklich aus eigener Kraft bis hierher geschafft. Er hat weder reiche Eltern noch namhafte Sponsoren. Ich sollte es also zu schätzen wissen, dass ich diese Hürden nicht nehmen muss, oder?
Vor meinem geistigen Auge tauchen Bilder meines Bruders auf, als er in der vorletzten Saison seinen ersten Grand Prix gewann. Den stolzen Gesichtsausdruck meines Vaters werde ich wohl niemals vergessen.
Ein plötzliches Gefühl von Eifersucht breitet sich in meinem Brustkorb aus. Genau das will ich auch. Habe ich es nicht genauso verdient wie Fred? Andererseits liebe ich das Fahren über alles. Ich kenne mich gut genug, um zu wissen, dass ich es nicht aushalten werde, die ganze Saison nur auf der Ersatzbank zu sitzen. Ich muss mich messen, mir beweisen, dass ich gewinnen kann.
Als ich mich eine Stunde später von Henry verabschiede, habe ich meine Entscheidung getroffen. Ich steige in meinen Maserati, schalte die Freisprecheinrichtung ein und wähle die Nummer meines Vaters.
BAHRAIN / SACHIR
Ronja
Mein Magen flattert vor Aufregung, als ich zum ersten Mal die Zugangskarte zum Bahrain International Circuit über den Scanner ziehe. Es fühlt sich surreal an, wirklich hier zu sein. Das ist der Moment, auf den ich während meines gesamten Studiums hingearbeitet habe. Mein Kindheitstraum.
Ein Stück entfernt hinter einer Absperrung kann ich bereits Dutzende Fans erkennen, die in Konkurrenz zu den Journalisten und Fotografen lautstark um die Aufmerksamkeit der Teams und Fahrer buhlen. Ruhe herrscht an den Rennwochenenden nie, und auch ich lasse mich sofort von der flirrenden Energie anstecken.
Ich atme tief durch. Der Geruch von aufgeheiztem Wüstensand steigt mir in die Nase und vermischt sich mit dem typischen Duft von Motoröl und Gummi, den ich so sehr liebe. Er erinnert mich unwillkürlich an die Werkstatt in München, in der ich bis vor Kurzem noch beinahe täglich stand.
In meiner Heimat ist es um diese Jahreszeit noch kühl, der Frühling streckt gerade erst seine Fühler aus. Hier in Bahrain hingegen scheint die Sonne bereits heiß vom Himmel. Innerhalb kürzester Zeit hat sich ein Schweißfilm auf meiner Haut gebildet, die ich vorsichtshalber mit dem höchsten Sonnenschutz eingecremt habe, den ich finden konnte.
Ich ziehe mir die Kappe mit dem großen Logoaufdruck von Velocità Rossa etwas tiefer ins Gesicht und schiebe meine Sonnenbrille nach oben. Ich werfe einen kurzen Blick auf mein Handydisplay, doch bisher haben weder meine Eltern noch mein Patenonkel Steven auf meine Nachricht in der Familiengruppe reagiert. Alle drei fiebern mit mir mit, auch wenn meine Eltern nicht allzu begeistert davon sind, dass ich ab sofort um die Welt reisen und nur noch selten zu Hause in München sein werde.
»Du packst das!«, spreche ich mir selbst Mut zu und straffe meine Schultern.
Während ich mich auf den Weg ins Fahrerlager mache, herrscht um mich herum reger Trubel. Obwohl das erste Rennen der Saison erst übermorgen stattfindet, ist der Stress, den das Rennwochenende mit sich bringt, schon überall zu spüren. Ersatzreifen für die Rennwagen werden von einer auf die andere Seite manövriert, Mechaniker eilen hin und her, andere machen ihre ersten Aufwärmübungen. Ich höre Teamchefs und Ingenieure Anweisungen durch die Garagen rufen, während anderswo die ersten Autos nach draußen geschoben werden. Einzig die Zuschauertribünen sind um diese Zeit noch relativ leer.
Vorfreude macht sich breit, als ich an die Motorengeräusche denke, die in Kürze überall auf dem Gelände zu hören sein werden. Das satte, vibrierende Geräusch habe ich schon als kleines Mädchen geliebt, wenn ich mit meinen Eltern die Rennstrecken besuchen durfte, auf denen Steven gefahren ist. Ich erinnere mich noch gut an die vielen Stunden, die ich in der Box gesessen und der Crew zugeschaut habe und es gar nicht erwarten konnte, selbst einmal hier zu arbeiten. Meine Eltern konnten diese Leidenschaft zwar nie so richtig verstehen, trotzdem haben sie mich immer darin unterstützt.
Ich biege spontan nach rechts ab und blicke mich neugierig um. In den Boxen stehen die Ingenieure zusammen, manche Teams schrauben an ihren Autos herum. Zwischendrin hasten Männer und Frauen in Hemden oder Shirts ihres Rennstalls herum, während alle paar Meter Fotografen und Kameraleute nach den besten Motiven Ausschau halten. Trotz der Hektik fühle ich mich sofort wohl in dem geschäftigen Treiben, in dem offensichtlich jeder seine Aufgabe hat. Alles wirkt durchchoreografiert, vom Mechaniker bis zu den Fahrern, und jeder Zentimeter des Geländes ist auf Hochglanz poliert.
Wie ein Schwamm sauge ich all die Eindrücke in mich auf. Meine Finger kribbeln so ungeduldig, dass ich am liebsten sofort mit anpacken würde. Ich kann es kaum erwarten, endlich ein Teil dieser Welt zu werden, die mich schon immer fasziniert hat.
Ein Stoß von links lässt mich taumeln.
»Hey, kannst du nicht aufpassen?«, beschwert sich ein Kerl, der etwa in meinem Alter sein muss. Sein Overall und die dicken Kopfhörer, die er um den Hals trägt, lassen mich darauf schließen, dass er ein Mechaniker von Silver Petroleum sein muss, einem der besten Teams dieser Rennklasse. Er wendet seine Sackkarre umständlich und eilt kopfschüttelnd an mir vorbei.
»Oh, sorry«, murmle ich automatisch und blinzle perplex. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich mitten auf der Straße stehe, an deren Seite sich die Boxen der Rennställe aufreihen. Ein Stück entfernt sehe ich bereits das leuchtend rote Logo von Velocità Rossa. Genau dort muss ich hin.
Um nicht länger im Weg zu sein, laufe ich weiter und stehe kurz darauf vor dem imposanten Motorhome. Das Fahrerlager schließt direkt an die Boxengasse an. Zwar ist es hier nicht so laut wie dort, es geht aber nicht minder hektisch zu. Lachen, Gläserklirren und Stimmengewirr vermischen sich zu einer aufgedrehten Stimmung, während ich mich staunend um die eigene Achse drehe. Die weiße Hochglanzfassade des Containerbaus, in dem mein Team sitzt, spiegelt sich im Sonnenlicht, sie wird nur von roten Bannern unterbrochen, die in Übergröße Bilder der Fahrer und Sponsoren zeigen. Vor dem Eingang ist eine kleine Bar aufgebaut, hinter der eine junge Frau in ebenfalls roter Teamkleidung steht und eisgekühlte Getränke auf einem Tablett positioniert.
Auch wenn ich das Paddock nicht zum erstem Mal sehe, bin ich doch jedes Mal wieder fasziniert von diesem Ort. Jede Schraube hat hier ihren Platz, alles passt exakt ineinander, und niemand würde auf den ersten Blick vermuten, dass dieses Lager innerhalb kürzester Zeit an einem Ort ab- und am nächsten wieder aufgebaut werden kann. Wie überdimensioniertes Tetris, denke ich und muss lächeln. Wärme flutet meinen Brustkorb, als mir klar wird, dass ich diesen Ort ab jetzt meinen Arbeitsplatz nennen darf. Wie von selbst richte ich mich auf. Hier gehöre ich hin, das spüre ich ganz deutlich in jeder Faser meines Körpers.
Ein hochgewachsener Mann kommt aus dem Containerbau. Seine lockigen schwarzen Haare sind von einigen grauen Strähnen durchzogen, und er trägt ein weißes, faltenfreies Hemd, auf dessen Brusttasche das Logo von Velocità Rossa prangt.
Ich winke, als ich ihn erkenne.
»Ronja? Da bist du ja! Ciao!« Er begrüßt mich freundlich und reicht mir die Hand.
Zögerlich erwidere ich seinen festen Händedruck. Hoffentlich merkt mein Teamchef nicht, wie schwitzig meine Handflächen vor Nervosität geworden sind.
»Hallo, Matteo! Ich hoffe, ihr musstet nicht warten?« Ein kurzer Seitenblick auf meine Armbanduhr verrät mir, dass ich dank meiner Trödelei bereits fünf Minuten zu spät bin.
»Nein, alles im grünen Bereich. Komm rein, wir sind fast vollständig für unser Auftaktmeeting. Und keine Sorge: Du bist nicht das einzige neue Gesicht in der Runde.«
Matteo Bianchi hält mir die Tür auf und lässt mich in den angenehm kühlen Eingangsbereich vorgehen.
Fragend drehe ich mich zu ihm um.
»Wir bleiben direkt hier«, erklärt er. »Alle anderen Räume werden bereits für die Saisoneröffnungsfeier vorbereitet.«
Ich blicke mich neugierig in dem offen gestalteten Raum um, der als eine Mischung aus Bistro, Co-Working-Space und Lounge durchgehen könnte. Auch hier ist alles in den Teamfarben Rot und Weiß gehalten. Durchaus edel, aber dennoch zweckmäßig. An den Wänden hängen große Monitore, die Grafiken der Rennstrecke und Interview-Liveübertragungen zeigen.
»Such dir einfach einen Platz, wir fangen gleich an.«
Matteo deutet auf die Stuhlreihe direkt vor uns, und ich lasse mich auf einen der durchsichtigen Kunststoffstühle vor der improvisierten kleinen Bühne sinken.
»Wir sprechen nach dem Meeting noch mal in Ruhe, okay?«, fragt mein Chef, wartet jedoch meine Antwort nicht ab. Stattdessen verschwindet er eilig aus meinem Sichtfeld, ehe ich meinen Mund auch nur öffnen kann.
Innerhalb kürzester Zeit füllt sich der Raum von mehreren Seiten. Bald stehen meine neuen Kollegen dicht an dicht. Es ist immer wieder faszinierend, wie groß unser Team eigentlich ist. Auch wenn mir die Abläufe abseits der Rennstrecke nicht fremd sind, ist es doch beeindruckend, wie viele Menschen hinter den Kulissen dafür sorgen, dass die Rennwochenenden reibungslos verlaufen.
Lockeres Geplauder in den unterschiedlichsten Sprachen ist von überall zu hören, auch wenn das Italienische dominiert. Klar, Velocità Rossa ist der älteste Rennstall Italiens. Jedes Kind kennt die Automarke und ihre Helden.
Ich knete meine vor Aufregung zittrigen Finger, während ich mich weiter umsehe. Einige Personen erkenne ich von den Testfahrten wieder, an denen ich vor ein paar Wochen teilgenommen habe, doch es fühlt sich nach dem falschen Zeitpunkt an, jemanden anzusprechen.
»Das ist mein Platz«, höre ich plötzlich eine tiefe Männerstimme hinter mir sagen.
Überrascht drehe ich mich um und blicke in das grimmige Gesicht eines Herrn um die fünfzig. Sein anthrazitfarbener Anzug mit Einstecktuch, die ordentlich gescheitelten grau melierten Haare und der sorgfältig rasierte Schnauzer wirken sofort einschüchternd auf mich. Ich kenne diesen Mann, so wie vermutlich jeder hier. John O’Brien.
»Hören Sie schlecht? Sie sollen aufstehen!« Seine Mundwinkel scheinen noch ein Stück tiefer zu rutschen, falls das überhaupt möglich ist.
»Entschuldigen Sie, Mr. O’Brien, das wusste ich nicht.«
»Jetzt wissen Sie es.«
Hastig stehe ich auf. Mit meinen Augen scanne ich die Lehne und die Sitzfläche meines Stuhls, kann jedoch keinen Hinweis erkennen, dass dieser Platz jemandem zugeteilt ist. Allerdings möchte ich mich auch nicht an meinem ersten Tag mit dem wichtigsten Sponsor des Teams und Weltmeister von 2001 anlegen. Also schlucke ich den Kommentar, der mir auf der Zunge liegt, herunter und trete zurück.
Ich werfe Mr. O’Brien ein versöhnliches Lächeln zu, welches er geflissentlich ignoriert, und drängle mich durch die Menge, um mir im hinteren Teil des Raumes einen freien Platz neben einer ausladenden Grünpflanze zu suchen.
Ich atme schwer aus. Wie unangenehm! Ich spüre die Hitze, die mir in die Wangen geschossen ist, und presse meine klammen Finger dagegen. Unauffällig schaue ich mich um. Ob jemand etwas von dieser peinlichen Situation mitbekommen hat? Ein junger Mann mit sonnengebräuntem Teint und Man Bun auf dem Kopf mustert mich mitleidig. Ich meine, ihn im Headquarter schon einmal gesehen zu haben, kann mich aber nicht an seinen Namen erinnern. »Kommt vor«, formt er mit den Lippen und zuckt die Schultern. Na klasse.
Ich wende den Blick ab, als ein raschelndes Geräusch zu hören ist. Matteo Bianchi steht auf einem kleinen Podest und bittet um Ruhe. Augenblicklich verstummen die Gespräche.
»Ciao! Willkommen zur Saison 2024!«, ruft er ins Mikrofon, und Applaus brandet auf. »Ich freue mich, dass wir in diesem Jahr mit einem so großartigen Team an den Start gehen können. Nino, Dennis – wir sind stolz, dass ihr auch in dieser Saison wieder für uns fahrt! Wir sind bereit, unseren Weltmeistertitel zu verteidigen!« Matteo streckt den freien Arm in die Höhe, und das Team johlt zustimmend.
Ich versuche einen Blick auf die beiden Fahrer zu werfen, einer davon ist Nino Vincenzo, der amtierende Weltmeister. Der Italiener mit den tiefen Grübchen auf beiden Wangen und den kinnlangen, nach hinten gegelten schwarzen Haaren war mir sofort sympathisch als ich ihn während einer seiner ersten Testfahrten für die neue Saison in Barcelona kennengelernt habe. Mit Anfang dreißig hat er bereits viel Erfahrung, die dem gesamten Team zugute kommt.
Er springt aufs Podium und richtet einige enthusiastische Worte an das Team, ehe er das Mikrofon zurück an Matteo reicht. Jubel bricht aus, während Matteo ihm auf die Schulter klopft. Dann ist Nino auch schon wieder in der Menge verschwunden.
»Wir starten in diesem Jahr mit einem großartigen Auto«, setzt unser Teamchef seine Rede fort. »Auch wenn die FIA uns das Leben mit einigen verschärften Regeln nicht leicht gemacht hat, konnten wir die Aerodynamik an Front- und Heckflügeln und die Form der Seitenkästen deutlich verbessern.«
Wieder ertönen zustimmende Pfiffe.
Ich habe die Protokolle der Testfahrten zur Vorbereitung bereits genau studiert, die Änderungen machen tatsächlich einen vielversprechenden Eindruck. Und wenn ich die Gesprächsfetzen, die von den Leuten um mich herum zu mir herüberwehen, richtig deute, sieht die Crew das genauso.
Matteo räuspert sich, ehe er fortfährt. »Ein großer Dank gilt auch in dieser Saison selbstverständlich unserem Sponsor KANGU Investments Ltd., insbesondere John O’Brien.«
Der Angesprochene nickt zustimmend, ein Lächeln kann er sich jedoch nicht abringen. Wie schafft dieser Mann es nur, in Interviews immer so freundlich rüberzukommen?
Ich konzentriere mich wieder auf Matteo.
»Bevor wir ins erste freie Training der Saison starten, möchte ich besonders unsere neuen Teammitglieder willkommen heißen. Ich weiß, es ist spät, zwei Tage vor dem ersten Rennen, aber die beiden hatten bisher noch keine Gelegenheit, unsere große Runde kennenzulernen. Begrüßt bitte herzlich unsere neue Ingenieurin Ronja Haase! Einige von euch haben sie ja schon im Headquarter und in Barcelona auf der Teststrecke kennengelernt. Sie hat vor Kurzem ihren Master im Bereich Automotive Engineering mit Auszeichnung abgeschlossen und wird uns ab sofort unterstützen. Noch einmal offiziell: Willkommen im Team, Ronja!«
Ich spüre die Blicke der Umstehenden auf mir und kann regelrecht spüren, wie die Röte in mein Gesicht steigt. Die Aufmerksamkeit ist mir unangenehm, also winke ich nur unbeholfen in den Raum hinein. Offenbar sind auch Fotografen da, denn ich bemerke einige Blitzlichter, die in meine Richtung zucken.
»Und unseren Ersatzfahrer«, schallt Matteos Stimme wieder ins Mikrofon. »Sein Name ist euch natürlich ein Begriff: Liam O’Brien! Die meisten von euch kennen ihn bereits aus der Formel 2. Ciao, Liam, wir freuen uns auf die Zusammenarbeit!«
Die Crewmitglieder applaudieren und drehen sich in die entgegengesetzte Richtung, in der ich Liam O’Brien vermute. Wir sind uns noch nicht persönlich begegnet, doch ich weiß, dass er in der Formel 2 ziemlich erfolgreich war. Dass er es aus eigener Kraft bis hierher geschafft hat, glaube ich trotzdem keine Sekunde.
Erleichtert, dass sich die vielen Augenpaare von mir abgewendet haben, lockere ich meine Schultern. Ich bin nicht gerne im Mittelpunkt, selbst privat mag ich es nicht, fotografiert zu werden. Doch an die Aufmerksamkeit werde ich mich nun wohl oder übel gewöhnen müssen, auch wenn wir Crewmitglieder natürlich längst nicht so im Fokus der Presse stehen wie die Fahrer. Ich kann es kaum erwarten, nachher endlich in die Box, meinen eigentlichen Arbeitsplatz, gehen zu können. Dort werde ich mich abseits des Rampenlichts sicherlich wohler fühlen.
Liam
Das hier ist mein Moment. Ich grinse breit in die Kameras, die sich sofort auf mich richten, als Matteo mich zu sich auf die winzige Bühne holt und mir ein Mikrofon in die Hand drückt. Jetzt weiß ich, warum mein Vater darauf bestanden hat, dass ich mich in die Nähe des Podiums, gleich neben Nino Vincenzo und Dennis Lionell, stelle. Nino ist ein cooler Typ, Dennis dagegen hat mich in den letzten Minuten mit seiner Zappelei und dem ständigen Zupfen an seinen ohnehin raspelkurzen braunen Haaren beinahe wahnsinnig gemacht.
Mein neues Team drängt sich eng um das kleine Podest, wodurch ich keinen Blick auf die neue Kollegin erhaschen kann, die gerade vorgestellt wurde. Es ist ungewöhnlich, so kurzfristig neue Ingenieure ins Team zu holen. Leider haben wir uns in Barcelona anscheinend knapp verpasst, sodass ich sie im Gegensatz zu meinen Fahrerkollegen noch nicht kennenlernen konnte.
Ich weiß noch, wie sich mein Vater vor einigen Tagen fürchterlich darüber aufregte, dass sich Matteo für jemanden frisch von der Uni entschieden hat. Für ein Greenhorn. »Und dazu eine Frau, verdammt noch mal«, erinnere ich mich an Dads Fluchen, der Emanzipation nur vom Hörensagen zu kennen scheint.
So war es mit meinem Vater schon immer. Er ist derjenige, der den Ton angeben will, und zumindest hier im Rennstall klappt das auch ziemlich gut. Es beeindruckt mich ein bisschen, dass sich Matteo in diesem Fall über die Meinung meines Dads hinweggesetzt hat.
Ich wüsste zu gerne, wie meine Mutter darüber denkt. Sie war in unserer Familie stets die Zurückhaltendere. Wehmütig denke ich an die Zeit zurück, in der Fred und ich noch klein waren. Mom hat meinen Vater unterstützt, auf meinen Bruder und mich aufgepasst und sich ansonsten eher im Hintergrund gehalten. Seit ich mich erinnern kann, lief in der Familie O’Brien ganz selbstverständlich immer alles nach Dads Nase.
Ein Räuspern neben mir holt mich zurück in die Gegenwart.
»Hallo zusammen, ich freue mich, hier zu sein!«, sage ich mit selbstbewusstem Tonfall einstudiert ins Mikro und danke innerlich dem Medientraining, das ich jahrelang absolviert habe. »Grazie, Matteo, für die Möglichkeit, bei Velocità Rossa einzusteigen. Ich kann es kaum erwarten, mit euch allen zusammenzuarbeiten.«
Ich rücke mein Grinsen noch einmal zurecht und schaue in die Menge. Ich weiß, dass es keine zwei Minuten dauern wird, bis die ersten Bilder dieser Veranstaltung auf Social Media hochgeladen sind, und ich will einen guten Eindruck machen. Zu meiner Erleichterung blicke ich in anerkennende Gesichter, die Crewmitglieder klatschen begeistert. Sogar mein Vater schließt sich an, was eher selten vorkommt. Mit Zuneigungsbekundungen hat er es üblicherweise nicht so.
Matteo nimmt mir das Mikrofon wieder ab und sagt ein paar weitere Worte, doch ich bin zu überwältigt von diesem Moment, um genau hinzuhören.
Der begeisterte Empfang meiner Teammitglieder und die vorfreudige Energie, die in der Luft liegt, sorgen dafür, dass ich es gar nicht mehr erwarten kann, in die Saison zu starten.
Noch immer kann ich nicht richtig glauben, dass ich tatsächlich hier stehe. Es ist mir nicht leichtgefallen, meine Zweifel und meinen Stolz über Bord zu werfen, doch Henry hat mich davon überzeugt, diese Gelegenheit nicht einfach verstreichen zu lassen. Und gerade fühlt sich die Entscheidung verdammt gut an. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch ich einen festen Startplatz erhalte, da bin ich mir sicher. Ich bin gut genug, um mit den anderen auf Augenhöhe zu fahren. Und wenn dieser Weg über die Station des Ersatzfahrers geht, dann soll es mir für eine Saison recht sein. Ich freue mich darauf, endlich wieder gegen meinen Bruder Rennen zu fahren und meiner Familie zu beweisen, dass ich ebenso wie er das Zeug dazu habe, in der Königsklasse mitzumischen.
Als das Meeting vorbei ist, drängele ich mich durch die Menge hindurch zur Bar.
Unzählige Leute klopfen mir im Gehen auf die Schulter, hier und da weht eine Begrüßung zu mir herüber. Viele vertraute Gesichter sind darunter, man kennt einander in diesem Sport, auch über die Rennklassen hinweg.
Mühsam manövriere ich mich zwischen vollbesetzten Tischen und den kleinen Grüppchen hindurch, bis ich endlich im Außenbereich unseres Motorhomes vor der Bar stehe.
Die Sonne brennt heiß vom Himmel, und meine Kehle ist unangenehm trocken von der Aufregung. Ich kann es gar nicht erwarten, ein kühles Getränk in die Finger zu bekommen.
»Hey.« Ich lächle freundlich, und die Frau vor dem Tresen erwidert es knapp, ehe sie sich wieder auf die Unterhaltung konzentriert, die sie mit ihrer Kollegin dahinter führt. Sie dürfte etwa in meinem Alter sein, trägt die langen lockigen Haare zu einem Zopf gebunden, und ihr Gesicht ist von der Hitze gerötet. Die sportliche Kleidung betont ihre Figur, sie sieht ziemlich gut aus, das muss ich zugeben. Ob sie neu im Team ist? Jedenfalls habe ich sie in den letzten Tagen noch nicht beim Catering gesehen. Ich bin mir sicher, dass sie mir aufgefallen wäre.
Einen Moment stehe ich da und warte darauf, dass die beiden mich beachten, doch nichts passiert.
»Entschuldigung!«, mache ich auf mich aufmerksam, als es mich zu nerven beginnt, hier herumzustehen, während die beiden tiefenentspannt miteinander plaudern.
Die junge Frau mit den Locken dreht sich wieder zu mir um, und ihre kastanienbraunen Augen fixieren mich abwartend.
»Kann ich einen Energydrink haben?«, frage ich ungeduldig und schroffer als beabsichtigt.
Eine steile Falte erscheint auf ihrer Stirn, doch sie reagiert nicht.
»Hallo? Werde ich nicht bedient? So viel ist ja wohl gerade nicht los.«
Schockiert stelle ich fest, wie ähnlich ich meinem Vater mit dem gereizten Tonfall gerade wurde.
Mein Gegenüber presst die Lippen kurz aufeinander, um dann ruckartig den Kopf in Richtung der Bar zu drehen. »Mr. O’Brien junior hätte gern einen Energydrink«, lässt sie ihre Kollegin wissen, die gerade ein Glas mit Eiswürfeln befüllt. »Kümmere dich gerne erst um ihn, mein Drink kann warten.«
»Oh, hast du gerade Pause?«, frage ich und grinse unverfänglich, um die angespannte Stimmung aufzulockern.
»Nicht wirklich.« Die Frau streckt mir eine Hand entgegen. »Ich bin Ronja Haase, die neue Renningenieurin.« Ihre Stimme hat einen frostigen Ton angenommen.
Ich habe das Gefühl, im Boden zu versinken. Mir wird flau im Magen, und es läuft mir eiskalt den Rücken hinunter, als mir nach einem kurzen Moment der Verwirrung klar wird, in welches Fettnäpfchen ich gerade getreten bin.
»Shit. Sorry, da habe ich wohl was verwechselt«, entschuldige ich mich sofort, doch der finstere Ausdruck in ihrem Gesicht verschwindet nicht.
Verstohlen mustere ich Ronja von der Seite. Mir gefällt das Funkeln in ihren Augen, auch wenn es gerade gegen mich gerichtet ist. Ihre Natürlichkeit bildet einen auffälligen Kontrast zu den vielen aufgestylten Frauen, die abseits der Strecke an den Rennwochenenden um Aufmerksamkeit buhlen.
»Ja, scheint so«, erwidert Ronja leicht genervt, und ich sehe ihre geschwungenen Augenbrauen nach oben wandern.
Beinahe verdrehe ich die Augen, kann mich aber gerade noch davon abhalten. »Ist ja gut, ich habe mich doch entschuldigt.«
Keine Ahnung, warum sie so überreagiert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr so was zum ersten Mal passiert. Das macht es nicht besser, rüge ich mich gedanklich selbst.
»Man sieht sich.« Aus Ronjas Augen scheinen kleine Blitze zu schießen, als sie nach dem Glas greift, das die Barkeeperin gerade auf den Tresen gestellt hat, und mich dann einfach stehen lässt.
Die Frau hinter der Bar schiebt mir wortlos einen Energydrink rüber, doch ich glaube, einen stummen Vorwurf in ihrem Gesicht zu erkennen. Das habe ich ja gut hingekriegt.
Ehe ich weiter darüber nachdenken kann, taucht mein Vater neben mir auf und bestellt ein Glas Champagner, ohne sich mit Höflichkeitsfloskeln aufzuhalten.
»Guter Start, oder? Ich habe dir gleich gesagt, dass das die richtige Entscheidung ist.« Sein Tonfall lässt keinen Widerspruch zu, als er sich mir zuwendet.
»Hm, ja«, nuschle ich und nippe an meinem Drink.
Eine Unterhaltung mit meinem Vater ist das Letzte, auf das ich gerade Lust habe, denn vermutlich wird es wie immer keine zwei Sätze dauern, bis er wieder irgendetwas an mir herumzumeckern hat. Ich dagegen bin mit den Gedanken ganz woanders.
Ich fühle mich merkwürdig hin- und hergerissen zwischen der Euphorie der Teamvorstellung und dem unangenehmen Gefühl, das die Begegnung mit Ronja hinterlassen hat. Hoffentlich beruhigt sie sich wieder, sonst wird das sicher keine angenehme Zusammenarbeit.
Ronja
Ich bemühe mich, durchzuatmen und einen entspannten Gesichtsausdruck aufzulegen, als ich mich durch die Anwesenden quetsche, um nach Matteos Assistentin Nancy zu suchen, die mir meine restliche Teamkleidung aushändigen soll.
Bereits als ich Anfang Januar meinen Vertrag unterschrieben habe, war mir klar, dass mein Start in diesem Sport trotz meines guten Abschlusses nicht einfach werden wird. Ich wusste, dass ich mich behaupten muss, wenn ich diese Stelle antrete, denn es gibt einfach immer noch viel zu wenige Frauen in den Motorsportteams. Trotzdem ärgere ich mich über Liams Verhalten und seine Überheblichkeit. Der erste Tag des Rennwochenendes hat gerade erst begonnen, und schon habe ich den ersten Spruch kassiert.
Glaubt er wirklich, mit einem »Sorry« wäre es getan? In seiner Welt funktioniert das wahrscheinlich wirklich so. Normalerweise bin ich niemand, der sofort eingeschnappt reagiert, doch für mich ist es eben nicht nur eine blöde Verwechslung, sondern ein Vorurteil, mit dem ich mich andauernd herumschlagen muss. In der Uni, während meiner Praktika, permanent musste ich die Kerle um mich herum überzeugen, dass ich ebenso wie sie ein Recht darauf habe, Karriere im Motorsport zu machen. Ein Teil von mir hatte wohl gehofft, dass das hier zumindest ein bisschen besser werden würde.
Natürlich war mir sofort klar, wer da neben mir an der Bar stand. Ich habe in der Vergangenheit bereits einige Interviews mit Liam O’Brien gesehen, in denen er eigentlich immer einen ziemlich coolen, entspannten Eindruck gemacht hat. Sollte nicht gerade jemand wie er besser darauf achten, was er sagt?
Auch wenn Liam seinem mürrischen Vater ziemlich ähnlichsieht, ist er mit seinen eisblauen Augen und den unordentlich frisierten dunkelblonden Haaren, die ihm etwas Lässiges verleihen, eigentlich genau mein Typ. Ich kann mir gut vorstellen, dass er vielen Fangirls weiche Knie beschert. Doch ich hatte mir den jüngeren der beiden O’Brien-Brüder eindeutig netter vorgestellt. Das kommt davon, wenn man sich von Äußerlichkeiten blenden lässt.
Ob Liam klar ist, dass er vermutlich nur deswegen Ersatzfahrer geworden ist, weil sein Vater das nötige Geld hat? Ich kenne die Punktetabelle der Formel 2 aus der letzten Saison und bin mir sicher, dass es andere Fahrer mehr verdient hätten. Liam ist gut, aber nicht herausragend. In der letzten Saison hat er nur Platz drei in der Gesamtwertung erreicht. Warum ist beispielsweise nicht der Sieger der Formel 2 Ersatzfahrer geworden? Ich atme schnaubend aus. Das Leben muss ziemlich einfach sein, wenn man alle Probleme mit Geld lösen kann.
Vor den Umkleideräumen angekommen, bleibe ich stehen, als ich Nancy erkenne, die mir entgegenkommt und die Tür für mich offen hält.
»Hallo, Ronja. Ich habe schon alles bereitgelegt, bediene dich einfach.«
»Danke dir, das ist nett«, erwidere ich lächelnd und entdecke den Stapel Klamotten auf dem Tisch.
Nancy verabschiedet sich eilig wieder, und ich begutachte die Kleidungsstücke etwas genauer. Rote und weiße Blusen übersäht mit Sponsorenlogos, Longsleeves, T-Shirts und bequeme Hosen. Dazu finde ich noch Sicherheitsschuhe und zwei Paar Handschuhe.
Mein Herz macht einen aufgeregten Hüpfer, und ein Kribbeln breitet sich in mir aus, als ich in eine der locker geschnittenen, überraschend bequemen Blusen schlüpfe und mich zum ersten Mal wirklich als Teil des Teams von Velocità Rossa fühle.
Nachdem ich die restlichen Sachen in meiner Tasche verstaut habe, mache ich mich endlich auf den Weg in die Box. Ich kann es kaum erwarten, wieder Werkstattluft zu schnuppern, auch wenn die beinahe steril wirkenden Boxen der Formel 1 in keiner Weise mit der kleinen Oldtimer-Werkstatt meines Patenonkels vergleichbar sind.
Es herrscht immer noch viel Betrieb, und ich brauche einen Moment, um mich zu orientieren. Mir fällt auf, dass mich einige der Mechaniker, die in einer Gruppe zusammenstehen, merkwürdig mustern. Skeptisch, beinahe abschätzig.
Ich seufze innerlich. Hoffentlich ist das kein schlechtes Zeichen. Dank Matteo ist es kein Geheimnis, dass ich direkt von der Uni komme. Dass ich, seit ich denken kann, in der Werkstatt stehe und schon in der Grundschule jedes Bauteil eines Rennwagens fehlerfrei benennen konnte, zählt hier vermutlich wenig. Und dass ich es vermieden habe, über meinen Patenonkel Steven Warner zu sprechen, macht es vermutlich nicht besser. Niemand hier kann wissen, dass ich bereits als kleines Kind mit dem Formel-1-Champion auf der Rennstrecke stand.
Lediglich Matteo ist eingeweiht, wer mein Patenonkel ist und wie sehr er mich geprägt hat, und so soll es auch bleiben. Mir ist bewusst, dass ich diesen Job auch dem guten Kontakt der beiden verdanke, auch wenn ich hart dafür gearbeitet habe. Trotzdem will ich unbeeinflusst von Vitamin B zeigen, was ich kann.
Ich spüre ein Ziehen in meiner Brust, als ich an meinen Patenonkel denke. Er hat mich immer in meinem Traum bestärkt, und fast alles, was ich über Motorsport weiß, habe ich von ihm gelernt. Statt mit meinen Freundinnen zu spielen, war ich schon immer lieber auf der Kartbahn und später dann in Stevens Werkstatt. Wir haben zusammen darauf hingefiebert, dass ich es eines Tages bis in die Formel 1 schaffe.
In meinem neuen Job wird mein Alltag sehr viel IT-lastiger sein. Ab jetzt werde ich mich darauf konzentrieren, Telemetriedaten auszuwerten, Fahrzeugeinstellungen zu optimieren und die richtigen Strategien für die jeweiligen Rennen und Rennstrecken zu entwickeln. Ich freue mich riesig auf diesen neuen, aufregenden Lebensabschnitt.
Ich straffe die Schultern und erwidere den Blick der Mechaniker selbstbewusst, ehe ich mit erhobenem Kopf an ihnen vorbei in Richtung Box gehe.
Als ich mich am späten Abend auf den Heimweg mache, fühle ich mich völlig erledigt. Ich muss all die neuen Eindrücke, die heute auf mich eingeprasselt sind, erst mal verarbeiten.
Ich habe die letzten Stunden in der Box verbracht, wo mir jedes Detail des Rennwagens gezeigt wurde. Es war ein großartiges Gefühl, den auf Hochglanz polierten rot-weiß lackierten Wagen dieser Saison zum ersten Mal mit eigenen Augen zu sehen. Zwar bin ich mit dem Design des Autos bereits vertraut und meine Kollegen konnten mir nur wenig Neues erklären, dennoch hat mich die Leidenschaft und Begeisterung angesteckt, die sie alle ausstrahlen.
»Guten Abend, ins Four Seasons Hotel bitte«, gebe ich dem Fahrer mein Ziel durch, nachdem ich die Tür des wartenden Taxis hinter mir geschlossen habe.
Das luxuriöse Hotel, in dem das Team untergebracht ist, liegt zum Glück nur wenige Kilometer entfernt. Nach dem langen Tag fühle ich mich klebrig und verschwitzt und brauche dringend eine Dusche, um mich wieder halbwegs wie ich selbst zu fühlen. Wenigstens hat mein Deo standgehalten.
Ich gähne hinter vorgehaltener Hand. Meine müden Muskeln sehnen sich nach dem weichen Kingsize-Bett, das in meinem Zimmer steht. Solche Hotels konnte ich mir bisher nicht leisten, weshalb ich es nun umso mehr genieße.
Während der Fahrer vom Parkplatz in Richtung Highway abbiegt, habe ich endlich Zeit, den Tag Revue passieren zu lassen. Während des freien Trainings konnte ich meine Begeisterung kaum zurückhalten. Dennis und Nino haben ein paar echt gute Runden hingelegt, und ich habe mich von ihrer Energie sofort mitreißen lassen.
Anschließend habe ich voller Tatendrang einige Gespräche mit den anderen Ingenieuren geführt, die meine Euphorie jedoch ein kleines bisschen abgeschwächt haben. Zwar waren die meisten meiner neuen Kollegen nett, doch sie sind schlecht darin, ihre Skepsis zu verbergen. Es ist offensichtlich, dass sie mir diesen Job nicht zutrauen. Einige der anderen Ingenieure sind bereits seit mehr als zehn Jahren im Team. Natürlich kann ich mit ihrer Erfahrung nicht mithalten – das will ich aber auch gar nicht. Alles, was ich möchte, ist eine faire Chance. Selbst in einem so erfolgreichen Team wie Velocità Rossa kann etwas frischer Wind nicht schaden.
Ich seufze leise. Hoffentlich hören sie sich meine Ideen überhaupt an. So aufregend der Tag auch war, richtig wohl gefühlt habe ich mich im Team noch nicht.
Gedankenverloren blicke ich aus dem Fenster, an dem eine schier endlose Wüstenlandschaft vorbeizieht. Als ich ein Stück entfernt einen qualmenden Geländewagen sehe, richte ich mich auf. Ein älterer Mann steht mit einer Zeitung wedelnd davor, er wirkt völlig überfordert.
»Würden Sie bitte bei dem Wagen dort vorne anhalten?«, frage ich den Fahrer, der sich überrascht zu mir umdreht.
»Madam, sind Sie sicher?« Er runzelt die Stirn.
Ich bitte ihn noch einmal nachdrücklich, und er gibt schulterzuckend nach. Der misstrauische Ausdruck auf seinem Gesicht verschwindet jedoch nicht, wie ich im Rückspiegel erkennen kann.
Ich spüre seinen bohrenden Blick in meinem Rücken, als ich kurz darauf mitten auf dem Highway aussteige und auf das qualmende Auto zulaufe.
Mit ein bisschen Abstand bleibe ich vor dem Geländewagen stehen und spreche dessen Besitzer an. »Salam Aleikum«, begrüße ich ihn mit den beiden einzigen arabischen Worten, die ich kenne. »Kann ich Ihnen helfen?«
Verwirrt hebt der Mann den Kopf und starrt mich an. Er murmelt eine automatisierte Antwort, dann runzelt er die Stirn. »Sie wollen mir helfen?« Er verengt die Augen zu schmalen Schlitzen und mustert mich von Kopf bis Fuß, um zu überprüfen, ob ihn irgendetwas von meiner Qualifikation überzeugen kann. Ich mag solche Klischees eigentlich nicht, kann mir aber vorstellen, dass es in einem Land wie Bahrain eher unüblich ist, dass eine Frau Autos repariert.
Ich lächle freundlich. »Ich arbeite in einer Autowerkstatt.« Das ist zwar die Untertreibung des Jahrhunderts, aber egal. »Soll ich mir das mal anschauen?«
Der Mann betrachtet mich noch immer, als hätte er einen Geist gesehen. Dann scheint ihm jedoch die rote Bluse mit den Sponsorenlogos darauf aufzufallen, die ich noch immer trage, weil ich keine Lust hatte, mich umzuziehen, und sein Gesichtsausdruck wird offener.
»Also gut.« Er nickt und deutet auf die Motorhaube.
Prüfend schaue ich mir die Teile an, die im Motorraum verbaut sind. Weißer Qualm, also vermutlich Wasserdampf.
»Ist das schon mal passiert? Oder macht Ihr Auto Geräusche, die Sie nicht zuordnen können?«
Im ersten Moment denke ich, der Mann hätte mich nicht verstanden, dann jedoch schüttelt er den Kopf.
Ich murmle ein paar Überlegungen vor mich hin, was ihn nur erneut die Stirn runzeln lässt.
Als Nächstes checke ich die Schläuche. Der Qualm wird zum Glück langsam weniger, und durch die dicke Hornhaut an den Fingern von der jahrelangen Arbeit in Stevens Werkstatt verbrenne ich mich nicht so schnell.
Kurz darauf habe ich das Problem gefunden.
»Das kriegen wir zumindest provisorisch schnell wieder hin«, versichere ich dem Mann, der skeptisch dreinschaut. Er öffnet den Mund für eine Erwiderung, doch ich bin schon auf dem Weg hinüber zum Taxi. Eilig wühle ich in meiner Tasche, in der ich grundsätzlich immer viel zu viel Kram mit mir herumschleppe.
»Ich bezahle die Wartezeit«, verspreche ich dem Taxifahrer, der ungeduldig auf sein Taxameter deutet.
Mit einer Rolle Gaffa-Tape kehre ich kurz darauf zu dem Geländewagen zurück. Ein Glück, dass ich mir Stevens Macke angeeignet habe und fast immer eine Rolle bei mir trage.
Während ich das silberne Gewebeband vorsichtig um den Riss im Kühlschlauch wickle, erkläre ich dem Fahrer, dass diese Beschädigung den Qualm ausgelöst hat, da der Motor nicht mehr richtig gekühlt werden konnte.
»Sie müssen bitte trotzdem sofort in die nächste Werkstatt fahren. Bis dorthin kommen Sie mit dieser provisorischen Reparatur aber auf jeden Fall.«
Ein überraschtes Lächeln erscheint auf dem Gesicht des Mannes. »Ich danke Ihnen! So schnell hätte ich keinen Abschleppwagen rufen können.« Er legt die rechte Hand auf seine Brust und neigt den Kopf ein wenig.
Mit einem zufriedenen Gefühl im Bauch mache ich mich auf den Weg zurück zu meinem Taxi. Es fühlt sich gut an, helfen zu können – besonders dann, wenn andere es einem nicht zutrauen.
Hoffentlich gilt das auch für die Arbeit im Rennstall, denke ich, als sich das Taxi wieder Richtung Hotel in Bewegung setzt.
Liam
Am Samstag stehe ich bereits um kurz nach acht vor dem Hotel und warte auf meinen Trainer. Shou, ein alter Freund der Familie, hat versprochen, mich abzuholen, damit wir gemeinsam zum Qualifying fahren können, da er in dieser Saison auch als Berater für Matteo und Velocità Rossa fungieren wird. Ich bin froh, Shou auch in der Formel 1 weiterhin an meiner Seite zu haben.
Hinter mir liegt eine kurze Nacht, denn mein Vater konnte es nicht lassen, mit mir am Abend noch einmal alle Verpflichtungen durchzukauen, die ich als Repräsentant unserer Familie in diesem Team nun haben werde. Als ob ich das nicht wüsste.
Der Ruf der Familie geht für meinen Vater über alles.
Noch immer brüstet er sich in jedem Interview mit seinem Weltmeistertitel. Genauso häufig erzählt er davon, wie selbstverständlich es für ihn ist, dass seine Söhne ihm nacheifern. Schon beim Gedanken daran rolle ich mit den Augen.
Ich sehe Shous roten Ferrari schon von Weitem.
Winkend lenkt er seinen Wagen in eine gerade frei gewordene Lücke vor dem Hoteleingang und ich steige eilig ein, um die bereits dahinter aufgereihten Taxis nicht zu blockieren.
»Guten Morgen! Danke fürs Abholen«, begrüße ich meinen Mentor und Freund, der anders als die restlichen Trainer nicht mit uns im Teamhotel untergekommen ist.
»Guten Morgen. Bereit für den Tag?«
Ich nicke, und Shou grinst. Er ist eine echte Frohnatur, den so schnell nichts aus der Ruhe bringt. Das schätze ich besonders an ihm. Wann immer es stressig wird, ist Shou Tanaka der Ruhepol im Raum.
Während er aufs Gaspedal drückt, kramt Shou in der Mittelkonsole nach einem Müsliriegel.
Wie auf Kommando knurrt auch mein Magen.
»Ist leider der letzte, tut mir leid.«
Ich winke ab, ärgere mich aber gleichzeitig, mir keine Zeit zum Frühstücken genommen zu haben. Eigentlich folge ich einem strengen Ernährungsplan, doch heute wollte ich so schnell wie möglich wieder an der Strecke sein, bevor nachher das erste Qualifying der Saison beginnt.
Wir fahren auf den Highway, und ich nehme mir zum ersten Mal Zeit, die Gegend zu betrachten. Von Sachir habe ich in den zwei Tagen, die ich nun schon hier bin, kaum etwas zu Gesicht bekommen. Außer dem Fünfsternehotel und der Rennstrecke habe ich lediglich endlose Wüstenlandschaften und den von Palmen gesäumten Highway gesehen. Aber ich bin schließlich auch nicht zum Urlaubmachen hier.
»Wie war die Teamvorstellung gestern?«, will Shou wissen. Er ist erst gestern Abend nach einem Besuch bei seinen Töchtern und ihren Familien in Osaka nach Bahrain angereist.
Sofort schießt mir die Begegnung mit der neuen Ingenieurin in den Kopf und entlockt mir einen unwilligen Laut. Wie hieß sie doch gleich … Randa? Ronja?
»Hm, geht so.«
»War etwas nicht in Ordnung?« Mein Freund wirft mir einen besorgten Seitenblick zu. »War nicht leicht, dem Training zuzugucken, ohne selbst fahren zu können, oder?«
Shou war zwar genau wie Henry der Meinung, dass ich diese Chance unbedingt nutzen sollte, doch ich weiß, dass er sich Gedanken macht, ob ich mich dabei wohlfühle.
»Alles okay, es war ein gutes Meeting und ein erfolgreiches Training«, erkläre ich knapp.
Shou lacht auf. »Danke für die Details, Liam. Es ist, als wäre ich dabei gewesen.«
Ich kann nicht verhindern, dass meine Mundwinkel zucken. »Das Auftaktmeeting und die Vorstellung waren gut, doch. Du weißt ja, wie das ist, alle sind euphorisch und können es nicht abwarten, in die Saison zu starten. Das hat man später beim freien Training auch gemerkt. Klar wäre ich gerne gefahren, aber vor allem hat mich so eine blöde Begegnung mit der neuen Renningenieurin geärgert.«
»Ronja Haase? Eine Deutsche, oder?«
Ich mustere ihn ungläubig von der Seite. »Du kennst sie?«
»Nein, aber Matteo hat vor ein paar Wochen von ihr erzählt. Sie soll sehr gut sein.«
»Freundlich ist sie jedenfalls nicht«, murre ich.
Shou zieht die buschigen grauen Augenbrauen in die Höhe. »Und das weißt du woher?«
Ich zögere einen Moment. Bestimmt kann ich mir gleich wieder anhören, dass ich Menschen nicht in Schubladen stecken soll. Das mache ich auch gar nicht absichtlich. Trotzdem fasse ich für Shou meine Begegnung mit Ronja zusammen.
Während ich erzähle, merke ich, wie genervt ich immer noch bin. Ich verstehe nicht, wieso sie aus dem kleinen Missverständnis so ein Ding gemacht hat.
Wir sind inzwischen an der Rennstrecke angekommen, und Shou stellt den Motor ab. Dann dreht er sich in meine Richtung.
»Liam, du vernachlässigst dein Training und gesunden Schlaf, ich sehe das an deinen Augenringen. Stattdessen konzentrierst du dich auf den Vorfall mit dieser Frau.« Er hebt mahnend einen Zeigefinger in die Höhe. »Ein erfolgreicher Rennfahrer wird man nicht, wenn man sich ablenken lässt. Es kommt auf die Disziplin an! Ronja und du, ihr hattet einen schlechten Start, na und? Fokussiere dich auf dein Training, damit du fit bist, falls du einspringen musst. Alles andere braucht dich nicht zu interessieren!«
Beschwichtigend hebe ich die Hände. »Ist ja gut. Wir können nach dem Qualifying Laufen gehen, wenn du willst.«
»Siehst du. Ist gar nicht so schwer, das mit dem Fokus. Du musst für das kämpfen, was dir wichtig ist!«
Bevor mein Trainer noch weitere Kalendersprüche zum Besten geben kann, steige ich aus. Mag sein, dass er recht hat, trotzdem hätte Ronja meine Entschuldigung akzeptieren können. Ist ja nicht so, als wäre mein Fauxpas Absicht gewesen.
Nachdem Shou ebenfalls ausgestiegen ist, machen wir uns auf den Weg ins Fahrerlager. Das erste Qualifying der neuen Saison verspricht aufregend zu werden. Es ist ziemlich windig heute, was hier in der Wüstenregion häufig zu Problemen mit Sand auf der Strecke führt. Das verringert den Grip, wodurch die Autos instabil werden. Es wird sich zeigen, wie die Fahrer mit den Bedingungen zurechtkommen.
Während mein Trainer in Richtung Fahrerlager abbiegt, wende ich mich nach rechts, um vor dem Qualifying in der Garage von Silver Petroleum vorbeizuschauen. Mein Bruder Fred, der für den britischen Rennstall fährt, ist letztes Jahr hier in Bahrain auf dem Podium gelandet. Auch wenn wir jetzt Konkurrenten sind, will ich ihm viel Erfolg für die neue Saison wünschen. Es wird nicht leicht werden, ihm heute zuzuschauen, während ich nur auf der Ersatzbank sitze.
KANADA / MONTREAL
Liam
»Dennis Lionell auf der Drei, direkt davor Fred O’Brien auf der Zwei! Und – mit einer halben Sekunde Vorsprung – Nino Vincenzo von Velocità Rossa auf der Eins! Doch O’Brien ist ihm dicht auf den Fersen – holt er sich auch diesen Sieg wie schon in Sachir und baut damit seinen Vorsprung aus?«
Die Stimme des Kommentators überschlägt sich fast, als er beschreibt, was sich auf der Rennstrecke abspielt.
Nervös sitze ich in der Box und kann meine Füße kaum stillhalten. Seit mehreren Runden liefert sich mein Bruder einen Kampf mit unseren Fahrern, und ich kann den Blick nicht abwenden, aus Angst, die entscheidenen Sekunden zu verpassen. Wie schon vor zwei Wochen in Bahrain halte ich es auch heute kaum aus, zum Zuschauen verdammt zu sein, während auf der Strecke das Rennen läuft. Mein Herz rast vor Anspannung, und mit jedem Motorenheulen der vorbeifahrenden Rennwagen verspüre ich einen größeren Drang, mich selbst in ein Auto zu setzen. Ich will da draußen sein, will mit den anderen über den Asphalt jagen! Das Adrenalin rauscht in meinen Ohren, ich spüre jeden Herzschlag überdeutlich.
Die Mechaniker und Ingenieure, die um mich herumsitzen, starren ebenso gebannt wie ich auf den großen Bildschirm, der an der Wand gegenüber befestigt ist. Wir alle tragen dicke schwarze Kopfhörer, über die der Ton übertragen wird und die unsere Ohren vor der Lautstärke schützen sollen, die hier zwangsläufig herrscht. Die Männer, die sich um die Boxenstopps kümmern, haben zusätzlich Schutzhelme auf dem Kopf.
Ein Aufschrei geht durchs Team, als sich Fred und Nino ein Kopf-an-Kopf-Rennen auf der langen Geraden vor der Schikane nahe der Wall of Champions liefern. Nur Zentimeter trennen die Reifen voneinander, und ich halte unwillkürlich die Luft an. Jetzt bloß keinen Fehler machen. Diese Stelle ist gefährlich, es gibt kaum Auslaufzone, und so nah, wie die Mauer an der Strecke steht, ist das Risiko für Unfälle besonders hoch. Nicht umsonst soll dieser Streckenabschnitt die Autos verlangsamen. Ein Crash ist das Letzte, was wir gebrauchen können, nachdem Nino vor zwei Wochen den Großen Preis von Bahrain auf Platz 2 beendet hat und wir damit in der Fahrerwertung knapp hinter meinem Bruder im Silver Petroleum in die Saison gestartet sind.
Fluchend springe ich vom Stuhl, als Fred meinen Teamkollegen überholt und auf der langen Start-Ziel-Geraden sofort Gas gibt. Ich werfe ungläubig die Hände in die Luft. Wie zur Hölle konnte sich Nino abdrängen lassen? Er hätte verhindern müssen, dass Fred so lange in seinem Windschatten fährt und den Geschwindigkeitsüberschuss für sich nutzen kann! Ich hasse es, nicht selbst ins Geschehen eingreifen zu können. Alles, was ich von hier aus tun kann, ist, den Bildschirm anzubrüllen, doch natürlich hat das null Effekt.
Shou, der bisher seelenruhig neben mir saß, legt mir seine Hand auf die Schulter. »Beruhig dich, deine Zeit kommt noch.«
Ich möchte zu gerne wissen, wie er so entspannt sein kann. Dennis ist im letzten Rennen bereits nach wenigen Runden rausgeflogen. Wenn Fred heute gewinnt, fehlen uns weitere Punkte. Wie kann das die anderen so kaltlassen?!
Wie ein Tiger im Käfig laufe ich durch die Box und gebe bissige Kommentare und Flüche von mir. Wenn ich mein Können doch nur unter Beweis stellen dürfte! Ich bin mir sicher, dass ich das Auto schnell im Griff hätte, wenn ich nur die Chance dazu bekäme! Schon in der Formel 2 ist es mir leichtgefallen, mich an neue Wagen zu gewöhnen, und das wäre hier nichts anderes.
Doch leider gehört der zweite Startplatz Dennis und nicht mir, auch wenn ich nicht verstehen kann, wie sie seinen Vertrag verlängern konnten. Es ist bekannt, dass er andauernd Unfälle baut und seine Leistung maximal durchschnittlich ist. Ausgerechnet in diese Entscheidung hat sich mein Vater anscheinend nicht eingemischt.
Ich beiße die Zähne so fest aufeinander, dass es wehtut, als ich sehe, dass Dennis auf Platz fünf zurückfällt. Warum ist er so langsam? Mein Bruder hat in seinem silberschwarzen Rennwagen inzwischen mehr als sechs Sekunden Vorsprung, und auch der Abstand zu Nino wird größer.
Der Kurs von Montreal gehört zu meinen Lieblingsstrecken, und es ärgert mich, dass wir gerade hier zurückfallen.
Als ich zu meinem Stuhl gehe, um dem Team, das sich für den nächsten Boxenstopp vorbereitet, den Weg frei zu machen, sehe ich, dass die neue Ingenieurin, Ronja, mich prüfend mustert. Ich kann in ihrem Gesicht nicht lesen, was sie denkt, doch ihrer starren, eindringlichen Miene nach zu urteilen, ist es sicher nichts Positives.
Ein Schauer läuft mir über den Rücken, und ich wende mich hastig ab. Seit unserer ersten Begegnung in Bahrain haben wir kein Wort mehr miteinander gewechselt, auch wenn wir schon einige Stunden an gemeinsamen Teambriefings hinter uns gebracht haben. Ich werde das Gefühl nicht los, dass sie mir bewusst aus dem Weg geht, und ich sehe nicht ein, von mir aus das Gespräch mit ihr zu suchen. Dann soll sie eben beleidigt sein, nicht mein Problem.
Ich schnaube und konzentriere mich auf die Telemetriedaten, die auf einem zweiten Bildschirm angezeigt werden. Die Performance unseres Teams ist alles andere als ideal, und ich verstehe nicht, wieso Matteo nicht eingreift.
Freds überhebliches Grinsen taucht vor meinem inneren Auge auf. Wenn das so weitergeht, wird er hunderprozentig auch dieses Rennen gewinnen.
Mit geballten Fäusten verfolge ich die verbleibenden Runden, bis ich kurz vor Ende bemerke, dass sich mein Vater einen Weg durch die Box bahnt, direkt auf mich zu. Das hat mir gerade noch gefehlt.
Ronja
Ich reibe mir fröstelnd über die Arme und ziehe meinen Zopf etwas fester, während ich vor dem Podium darauf warte, dass die Siegerehrung beginnt. Das hinter uns liegende Rennen war anstrengend, und obwohl ich bereits mehrere Tage in Kanada bin, steckt mir die Zeitumstellung noch in jedem Knochen. Unruhig trete ich von einem Fuß auf den anderen, um meine halb erfrorenen Beine durch die Bewegung ein bisschen aufzuwärmen. Zwischen Sachir und Montreal liegen nicht nur einige Stunden Zeitunterschied, sondern auch die Temperatur weicht um beinahe zwanzig Grad ab. Hier in Kanada ist es Mitte März noch empfindlich kühl, und obwohl wir relativ gedrängt stehen, kriecht mir die Winterluft unter die dicke Jacke und verstärkt mein Unwohlsein noch weiter.
Das Team um mich herum jubelt, als Nino das Podium betritt und seinen Pokal entgegennimmt. Nino und Dennis haben das Rennen in Montreal auf dem zweiten und fünften Platz beendet und sind damit beide in den Punkten gelandet, doch Matteo hat deutlich gemacht, dass für ihn nichts anderes infrage kommt, als auch diese Saison den Titel zu gewinnen. Es ist klar, dass wir uns vom heutigen Rennen mehr erhofft haben, und Nino möchte natürlich wieder an seine Siegesserie aus dem letzten Jahr anknüpfen. Die beiden haben alles gegeben, dennoch war Fred, der ältere O’Brien in der Formel 1, der gerade das Podium betritt, heute schneller.