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Hegemonie und Kulturkampf E-Book

Errol Babacan

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Beschreibung

Die Türkei durchläuft einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel. Während sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf den politischen Autoritarismus und die Repression richtet, rückt Errol Babacan die kulturkämpferische Dynamik in den Blick. Auf der Basis einer Feldstudie bestimmt er die Regierungspartei AKP als Trägerin eines Hegemonieprojekts, das mit einer wachsenden Schicht religiöser Akteure vernetzt ist, die ihre Stellung sukzessive ausbauen. Die Religionsbehörde Diyanet, theologische Schulen und islamische Bruderschaften werden dabei im Zentrum einer religiösen Privilegienstruktur verortet, deren sozio-ökonomische Grundlage ein neoliberales Armutsregime ist.

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Errol Babacan (Dr. phil.), geb. 1976, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Münster. Er forscht zu Fragen der Migration sowie zur Politischen Soziologie und Ökonomie mit besonderem Schwerpunkt auf dem Politischen Islam und der Türkei.

Errol Babacan

Hegemonie und Kulturkampf

Verknüpfung von Neoliberalismus und Islam in der Türkei

D.30

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell. (Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de)

Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2020 im transcript Verlag, Bielefeld

© Errol Babacan

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

Print-ISBN 978-3-8376-5316-8

PDF-ISBN 978-3-8394-5316-2

EPUB-ISBN 978-3-7328-5316-8

https://doi.org/10.14361/9783839453162

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

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Inhalt

Vorbemerkung und Danksagung

Abkürzungsverzeichnis

1.Einführung

2.Vorgehen und Werdegang der Studie

2.1Aufbau

Teil I – Stand der Forschung

3.Vier Thesen

3.1Die Kulturkampfthese

3.1.1Politische Wirkung der Kulturkampfthese

3.1.2Autoritäre Rückverwandlungsthese

3.1.3Kritik der Kulturkampfthese

3.1.4Exkurs zum theoretischen Unterbau der Kulturkampfthese: Die Autoritäre Staatstradition

3.2Die theologische These

3.2.1Kritik der theologischen These

3.3Die Säkularisierungsthese

3.3.1Kritik der Säkularisierungsthese

3.3.2Erste Definition von Religion in Hegemonieprojekten: Was ist Islamismus?

3.4Die Klassenkampfthese

3.4.1Anatolische Bourgeoisie revisited

3.4.2Religion als Medium und Ressource

3.4.3Religion als Herrschaftstechnik und Kohäsionsmittel

3.4.4Faubourgeoisie

3.4.5Kemalismus

3.4.6Islamismus als eigenständige Klassenbewegung

3.4.7Kritik der Klassenkampfthese

3.5Resümee des Forschungsstands und Präzisierung der Forschungsfrage

Teil II – Theoretische Perspektive

4.Vorgehen

4.1Hegemonietheorie als methodische Doppelperspektive

4.1.1Politische Artikulation, Parteibildung und Intellektuelle

4.1.2Sozio-politische Blockbildung

4.2Ressourcentheoretische Erweiterung

4.3Verteilungsverhältnisse

Teil III – Entwicklungsgeschichte und Konstitutionsmerkmale des islamistischen Hegemonieprojekts

5.Der historische Bogen

5.1Ablösung – Einschränkung der zivilgesellschaftlichen und reproduktiven Macht der religiösen Intellektuellen

5.2Wiederanbindung und Re-Formation: Aufbau kulturpolitischer Institutionen der Religion und Entwicklung des türkisch-islamischen Hegemonieprojekts

5.2.1Die Türkisch-Islamische Synthese

5.2.2Klassenbasis der religiösen Infrastruktur im Aufbau

5.3Verselbständigung: Formierung der islamistischen Bewegung und ihre Abspaltung als eigenständige Partei

5.4Vorrücken ins ideologische Zentrum: Der 1980er Putsch und die Entwicklung einer programmatischen Ökonomie

5.4.1Islamismus und Nationalismus

5.4.2Die 1997er Intervention

5.5Zwischenresümee

5.6Schrittweise Monopolisierung der Staatsapparate – Die AKP-Periode

5.6.1Re-Formierung des Machtblocks

5.6.2Hegemonie und paternalistisches Armutsregime

5.6.3Kulturkampf in der AKP-Periode

Teil IV – Religiöse Infrastruktur und Praxis

6.Religiöse Wirkungsstätten

6.1Die Diyanet und das Prinzip der Laizität

6.1.1Institutioneller Aufbau

6.1.2Relative Autonomie und Demokratieverständnis der Diyanet

6.1.3Intellektuelle Führungspraxis – Diyanet im Alltag

6.2Theologische Bildungsstätten

6.2.1Entwicklung des islamistischen Kollektivwillens

6.2.2Sunniten als Diskriminierte

6.3Netzwerk der religiösen Infrastruktur

6.3.1Verlagerung des islamistischen Netzwerks in den Staat

6.4Materielle Attraktivität der religiösen Infrastruktur

6.5Zwischenresümee: Privilegienstruktur und Gruppeninteresse

6.6Private islamistische Institutionen – Islamische Gemeinschaften

6.6.1Intellektuelle Führungs- und Distinktionspraxis

6.6.2Kompromissbildung und Integration

6.7Grenzen des Kollektivs und integrative Mechanismen an seinen Rändern

6.7.1Gateholder

6.7.2Bewegungsgeschichtliche Bindung

6.7.3Gemeinschaftsbildende Praxis

6.7.4Resümee der Integrationsmechanismen

6.8Resümee der Konstitutionsmerkmale der intellektuellen Führungsgruppe

7.Fazit: Hegemonie, Kulturkampf und sunnitische Privilegien – Was ist Islamismus?

Literatur- und Quellenverzeichnis

Zeitungen

Websites

Vorbemerkung und Danksagung

Noch in der Nacht des gescheiterten Putschversuchs im Juli 2016 erklärte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, dieser sei ein Segen Gottes. Er liefere Rechtfertigung und Legitimation für die höheren politischen Ziele seiner Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP), die in der »Restrukturierung des Staates und der Gesellschaft« bestünden. In der Tat findet in der Türkei eine tiefgreifende »Restrukturierung« statt. Der Putschversuch lieferte den willkommenen Anlass, die Repression gegen einstige Verbündete ebenso wie gegen Oppositionelle auszuweiten und den politischen Systemwechsel zum autoritären Präsidialsystem weiter voranzutreiben. Der gesellschaftliche Wandel, den Erdoğan und seine Partei verfolgen, hat indes eine sehr viel weiter zurückreichende Geschichte. Die AKP und der Autoritarismus sind ihrerseits der Ausdruck einer langfristig betriebenen Islamisierung, die in der Förderung sunnitisch-konservativer Ideen und Praktiken im gesellschaftlichen Zusammenleben besteht. Sie hat eine stetig wachsende Schicht religiöser Akteure hervorgebracht, die der AKP Stabilität verleihen und gesellschaftliche Zustimmung für das von ihr verfolgte neoliberale Projekt organisieren. Gegenstand des vorliegenden Buchs ist, die Geschichte dieser Förderung mit Blick auf die tragenden Akteure und bestimmenden Dynamiken aus einer hegemonietheoretischen Perspektive zu rekonstruieren. Auf der Basis einer in Izmir und Diyarbakır durchgeführten Feldstudie werden gegenwärtige Ausprägungen untersucht und Entwicklungstendenzen bestimmt.

Das Buch ist die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift, die ich am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Frankfurt a.M. eingereicht habe. Ohne die Förderung, Unterstützung und Geduld von vielen Einzelnen über eine lange Zeit wäre es nicht geschrieben worden. Mein allererster Dank geht an die Interview-, Gesprächs- und InteraktionspartnerInnen, die mir den Zugang zu ihren sozialen Welten öffneten und ihr Wissen mit mir teilten. Vor allem möchte ich denjenigen danken, die mir ihr Vertrauen schenkten, mir ihre Häuser öffneten und halfen, mich im Geflecht von Politik und Religion zurechtzufinden.

Ermöglicht wurde die Studie durch ein Promotionsstipendium der Hans-Böckler-Stiftung. Betreut wurde sie von Alex Demirović, dem ich insbesondere für seine Ermunterung danke, »mit Gramsci« das Wagnis der Feldforschung einzugehen. Seine kritischen Einwendungen haben meinem Vorhaben Orientierung verliehen und dazu verholfen, die Diskussion des empirischen Falls im theoretischen Feld zu verorten. Besonderer Dank gebührt auch Andreas Nölke für seine fachliche Expertise, unkomplizierte Unterstützung und Hilfestellung in einer kritischen Phase. John Kannankulam hat die ersten Schritte dieser Arbeit begleitet und war schließlich auch zur Stelle, als die letzte Hürde zu nehmen war. Die Diskussionen in seinem Forschungskolloquium an der Universität Marburg haben den Werdegang dieser Arbeit maßgeblich beeinflusst. Zu den frühen Begleitern gehören auch Thomas Höhne und Martina Sproll. Von ihnen habe ich erste konzeptuelle Hinweise, vor allen Dingen aber den wertvollen Rat erhalten, so früh wie möglich eine Sondierungsreise ins Feld zu starten. Danken möchte ich ihnen darüber hinaus für die freundschaftliche Unterstützung angesichts einiger Unwägbarkeiten, die mir im Laufe der Arbeit begegneten. Kritische Reflektion und fruchtbare Diskussion ermöglichten mir die Tagungen und Zusammenkünfte im Rahmen der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung. Der Austausch mit assoziierten Kollegen und Kolleginnen war für mich ein zentraler Anker im wissenschaftlichen Feld.

Eine Brücke zwischen wissenschaftlicher Arbeit und gesellschaftspolitischem Engagement schlug der Infobrief Türkei. Der Infobrief ermöglichte, erarbeitetes Wissen mit einer interessierten Öffentlichkeit zu teilen und so dem ursprünglichen Beweggrund für diese Arbeit nachzukommen, aktuelle Übersicht mit fundierter Analyse zu einer politischen Einschätzung der turbulenten Geschehnisse in der Türkei zu verbinden: »aus herrschaftskritischer Perspektive und in solidarischer Verbundenheit mit allen politischen Kräften, die sich für eine demokratische und sozial gerechte Gesellschaft einsetzen«, wie es in der Zielsetzung des Infobriefs heißt. Das Buch hat von der Zusammenarbeit und Auseinandersetzung im Redaktionsteam enorm profitiert. Dafür möchte ich den Mitgliedern im Einzelnen danken: Murat Çakır, Axel Gehring, Özgür Genç, Ismail Karatepe, Anne Steckner und Fitnat Tezerdi. Danken möchte ich in diesem Zusammenhang auch der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die Mittel und Wege zur Verfügung stellte, um politische und wissenschaftliche Arbeit miteinander zu verbinden.

Für ihre Unterstützung und ihr Interesse an meiner Arbeit bei den vielen Aufs und Abs, die zu bewältigen waren, geht mein Dank an meine Familie und FreundInnen. Der größte Dank geht an Andrea Neugebauer. Sie war mir die wichtigste Stütze in allen Phasen und Belangen dieser Arbeit von der fachlichen Diskussion über den beharrlichen Zuspruch, das Begonnene zu Ende zu führen, bis zu den letzten Überarbeitungen, wenngleich ich für den Inhalt des Buches selbstverständlich allein verantwortlich bin.

Abkürzungsverzeichnis

AKP: Adalet ve Kalkınma Partisi (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei)

ANAP: Anavatan Partisi (Mutterlandspartei)

AP: Adalet Partisi (Gerechtigkeitspartei)

CHP: Cumhuriyet Halk Partisi (Republikanische Volkspartei)

CKMP: Cumhuriyetçi Köylü Millet Partisi (Republikanische Bauern-Volkspartei)

DBP: Demokratik Bölgeler Partisi (Partei der Demokratischen Regionen)

DP: Demokrat Partisi (Demokratische Partei)

DSP: Demokratik Sol Parti (Demokratische Linkspartei)

DTP: Demokratik Toplum Partisi (Partei der Demokratischen Gesellschaft)

DYP: Doğru Yol Partisi (Partei des Rechten Weges)

FP: Fazilet Partisi (Tugendpartei)

HDP: Halkların Demokratik Partisi (Demokratische Partei der Völker)

IHS: Imam Hatip Schulen

MGV: Milli Gençlik Vakfı (Stiftung Nationaler Jugend)

MHP: Milliyetçi Hareket Partisi (Partei der Nationalistischen Bewegung)

MNP: Milli Nizam Partisi (Nationale Ordnungspartei)

MSP: Milli Selamet Partisi (Nationale Heilspartei)

MTTB: Milli Türk Talebe Birliği (Verein Nationaler Türkischer Schüler)

MÜSİAD: Müstakil Sanayici ve İşadamları Derneği (Verein Unabhängiger Unternehmer und Industrieller)

PKK: Partiya Karkerên Kurdistanê (Arbeiterpartei Kurdistans)

RP: Refah Partisi (Wohlfahrtspartei)

SHP: Sosyaldemokrat Halkçı Parti (Sozialdemokratische Populistische Partei)

TIS: Türkisch-Islamische Synthese

TOBB: Türkiye Odalar ve Borsalar Birliği (Kammern- und Börsenunion der Türkei)

TÜRK-İŞ: Türkiye İşçi Sendikaları Konfederasyonu (Dachverband der Türkischen Industriegewerkschaften)

TÜSİAD: Türk Sanayicileri ve İşinsanları Derneği (Vereinigung Türkischer Industrieller und Geschäftsleute)

TUSKON: Türkiye İşadamları ve Sanayiciler Konfederasyonu (Dachverband von Geschäftsleuten und Industriellen der Türkei)

1.Einführung

Die Gründung der Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) im Jahr 2001 markiert eine Zäsur in der Geschichte des politischen Islam. Eine Gruppe von »Erneuerern« unter der Führung von Recep Tayyip Erdoğan spaltete sich von einem »traditionalistischen« Flügel der islamistischen Milli Görüş Bewegung ab. Mit Erdoğan wechselte ein großer Teil der Bewegung in die neue Partei und brachte die über Jahrzehnte akkumulierten Organisierungs- und Mobilisierungsressourcen und das in den Kommunen erworbene Regierungswissen mit. Die neue Partei stand dadurch von Anfang an auf einem breiten Sockel. Ihr erster Wahlerfolg von 2002 war bedingt durch eine vom neoliberalen Regime verursachte schwere politische und ökonomische Krise. Die Wähler quittierten die mit der Krise verbundenen harten sozialen Einschnitte, indem sie der regierenden Parteienkoalition ihr Vertrauen entzogen. Mit nur 34 Prozent der Wahlstimmen erreichte die aus der Opposition gestartete AKP aufgrund des türkischen Wahlsystems nahezu eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Sie konnte eine Regierung bilden, ohne Koalitionen eingehen zu müssen. In der Folge gelang ihr eine Stabilisierung des neoliberalen Regimes, sie konnte ein Hegemonieprojekt aufbauen und dieses schrittweise in ein Staatsprojekt überführen.

In den ersten zehn Jahren ihrer Regierungszeit verbanden sehr viele mit der AKP die Erwartung einer politischen Liberalisierung. Die politischen Islamisten, so die Annahme, hatten sich unter der transformativen Wirkung des »freien Marktes« und des Parlamentarismus in konservative Demokraten verwandelt. Die Partei wurde als Projekt einer gläubigen Mittelklasse begriffen, die die kulturellen Werte der Mehrheitsbevölkerung repräsentiere und den neoliberalen Entwicklungspfad mit demokratischen Zielen verknüpfe. Die Rede war von einer konservativen Revolution von unten, die von der Zivilgesellschaft, bestehend aus der neuen Mittelklasse und assoziierten Intellektuellen, angeführt werde. Konzepte wie »Normalisierung«, »Westernisierung«, »Vermählung des Neoliberalismus mit dem Islam« und »Säkularisierung des Islam« spiegelten die Erwartung eines Epochenbruchs in der Geschichte der Türkei.

Als politischer Widerpart der AKP wurde eine kulturell marginale, autoritäre Staatselite ausgemacht, die sich im Militär und der Justiz verschanzt hatte und in Verteidigung ihrer Privilegien gegen die neoliberale Öffnung stemmte. Die Staatselite verkörperte aus dieser Transformationsperspektive volksfremde und elitäre Werte, sie führte zur Verteidigung ihrer Machtposition einen Kulturkampf auf der Grundlage des Laizismus. Durch die Frontenbildung wurde dem Geschehen eine höchst dramatische Note verliehen. Die »konservativen Demokraten« sollten die in der Geschichte der Türkei unvollständig gebliebene bürgerliche Revolution vollenden, indem sie der in den Gründungsprinzipien der Republik ausgemachten »autoritären Staatstradition« ein Ende bereiteten.

Die Niederschlagung des Aufstands im Sommer 2013, der im Istanbuler Gezi-Park begann und sich sukzessive auf das ganze Land ausbreitete, bereitete der Erwartung einer politischen Liberalisierung ein Ende. In der Folge vollzog sich ein bemerkenswertes theorie-politisches Manöver. Die prominente These von der neuen demokratisierenden Mittelklasse, die als Trägerin der Transformation bestimmt worden war, wurde stillschweigend fallengelassen. Unversehens wurde davon ausgegangen, die AKP habe sich verselbständigt, von ihrer gesellschaftlichen Anbindung gelöst und quasi über Nacht in eine autoritäre Partei verwandelt.

In meiner Studie werde ich die These vertreten, dass es keine autoritäre Verwandlung, sondern eine kontinuierliche Entwicklung gegeben hat. Die Erwartung einer Demokratisierung stellte ein theoretisch angeleitetes Missverständnis dar. Es wurde zur Basis für die wohlwollende Begleitung und Förderung der ohnehin großen gesellschaftlichen Unterstützung des Projekts der AKP, mit dem das politische System von einer parlamentarischen Demokratie in ein autoritäres Präsidialsystem überführt wurde. Als – aufgerüttelt durch den landesweiten Aufstand – die Entwicklungstendenzen auch von den Verfechtern einer Liberalisierung erkannt wurden, war das Projekt schon sehr weit fortgeschritten.

Das Missverständnis beruhte maßgeblich auf zwei Irrtümern, deren Aufrechterhaltung auch die Analysen der gegenwärtigen Kräftekonstellation noch prägt. Zum einen wurde das Verhältnis zwischen der AKP und den gesellschaftlichen Klassen auf fehlerhafte theoretische Annahmen gegründet. Die die AKP konstituierende gläubige Mittelklasse, hinter der sich ein bestimmter Teil der Unternehmerschaft des Landes verbarg, war zu keiner Zeit Vertreterin bürgerlicher Werte wie »Freiheit« oder »Gleichheit«. Sie kann eher als gesellschaftliche Trägerin eines neoliberalen Armutsregimes beschrieben werden, das eine große Masse der Bevölkerung in einen Status der Unmündigkeit drängt. Der politische Autoritarismus der AKP findet einen breiten gesellschaftlichen Nährboden in diesem Armutsregime. Zum zweiten wurde die Rolle der Religion im politischen Projekt der Partei nicht adäquat erfasst. Die Religion stellt keinen authentischen kulturellen Wert dar, sondern eine moralisch-ethische Kraft, mit der der Status der Unmündigkeit legitimiert und auf Dauer gestellt werden soll.

Einsetzend mit dieser Kritik wird die vorliegende Studie die Forschungsfrage aufnehmen, welche Rolle die Religion im politischen Projekt der AKP im Verhältnis zu den gesellschaftlichen Klassen erhielt. Sie wird an theoretische Konzepte anknüpfen, die das politische Projekt der AKP als neoliberalen Autoritarismus bestimmen und Religion als kulturelles Mittel in der Regulierung der Beziehungen zwischen den gesellschaftlichen Klassen begreifen. Auf der empirischen Grundlage einer ethnographischen Feldstudie wird sie in Weiterführung dieser Konzepte die Rolle der Religion neu bestimmen. Die primäre These wird sein, dass die religiöse Trägerschaft dem politischen Projekt eine besondere Dynamik verleiht. Im Zuge einer genaueren Bestimmung der kulturellen und sozialen Merkmale der Trägerschaft wird die Studie eine religiöse Privilegienstruktur offen legen, die sich in Form von öffentlichen Institutionen wie der staatlichen Religionsbehörde und theologischen Bildungsinstitutionen in Verschränkung mit privaten religiösen Netzwerken realisiert. Die Studie wird aufzeigen, dass die Struktur von Akteuren getragen wird, deren Affiliation mit der Religion sie auch zu Nutznießern ökonomischer Privilegien macht.

In Auseinandersetzung mit Religionskonzepten, durch die die besondere Leistung der AKP als »Säkularisierung des Islam« charakterisiert wird, wird diese Studie schließlich eine Definition von Islamismus vorschlagen. Islamismus wird als Doppelbewegung zwischen Regulierung der Beziehungen zwischen den Klassen und Etablierung einer Privilegienstruktur auf der Grundlage religiöser Ideen und Praktiken bestimmt. Der Kulturkampf wird als Modus Operandi re-konzeptualisiert, über den die religiöse Trägerschaft ihre Privilegien politisch ausficht. Indem die Religion als kulturelles Zentrum einer Privilegienstruktur bestimmt wird, kann die Islamisierungsdynamik in der Türkei als umfassender Ausgrenzungsprozess säkularer und der dominanten Auslegung des Islam widersprechenden Praktiken und Wissensbestände aus der gesellschaftlichen Partizipation begriffen werden.

Im Zuge der Begründung dieser Thesen wird auch eine Antwort auf die Frage entwickelt, warum die AKP trotz aller Turbulenzen immer noch standhalten kann. Nach inzwischen 17 Jahren an der Regierung hat die Partei etliche Krisen und interne Querelen überstanden, an denen viele andere Parteien wahrscheinlich gescheitert wären. Trotz substanzieller Verluste beim Führungspersonal – von den prominenten Parteigründern ist einzig Tayyip Erdoğan übrig geblieben – und trotz eines Putschversuchs ehemals verbündeter Kräfte im Jahr 2016 ist die Partei nicht auseinandergebrochen. Selbst über schwere ökonomische Krisen hinweg konnte die AKP große Teile der Bevölkerung an sich binden und ein Zersplittern des rechten Lagers verhindern. Ihre gesellschaftliche Stärke, so das Argument dieser Studie, bezieht die Partei aus der Fähigkeit, die Beziehungen zwischen den Klassen zu moderieren. Ihre Besonderheit liegt im Aufbau der erwähnten Privilegienstruktur, mit der die Reproduktion einer wachsenden Schicht religiöser Intellektueller verknüpft ist, die der Partei Orientierung und Zusammenhalt verleihen.

2.Vorgehen und Werdegang der Studie

Die Bearbeitung der Forschungsfrage erfolgt auf dem Wege der Theorierekonstruktion. Die Vorgehensweise bei der Theorierekonstruktion besteht in der Überprüfung einer existierenden Theorie anhand eines empirischen Falls (Burawoy 1998). Die zu überprüfende Theorie dieser Studie ist die auf Antonio Gramsci zurückgehende Hegemonietheorie. Als ich 2008 mit der Konzipierung der Studie begann, war die Favorisierung eines hegemonietheoretischen Zugangs dadurch begründet, dass der AKP eine zentrale Rolle in der konsensualen Stabilisierung des neoliberalen Projekts zuzukommen schien. Die Partei wurde in der Forschungsliteratur als Bündnis charakterisiert, das disparate gesellschaftliche Kräfte unter der Führung einer Fraktion der Bourgeoisie integrierte und eine Entwicklungsperspektive vorbrachte, die Zusammenhalt in einer gespaltenen Gesellschaft organisierte. Es erschien sehr ungewöhnlich, dass ausgerechnet diese Partei, deren in der islamistischen Bewegung verwurzeltes Personal über Jahrzehnte den Umsturz der demokratischen und laizistischen Ordnung verfolgt und dabei etliche politische Krisen provoziert hatte, sich dem Laizismus, der Demokratie und einer pluralistischen Erneuerung verpflichtet haben sollte. Die vermeintliche Annäherung an die laizistische Demokratie deutete auf einen Wandlungsprozess, der sich in hegemonietheoretischen Begrifflichkeiten als eine Form der passiven Revolution hypothetisch fassen ließ. Die hiervon ausgehende Frage war, ob und wie dieser Wandlungsprozess, der nahezu die gesamte islamistische Bewegung mit der AKP erfasst und sich mit einem Expansionsprozess durch Integration bewegungsferner Kräfte verbunden zu haben schien, hegemonietheoretisch genauer bestimmt werden könnte.

Eine zweite Ungewöhnlichkeit bestand darin, dass die AKP breite Zustimmung von den im Zuge neoliberaler Politik sozial entrechteten und verarmten ArbeiterInnen erhielt, obwohl sie sich nachdrücklich der Fortführung neoliberaler Politik verschrieben hatte. Der Sachverhalt forderte die hegemonietheoretische Annahme heraus, dass die Hegemonie herrschender Klassen auf der Grundlage materieller Konzessionen, zumindest an Teile der beherrschten Klassen, beruht. Die konkrete Herausforderung der Theorie anhand des Falls Türkei war gerahmt von Bedenken in der Forschungsliteratur bezüglich der räumlichen und zeitlichen Reichweite von Hegemonietheorie. Sie wurden sowohl mit Blick auf die Übergänge innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise vom Fordismus zum Neoliberalismus (Demirović 2006a; Hirsch 2005: 197ff.) als auch hinsichtlich der Anwendbarkeit von Hegemonietheorie auf Gesellschaftsformationen der kapitalistischen Peripherie vorgebracht (Becker 2008). Vor diesem Hintergrund verband ich das Vorhaben der Theorierekonstruktion mit dem Ziel, einen Beitrag zur Frage nach der räumlichen und zeitlichen Reichweite von Hegemonietheorie zu leisten.

Um Einblicke in die Wandlungs- und Expansionsprozesse sowie Generierung von Zustimmung für das Projekt der AKP zu gewinnen und damit eine empirische Grundlage für die Theorierekonstruktion zu legen, nahm ich mir vor, die Zusammensetzung und gesellschaftliche Verankerung dieser Partei anhand von zwei lokalen Fallbeispielen zu erforschen. Für die Feldstudie bestimmte ich zwei Großstädte, in denen der expansive Integrationsanspruch der AKP an erkennbare Grenzen stieß: Izmir und Diyarbakır. Die AKP erzielte dort Ergebnisse unter dem landesweiten Durchschnitt. Die Metropole Izmir mit etwa drei Millionen EinwohnerInnen an der ägäischen Küste im Westen des Landes wurde von der Republikanischen Volkspartei (CHP) regiert. Die Großstadt Diyarbakır mit etwa 650.000 EinwohnerInnen im kurdischen Südosten der Türkei wurde hingegen von der Partei der Demokratischen Gesellschaft (DTP) regiert. Beide Parteien befanden sich auf nationaler Ebene und in fast allen anderen Großstädten in der Opposition. Die Untersuchung in diesen beiden Städten durchzuführen, erschien mir aus zwei Gründen sinnvoll. Zum einen standen Kommunalwahlen an und es hieß, die AKP richte ein besonderes Augenmerk auf diese beiden Städte und werde dort einen besonders engagierten Wahlkampf führen. Ich nahm an, dass hiermit intensive Aktivitäten verbunden sein würden, die mir auch den Zugang zum Feld erleichtern könnten. Zum anderen erschien es mir aufschlussreich, sich dem Untersuchungsgegenstand gewissermaßen von seinen Grenzen her anzunähern. Izmir galt als politische Hochburg des Kemalismus und Diyarbakır als eine der kurdischen Bewegung. Zugleich bestand die Erwartung, dass die AKP mit ihrem expansiven Integrationsanspruch auch diese beiden Städte erobern werde (vgl. Doğan 2009b). Umso mehr stand für mich die Frage im Raum: Warum war es der AKP, deren Personal sich von seiner historischen Verbindung zur islamistischen Bewegung emanzipiert und einem pluralistischen Projekt zugewandt haben sollte, bisher nicht gelungen, in diesen Städten Mehrheiten zu generieren?

Mein erster Feldaufenthalt fand im März 2009 statt und war auf drei Wochen begrenzt. Das hauptsächliche Ziel bestand darin, den noch relativ unerforschten Untersuchungsgegenstand explorativ zu erschließen. Mit Exploration ist das Sammeln von Informationen über einen Untersuchungsgegenstand gemeint, das die erste Überprüfung vorhandener Hypothesen und eventuell die Formulierung neuer Hypothesen vorbereitet (Bortz/Döring 2006: 356). Zu dieser Zeit gab es außer journalistischen Recherchen noch keine profunde Literatur über den Parteiapparat und seine gesellschaftliche Einbettung. Auf eine bestimmte Datenerhebungsmethode hatte ich mich zu diesem Zeitpunkt noch nicht festgelegt. Ich wollte zunächst sondieren, ob ich überhaupt einen Zugang zum Feld erhalten würde. Ins Auge gefasst hatte ich, Experteninterviews zu führen und Dokumente zu erheben. Die Experteninterviews sollten mir das Wissen professioneller Beobachter der Parteienlandschaft zugänglich machen und dazu verhelfen, meine Ausgangshypothesen zu hinterfragen. Sofern möglich, sollten sich teilnehmende Beobachtungen und halbstandardisierte Interviews mit Parteifunktionären anschließen, wofür ich einen Leitfaden vorbereitet hatte.

Die Aufnahme erster Kontakte mit Funktionären erfolgte rascher, als ich erwartet hatte. Im Vorfeld hatte ich eine sich kurzfristig ergebende Chance ergriffen, als Dolmetscher für eine Reisegruppe deutscher GewerkschafterInnen zu arbeiten, zu deren Programm auch ein Besuch der AKP-Zentrale in Istanbul gehörte. Dort knüpfte ich meinen ersten Kontakt, der mir wiederum einen Kontakt in Izmir vermittelte. Durch die Verlegung des Aufenthalts in die Zeit des Kommunalwahlkampfs waren die Akteure tatsächlich leicht zu erreichen. Schon nach wenigen Gesprächen in Wahlkampfbüros, die es in jedem Stadtviertel gab, knüpfte ich Bekanntschaften zu Funktionären und durfte an einem Treffen der Parteijugend teilnehmen. Aus ihnen ergaben sich alle weiteren Interview-, Gesprächs- und Beobachtungsgelegenheiten, auch im weit entfernten Diyarbakır.

Nachdem die Sondierung abgeschlossen war und die ersten Daten vorlagen, hatte ich den Eindruck gewonnen, dass Elemente der AKP-Politik, die ich für wichtig erachtet hatte, weniger bedeutsam waren, während andere nach vorne rückten. Die ersten Interviews lieferten nur sehr begrenzte Einsichten. Professionalisierte Politiker pflegten einen eingeübten Diskurs, von dem sie kaum abwichen. Sie sprachen im sichtlichen Bemühen, ein weltoffenes, liberales, pluralistisches Bild zu transportieren. Ich wurde als Botschafter adressiert, der dieses Bild in die Welt tragen sollte. Zu den häufigeren Sätzen zählten: »Wir sind für alle da«, »Wir kleben nicht an unseren Sesseln so wie diejenigen vor uns«, »Unsere Politik ist transparent«, »Wir stehen für Frieden und Konsens in der Gesellschaft«. Der Einfluss professionalisierter Rhetorik erschien mir groß. Die Durchführung der Interviews während des Wahlkampfs erwies sich an diesem Punkt als Nachteil.

Als ergiebig stellte sich die teilnehmende Beobachtung heraus, durch die sich ein Einblick in die gesellschaftliche Einbettung der Partei und ihre Praktiken eröffnete. Der teilnehmenden Beobachtung liegt die Annahme zugrunde, dass durch Teilnahme an Interaktionen und Situationen Aspekte von Praktiken beobachtbar und erfahrbar werden, die in Gesprächen und Dokumenten über diese Situationen nicht zugänglich sind (Breidenstein u.a. 2015: 71ff.). So fiel mir bereits im Zuge erster Beobachtungen eine deutliche Repräsentation des türkischen Islamismus im Umfeld der Partei auf, der in der theologischen Ausbildung der Parteijugend und deren Verbindungen zu religiösen Netzwerken verankert war. Mein Blick wurde auf einen Aspekt gelenkt, den ich in der Planung der Studie zwar berücksichtigt, aber nicht für zentral gehalten hatte. Dass das Personal der AKP nicht nur fromm, sondern zu einem erheblichen Teil in der Tradition des politischen Islam verwurzelt war, war mir selbstverständlich bewusst. In der wissenschaftlichen Literatur und den Medien wurden jedoch im Einklang mit prominenten Parteimitgliedern ein klarer Bruch mit dieser Tradition und ein Wandel des türkischen Islamismus behauptet. Meine ersten Beobachtungen vor Ort widerlegten die Behauptung dieses Bruchs zwar nicht eindeutig, sie stellten jedoch eine Irritation dar, die durch weitere Ereignisse, die dem vorherrschenden Bild über die Partei widersprachen, verstärkt wurde.

Eine Irritation war bereits während meiner ersten Begegnung mit einem Parteifunktionär entstanden, den ich im Rahmen meiner Dolmetscher-Tätigkeit in der Istanbuler AKP-Zentrale getroffen hatte. Nach einem einführenden Vortrag des Vorstandsmitglieds für die gewerkschaftliche Reisegruppe über Charakter und Ziele der Partei folgte eine Fragerunde, bei der die Antwort immer wieder auf den breiten Repräsentationsanspruch der Partei hinauslief. Auf eine Frage, wie seine Partei zur in jüngerer Zeit vermehrt diskutierten »Armenier-Problematik« stehe und wie sie die Vertreibung der Armenier des Osmanischen Reichs bewerte, antwortete der Funktionär:

Es war Krieg und wir waren von allen Seiten umzingelt. Im Osten haben wir gegen die Russen gekämpft. In einem Krieg müssen alle zusammenstehen. Um den Feind bekämpfen zu können, muss das Hinterland ruhig sein. Der Rücken muss frei sein. Stellt euch vor, ihr kämpft gegen jemanden. Da ist eine Front und euch gegenüber steht der Feind. Doch plötzlich kommt jemand von hinten und will euch erschießen. Stellt euch das vor. Was würdet ihr tun? Ihr würdet euch verteidigen, nicht wahr? Ihr würdet das nicht hinnehmen. So war das mit den Armeniern. Sie sind uns in den Rücken gefallen. Es war Krieg und das konnte nicht hingenommen werden. Es musste etwas getan werden. Was mit den Armeniern passiert ist, hängt damit zusammen.

Nachdem ich die Antwort für die Reisegruppe übersetzt hatte, herrschte beklommenes Schweigen. Das war nicht die AKP, die in deutschen Zeitungen unisono für ihr Einstehen für Völkerverständigung und eine demokratische Erneuerung von Unten gelobt wurde, die sich in Distanz zur bisher dominierenden türkischen Geschichtsthese für eine gemeinsame Historikerkommission mit Armenien einsetzte und eine »ergebnisoffene Untersuchung des Verschwindens armenischen Lebens« aus Anatolien versprach. Stattdessen waren wir mit der klassischen Dolchstoßlegende konfrontiert worden, die den Genozid als einen Akt der Selbstverteidigung im Rahmen von Kriegshandlungen rechtfertigte.

Mit zahlreichen Eindrücken und einigen Irritationen im Gepäck trat ich die Rückreise nach Deutschland an. Ich stand vor der Frage, wie ich weitermachen sollte. Ich entschied, den erkundenden Zugang der teilnehmenden Beobachtung beizubehalten und die Spuren, die sich gezeigt hatten, weiterzuverfolgen. Unterdessen wurde ich in der Zeit bis zur zweiten Reise mit einer Reihe neuer Veröffentlichungen zu meinem Forschungsgegenstand konfrontiert. Ab 2009, kurz nach Beginn meiner Arbeit, erschienen erste umfangreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen zur AKP. Es mag nicht erwähnenswert, weil erwartbar erscheinen, dass im Laufe einer Studie neue Literatur über den Forschungsgegenstand veröffentlicht wird. Doch war ich mit einer außergewöhnlichen Häufung konfrontiert, neue Studien stapelten sich in kurzer Zeit auf meinem Schreibtisch. Mit einem Abstand von sieben Jahren schlug sich die außerordentliche Aufmerksamkeit, die der AKP seit ihrem ersten Wahlsieg von journalistischen Medien entgegengebracht wurde, auch in wissenschaftlichen Publikationen nieder. Auf Fragen, die ich verfolgen wollte, wurden differenzierte Antworten geliefert, neue Thesen zur AKP kamen auf. Gemeinsam mit meiner ersten Sondierung löste die Literatur einen Reflektionsprozess aus, der mich veranlasste, den Raum, den meine Studie eruieren sollte, neu zu bestimmen. Meine zweite Forschungsreise nach Izmir im Herbst 2009 leitete einen Wandel meiner Forschungsfrage ein, weg von der allgemein gehaltenen Fokussierung der gesellschaftlichen Einbettung der AKP hin zur Frage nach der Bedeutung der Religion und der religiös geprägten Netze in Verbindung mit der Partei.

Im Laufe des zweiten Aufenthalts verdichteten sich die Hinweise, dass es dem Gegenstand angemessen sein würde, die eingegrenzte Frage zu verfolgen. Ich verlegte den Schwerpunkt auf die Erkundung des religiösen Netzes und beschäftigte mich mehr und mehr mit der Frage, wie ich eine empirische Grundlage für das Wissen über dieses Netz legen könnte. Um verlässliche Daten zu erhalten, hielt ich es für notwendig, das Netz selbst zu erkunden. Der Eintritt in dieses Feld gestaltete sich jedoch erheblich schwieriger als der Zugang zum Parteiapparat. Das religiöse Netz erstreckte sich weit über den Raum der Partei hinaus in halb-öffentliche und private Räume. Um Daten zu sammeln, musste ich weitere Kontakte knüpfen und bestehende vertiefen, um das Vertrauen zu gewinnen, das mir den Zugang erlauben würde. Nach einiger Zeit, während der ich mich häufig mit einzelnen Akteuren traf und Beziehungen zu ihnen entstanden, öffneten sich mir weitere Türen. Gegen Ende des zweiten Aufenthalts wurde ich zu immer mehr Aktivitäten eingeladen. Ich nahm das Angebot an, in ein Zimmer einer Wohngemeinschaft mit islamistischen Studenten einzuziehen, und erhielt auf diesem Weg auch einen Einblick in deren Alltag.

Ebenfalls gegen Ende des zweiten Aufenthalts reiste ich zum ersten Mal nach Diyarbakır, wo ich durch Vermittlung meiner Bekanntschaften aus Izmir sogleich Kontakt zur Partei und zu religiösen Akteuren erhielt. Die Feldforschung in Diyarbakır gestaltete sich holprig. Viele Akteure waren nicht bereit, Interviews zu geben. Die Bereitschaft war so gering, da eine Repressionswelle in den kurdischen Gebieten eingesetzt hatte. Durch lancierte Abhörprotokolle und Diffamierungskampagnen, die von AKP-nahen Medien betrieben wurden, sowie durch anlaufende Gerichtsprozesse wurde offenkundig, dass schon seit längerer Zeit eine konzertierte Aktion geplant war. Geheimdienste, Staatsanwaltschaften und Polizei hatten eine große Bandbreite an legalen Aktivitäten ins Visier genommen, die sukzessive kriminalisiert wurden. Zwar war dies in den kurdischen Gebieten, wo seit über 25 Jahren Krieg herrschte, an sich nicht neuartig. Doch hatte eine beinahe zehnjährige Phase relativer Waffenruhe für eine gewisse Entspannung gesorgt. Mit dem Verbot der »kurdischen« Partei DTP und den anschließenden Verhaftungswellen rückte die Repression schlagartig wieder in den Alltag der Bevölkerung der Region und auch in das mediale Rampenlicht. Das Feld war noch relativ offen, ich konnte mich ohne größere Einschränkungen bewegen, doch mein Bewusstsein für die Gefahr, auf die eine oder andere Art durch das Überwachungsnetz erfasst und durch meine Forschung andere zu gefährden oder selbst Repressionen ausgesetzt zu werden, stieg. Im Spätherbst 2010, bei meinem dritten Feldaufenthalt, reiste ich ein zweites Mal nach Diyarbakır. Zu dieser Zeit hatte ich aber schon entschieden, von einer Vertiefung der Feldforschung in Diyarbakır abzusehen, um keine unnötigen Risiken einzugehen. Die sich in Izmir eröffnenden Möglichkeiten erschienen mir ergiebig genug, um der inzwischen präzisierten Forschungsfrage nachzugehen.

In Izmir nahm ich an mehreren Treffen der AKP-Jugend, an mehr oder weniger stark ritualisierten religiösen Konversationsrunden sowie an Stammtischrunden teil, aus denen weitere Kontakte hervorgingen. Ich wurde in religiöse Vereine mitgenommen, besuchte politische Veranstaltungen und Kundgebungen. Auf diese Weise konnte ich empirisches Material über Aktivitäten, Weltauffassungen, Organisierungs- und Interaktionsweisen sammeln. Die meisten meiner Beobachtungen fanden in Gruppensituationen statt, bei denen ich nicht im Mittelpunkt stand. In ihnen entwickelte sich oft eine Dynamik, durch die sich Adhäsions- und Fliehkräfte und ebenso der Umgang der Gruppe mit diesen zeigten.

Ich besuchte nicht nur Aktivitäten, die sich in meinem engeren Forschungsgebiet der AKP abspielten, sondern suchte auch den Kontakt zu anderen Parteien und Gruppen, forschte in den alevitischen und kurdischen Vierteln von Izmir. Manchmal beobachtete ich anonym, manchmal suchte ich das Gespräch, stellte in Vereinen und Treffpunkten mich und mein Forschungsvorhaben vor, woraufhin sich spontan Diskussionen entwickelten. Ich holte Meinungen von verschiedenen politischen Akteuren zu meinem Vorhaben und zu meinen Beobachtungen ein, führte mit ihnen Experteninterviews, gab Teile meines Wissens ins Feld zurück und stellte meine Reflektionen und Analysen zur Diskussion. Diese Aktivitäten halfen mir, das politische Feld, vor allem die Relationen im Feld zwischen der AKP und außerhalb von ihr stehender Gruppen aus der Nähe zu erschließen.

Die Dimensionen meines Vorhabens haben sich im Laufe der Feldforschung erweitert. Dass sich viele religiöse Aktivitäten im privaten Bereich abspielen und der Zugang durch kulturelle Grenzziehungen erschwert ist, ferner Repressionserfahrungen und Rivalitäten dazu beitragen, dass die islamistische Bewegung in der Türkei wenig transparent ist, wird als zentrales Hindernis benannt, Daten über sie zu sammeln (Ozgur 2012: 17ff.). Die Rede ist von einer unsichtbaren Mauer, die von »Meinungsführern« durch die Produktion von Berührungsängsten gegenüber kulturell Fremden aufrechterhalten wird. Balaban zum Beispiel führt an, dass auch die Bedeckung des Körpers, Ernährungs-, Sexualitäts- und Hygieneregeln an bewusst hergestellte Ängste vor Verunreinigung (im übertragenen Sinne) gekoppelt seien (Balaban 2013: 51). Nach insgesamt sechs Monaten im Feld kann ich bestätigen, dass es Mauern gibt, sie sind jedoch nicht unüberwindbar. Sie erscheinen hoch, weil in der Türkei miteinander verfeindete oder konkurrierende kulturelle Kollektive existieren, in denen Fremdheit häufig ohne Begegnung hergestellt und eingeübt wird und die mehr oder weniger stark an politische Parteien angebunden sind. Ich stellte viel Trennendes zu meinen Kontakten aus dem religiösen Umfeld fest, es gab aber immer genug Verbindendes, um Beziehungen einzugehen, aufrechtzuerhalten, zu erweitern und zu vertiefen.

Dass ich Izmir als Einstieg für den Zugang zum Feld gewählt hatte, erwies sich als Glücksfall. Der Einfluss des Laizismus war in Izmir stark, die AKP und religiös geprägte Akteure waren dort in der Minderheit. Dies bedingte zum einen, dass sie mit einem großen Bevölkerungsanteil konfrontiert waren, dessen Lebensweise nicht durch religiöse Vorgaben geprägt war. Sich von ihnen abzukapseln, hätte eine Zementierung des Status quo als Minderheit bedeutet und der politischen Aktionslogik widersprochen, die Bevölkerung zu adressieren, um Mehrheiten zu generieren. Zum anderen waren viele der religiös geprägten Akteure in gewisser Weise selbst fremd in Izmir, zumindest in der Öffentlichkeit des Stadtzentrums. Einige waren aus ländlichen oder kleinstädtischen Regionen Anatoliens zum Studieren nach Izmir gekommen und trugen Spuren von Fremdheit und Befremdung selbst nach vielen Jahren noch mit sich. Gemeinsam mit anderen, die schon länger in Izmir lebten, teilten sie signifikante, zur Politik geronnene kulturelle Praktiken der Mehrheit nicht. In Izmir waren wir in bestimmten Situationen kollektive Außenseiter. Wenn wir beispielsweise gemeinsam in ein Straßencafé gingen, dann immer in eins, das keinen Alkohol ausschenkte, während in den Nachbarcafés getrunken, musiziert und gesungen wurde. Ich, als ein aus Deutschland angereister Fremder in Izmir, stand allerdings immer noch ein Stück weiter außen als die anderen. Ich gehörte keiner der lokalen Welten ganz an. Nicht nur mein Forscherdasein, auch mein »Türkischsein« stand durch meine aktuelle Herkunft, mein Äußeres, meine Verhaltensweisen und Sprache, in die fremdartige Spuren eingewoben waren, unter Beobachtung. Die Fremdheit nahm mit der Zeit ab, doch bekam ich immer wieder eine Befremdung gespiegelt, die wohl daraus resultierte, dass ich in kein Raster eindeutig eingeordnet werden konnte. In gewisser Weise bewegte ich mich als doppelt Fremder unter Fremden. Ich vermute, dass diese Kombination verwickelter Umstände es mir ermöglichte, in relativ kurzer Zeit Kontakte aufzubauen und zu vertiefen, während unter anderen Umständen die Mauern möglicherweise höher gewesen wären.

Alfred Schütz machte auf einen Vorteil des Fremden aufmerksam, der darin besteht, dass er auf unbekannte Phänomene stößt, die sich mit seinen Wissensbeständen nicht erschließen lassen und ihn somit dazu zwingen, ihre ihm unbekannte Bedeutung zu rekonstruieren (Schütz 1972). Die soziale Welt, in die ich eintrat, war mir vertraut genug, um mich in ihr bewegen und selbst verständigen zu können. Doch umfasste sie zugleich Wissen, Praktiken, Symbole und Codes, die ich mir erst erschließen musste, vieles war nicht selbstverständlich. Interaktionen – schon die Begrüßung – folgten oftmals mir unbekannten Regeln, in Kommunikationen stieß ich auf ein Nebeneinander für mich nicht zu vereinbarender Elemente. Etliche Interaktionspartner verfügten als Absolventen theologischer Schulen über Wörter, Metaphern, Geschichten und historische Referenzen, deren Inhalte sich nur für diejenigen erschlossen, die sie vor einem geteilten Bildungshintergrund verstehen konnten. Schon die Sprache meiner Bekanntschaften aus dem religiösen Umfeld orientierte sich stärker am Arabischen, kam zum Teil dem Osmanischen nahe, das in der Türkei seit 80 Jahren keine Bildungssprache mehr war und für einen »normalen« Schulabgänger wie mich eine Herausforderung darstellte. Da ich für eine deutsche Leserschaft schreiben wollte, musste ich für meine Feldnotizen eine doppelte Übersetzung – zunächst für mich zum Verstehen und dann in die deutsche Sprache – leisten. Der Anspruch, sowohl die Eigenheit und den Sprachwitz zu erhalten, als auch möglichst nah am Gesprochenen zu bleiben, um Inhalte nicht zu verfälschen, forderte eine behutsame Übersetzung des Materials für die Darstellung. Da Sprache einen wichtigen Aspekt der Hegemoniebildung ausmacht – über Sprache wird eine Weltauffassung ausgedrückt, es wird Gemeinsamkeit und Differenz hergestellt und es werden Identitäten gebildet –, war es wichtig, die Hinweise durch die Übersetzung nicht unkenntlich zu machen.

Ich habe 12 Interviews mit AKP-Mitgliedern und weitere 9 mit religiösen und oppositionellen Akteuren, darunter 4 Gruppeninterviews, sowie unzählige Gespräche geführt, an mehreren formellen und informellen Treffen der Parteijugend und Bildungsseminaren der AKP teilgenommen. Ich habe ein Forschungstagebuch geführt, Mitschriften und Gedächtnisprotokolle angelegt, bei öffentlichen Veranstaltungen Bild- und Tonaufzeichnungen gemacht, Nachrichten und Debatten in Zeitungen und im Fernsehen verfolgt und dokumentiert. Eine Grenze für den Feldzugang und die teilnehmende Beobachtung bestand darin, dass meine Identität als Forscher zumeist offen lag. An vielen Aktivitäten wie Sitzungen und Konversationsrunden konnte ich nur temporär, oft auch nur einmalig teilnehmen. Schließlich sind diese Aktivitäten, die im Privaten stattfinden, nicht darauf ausgelegt, permanente Gäste und schon gar nicht Forscher zu empfangen, die beobachten. Sofern meine Beobachtungen in nicht-öffentlichen Räumen stattfanden, habe ich die Daten anonymisiert. Eine Ausnahme bilden meine Beobachtungen in der AKP-Jugend und im Heim einer islamischen Gemeinschaft. Dort befand ich mich erklärtermaßen als Forscher, mein Aufenthaltszweck war bekannt. Ich verzichte dennoch zumeist darauf, Namen zu nennen und genauere Orte anzugeben. Ich wandte mich den Personen ohnehin nicht aufgrund eines Interesses an ihrer Persönlichkeit, sondern mit der Frage zu, welche Rolle sie im Feld einnehmen, welche gesellschaftlichen Verhältnisse sich in ihren Interaktionen ausdrücken und verdichten.

Die Auswertung des Materials begann, wie erwähnt, zeitgleich mit der Erhebung. Angeleitet durch den hegemonietheoretischen Zugang formulierte ich auf der Grundlage der Daten eine Reihe von Thesen. Zur Vertiefung und Verdichtung der Thesen zog ich Sekundärmaterial in Form von Dokumenten und Datensätzen quantitativer Art heran, kontrastierte die Thesen mit den Befunden und Ergebnissen anderer qualitativer Untersuchungen, die sich auf den gleichen Forschungsgegenstand richteten, und setzte meine Beobachtungen im lokalen Maßstab ins Verhältnis zu Entwicklungen im nationalen Maßstab. Eine Kernthese zur Bedeutung der Religion in den gesellschaftlichen Kämpfen kristallisierte sich heraus, die mir eine neuerliche Ordnung des Materials und der Literatur ermöglichte. Mit einer empirisch zwar noch nicht gesättigten aber klar konturierten These wandte ich mich der theoretischen Reflektion zu. Aus ihr folgte eine Anpassung des theoretischen Interpretationsrahmens. Die Kernthese ließ sich mit den vorhandenen hegemonietheoretischen Begrifflichkeiten nicht vollständig erfassen, wodurch eine die Theorie modifizierende Perspektive provoziert und die Suche nach ergänzenden theoretischen Konzepten ausgelöst wurde.

Obgleich die Feldstudie die Rekonstruktionsarbeit anleitete und der Studie ihre Richtung verlieh, strukturieren die erhobenen Daten nicht die gesamte Diskussion. Indem der Schwerpunkt der Feldstudie sich auf die Konstitution einer bestimmten kulturellen Trägerschaft des politischen Projekts der AKP verlagert hat, ermöglicht sie nur eine partielle Antwort auf die Frage nach der Rolle der Religion für den Prozess der Hegemoniebildung. Insbesondere die Frage der Zustimmung, die anfänglich im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stand, kann konzeptuell bedingt nicht mit den Daten aus der Feldstudie beantwortet werden. Um diesen zentralen Aspekt der Hegemoniebildung dennoch ausleuchten zu können, habe ich Sekundärforschung herangezogen. Durch sie wird es möglich, die Rolle der Religion und ihrer Träger umfassender im Rahmen eines Hegemonieprojekts zu diskutieren und einen Beitrag zur Frage nach der räumlichen und zeitlichen Reichweite von Hegemonietheorie zu formulieren.

2.1Aufbau

Im Aufbau der Studie ist der skizzierte Erkenntnisprozess – die Pendelbewegung zwischen empirischer Auswertung und theoretischer Reflektion – nicht mehr abgebildet. Zu erkennen ist aber noch der starke Dialog mit der Forschungsliteratur, deren Darstellung in Kapitel 3 auch deswegen ausführlicher ausgefallen ist, um Bezugsquellen, die nur in türkischer Sprache vorliegen, deutschsprachigen LeserInnen zugänglich zu machen.1 Zur strukturierten Darstellung der Literatur entlang der Frage, wie die Rolle der Religion für das politische Projekt der Partei im Verhältnis zu den gesellschaftlichen Klassen begriffen wird, wird eine Unterteilung in vier Thesen vorgenommen. Die kritische Diskussion dieser Thesen leitet in die Begründung der Eingrenzung des Forschungsgegenstands über. Die Frage nach der Rolle der Religion im politischen Projekt der AKP wird präzisiert und eingegrenzt auf die Entwicklungsgeschichte der intellektuellen Träger der islamistischen Bewegung unter dem Aspekt ihrer gesellschaftlichen Reproduktion. Kapitel 4 stellt den theoretischen Zugang vor, der in Auseinandersetzung mit dem empirischen Material herangezogen und modifiziert wurde. Es wird argumentiert, dass ein hegemonietheoretischer Zugang eine integrierende Perspektive auf die Rolle der Religion für das Projekt eröffnet, es aber einer ressourcentheoretischen Erweiterung bedarf, um die Reichweite und Dauerhaftigkeit des Projekts und die Reproduktionsmechanismen der intellektuellen Trägerschaft besser erfassen zu können. Kapitel 5 stellt auf der Grundlage der kontemporären Verfasstheit des Islamismus eine Rekonstruktion seiner Entwicklungsgeschichte und Konstitutionsmerkmale mit dem Schwerpunkt auf der Reproduktion seiner Intellektuellen dar. Die Rekonstruktion wird nachvollziehen, wie die islamistische Bewegung sich zusammensetzt, wofür und wogegen sie seit Gründung der Republik streitet und welche Strecke sie zurückgelegt hat. Die kontemporäre Phase wird bestimmt als Monopolisierung der Staatsapparate durch die AKP. In dieses Kapitel fließen bereits empirische Daten aus der Feldforschung ein, die dann den Ankerpunkt für Kapitel 6 bilden, in dem der Aufbau einer religiösen Infrastruktur en détail analysiert wird. Vorgestellt werden die institutionellen Wirkungsstätten der Intellektuellen sowie die sozialen Praktiken, über die sie sich reproduzieren. Diskutiert wird in diesem Kapitel auch die eigenartige Auslegung von Laizität in der Türkei und wie sie zur Entwicklung der religiösen Privilegienstruktur beigetragen hat. In Verschränkung mit ihren Grenzen werden in diesem Kapitel ferner integrative Mechanismen der islamistischen Bewegung thematisiert, die verhindern, dass sie an ihren Rändern auseinanderläuft. In Kapitel 7 werden die Ergebnisse schließlich unter der theoretischen Perspektive zusammengefasst und abschließend diskutiert.

1Alle Zitate in dieser Studie, die aus türkischsprachigen Quellen stammen, wurden von mir übersetzt.

Teil I – Stand der Forschung

3.Vier Thesen

Die Forschungsliteratur über die AKP wird im Folgenden entlang der Frage diskutiert, wie die Rolle der Religion für das politische Projekt der Partei im Verhältnis zu den gesellschaftlichen Klassen begriffen wird. Zur strukturierten Darstellung wird eine Unterteilung in vier Thesen vorgenommen, die im Kern auf zwei theoretische Ansätze zurückgeführt werden können. Innerhalb des ersten Ansatzes, den ich unter dem Sammelbegriff »Staatszentrismus« diskutieren werde, wird die AKP im Rahmen eines Kampfes zwischen Staat und Gesellschaft interpretiert. Der »Staatszentrismus« stellt den leitenden theoretischen Ansatz in der Türkeiforschung dar. Die zentralen Annahmen basieren darauf, den Staat als eine autonome Entität zu begreifen, die der Gesellschaft als Ganzes oder einzelnen gesellschaftlichen Gruppen gegenübersteht. Innerhalb des zweiten Ansatzes, der unterschiedliche Ausprägungen des historischen Materialismus umfasst, wird die AKP im Rahmen eines Kampfes zwischen gesellschaftlichen Akteuren interpretiert.

Im Rahmen der ersten These wird die AKP mit einer konservativen Revolution der »Zivilgesellschaft« – bestehend aus einer neuen Bourgeoisie und zivilen Eliten – assoziiert, die sich gegen den »autoritären Staat« auflehnt. Die Partei wird als Trägerin eines neoliberalen Entwicklungspfads in Verknüpfung mit liberal-demokratischen Zielen und zugleich als Repräsentantin der kulturellen Werte der Mehrheitsbevölkerung beschrieben, die in erster Linie als islamisch gekennzeichnet werden. Den Antagonisten der AKP bildet im Rahmen dieser Konzeption eine Staatselite, die eine »laizistische« oder »säkulare« Kultur repräsentiert. Laizismus oder Säkularismus werden als »volksfremde« und »elitäre« Kultur konzipiert, ihre sozialen Träger als Staatseliten bezeichnet. Als historisches Anhängsel der Staatseliten wird eine von ihnen geschaffene Bourgeoisie vorgestellt, die die kulturellen Werte ihrer Erschafferin teilt und sich in Verteidigung ihrer etablierten Position gegen die neoliberale Demokratisierung und die aufkommende Bourgeoisie stemmt. Als Modus Operandi des Kampfes zwischen Staat und Gesellschaft, Elite und Volk, etablierter und aufkommender Bourgeoisie wird ein Kulturkampf identifiziert. Die Bewertung der AKP als kulturelle Repräsentantin der Gesellschaft, die ein demokratisierendes Projekt gegen die kulturell fremde Staatselite verfolgt, lässt mich diese Interpretation als Kulturkampfthese bezeichnen. Vor dem Hintergrund des Ausbleibens der diagnostizierten Demokratisierung hat die Kulturkampfthese eine Verwandlung durchlaufen. Ohne den Interpretationsrahmen zu verlassen, wird eine autoritäre Rückverwandlung der konservativen Demokraten in Islamisten behauptet. Die AKP wird nun der Seite des Staates zugerechnet und als autoritär oder totalitär bezeichnet. Im Anschluss an die Diskussion dieser zeitlich aufeinanderfolgenden Varianten der Kulturkampfthese erfolgt eine Rekonstruktion und Kritik der theoretischen Grundlagen des staatszentristischen Ansatzes und seiner Verankerung in der Türkeiforschung.

Die zweite These zur AKP ist die theologische These. Sie befindet sich in theoretischer Nähe zur Kulturkampfthese, unterstreicht die Einschätzung der AKP als Trägerin des politischen Projekts einer aufkommenden Bourgeoisie, die als konservativ und religiös charakterisiert wird, obgleich sie die Verbindung zwischen Religion, Politik und Ökonomie aus der Gegenperspektive konstruiert. Die theologische These behauptet einen transformierenden Effekt der Religion auf Ökonomie und Politik. Sie stellt einen theoretischen Anschluss an Max Webers Protestantismusthese her, indem sie dem Aufkommen der anatolischen Unternehmerklasse das Entstehen einer puritanisch-asketischen Arbeitsethik vorausgehen sieht, deren Ursprung sie in einer bestimmten Form des Islam verortet.

Aus Sicht der dritten These wird die AKP als eine der liberalen Demokratie verpflichtete und säkulare Partei beschrieben, die von vornherein der Seite des Staates zugerechnet wird. Die Partei wird im Rahmen einer Attacke des Staates auf den Islam beziehungsweise den »radikalen Islamismus« interpretiert, der säkularisiert worden sei. Diese Variante, die ich als Säkularisierungsthese bezeichne, baut ebenfalls auf staatszentristische Annahmen auf, bringt zugleich aber eine originelle Interpretation und neue Konzepte vor, für die eine abgegrenzte Diskussion angemessen ist. Im Unterschied zur Kulturkampfthese wird als historische Leistung der AKP die Rekonstitution der »säkularen Hegemonie«, begriffen als ein gesellschaftlicher Konsens für staatliche Herrschaft und Kapitalismus, betont.

Im Widerstreit zu diesen Interpretationen der AKP im Rahmen der Dichotomie zwischen Staat und Gesellschaft steht die vierte These. Sie umfasst Studien der historisch-materialistischen Theorietradition. Die Partei und die von ihr repräsentierten Gruppen werden ebenso wie ihre Gegenspieler als gesellschaftliche Akteure begriffen, die um die Vorherrschaft im Staat kämpfen. Religion wird nicht primär als kulturelle Form, sondern als politisiertes Mittel thematisiert. Infolgedessen wird in diesem Ansatz auch die Bezeichnung »politischer Islam« verwendet. Als treibende Dynamik der politischen Entwicklung werden Klassen- und Fraktionskämpfe beziehungsweise Akkumulationsstrategien identifiziert. Kultur – im konkreten Fall Religion – wird als Instrument zur Beherrschung subalterner Klassen, als ideologisches Mittel zur Überbrückung von Klassenspaltungen oder – als Sonderfall – als kapitalbildendes Produktionsmittel begriffen. Die kämpfenden Gruppen werden als Funktionsträger oder Fraktionen der herrschenden Klasse identifiziert und ihr politisches Projekt als neoliberaler Autoritarismus bestimmt. Diese These bezeichne ich als Klassenkampfthese.

Bevor zur Diskussion übergegangen wird, ist vorauszuschicken, dass in der Darlegung der Forschungsliteratur Interpretationen, die keine theoretisch begründete Verbindung zwischen der AKP und den gesellschaftlichen Klassen herstellen, nicht systematisch berücksichtigt werden. Es handelt sich um politikwissenschaftliche und soziologische Ansätze, die den Schwerpunkt der Betrachtung auf politische oder soziale Akteure legen, die durch ideologische Motive angetrieben werden, ohne dass eine Verbindung zu den gesellschaftlichen Klassen hergestellt wird. Diese Eingrenzung ist der hegemonietheoretischen Fragestellung geschuldet, die anhand des empirischen Falls »Hegemoniebildung in der Türkei« nach der Verbindung zwischen politischen Akteuren, kulturellen-ideologischen Mitteln und den gesellschaftlichen Klassen fragt.

3.1Die Kulturkampfthese

Stellvertretend für die Kulturkampfthese sollen aus einer Fülle an wissenschaftlicher Literatur, die dieser Ansatz über die AKP hervorgebracht hat, drei Autoren herausgegriffen werden, deren Schriften zentrale Thesen versammeln. Diese Autoren sind Ahmet Insel, der die Begriffe »Normalisierung« und »Westernisierung« für die beginnende AKP-Periode eingebracht hat; Yıldız Atasoy, die den Begriff »neoliberal-islamische Synthese« geprägt hat; sowie Hakan Yavuz, Autor einer langen Reihe von Monographien und Artikeln über die AKP und den politischen Islam, der die Begriffe »Neue Türkei« und »muslimische Demokratie« geprägt hat.

Bereits im Anschluss an den ersten Wahlsieg der AKP im November 2002 argumentierte Insel: »Die AKP repräsentiert eine neue Stufe in der Westernisierungsbewegung der Türkei – die Stufe, in der die Gesellschaft involviert wird.« (Insel 2003: 305, Übersetzung E.B.)1 Nach Insel lag in der Türkei eine Trennung zwischen Staat und Gesellschaft in Form einer kulturell artikulierten Hierarchie zwischen politischen Eliten, die einer säkularen Kultur anhingen, und dem »Volk«, das gläubig und konservativ sei, vor. Während diese Beziehung schon im Osmanischen Reich die Form eines Widerspruchs angenommen habe, indem die Eliten das »Volk« aus dem Staat ausgeschlossen hätten, sei sie im »Westen« von kultureller Harmonie geprägt. Als »Westernisierung« fasst Insel die Anpassung an eine idealtypische Entwicklungslogik der bürgerlichen Gesellschaft, mit der eine »Normalisierung der Demokratie« durch Aufhebung des kulturellen Widerspruchs erreicht werde. Mit der AKP verband Insel die »historische Chance«, die Aufhebung des Widerspruchs, dadurch die Integration der Bevölkerung in den »Westernisierungsprozess« zu erreichen. Mit Blick auf das politische System erkannte Insel in der AKP die Chance, aus dem »autoritären Regime«, das mit der 1982er Verfassung nach dem Militärputsch von 1980 etabliert wurde, auszusteigen. Als Kern des Autoritarismus bestimmte er die Verschiebung des administrativen Zentrums von der zivilen zur militärischen Bürokratie. Die 1982er Verfassung heilige das Konzept Staat, was Insel als »radikalen Etatismus« bezeichnete. Die Architekten der Verfassung hätten eine politische Sphäre mit dem Staat im Zentrum und der Gesellschaft an seiner Peripherie vorgesehen. Sein Befund verweist auf die Einführung der Zehn-Prozent-Sperrklausel bei Parlamentswahlen und die Stärkung des Nationalen Sicherheitsrats, in dem die Generäle eine Stimmenmehrheit erhielten, wodurch sie eine politische Richtlinienkompetenz gegenüber der gewählten Regierung erhielten. Insel bezeichnete dies als die Etablierung eines »Vormundschaftsregimes« durch das Militär (ähnlich Atasoy 2009: 80ff.). Politische Parteien hätten den Autoritarismus akzeptieren müssen, da sie sich unter Anpassungsdruck befanden, um ihre Legitimation zu erhalten. Einzig der konservative Politiker Turgut Özal, der bei der ersten Parlamentswahl nach dem Militärputsch von 1980 zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, habe mit einem Liberalisierungsprogramm die engen Grenzen des Systems überschreiten können. Nach 1983 habe Özal eine ökonomische Liberalisierung in Gang gebracht, die vom Militär »zähneknirschend« als »Tribut an moderne Zeiten« (Insel 2003: 295) akzeptiert worden sei. Auf eine kurze Liberalisierungsphase zwischen 1983 und 1985 sei jedoch die Konsolidierung des Systems durch den verhängten Ausnahmezustand im eskalierenden Konflikt mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die einen bewaffneten Kampf führte, gefolgt. Insel nannte dieses System, in dem er eine Peripherie einem autoritären Zentrum entgegengestellt sah, in Anlehnung an den Tag des Putsches von 1980 das »12. September-Regime«. Die AKP situierte er schließlich in der Kontinuität Özals, da dieser derselben »modernizationist conservative world as today’s AKP« (ebd.) angehöre. Mit der Parlamentswahl von 2002, bei der die AKP eine absolute Mehrheit errang, sah Insel das System in die selbst gestellte Falle tappen. Während etablierte Parteien an der Zehn-Prozent-Sperrklausel scheiterten, errang die neu gegründete AKP als die Partei, die sich aufgrund ihrer »wertebasierten« Verfasstheit – konservativ-religiös, nationalistisch und liberal – in größter Distanz zum »Staat« – identisch gesetzt mit der Bürokratie – befunden habe, eine Mehrheit im Parlament. Die AKP hegte nach Insel anders als die herrschende republikanisch-autoritäre Elite, die den Staat besetzt hielt, kein Misstrauen gegenüber dem »Volk«. Sie schöpfe ihre Kraft aus der Gewissheit, Repräsentantin der kulturellen Mehrheit zu sein, womit der Weg für eine demokratische Transformation der Türkei frei geworden sei (ebd.: 303). Der Religion im AKP-Projekt maß Insel eine positive Bedeutung zu: Sie bilde ein Set moralischer Werte als Basis eines toleranten Nationalismus, der ähnlich wie der US-amerikanische Konservatismus eine Liebe zum Land ausdrücke und Differenzen zulassen könne, im Gegensatz zum säkularen, autoritären Nationalismus der Eliten, der eine Liebe zum Staat ausdrücke und Differenzen unterdrücke.

Während Insel die gesamte Geschichte der Türkei unter dem Blickwinkel einer vorgestellten kulturellen Übereinstimmung nach westlichem Vorbild interpretierte, hob Yıldız Atasoy das Element der Liberalisierung stärker hervor. Auch sie ging davon aus, dass die AKP das Volk repräsentiere und die Installierung eines politischen Modells nach westeuropäischem Muster auf der Grundlage universeller Menschenrechte und Gerechtigkeit anstrebe (Atasoy 2009: 7ff., 109ff.). Opposition zur AKP wertete sie als kemalistische Reaktionen und verteidigte die AKP gegen den Verdacht des Islamismus als der Demokratie verpflichtete und »islam-sensible Partei« (ebd.: 5). Zu einem ganz ähnlichen Schluss gelangte Hakan Yavuz, der in Auseinandersetzung mit den Thesen von Samuel Huntington (1993) und Bernhard Lewis (1961), die im Islam ein generelles Hindernis im Übergang zur Demokratie sahen, die Frage formulierte, ob es islamisch inspirierten politischen Bewegungen gelingen kann, zu Agenten der Demokratisierung und Modernisierung zu werden (Yavuz 2009; vgl. Atasoy 2009: 25). In Auseinandersetzung mit dem Argument, das Christentum sei eine kulturelle Bedingung von Demokratie, entwickelte er die modernisierungstheoretische These, dass der Islam zu einer Quelle liberaler Demokratisierung und Modernisierung werden und Islamisten sich zu Demokraten entwickeln könnten, wenn zwei Bedingungen erfüllt seien, die seiner Auffassung nach auch für westliche Demokratien gelten: die Existenz eines liberalen Markts und eines Parlaments beziehungsweise einer öffentlichen Sphäre, in der um Werte und Identitäten gestritten werde (Yavuz 2009: Preface). Diese Bedingungen sah Yavuz durch die Bildung der AKP gegeben. Auch aufgrund der selbst erfahrenen staatlichen Repression hätten ehemalige Islamisten, die für die Scharia und gegen die Demokratie mobilisierten, Demokratie und Pluralismus internalisiert und seien zu moderaten Konservativen geworden, die den Islam in Konformität zu liberalen Werten auslegten (ebd.: XI).2 Yavuz identifizierte eine konservative Revolution, die von einer Zivilgesellschaft, getragen von Intellektuellen und einer neuen Unternehmerklasse, ausgehe (ebd.: 4).

Mit der Westernisierungsthese ging also die Definition einer Norm einher, die in der Herstellung kultureller Übereinstimmung zwischen Staat und Gesellschaft beziehungsweise den Eliten und dem Volk bestehen sollte. Die AKP wurde als konservativ-demokratische Bewegung, als Bewegung einer Peripherie begriffen, die eine Gegenbewegung zu einem autoritären staatlichen Zentrum bildete.3 Auch Atasoy lokalisierte den Beginn des Konflikts im Osmanischen Reich. Sie sah eine Modernisierungsbewegung islamischer Intellektueller, die die überlegene westliche Technologie übernehmen und die islamischen Werte beibehalten wollte, seit dem 19. Jahrhundert einer zweiten Bewegung gegenüberstehen, die Islam und Fortschritt für unvereinbar hielt und aus diesem Grund sowohl die Technologie als auch die Werte des Westens übernehmen wollte (Atasoy 2009: 44ff.; vgl. Yavuz 2009: XI). Aus der zweiten Bewegung sei der Kemalismus hervorgegangen, in dessen Mittelpunkt Atasoy den Laizismus situierte, den sie als eine Zusammensetzung aus säkularem Nationalismus, Militarismus und Etatismus definierte (Atasoy 2009: 3, 26). Aus ihrer Perspektive entstanden und reproduzierten sich die Kemalisten in der Bürokratie, standen zu Beginn ihres Wirkens in keiner Verbindung mit irgendeiner gesellschaftlichen Gruppe oder Partei und handelten allein zum Zweck des Selbsterhalts und damit zum Erhalt des Staates. Im Laufe der Zeit erschufen sie eine Bourgeoisie nach ihrem Ebenbild, die Atasoy im Unternehmerverband TÜSİAD4 repräsentiert sah, der sein Dasein bis in die Gegenwart in Abhängigkeit von der Bürokratie friste. Das kemalistische Projekt belegte sie mit dem Begriff »Privilegienzirkel«, der die muslimische Bevölkerung, die die Gesellschaft ausmache, ausschloss (ebd.: 9). Diesem »Privilegienzirkel« ordnete sie schließlich eine Reihe politischer Parteien zu, die über die gesamte Republikzeit unter verschiedenen Namen existierten. In den 2000er Jahren waren dies die Republikanische Volkspartei (CHP) und die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), die die hauptsächlichen politischen Rivalen der AKP waren. In Opposition zu dieser realiter recht breiten Allianz, die von Atasoy dennoch weiterhin als »Privilegienzirkel« einer kleinen Elite konzipiert blieb, situierte sie »liberale« Kräfte. Deren Parteiengeschichte ließ sie mit der Bildung der konservativen DP (Demokratische Partei) im Jahr 1946 beginnen (ebd.: 9ff.). Insels Auffassung wich nur in der Benennung der initialen Partei ab. Bei ihm setzte die Tradition mit der konservativen AP (Gerechtigkeitspartei) ab 1960 ein und mündete über die ANAP (Mutterlandspartei) und die DYP (Partei des Rechten Weges) schließlich in der AKP. Obgleich die genannten Parteien des konservativen Spektrums seit mehr als einem halben Jahrhundert nahezu ununterbrochen alle Regierungen anführten, schätzten beide Autoren deren Bedeutung gering: Sie seien nie wirklich herrschend gewesen, die autoritär-republikanische Elite (Bürokratie) habe immer die Macht im Staate gegen die gewählten Regierungen innegehabt.

Neben einer demokratisierenden Wirkung der Politik auf die sozialen Träger der Religion durch Lernen aus Repression, parlamentarische Aushandlungsprozesse und Streit im öffentlichen Raum wurde eine demokratisierende Wirkung insbesondere der Beziehung zwischen Religion und Ökonomie unterstellt. Insel begriff den ökonomischen Liberalismus als befreienden Gegenpart zum elitären »Etatismus«, ein Zusammenhang, den Yavuz und Atasoy noch deutlicher ausformulierten. Atasoy interpretierte Neoliberalismus als einen freiheitsfördernden Prozess, da er für mehr Markt und weniger Staat sorge, somit die staatliche Unterdrückung einer genuin pluralen Gesellschaft beende (Atasoy 2009: 20ff.). Die liberalisierende Kraft des Neoliberalismus hatte ihrer Auffassung nach einen Wandel islamistischer Akteure, im Besonderen der Milli Görüş Bewegung, aus der die AKP hervorging, herbeigeführt. Mit der Abwendung von Industrieförderprogrammen, die sie als ein staatlich gelenktes ökonomisches Entwicklungsmodell fasste, das in den 1970ern auch von der Milli Görüş Bewegung noch favorisiert worden war, hätten sich diese Akteure vom Staat ab- und dem Liberalismus zugewandt.

Alle drei Autoren identifizierten als treibende Kraft hinter der AKP eine neue Mittelklasse oder Bourgeoisie, ohne eine genauere begriffliche Unterscheidung zwischen diesen beiden Kategorien vorzunehmen. Diese neue gesellschaftliche Gruppierung, die auch als »anatolische Bourgeoisie« (Yavuz 2009: 14) bezeichnet wurde, da sie aus den anatolischen Provinzen stamme, benannten sie als eigentliche Trägerin der Demokratisierung oder der »stillen Revolution« (ebd.: 10). Vertreten wurde diese Gruppe durch den Unternehmerverband MÜSİAD5, der »authentische« Werte, unter denen die Autoren die ihrer Einschätzung nach in der Bevölkerung vorherrschende Kultur verstanden, und Modernität, als die sie den kapitalistischen Entwicklungsweg nach westlichem Vorbild fassten, miteinander verband. Anders als die ältere Bourgeoisie, vertreten durch den Unternehmerverband TÜSİAD, habe sich die der AKP unterliegende neue Bourgeoisie ohne staatliche Unterstützung entwickelt, sei in ihrer Entwicklung von der Staatsbürokratie sogar behindert worden (Atasoy 2009: 114).

Neben dem Neoliberalismus sollte die Anbindung an liberale EU-Normen – die Heranführung der Türkei an die EU durch die »anatolische Bourgeoisie« – den demokratischen Wandel garantieren (Yavuz 2009: 14). Den Wandlungsprozess bezeichnete Atasoy plastisch als »Vermählung des Neoliberalismus mit dem Islam« oder als »neoliberal-islamische Synthese« (Atasoy 2009: 109). Damit verlasse die Türkei den Pfad der für osteuropäische Staaten typischen autokratischen Entwicklung, die keine kapitalistische Klasse hervorbrachte, die für Freiheit und Bürgerrechte einstand. Die Türkei biege nun in den westlichen Pfad demokratischer Entwicklung unter der Führung der neuen Bourgeoisie ein, die sich, von der staatlichen Bevormundung befreit, anschicke, eine liberale Demokratie zu installieren (ebd.: 39, 114ff.). Zugleich sah sie die religiösen Unternehmer ein »kommunitaristisches«, auf Gemeinschaftlichkeit beruhendes Gesellschaftsmodell entwerfen, das ein moralisches Gegengewicht zum »kapitalistischen Egoismus« (ebd.: 130) bilde. Einen Ausgleich zur Neoliberalisierung, zu deren Effekten Atasoy wachsende soziale Ungleichheit und Entrechtung von Arbeitern zählte, schaffe dieses Modell dank Bindungskraft einer islamischen Moral, die eine gerechtere und gleichere Gesellschaft entwerfe und von den im Verband MÜSİAD organisierten Unternehmern internalisiert worden sei. In der islamischen Moral erkannte Atasoy auch einen Ausgleich zur Gewerkschaftsfeindlichkeit dieser Unternehmer (ebd.: 131ff.).

Das »Historische« an der AKP sah Atasoy also in der Überwindung einer Repräsentationsbeziehung, die einen »Privilegienzirkel« geschaffen hatte, dem kemalistische Eliten (Bürokraten) und der Unternehmerverband TÜSİAD angehörten und der auf Kosten der »anatolischen« und »muslimischen« Bevölkerung errichtet worden war. Säkularismus oder Laizismus wurden als volksfremde und elitäre Werte begriffen, ihre Träger als Staatseliten bezeichnet, die Kultur als Mittel zur Verteidigung ihrer Machtposition einsetzten. Wie schon die Begriffe »anatolisch« und »muslimisch« andeuten, führte sie die Unterstützung für die AKP auf die Überwindung der kulturellen Unterdrückung zurück, die der »Privilegienzirkel« fortgesetzt habe. Atasoy griff in diesem Zusammenhang die Aufhebung des Verbots des Tragens eines Kopftuchs in öffentlichen Einrichtungen und die Aufhebung von bestimmten Restriktionen gegenüber der kurdischen Sprache auf, die in den ersten Regierungsjahren der AKP ergriffen worden waren. Vor dem Hintergrund der Annahme, dass die Bevölkerung überwiegend einer Form des islamischen Glaubens anhänge, zu der das Tragen eines Kopftuchs gehörte, wertete sie das Kopftuch-Verbot als Ausdruck eines pauschalen Ausschlusses der Bevölkerung aus dem Staat. Dergleichen brachte sie für die kurdische Bevölkerungsgruppe vor, die vom Kemalismus unterdrückt, von der AKP jedoch anerkannt werde. Der von ihr eingebrachte Begriff »cross-class-coalition« (ebd.: 109, 131) folgte ebenso wie der von Yavuz eingebrachte Begriff »hybrid class-coalition« (2009: 106) diesem Verständnis, wonach die AKP vermittels kultureller Inklusion dafür sorgte, dass auch MuslimInnen und KurdInnen im Staat repräsentiert würden.6 Der unter dem kemalistischen Projekt homogenisierend und autoritär wirkende Laizismus sollte unter der AKP zu einem liberalen und pluralen Projekt des toleranten Miteinanders verschiedener Identitäten werden (Atasoy 2009: 9). Die von den Kemalisten in den Bereich des Privaten gedrängte Religion fand demzufolge unter der AKP den Weg zurück in die Öffentlichkeit und wurde zum Mittelpunkt eines neuen Liberalismus, während die laizistischen Fundamente des Modernisierungsprojekts unangetastet bleiben sollten (ebd.: 19, 32).