Heidelberg – Ich dreh' mich noch einmal nach dir um - Peter Pit Elsasser - E-Book

Heidelberg – Ich dreh' mich noch einmal nach dir um E-Book

Peter Pit Elsasser

4,8

Beschreibung

1942 in den Kriegswirren im Schatten des Heidelberger Schlosses geboren. Zunächst aufgewachsen im Herzen der Stadt. Die Hauptstraße, deren Seitenstraßen, der Neckar, der Stadtwald sowie die umliegenden Plätze, Höfe und Gebäude waren in den ersten Jahren seine Reviere. Dann die Entscheidung der Eltern: Der Umzug von der belebten Hauptstraße in eine außergewöhnliche Umgebung über den Dächern Heidelbergs, mit dem Schloss, als dem schönsten Abenteuerspielplatz der Welt. Eine Gegend, die geprägt ist von historischen Plätzen, von großen Villen, klangvollen Namen und einer zu Abenteuern verführenden Natur. Die Zeiten bei den Großeltern in Handschuhsheim, die Mühltalstraße, die Gärten und der Weinberg des Großvaters gehören ebenfalls zu den kindheitsprägenden Erlebnissen. Über 260 Schwarzweiß-Bilder illustrieren die historische Zeit ebenso wie das Heute, sodass auch der jüngere Leser einen direkten Zugang zu den beschriebenen Orten und Begebenheiten findet. Ein Buch, prallvoll mit Erinnerungen und Bildern aus einer bewegenden und aufregenden Zeit in einer liebenswerten Stadt.

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In Erinnerung

an meine

Großeltern und Eltern

Für meine Geschwister

Wanda und Volker

Für meine Frau Linda

und meine Kinder

Vicky, Kim, Kelly,

Emely, Maike und

Jaemie sowie

Enkelkinder

Helene,

Rosalie

und

fol-

gen-

de

Für meine

Geburtsstadt

Heidelberg

und gegen das

Vergessen

Inhaltsverzeichnis:

Vorwort

Tagträumer, Eisgang, Lebertran

Theatercafé, Tonleitern, Hühnereis

Wohnung, Schneideratelier, Ereignisse

Eltern, Geschwister, Lebensart

Omas, Opas, Verwandtschaft

Hendesse, Stroßeboh, Mühldal

Riegers Garten, Tom Prox, Porträtsitzung

Klicker, Gegsen, Völkerball

Bauamtsgarten, Cowboys, Fastnacht

Bunsen, Engel, Roter Hahn

Riesenstein, Kanzel, Bandenkriege

Roller, Rollschuhe, Rodelschlitten

Nachbarn, Freunde, Bekannte

Neues Geld, alte Münzen, junge ‚Frauleins‘

Schule, Milch, Friseur

Bismarckplatz, Bahnhof, Begebenheiten

Chemie, Katastrophe, Überleben

CARE-Pakete, Ami-Schlitten, Auswanderer

Sume, Hochwasser, Badevergnügen

Überleben, Leben, Erleben

Flüchtlinge, Wohnungsnot, Ringtausch

Villa, Grizzly, Aussichten

Namen, Generäle, Geschichte

Freunde, Freundinnen, Schulweg

Boschwiese, Teufelskanzel, Schlossgeschichten

Stürme, Vicky, Casino

Seifenkiste, Schatzkiste, Umzugskiste

Epilog und Sahnehäubchen

Vorwort

Jede Familie hat ihre eigene Familiensaga. Nicht nur über ‚Die Buddenbrooks‘, ‚Die Hauptmanns‘ oder ‚Thyssens‘ können Bücher geschrieben werden, sondern auch über die ‚Schmidts‘, die ‚Nägeles‘ oder die ‚Elsassers‘, in deren Leben sich ebenfalls genug Stoff angesammelt hat.

Die Zutaten zu meinem kindheitsprägenden Leben sind Eltern und Geschwister, Großeltern, Onkels, Tanten, Cousins und Cousinen, sind Freunde und Klassenkameraden, aber auch die Ereignisse und die Menschen, an die man sich vielleicht nicht so gerne erinnert. Dazu gehören im besonderen Maße auch Örtlichkeiten wie Wohnungen, Häuser, Gärten, Landschaften, Plätze, Wasserläufe, verwunschene Ecken und erlebte Abenteuer. Genauso Lieder, Schlager, Filme, Klein- und Großereignisse. Ebenso die erste zaghafte Liebe und die zweite und dritte schon etwas stärkere - und das Sterben derselben und das Sterben von Menschen oder Tieren.

Ebenfalls prägend waren auch die Berufe der Eltern, das ständige und unermüdliche Nähen der Mutter auf ihrer ‚Pfaff ‘. Das tägliche Weggehen des Vaters in die riesige und anonyme Badische Anilin & Soda Fabrik nach Ludwigshafen und dass ich viele Jahre nicht wusste, was ein Dipl.-Volkswirt ist, was er in dieser Firma tut und ob das erfüllend für ihn ist.

Ich bin Gott dankbar für meine Eltern, die mir trotz der schweren Kriegs- und Nachkriegszeit, bis hin zu meinem selbstständigen Leben, alles ermöglichen wollten, was sie konnten. Das weiß ich heute umso mehr zu schätzen, da ich selbst sechs Kinder habe und erkannte, was es bedeutet, bis sie da ankommen, wo man hofft oder glaubt, dass sie ankommen sollten, könnten oder wollen. Ich bin dankbar für meine Geschwister, die mich auf ihre ganz persönliche Weise nicht unwesentlich mitgeprägt haben.

Erinnern im Alter ist wie die Wiederbelebung einer tot geglaubten Zeit. Stellt man eines Tages jedoch plötzlich fest, dass da noch Leben drin ist und es wert ist, sie einer Mund-zu-Mund-Beatmung zu unterziehen, sollte man dranbleiben. Wenn ich beim Schreiben in die Tiefen der Vergangenheit abgetaucht bin, habe ich mich aus der Gegenwart verabschiedet und die Zeit einfach so lange angehalten, bis ich wieder auftauchte, um Luft zu holen.

Jemand meiner Generation, der die gleiche Epoche in Heidelberg erlebte, ja, vielleicht sogar Mitschüler, Mitkämpfer oder Gegner unser ‚Schlachten‘ war, Mitspieler beim ‚Klickern‘ oder beim ‚Gegsen‘ gewesen ist, wird vielleicht an manchen Stellen sagen: „Das war nicht so, das war doch ganz anders.“ Andere stellen fest: „Das hatte ich längst vergessen, aber jetzt erinnere ich mich wieder.“ Dadurch werden neue, ganz eigene Bilder lebendig.

Ich hoffe, dass dieses Buch Ihnen, dem Leser, Vergnügen bereitet und Sie vielleicht motiviert, Eigenes aufzuschreiben, um es der nachfolgenden Generation zu hinterlassen. Unsere Zeit, die in so schwindelerregendem Tempo von ungeahnten technischen und gesellschaftlichen Umbrüchen geprägt wurde wie bei keiner anderen Generation zuvor, hinterlässt sonst ein großes Loch des Vergessens von Werten, Erlebnissen und Empfindungen.

Ich habe erkennen müssen, dass ich meine Eltern viel mehr hätte fragen oder ganz einfach interessierter hätte zuhören sollen.

Hier mein Rezept für das vorliegende Buchgericht:

Nimm als Basis das, an was du dich konkret erinnerst

Gieße dazu, was du durch Erzählungen erfahren hast

Ergänze es mit einer kleinen Portion Geschichte und Daten, die du am Wegesrand findest

Gebe zum Stimulieren einen kleinen Schuss Romangeist dazu

Hebe 1-2 Messerspitzen Legende zum Binden unter

Garniere es mit Bildern aus Vergangenheit und Gegenwart, die das Gelesene sichtbar, erlebbar und begreifbar machen

Das Ganze wird vorsichtig untergehoben.

Guten Appetit!

Pit Elsasser

Tagträumer, Eisgang, Lebertran

Es war mal wieder einer der Tage, an denen Volker seinen kleinen Bruder Peter in der Luft hätte zerreißen können, wenn, ja wenn er ihn schon gefunden hätte. Immer er wurde losgeschickt, um ihn zu suchen, nur weil der sich mal wieder irgendwo verspielt und die Zeit völlig vergessen hatte. Das Schlimmste aber war, dass es an diesem späten Januarnachmittag eisig kalt war und es am Vormittag kräftig geschneit hatte. Volker wollte eigentlich lieber auf dem Kohlhof sein, um mit Freunden Ski zu fahren. Doch das hatte er sich an diesem Tag selber verbockt, weil er am Morgen eine schlechte Note in der Schule bekommen hatte. Damit war ,Kohlhof ade’. Und jetzt bekam er, als Zugabe zu seiner ohnehin schon miesen Stimmung, noch das: kleinen Bruder suchen!

Peter war nach dem Kindergarten nicht nach Hause gekommen. Es fing bereits an zu dämmern, denn mitten im Januar wird es früh dunkel. Die Mutter hatte Volker beauftragt, oder besser gesagt, mehr gezwungen, mit ihr auf die Suche zu gehen.

Mit einer dicken Wut im Bauch lief Volker unwillig suchend durch die Hauptstraße, während seine Mutter durch die Landfriedstraße zum Märzgarten gehen wollte, um dort eventuell fündig zu werden.

Auf der wie immer sehr belebten Hauptstraße war es schon möglich, dass man jemanden übersah. Die Straßenbahnen fuhren in der engen Straße bimmelnd in beide Richtungen durch den Schnee. Dabei wirbelten sie links und rechts Schneewolken in die Luft und puderten die Fußgänger weiß ein. Die Gehwege waren so schmal, dass man bei den vielen Menschen aufpassen musste, nicht auf die Straße gedrückt zu werden. Die Autos machten es ebenso schwer, die Straße zu überqueren, sodass man nur sprintend dazwischen hindurchhechten konnte, wenn man die andere Straßenseite erreichen wollte. Bei dem Schnee und der Glätte in diesen Wochen war dies besonders gefährlich. Und bei alledem sollte er auch noch diesen Knirps finden.

Mit Ski auf der Hauptstraße vor dem Café Schafheutle unterwegs © Schafheutle

Nachdem er beim ,Kammer’-Kino die Straße endlich überqueren konnte, bog Volker von der lärmenden Hauptstraße in die Bienenstraße ab. Er hoffte, Peter im Bauamtsgarten zu finden. Vielleicht hat er bei einer Schneeballschlacht oder beim Bau eines Schneemannes, wie so oft, die Zeit vergessen. Volker bog nach rechts in die dunkle Toreinfahrt des Hauses Nr. 7 ab, durch die man in den verwilderten, vom Schnee bedeckten Garten gelangte. Zu dieser Zeit sah es hier recht gespenstisch und ungemütlich zwischen den Hinterhöfen der Häuser aus.

Dieser Garten vor dem Bauamt hatte für die Kinder der angrenzenden Straßen einen ganz besonderen Reiz. Erstens konnte man hier gut spielen und sich verstecken und man brauchte auf keinen Verkehr zu achten. Zweitens hatte er eine besondere Lage. Er war für die Kinder wie eine uneinnehmbare Festung. Das Gelände lag auf der einen Seite wie eine Burg hoch über der Bauamtsgasse direkt gegenüber dem Museumspark mit seinen großen majestätischen Bäumen. Von dieser Seite aus war der Bauamtsgarten nur durch einen Sandsteintorbogen mit einem Eisentor über eine steile Steintreppe zu erreichen.

Von der ca. drei bis vier Meter hohen Mauer aus konnte man, wenn man sich über deren Brüstung beugte, die Bauamtsgasse nach beiden Seiten hin gut überblicken, ohne gleich gesehen zu werden. Außerdem war es ein wahres Vergnügen, Freunde, Feinde oder Passanten mit Sand, Wasser oder im Winter mit Schneebällen zielsicher zu treffen, ohne von ihnen gesehen und erwischt zu werden.

Auf der anderen Seite, zur Bienenstraße hin, war das Gartengelände durch ein großes Mietshaus begrenzt und nur durch die dunkle Toreinfahrt über einen ansteigenden grob gepflasterten Weg zu erreichen. Dieses Holztor konnte man im ‚Kriegsfalle‘, wie auch das Gittertor an der Bauamtsgasse, schließen und zusätzlich mit Wachposten sichern. So war die Festung fast uneinnehmbar. Die Straßenbanden aus der Umgebung, vor allem die Neuenheimer, versuchten immer wieder, dieses Bollwerk einzunehmen. Vergebens.

Den tollen Halleffekt in der Einfahrt nutzend, schrie Volker jetzt wiederholt zornig: „Peeter, Peeeeter!” Nichts. Alles Rufen zeigte keine Wirkung. Ihn machte aber gleich stutzig, dass überhaupt keine Kinder im sonst belebten Garten waren. Peter blieb also wie vom Erdboden verschwunden. Volkers Zorn steigerte sich immer mehr und er malte sich schon aus, wie er es dem ‚Peterle‘ heimzahlen würde. So nannte er seinen Bruder etwas gehässig nach dem Schlager von Margot Eskens „Peterle, du liebes Peterle“, den seine Mutter so gerne im Radio hörte.

Zur gleichen Zeit lief die Mutter mit hastigen Schritten, immer mal wieder rufend, durch die ruhige Landfriedstraße zum Märzgarten. Dieser Platz mit seinen mächtigen Bäumen, Büschen und Sträuchern und einigen Parkbänken um einen großen Sandkasten war ein weiterer beliebter Treffpunkt der Kinder. Aber was heißt hier beliebter Treffpunkt. Ihre Spielplätze waren immer da, wo etwas los war, wo man Freunde fand und Pläne für neue Streiche oder Abenteuer schmiedete. Das machte das Suchen ja auch so schwierig. Peter könnte zum Beispiel auch am Bunsen-Denkmal in der Ebert-Anlage, auf dem Zickzackweg im Stadtwald oder sogar oben am Riesenstein sein. Ihr wurde beim Nachdenken ganz schwindelig. Genauso könnte er aber auch am Neckar oder am ... Plötzlich schoss es ihr ganz heiß durch den Kopf und kalt den Rücken hinunter. Der Neckar. An den hatte sie heute zuletzt gedacht, da der ja zugefroren und somit weniger gefährlich war als sonst, wenn er sein reißendes Wasser führte.

Peter ging in diesem Jahr in den Kindergarten im St.-Vincentius-Krankenhaus direkt am Neckarstaden, gegenüber der Stadthalle. Es war ein absolutes Verbot, nach dem Kindergarten an den Neckar zu gehen, und er hatte das wenigstens bisher, soweit sie wusste, auch immer eingehalten. Aber er war halt ein Träumer und hat einfach immer Zeit und Raum vergessen. Er wusste zwar, dass seine Mutter auf ihn wartete und dass, wenn er nicht rechtzeitig heimkäme, eine saftige Strafe fällig war. Aber es gab doch überall immer so viel Interessantes zu sehen. Und wen traf man nicht alles unterwegs, der einem den Gedanken ans Heimgehen schnell in den hintersten Winkel seines Hirnspeichers verschieben konnte.

Das Vincentius-Krankenhaus, wo sich damals im Erdgeschoss der katholische Kindergarten befand. Links das Restaurant ‚Vater Rhein‘, das in Sichtweite zum Neckar liegt © Pit Elsasser

Es war ein bitterkalter Winter 1946/47, wie man später feststellte der kälteste im ganzen Jahrhundert, und der Neckar war seit Wochen immer mehr zugefroren. Das Eis war mittlerweile so dick, dass die Stadtverwaltung am Tag zuvor den Fluss zum Begehen freigegeben hatte. So war er heute natürlich für die Heidelberger, und im Besonderen für die Kinder, ein beliebtes Ausflugsziel, um auf dem dicken Eis Schlittschuh zu laufen, zu glennen oder einfach mal auf die Neuenheimer Seite rüber zu spazieren, ohne eine Brücke oder das Fährschiff vom Rohrmann benutzen zu müssen. Es ging sogar das Gerücht um, dass über das Wochenende eine Kettenreitschule aufgestellt werden könnte, die das seltene Schauspiel zu einem Volksfest für Jung und Alt machen sollte.

Halb Heidelberg auf dem zugefrorenen Neckar. Ein Vergnügen für Jung und Alt in einer vergnügungsarmen Zeit

© Stadtarchiv Heidelberg

Die Mutter bog schnurstracks vom Märzgarten in die Märzgasse ab, überquerte die Hauptstraße, lief die Ziegelgasse runter und bog am Gasthaus ,Vater Rhein’ zum Neckarstaden ab, um an der Stadthalle vom hohen Ufer aus den Neckar überblicken zu können. Was sie da sah, machte sie allerdings ratlos. Wie sollte sie bei den vielen Menschen, der großen Entfernung und der schon fortgeschrittenen Dämmerung ihren Peter finden?

Die ganze Szenerie hatte etwas Unwirkliches, ja fast Bizarres an sich. Der graue Abendhimmel warf ein aschfahles Licht auf den zugefrorenen Fluss. Dort, wo sonst das bräunlichgraue Wasser in seinem Bett gemächlich Richtung Rhein gurgelte, wo sonst Schiffe das Wasser mit tuckerndem Motorengeräusch durchpflügten, war jetzt eine weißgraue Fläche. Hunderte von Menschen bewegten sich schemenhaft als dunkle Silhouetten kreuz und quer wie aufgescheuchte Ameisen über das Eis. Die Kälte, der dampfende Atem der Menschen und die vom Schnee verschluckten Geräusche taten das Ihrige zu dieser unwirtlichen Stimmung. Die langsam auf der Uferstraße dahinkriechenden Autos mit ihrem Scheinwerferlicht erhellten punktuell die Szene, als ob es eine Zirkusmanege wäre.

Peters Mutter lief suchend in Richtung der Schiffsanlegestelle Rohrmann, in der Hoffnung, irgendwo in dem Grau Peters rotweiß gestreifte Strickmütze zu sehen, die sie ihm zu Beginn des Winters aus Wollresten gestrickt hatte, um seine Ohren vor der Kälte zu schützen.

Plötzlich stand Volker vor ihr; er hatte in der Zwischenzeit die gleiche Idee wie seine Mutter. Von der Bienenstraße aus hatte er nämlich die Menschen auf dem Eis gesehen und wusste sofort, wo sein Bruder zu suchen war. „Hast du ihn noch nicht gefunden?” - „Nein”, gab Volker knurrig zurück und murmelte noch: „Wenn ich den erwische!” Dabei stieß er einen zischenden Schwall heißer Atemluft in die Kälte. „Pass auf ”, sagte die Mutter, „du suchst links und ich rechts vom Rohrmann, dann treffen wir uns wieder hier am Bootshaus.“ Unwillig und frierend ging Volker davon. Die Mutter rief ihm noch nach, dass er erst von oben, vom Gehweg aus suchen und dann auf dem Rückweg über das Eis gehen solle. Von der Straße aus hatte man einen besseren Überblick über die große Fläche. Die Dämmerung machte es aber zunehmend schwieriger, jemanden in diesem Szenario zu erkennen. Volker reagierte jedoch nicht mehr auf die Anweisung seiner Mutter und ging, ohne sich umzudrehen, zornig weiter.

Die Mutter ließ ihren Blick auf dem belebten Neckareis umherirren, und wenn sie etwas Rötliches sah, dachte sie jedes Mal schon, dass sie ihren Peter gefunden hätte. Doch plötzlich sah sie dort, wo schon die Vorbereitungen zum Aufbau des Karussells in Gang waren, eine rotweiße Mütze. Sie rief laut: „Peeeter!” Zwei-, dreimal wiederholte sie das und gestikulierte dabei heftig mit den Armen. Aber der Junge mit der Mütze reagierte nicht. Es war hoffnungslos, bei diesem Gewusel und bei den vielen Stimmen und dem Johlen der Kinder durchzudringen. Sie lief die Böschung hinunter aufs Eis, um, mit wankend schlitternden Schritten, dorthin zu laufen, wo sie Peter vermutete. Als sie näher kam, bemerkte sie jedoch bald, dass der Junge von der Größe her nicht ihr Sohn sein konnte.

Suchend ging sie weiter. In der Mitte des Flusses war das Eis glatter als am Rand, wo das gefrierende Wasser durch die Strudel und das schiebende Wasser viel mehr Eisbrocken und Unebenheiten erzeugt hatte. Außerdem machte der am Rand liegende Schnee das Eis stumpf. Hier in der Mitte war es ideal zum Schlittschuhlaufen. Wer aber hatte zu dieser Zeit, kurz nach dem Krieg, schon Schlittschuhe? Aber Schuhsohlen zum Glennen, die hatte jeder, und glennen konnte auch jeder. Vor allem die Kinder hatten ihren großen Spaß an diesem winterlichen Vergnügen.

Schlitternd, im Versuch, ihr Gleichgewicht zu halten, lief sie über das Eis auf eine Gruppe von Kindern zu, die eine lange, spiegelnde Glennbahn angelegt hatten, um mit großem Anlauf und ebenso großem Geschrei viele Meter weit wie schwerelos über die Untiefen des Neckars zu fliegen. Ein wahres Paradies für Kinder und Erwachsene in dieser kargen Zeit nach dem Krieg mit der Sehnsucht nach Fröhlichkeit, Zerstreuung und Freude. Endlich wieder ausgelassen sein können, und dann auch noch kostenlos.

In diesem Augenblick erinnerte sie sich an ihre Kindheit in Handschuhsheim. Mit Freunden hatte sie mitten auf der Mühltalstraße, beim ‚Bachlenz‘, wann immer es möglich war, eine Glenne angelegt. Dort hatte es sogar noch einen besonderen Reiz, da auf der abschüssigen Straße fantastisch lange Rutschpartien möglich waren. Ja, sie war auch immer mittendrin, und wie man erzählte, war sie meistens eine der Lautesten.

Plötzlich wurde sie aus ihren tiefen Gedanken gerissen, als ein Junge laut rief: „Aaaachtung, Peeeter, Baaaahn freeei!”, losrannte und wie ein geölter Blitz über die Eisfläche flog und dabei rief: „Aaachtung, hier kommt der neue Weltreekooordleeeeer!”

Da stand er unvermittelt vor ihr. Mit seinem Blondschopf und einem vor Erregung roten Kopf, triefender Nase und, wie könnte es anders sein, ohne seine warme Mütze. Die aufgerollten groben Wollsocken über den Stiefeln, seine Skihosen, die die Mutter für ihn aus einem Armeemantelstoff genäht hatte, und sein Anorak waren von vielen Stürzen und Rutschpartien weiß gepudert, feucht und glitzerten im schwachen Licht der Straßenlaternen, das vom Ufer her herüberleuchtete.

Die Mutter rief laut und energisch ein lang gezogenes: „Peeeter!” Nachdem das aber noch nicht gefruchtet hatte, kam ein noch lauteres, dafür aber kurzes und messerscharfes: „Peter!”

Gerade wollte dieser wieder ansetzen, um zum Anfang der Glenne zurückzulaufen, um vielleicht doch noch weitere Zentimeter zum Rekord zuzulegen, als er durch die ihm bekannte Stimme, wie vom Blitz getroffen, zusammenzuckte und wie angewurzelt stehen blieb.

Alle Schuld dieser Welt wurde ihm mit einem Schlag bewusst. Jetzt erst merkte er, wie dunkel es schon geworden war. Er fühlte schlagartig, wie kalt seine Füße und Hände, wie glühend heiß seine Ohren waren und wie die plötzlich die Beine hochkriechende Kälte ihn augenblicklich anfangen ließ zu zittern. Er spürte, wie der Druck in der Blase, den er schon die ganze Zeit unterdrückt hatte, unerträglich und nicht mehr haltbar war.

Das Schlimmste für die Mutter war, dass Peter seine Mütze nicht aufhatte und somit seine Ohren der eisigen Kälte ungeschützt ausgeliefert waren. Sie ahnte schon, was jetzt wieder auf sie zukommen würde.

Peter litt nämlich jeden Winter unter schmerzenden und eiternden Ohren. Das hatte sie schon so viele schlaflose Nächte gekostet und dem Jungen jedes Mal das Leben schwer gemacht. Mit zweieinhalb Jahren bekam er an beiden Ohren eine schwere Mittelohrentzündung und zudem noch Scharlach. Er musste in der Hals-Nasen-Ohrenklinik an beiden Ohren operiert werden. Dabei wurde ihm jeweils ein kleines Stück Knochen hinter den Ohren herausgemeißelt, sodass er an der Stelle jetzt eine kleine Vertiefung hatte. Das war damals, am Ende des Krieges, eine harte und angstvolle Zeit für die Eltern und eine lebensbedrohliche für den kleinen Jungen. Das Traurige an dieser Operation war für die Mutter im Nachhinein, dass dafür Peters goldblonde Locken, die seinen ganzen Kopf bedeckten, abrasiert werden mussten.

Nach dem gut überstandenen Eingriff und seiner völligen Gesundung wuchsen ihm nur noch glatte, leicht gewellte Haare. Vielleicht war es gerade diesem erzwungenen Haarschnitt zu verdanken, dass Peter jetzt eine dichte, schnell wachsende und meist wilde, ungezähmte Haarpracht hatte. Bei den Erwachsenen brachte ihm das den Beinamen ,Blondschopf ’ ein, den er aber überhaupt nicht leiden konnte. Außerdem hatten diese Erwachsenen dann oft noch das Bedürfnis, ihm mit der Hand, wie mit einem Kamm, durch die Haare zu fahren. Grrrr!

Für die Kinder ein Paradies, für Erwachsene eine Beschwernis - Schneechaos in der Stadt © Schafheutle

So stand er also jetzt vor ihr und glühte aus allen Knopflöchern. Schuldbewusst blickte er sie mit seinen großen blauen Augen an. Angesichts der verärgerten Mutter füllten sich diese langsam aber sicher mit dicken Tränen, liefen ihm salzig über die heißen Wangen und brachten das schon glühende Gesicht so richtig zum Brennen.

Genau in diesem Moment kam von hinten Volker an. Er hatte zwischenzeitlich auch auf dem Eis gesucht und schlug nun Peter aus Wut mit voller Wucht seine Faust in den Oberarm. Zur schmerzhaften Verstärkung des Schlages ließ er dabei immer den Knöchel des Mittelfingers aus der Faust vorstehen, damit der Schlag eine noch nachhaltigere Wirkung hatte. So! Dem hat er’s jetzt gegeben. Bei Peter öffnete dieser Schlag alle Schleusen und er heulte haltlos und laut auf.

Volker bekam von seiner Mutter dafür eine schallende Ohrfeige, die sich in der Kälte als heiße, rote Spur auf seiner Backe abzeichnete. Er ließ sich aber nichts anmerken und schluckte den Schmerz runter.

Den Peter riss sie an der Hand zu sich, fragte gleichzeitig, wo seine rote Mütze sei, warum er nicht nach Hause gekommen sei und dass er ja überhaupt keinen Grund habe, zu heulen. Sie zerrte und zog ihn mit großen Schritten Richtung Ufer, und Volker folgte mit einigem Abstand. Peters Freund, mit dem er geglennt hatte, fragte noch zögerlich, ob sie wohl morgen ihre Rekorde fortsetzen könnten. Doch der Kopf von Peters Mutter flog urplötzlich herum und sie sagte barsch zu dem Jungen: „Müsstest du eigentlich nicht auch schon längst zu Hause sein?!” Mit gesenktem Kopf und tränenfeuchtem Gesicht lief Peter ängstlich und zitternd neben seiner Mutter die Bauamtsgasse hoch in Richtung Hauptstraße.

Straßen-Gaslaterne, wie sie damals üblich war. An dem Querstab wurde bei Reinigungs- oder Reparaturarbeiten die Leiter angelegt © Gaslaterne Freilichtmuseum Nr. 13 Berlin

Gerade zündete, wie jeden Abend, der Laternenmann hier die letzten Gaslaternen an, denn mittlerweile war es schon ganz dunkel geworden. Die Kinder kannten diesen Mann; er zog mit seinem Fahrrad durch die Straßen und brachte mit einer langen Stange, an der vorne ein Haken war, die Gaslaternen zum Leuchten. Dabei wurde das einströmende Gas in den Gasstrümpfen aus nicht brennbarem Baumwollgewebe entzündet und warf nach einer gewissen Zeit ein fahles, warmes Licht auf die Straße.

Sonst grüßten die Jungs den Mann, wenn sie ihn sahen, und liefen oft einige Zeit mit ihm, immer in der Hoffnung, dass er sie auch mal, was hin und wieder vorkam, eine Laterne anzünden lasse. Aber jetzt hatten weder Volker noch Peter einen Blick für ihn übrig. Als der Mann sie hörte, drehte er sich um und sagte nur: „Holla, holla, was ist denn da passiert?“ Ohne eine Antwort zu erwarten, ging er lächelnd weiter zur nächsten Laterne.

Die glitzernden Eiskristalle auf dem rutschigen Kopfsteinpflaster erzeugten in Peters verweinten Augen ein grelles Strahlenbündel, das wie ein furioses Feuerwerk funkelte und ihm so zusätzlich noch mehr wehtat.

Volker trottete mit seiner massiven Wut im Bauch über die vielen Ungerechtigkeiten, die er wegen seines Bruders mal wieder erleiden musste, hinterdrein. Na ja, auf der anderen Seite hatte es auch etwas Gutes. So war jetzt wenigstens sein verpfuschtes Diktat an diesem Abend kein Thema mehr. „Auch gut“, dachte er so bei sich.

Die Mutter setzte Peter in der Küche auf das Chaiselongue und legte ihm fürs Erste eine warme Decke um die Schultern, damit er aufhörte zu zittern. Dann holte sie mit einem Schöpfbecher dampfend heißes Wasser aus dem ‚Schiff ‘ im Kohleherd und goss es in die Badewanne. Das ‚Schiff ‘ war ein rechteckiger verchromter Behälter, der mit der unteren Hälfte im Ofen und damit in der Glut hing, und im oberen Teil aus dem Herd herausragte. Verschlossen wurde das Ganze mit einem Deckel, der einen länglichen Griff hatte und den man nur mit einem Topflappen anfassen konnte, da er immer sehr heiß war.

Die Kupferbettflasche mit Messingverschluss und Tragebügel wurde mit heißem Wasser gefüllt. Bevor man ins Bett ging, wurde sie immer nach ein paar Minuten von oben nach unten verschoben und so das ganze Bett wohlig warm vorgewärmt © Pit Elsasser

Die gusseiserne und emaillierte Badewanne mit ihren vier geschwungenen Füßen stand auf der anderen Seite des Kamins ebenfalls in der Küche und wurde mit dem heißen Wasser ein paar Zentimeter hoch gefüllt. Die Mutter wiederholte das so lange, bis das Schiff leer war. Dann ließ sie kaltes Wasser aus dem Wasserhahn in die Wanne dazulaufen, bis das Badewasser eine angenehme Temperatur hatte. Sie zog Peter aus, der unterwegs auch noch in seine Hose gepieselt hatte, weil er es nicht mehr aushalten konnte, setzte ihn in die Wanne und rieb ihn kräftig ab, um seinen Kreislauf richtig in Schwung zu bringen. Vorher hatte sie jedoch noch neues Holz durch das Ofentürchen in die Glut geworfen und das Schiff wieder mit kaltem Wasser aufgefüllt, um später damit die kupferne Bettflasche mit heißem Wasser füllen zu können. Die nassen Kleider hängte sie erst mal zum Trocknen an die silberne Stange, die um den Ofen herum angebracht war.

Als dann die Bettflasche fertig und das Bett vorgewärmt war, legte sie den Jungen in die Federn, steckte ihm das Fieberthermometer in den Hintern, träufelte ihm Ohrentropfen in beide Ohren, stopfte kleine Wattepropfen hinterher und gab ihm noch einen Löffel Lebertran, um seine Abwehrkräfte zu stärken.

Das allerdings war zum Abschluss noch die härteste Strafe, denn Lebertran, aus der Leber von Fischen und Walen gewonnen, war eine ölige, übel schmeckende Flüssigkeit und nach dem Krieg das meistgehasste Medikament für Kinder, das einem fast zum Erbrechen reizen konnte. Protestierte man dagegen, kam meist nur ein Spruch wie: „Bös muss Bös vertreiben“ – zack, und schon hatte man den Löffel im Mund! Wie überhaupt in der schlechten Zeit Naturmedikamente und -rezepturen Hochkonjunktur hatten, da ja Medizin wenig vorhanden und zudem teuer war. So bekam Peter, als er Keuchhusten hatte, ein selbst hergestelltes und ebenfalls sehr gewöhnungsbedürftiges Mittel verabreicht. Für diese Wundermedizin wurden rote Weinbergschnecken gesammelt, in ein Sieb über einem Topf gelegt, mit Zucker bestreut und über Nacht stehen gelassen. Am nächsten Morgen lagen die Schnecken ganz klein und verhutzelt im Sieb, während ihre gesamte Körperflüssigkeit in den Topf abgetropft war. Diese zähe, jedoch im Gegensatz zum Lebertran süße Flüssigkeit wurde als Medizin verabreicht und hat anscheinend recht gut geholfen, denn der Keuchhusten wurde zunehmend besser.

Die Nacht nach Peters ‚Eisgang‘ brachte genau das, was die Mutter befürchtet hatte: Ein glühendes und vor Ohrenschmerzen jammerndes Kind, dem der Eiter aus den Ohren lief. Die Nacht wurde zum Tag und der nächsten Tag zum Pflegenotstand erhob, und das bei all ihrer Arbeit, die sie in ihrem Schneiderzimmer noch zu erledigen hatte.

Im Krankheitsfalle durften die Kinder tagsüber immer im Wohnzimmer auf der Couch liegen. Die Mutter ließ dann die kleine Tür zum Schneiderzimmer offen stehen, damit sie alles mitbekommen konnte und die ungeduldigen, oft jämmerlich verlangenden Wünsche ihrer Patienten hörte. Außerdem konnte im Winter der ‚Kanonenofen‘, der in ihrem Arbeitszimmer stand, das Wohnzimmer noch miterwärmen.

Alle Gardinenpredigten über das, was geschehen war, nützten ihr jetzt auch nichts mehr, und die Hoffnung auf Besserung und Einsicht des verträumten Jungen musste bis auf Weiteres erst einmal wieder verschoben werden.

Das abenteuerliche Erlebnis, auf dem zugefrorenen Neckar zu spielen und zu glennen, wurde durch die dramatischen Folgen für Peter nur kurzzeitig geschmälert. Nach seiner Gesundung war das ein großes und wichtiges Gesprächsthema unter Freunden, wobei die Glennen, wie beim Jägerlatein, immer länger und länger wurden und die Rekorde nur so purzelten. Vielleicht würde ja der Neckar im nächsten Winter auch wieder zufrieren, dann könnte man das alles wiederholen und sicherlich auch noch steigern. Für dieses Jahr jedenfalls war der Spaß vorbei.

Theatercafé, Tonleitern, Hühnereis

Das erste Kapitel stammt überwiegend aus dem, was man mir und anderen immer und immer wieder erzählt hat, deshalb habe ich es in der Form einer Erzählung geschrieben. Ab diesem Kapitel sind es überwiegend eigene Erinnerungen und Erfahrungen, die ich deshalb in der Ich-Form schildere.

Das Haus, in dem wir zur Miete wohnten, stand und steht noch direkt an der Hauptstraße Ecke Friedrichstraße und ist in Heidelberg als das ‚Schaffheutle‘ bekannt. Das ‚Theatercafé Schafheutle‘ galt immer als eine der ersten Adressen für beste Konditoreiwaren, Pralinen, Kaffee und Eis. Das ‚Schaffheutle’ war Treffpunkt für Kaffeekränzchen, Liebespaare, Freunde, Künstler, Theaterbesucher, Offiziere der amerikanischen Armee und natürlich auch für Touristen aus aller Welt. Da Heidelberg im Krieg ja nicht zerstört wurde und bedingt durch die Anwesenheit der amerikanischen Streitkräfte, die nach Kriegsende hier ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatten, wirkte diese Stadt wie ein Magnet auf den langsam wieder neu erwachenden Tourismus und die älteste Universität Deutschlands, die im Jahre 1386 von Kurfürst Ruprecht I. gegründet wurde.

In der viel befahrenen und engen Hauptstraße/Ecke Friedrichstraße lag das ‚Theatercafé Schafheutle‘, wo es sich auch heute noch befindet. Auf dem Bild erkennt man, wie eng es hier zuging und wie gefährlich das gerade für Kinder sein konnte © RNZ

Die Einrichtung des ‚Schafheutle‘ war für damalige Verhältnisse sehr stilvoll und fast pompös. Die Stühle, deren Sitzflächen mit rotem Samt bezogen und deren kunstvoll barocke Lehnen mit strahlenförmig geflochtenem Bast gefüllt waren, standen an runden Tischen mit weißen, frisch gestärkten Tischdecken. In der Mitte des Tisches waren auf einem zusätzlich aufgelegten Spitzendeckchen ein schweres silbernes Gefäß mit Zucker sowie eine Vase mit täglich frischen Blumen dekoriert. Auch die Vorhänge an den Fenstern mit ihren Wolkenstores, bogenförmigen Schabracken und seitlich gerafften Übergardinen waren aufwendig gemacht und gaben, im Zusammenspiel mit dem dunklen Teppich, den Räumen den typischen Saloncharakter eines Wiener Caféhauses, den man in jener Zeit so schätzte.

Die Einrichtung im ‚Schafheutle‘ hatte den Charme eines echten Wiener Caféhauses © Schafheutle

Die Meißner Porzellanfiguren in den barocken Schränkchen mit gewölbten Glastüren in den Raumecken schienen das Treiben im Raum neugierig zu betrachten.

Elegante Wandlampen mit geschwungenen silbernen Haltern und weißen Schirmchen gaben den mit dunklem Holz verkleideten Fensterfüllungen und Raumdurchgängen ein edles Ambiente. Stilgerecht und harmonisch abgerundet wurde das Bild durch die Kronleuchter mit kleinen Schirmchen auf Kerzenbirnen.

Ging man ins ‚Schafheutle‘, wurde man gesehen, und man sah all die anderen ‚wichtigen‘ Menschen aus Heidelberg und Umgebung. Immer wieder hörte man zwischen dem allgemeinen Raunen vieler Gespräche ein plötzliches Rufen und überraschtes Begrüßen von schon lange nicht mehr gesehenen Freunden und Bekannten. Dies hatte zur Folge, dass die Köpfe der anderen Cafébesucher, ohne dabei das eigene Gespräch zu unterbrechen, blitzschnell in diese Richtung schwenkten, um zu sehen, wer da wen begrüßt und ob man vielleicht die Person nicht auch kennen könnte.

Der Eingangsbereich des Cafés mit seinen Schwingtüren wurde auf der rechten Seite beherrscht von der großen, mit den besten Pralinen und Kuchen gefüllten Glastheke. Hinter der Theke stand meistens die ‚Seele des Hauses‘ - Else Schafheutle - gut gebräunt, mit einer festen kräftigen Stimme mit dem leichten saarländischen Zungenschlag, ihren strahlenden Augen und ihrem charakteristischen freundlich-hellen Lachen. Sie bediente ‚ihre‘ Kunden ausgesprochen zuvorkommend und kompetent. Sie kannte fast jeden mit Namen und erkundigte sich, während sie den georderten Kuchen und die Pralinees richtete, nach deren Befinden, dem von Familienangehörigen oder Freunden. Ohne sie konnte man sich das Café gar nicht vorstellen. Sie war das ’Schafheutle’ und prägte diese besondere Atmosphäre mit ihrer offenen sympathischen Persönlichkeit.

Die meist jungen Bedienungen mit ihren schwarzen engen Röcken, weißer Bluse und dem kleinen, spitzengeschmückten Schürzchen, unter dem sie in einer zweiten schwarzen Schürze den Geldbeutel trugen, waren bestens geschult und ebenso freundlich wie ihre Chefin.

Das ‚Schafheutle‘ bei Nacht mit seiner damals modernen Neonlichtanlage © Schafheutle

Vom Eingangsbereich führte links ein großer Durchgang zum Sitzbereich des Cafés. Die Glasvitrinen in der Trennwand zwischen den Räumen erlaubten einen Durchblick, der oft schon dazu benutzt wurde, auszumachen, ob ‚seine Verabredung‘ schon da ist und wo sie sitzt. In diesen Vitrinen standen, schön dekoriert, feinste Figuren aus Meißner Porzellan und kunstvoll verzierte Pralinenpackungen mit goldenen Schleifchen und kleinen Röschen.

Otto Schafheutle war der Gebieter über die Backstube und die Chokolaterie, die sich hinter dem Café im Nachbargebäude in der Friedrichstraße befand. Er war der ruhige, ja fast aristokratisch wirkende Herr über die Qualität und das Aussehen der Waren. Unter seiner kompetenten Leitung wurden die ausgefallensten und feinsten Kuchen und Torten gebacken. Die Pralinen hatten ihren Ruf weit über Heidelberg hinaus und waren ein begehrtes und wertvolles Mitbringsel zu allen festlichen Gelegenheiten. Wenn dann der oder die Beschenkte auf das Etikett sah und ein lang gezogenes “Aaah, vom Schafheutle” hauchte, wusste man, dass man einem wirklichen Kenner genau das Richtige geschenkt hatte, der das zu schätzen weiß.

Den Beinamen ‚Theatercafé’ erhielt das ‚Schafheutle’ durch seine Nähe zum Theater. Dessen Haupteingang lag zwar in der Theaterstraße, aber sein Bühnen- und Künstlereingang war nur wenige Meter vom Café in der Friedrichstraße entfernt. Hier versammelten sich vor oder nach den Theaterauführungen gerne die Besucher, und vor allem auch die Künstler. Nach den Anspannungen der Proben und Aufführungen und dem Kampf gegen das Lampenfieber wollte man sich hier ablenken, erholen oder über die Vorführung und den Stoff diskutieren. Dabei sonnten sich die Eleven genüsslich auf dem Markt der Eitelkeiten und genossen die bewundernden Blicke der anderen Cafébesucher. Diese wiederum erzählten dann gerne im Bekanntenkreis, dass sie direkt neben ‚dem‘ oder ‚der‘ gesessen haben, was wiederum eine bewundernde Aufmerksamkeit auf sie zog.

Es war immer ein Kommen und Gehen in Heidelbergs bekanntem Theater– café. Hier verkehrten einfache Menschen ebenso wie berühmte oder noch berühmt werdende Persönlichkeiten © Schafheutle

Frau Schafheutle war eine begeisterte Theaterbesucherin. Sie hatte natürlich ein Abonnement und ihren angestammten Platz in der ersten Reihe des wunderschönen barocken Theaters. Ihr Urteil galt etwas. Da konnte es schon mal vorkommen, dass ein Schauspieler im Freundeskreis mit Stolz verkündete: „Frau Schafheutle hat gelacht.“

Nach Premieren beherrschte eine ganz besondere Spannung die Luft des Cafés. Dann saßen die Künstler und ihre engsten Freunde nach dem Schließen des Cafés bis in den späten Abend in kleiner Runde beisammen und diskutierten über die Aufführung. Weiter ging es dann oft noch bis in die frühen Morgenstunden in der Wohnung unserer Eltern. Hier wartete man bei einem Glas Wein, einem Cognac oder einer Tasse Kaffee auf die ersten druckfrischen Ausgaben der ‚Rhein-Neckar-Zeitung‘ und des ‚Tageblatts‘, um die Kritiken im Feuilleton zu lesen. Je nachdem, wie diese ausfielen, wurden sie wutschnaubend zerrissen, heiß diskutiert oder mit stolzgeschwellter Brust aufgesaugt. Aber egal wie, wieder einmal hatte man es geschafft, zum Gesprächsstoff in der ganzen Stadt zu werden.

Da meine Eltern ein Klavier in der Wohnung hatten und einige der Künstler Opernsänger oder Sängerinnen waren, wärmten diese häufig am späten Nachmittag bei einem ‚spontanen‘ Besuch ihre Stimme vor dem nächsten Auftritt auf, um dann gut eingesungen durch den Bühneneingang in der Friedrichstraße direkt ins Theater zu verschwinden. Fast immer hatten sie einen Schal um den Hals geschlungen, sogar im Sommer, um ja nirgends einen Windzug zu bekommen, der die Stimme beeinträchtigen könnte.

Das Tonleitersingen oder das Arienschmettern nervte Volker und mich ganz gewaltig. Wir verstanden sowieso nicht, dass man singen muss, wenn man etwas sagen wollte. Am schlimmsten empfanden wir die Koloraturen der Sopranstimme von Lotti Diehl, einer Freundin unserer Mutter, die in den Ohren richtig schmerzten. Dagegen faszinierte uns ihr Chow-Chow, den sie immer mitbrachte, denn der hatte eine blaue Zunge und so ein kuscheliges Fell. Während sie übte, spielten wir mit ihm in unserem Zimmer. Lotti war eine temperamentvolle Frau und hielt mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg. So hatte sie sich bei meiner Mutter einmal unbeliebt gemacht, als sie nach meiner Geburt bei ihrem Besuch im St. Elisabeth zu ihr sagte, sie habe noch nie so ein hässliches Baby gesehen wie mich.

Am liebsten von allen war uns der Sänger Fred Dahlberg, der eine wunderschöne tiefe Bassstimme besaß und mit ihr auch beim Sprechen regelrecht zu spielen verstand. Seine Stimme schmerzte vor allem nicht in den Ohren. Er war immer gut aufgelegt und machte gerne viel Blödsinn mit uns. Die größte Freude hatten wir, wenn er das Lied ‚Im tiefen Keller’ anstimmte und wir Buben mit unseren Kinderstimmen versuchten, genauso tief runterzukommen wie er, was uns natürlich nie gelang.

Für die Kinder der Friedrichstraße war es etwas Besonderes, mit Doris und Rudi, den Kindern von Schaffheutles, befreundet zu sein. Aufregend war zum Beispiel, wenn die beiden Geburtstag hatten und diesen im geschlossenen Café feiern durften. Dann wurde eine große Tafel aufgebaut, an der die ganze Gästeschar mit herrlichen Kuchen und Kakao verwöhnt wurde. Einer der Höhepunkte war dann die ‚Eisbombe‘. Das war eine große halbkugelförmige Silberschale, die bis zum Rande mit verschiedenen, natürlich selbst hergestellten Eissorten gefüllt war. Aus dieser bekam jeder in seinen vor ihm stehenden Silberbecher eine ordentliche Portion. Diese Köstlichkeit wurde dann mit einem flachen silbernen Eislöffel voller Genuss ausgelöffelt.

Die Backstube, in der normalerweise die Konditoren köstliche Kuchen und Eis herstellten, wurde an Geburtstagen zum Schattentheater und Spielraum umfunktioniert © Schafheutle

Eine Besonderheit dieser Geburtstage war auch, dass in der Backstube eine kleine Bühne aufgebaut wurde, auf der an einer Querstange, das war zum Beispiel ein Ofenschieber, ein Bettlaken wie ein Vorhang aufgehängt war. Hinter dem Bettlaken wurde in einem bestimmten Abstand eine Lampe aufgestellt. Wenn man sich zwischen Bettlaken und Licht stellte, warf der eigene Körper Schatten auf die ‚Leinwand‘. Diese Schattenspiele, bei denen jeder, allein oder in einer Gruppe, mitspielen konnte, waren echte Stimmungsmacher und bei allen Geburtstagsgästen beliebt. Da wurden die schönsten Liebesszenen, die grauslichsten Morde und die spannendsten und wildesten Western dargestellt und mit großem ‚Hallo‘ und Applaus der Gäste begleitet.

An Fastnacht wurden in dieser Zeit noch fröhliche und ausgelassene Feste veranstaltet. Dazu war das Café mit Luft schlangen und den typischen Ziehharmonika-Girlanden geschmückt. Diese Fastnachtsfeiern waren nur für Erwachsene, und unsere Eltern waren meistens dabei. Sie brauchten ja nur die Treppe runterzugehen, um in den bunten Trubel einzutauchen. Volker und ich schlichen uns manchmal heimlich die Treppe runter und schauten durch die Tür in der Kaffeeküche zu, in die man vom Treppenhaus aus gelangen konnte. Zu später Stunde nahmen alle an der Polonaise durch das Café und die angrenzende Backstube teil, vorneweg die Musik und Otto und Else Schafh eutle.

Das ‚Schafheutle‘ hatte hinter dem Haus, zwischen der Providenzkirche und dem evangelischen Kindergarten, einen großen Nutzgarten. Hier wurden alle möglichen Gemüsesorten für den Privatgebrauch und auch Blumen für die Vasen auf den Tischen im Café angepflanzt. In der hintersten Ecke war ein Hühnerstall mit Freigehege, aus dem die frischen Eier für die private Küche der Familie kamen. Heute ist dieses Gelände das Gartencafé mit beheiztem Wintergarten, ein beliebter Treffpunkt für Jung und Alt.

Der Hühnerstall im Garten hatte für uns einen nicht ganz uneigennützigen Nebeneffekt. Da gab es nämlich Hühner, die anstatt Eier für uns Kinder Eiskugeln legten. Wenn es bei uns Salat gab, durfte ich den Abfall in einer Schüssel den Hühnern bringen. Vorher hielt ich aber im ersten Stock an und ging in die große private Küche der Schafheutles, die direkt vom Treppenhaus aus zu erreichen war. Hier arbeiteten die Mutter von Frau Schaffheutle, die Küchenhilfe Anni und das Kindermädchen Alma.

Für ein ‚Zehnerle‘ aus der Badischen Besatzungszone bekam man eine Kugel Eis

Ich machte nach dem Anklopfen die Tür auf und sagte laut und wichtig: „Gell, ich bring den Hühnern widder Salat zum Fresse.“ Frau Jungblut, so hieß die Mutter von Frau Schafheutle, hatte, wenn sie mich sah, immer einen Spruch auf Lager, den sie melodisch zu mir in Dialekt sagte: „Der Peter aus Saarbrücken hat ‘nen Sack voll Mücken ...“ Danach kam das, worauf ich natürlich spekuliert hatte: „Ja, ja, iss gut, wenn zurückkommsch, kommsch noch a mal rei, dann griegsch e paar Kugeln Eis in dei Schüssel“, und das war in der kargen Zeit ein echter Wohlgenuss. Eis konnten wir uns für 10 Pfennig die Kugel auch direkt in der Kaffeeküche kaufen. Da erinnere ich mich noch, dass es zu dieser Zeit 10 Pfennige als Papiergeld gab. Da ja alles Metall für den Krieg gebraucht worden war, wurden selbst so kleine Werte auf ziemlich schlechtes Papier gedruckt.

Heidelberg hatte in jener Zeit eine lebendige Caféhauskultur. So gab es in der Stadtmitte neben dem ‚Café Schafheutle‘ noch weitere sehr beliebte Cafés, die mir geläufig sind, da ich als kleines Kind oft mitgenommen wurde.

Da war zum Beispiel das ‚Cafasö‘ in der Hauptstraße/Ecke Fahrtgasse, das über zwei Stockwerke ging. Eine besondere Attraktion ließ mich immer wieder neu staunen. Es war der gläserne Flügel, der im Eingangsbereich stand und auf dem live Caféhausmusik gespielt wurde. Das ganze Innenleben eines Flügels konnte man so betrachten und während des Spiels die Vorgänge und Bewegungen der Hämmer, die die Saiten anschlugen, erleben.

Das Café ‚Scheu‘, ein gemütliches kleines Café, das in der Hauptstraße/Ecke Untere Straße lag, war ein ebenso beliebter Treffpunkt für den lebensnotwendigen, mit Kaffee und Kuchen versüßten Informationsaustausch.

In der Unteren Straße/Ecke Haspelgasse war das ‚Café Knösel‘, das erste Café Heidelbergs. Ein traditionsreiches Haus mit einem eleganten Ambiente. Hier wurde 1863 der berühmte ‚Heidelberger Studentenkuss‘ ein leckeres Schokoladenkonfekt, erfunden. Die Geschichte, wie der Konditormeister auf die Idee kam, erfährt man aus der Werbung der noch heute in der Haspelgasse befindlichen Chocolaterie:

Die ‚Chocolaterie Knösel‘ in der Altstadt mit dem Erkennungszeichen des ein junges Mädchen küssenden Studenten – oder umgekehrt? © Chocolaterie Knösel Foto: Pit Elsasser

„Im Herzen der Altstadt liegt die älteste Chocolaterie und das traditionsreiche Café Knösel. 1863 gegründet, wurden sie bald zum beliebten Treffpunkt der Heidelberger Gesellschaft. Denn alle schätzten den humorvollen Fridolin Knösel, Chocolatier und Konditormeister mit Leib und Seele, und seine exquisiten Confiserien.

Vor allem die jungen Damen der vornehmen Pensionate liebten seine süßen Versuchungen und gingen dort ein und aus. Dies wiederum beobachteten die Studenten aufmerksam. Angezogen von den hübschen Besucherinnen, kamen auch sie immer zahlreicher. War es da verwunderlich, dass sich die jungen Leute hoffnungsvolle Blicke zuwarfen? Doch die Mädchen waren stets in Begleitung ihrer wachsamen Gouvernanten.

Fridolin Knösel mit seinem großen Herzen entging die heimliche Sehnsucht der jungen Leute nicht. Einfallsreich, wie er war, überraschte er sie eines Tages mit einem besonders feinen Chocoladenkonfekt, das er schmunzelnd Studentenkuss nannte. Als Präsent überreicht, war es eine Geste der Verehrung - so fein und galant, dass selbst die gestrengen Gouvernanten nichts dagegen einwenden konnten.

Fortan ließen sich süße Botschaften diskret übermitteln. Sehr zur Freude der Studenten und Mädchen, die mit dem Studentenkuss von der Erfüllung ihrer Wünsche träumen durften.“

Eine schöne Geschichte, in die man sich so richtig hineinfühlen kann und die so wunderbar zu Heidelberg passt. Sie erzählt von dem, was Heidelberg ausmacht – ein lebendiges junges Flair, das durch die Universität und ihre Studenten immer wieder neu mit jungem frischem Geist und kreativem Leben gefüllt wird.

Einige der Cafés haben bis heute überlebt, andere wurden leider geschlossen oder von modernen Caféhaus-Ketten übernommen.

Dieses Ölbild von Heidelberg (1931), von der Molkenkur aus gesehen, begleitet mich mein Leben lang. Es ist von dem Maler Adolf Hacker, der in Heidelberg lebte und als ‚Schnellmaler‘ bezeichnet wurde, da er sogar aktuelle Ereignisse wie den Rathausbrand 1908 noch in der Nacht auf mehreren Bildern festhielt und am nächsten Tag verkaufte © Repro Pit Elsasser

Wohnung, Schneideratelier, Ereignisse

Die Wohnung im 2. Stock des Hauses Friedrichstraße 94 war recht groß. Sie hatte vier Zimmer, eine Küche, einen großen Flur und eine außerhalb der Wohnung liegende Toilette in einem kleinen Verbindungsflur. Zu ihr hatten auch andere Bewohner des Stockwerkes Zugang. Um auf die Toilette zu gelangen, hätten wir normalerweise durch die Wohnungstür gehen müssen. Da aber unsere Küche ein Fenster in den kleinen Verbindungsflur hatte, stiegen wir immer da durch, um den langen Umweg zu vermeiden.

Zentrum der Wohnung war die große Wohnküche. Hier standen der Kohleherd, der Gasherd, der Esstisch mit Stühlen, ein Küchenbuffet, ein Chaiselongue und eine frei stehende weiß emaillierte Badewanne auf geschwungenen Füßen. Darüber hing ein weißer Vaillant-Gasboiler, der für warmes Badewasser sorgte. Um Gas zu bekommen, musste man in der Drogerie ‚Gasmünzen‘ kaufen und in den Gaszähler werfen, ähnlich wie bei einer Parkuhr, damit für eine bestimmte Zeit das Gas in den Kochherd und den Boiler strömen konnte.

Der Boden in der Küche war ein roter Asphaltbelag, der von Zeit zu Zeit immer wieder gebohnert werden musste. Danach wurde er, genau wie die anderen Böden in der Wohnung, mit einem Blocker poliert. Ein Blocker ist ein schweres, bürstenähnliches Gerät mit Besenstiel und ganz kurzen Borsten. Durch ständiges Hin- und Herziehen wurde so der Boden zum Glänzen gebracht. Das war meistens Volkers und meine Aufgabe, die wir nur mit viel Murren ausführten. Danach war der Boden schön glatt und glänzte wie eine Speckschwarte. Mit Socken ließ sich darauf herrlich glennen und man konnte sogar mit Rollschuhen fahren, was dem Boden wegen der Metallrollen allerdings nicht so gut bekam.

Auf dieser ‚Pfaff 130‘ hat unsere Mutter in Jahrzehnten unzählige Kleidungsstücke in Tag- und Nachtarbeit genäht, um die Familie über die Runden zu bringen © Pit Elsasser

Von der Küche aus gelangte man ins sogenannte kleine Zimmer, das Schneideratelier unserer Mutter. Hier standen ein großer Bauerntisch mit gedrechselten Beinen, ein Regalschrank, ein Kanonenofen, die Schneiderpuppe und natürlich die schwarze Pfaff-Nähmaschine 130, an der die Mutter tage- und nächtelang unermüdlich trippelte, um die Familie finanziell über Wasser zu halten. Die Maschine war ihr Heiligtum. Hatte sie sich diese doch von ihrem ersten, schwer erarbeiteten Geld nach ihrer Schneiderlehre gekauft, um sich selbstständig zu machen.