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Sie ist Natur pur und übersät mit Heidekraut und duftenden Kiefern - die Dübener Heide. Doch das Idyll verbirgt ein Geheimnis: ein Mörder ist am Werk, und während er gejagt wird, schlägt er erneut zu. Ein Fall für die Sabnitzer Apothekerin Mariella Rabner und Veit Hütter von der Delitzscher Polizei.
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Sylke Tannhäuser
Heidetod
Ruhrkrimi-Verlag
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2023 Sylke Tannhäuser
© 2023 Ruhrkrimi-Verlag
Taschenbuch: ISBN 978-3-947848-72-0
e-Book: ISBN 978-3-947848-73-7
Originalausgabe /06/2023
Titelfoto: © Verein Dübener Heide e. V.
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Sylke Tannhäuser wurde in Leipzig geboren, wuchs in Zittau auf und kehrte nach dem Abitur nach Leipzig zurück. Die studierte Betriebs- und Verwaltungswirtin lebt in Leipzig und Löbnitz. Sie betreibt eine Schreibschule und hat zahlreiche Kurzgeschichten und Romane veröffentlicht.
Eins
Vampire, dachte Mariella. Saugen einen aus, bis man keine Energie mehr hat. Loriana Teziano war so ein menschlicher Vampir. Mariella hier, Mariella da – Lores Geplapper brachte sie dazu, die Stirn zu runzeln. Sie hatte ihr untersagt, ohne Grund in der kleinen Apotheke im Erdgeschoss ihres Wohnhauses aufzutauchen und sie von der Arbeit abzuhalten, doch Lore hielt sich nur selten daran. Wie sie auch alle anderen Bedingungen ignorierte, unter denen sie ihr das Mansardenzimmer unter dem Dach vermietet hatte. Sie reinigte die Treppe nicht, stapelte Taschen und Schuhe im Eingangsbereich, und freitags wummerten die Bässe ihrer Lieblingsmusik durch das Haus. Nicht zum ersten Mal erwog Mariella, dem jungen Mädchen den Mietvertrag zu kündigen, aber sie brauchte das Geld. Die Apotheke warf nicht genug ab, um davon zu leben, also musste sie sich arrangieren. Vielleicht würde sie als Angestellte in einer anderen Stadt mehr verdienen, wäre da nicht das Erbe, dem sie sich verpflichtet fühlte. Sie führte das Geschäft in fünfter Generation, das bedeutete eine ganze Menge. Für sie in erster Linie Verpflichtung, aber für die Sabnitzer Dörfler war die Apotheke eine Institution, an die sie sich gewöhnt hatten. Wie man an einem alten Brauch hängt.
Donnergrollen unterbrach ihre Gedanken, und ein Krachen, als würde sich die Erde spalten, ließ das alte Haus erbeben.
»Mamma mia.« Lore bekreuzigte sich.
»Der Sturm wird stärker.« Mariella trat ans Fenster und starrte in das Dunkel auf dem menschenleeren Anger, der jetzt zu einem kleinen See geworden war, in den ohne Unterlass dicke Tropfen platschten, die im Laternenlicht schimmerten wie Glasperlen.
Eine feuchte Nase stieß gegen ihre Hand, und sie wandte den Blick nach unten. Juan, ihr treuer Freund, ein Mischlingsrüde mit Schlappohren und einem Fell, das die Farbe von Stroh hatte. Er wedelte mit dem Schwanz und schaute sie mit schräg gelegtem Kopf an.
»Morgen«, vertröstete sie ihn. Sie hoffte, das Gewitter wäre dann vorbei. Als hätte der Hund sie verstanden, verkroch er sich in den Korb neben der Theke, das rechte Ohr hoch aufgerichtet, das linke nach unten geknickt. Mariella lächelte gerührt.
»Papa mag Antonio nicht«, setzte Lore das Gespräch fort. »Weil er Pizzabäcker ist und nichts von Eis versteht.«
Signore Teziano besaß mehrere Eisdielen, eine davon mitten im Dorf.
»Seit wann kümmert es dich, was dein Vater sagt?«
»Ich will nur Frieden. La famiglia ist uns heilig, das weißt du doch.«
»Natürlich.« Mariella erwog, Lore daran zu erinnern, weshalb sie nicht in der pompösen Villa der Tezianos wohnte, sondern in einem kleinen Zimmerchen mit undichten Fenstern, doch sie ließ es sein. »Ich mache mir einen Tee. Möchtest du auch eine Tasse?«
»Nur, wenn du nicht wieder Schafgarbe mit Kümmel und Zitrone mischst.«
»Kreuzkümmel und Limette«, berichtigte Mariella, während sie in der angrenzenden Kochnische zu hantieren begann. Der kräftige Geruch nach einer Sommerwiese durchzog den Verkaufsraum.
»Was ist das?«, fragte Lore mit hochgezogenen Augenbrauen, als sie eine der Tassen entgegennahm.
»Heuaufguss mit Himbeeren, gut für die Nerven.«
»Als ob ich so etwas nötig hätte.« Lore kostete. »Papa will mich zu meinem Onkel nach Palermo schicken. Ich weiß genau, was er vorhat. Onkel Matteo hat viele Freunde, und jeder davon hat mindestens einen Sohn. Er will mich verkuppeln, doch da spiele ich nicht mit.«
»Palermo? Das ist die Hochburg der Cosa Nostra.«
Lore strich sich eine ihrer widerspenstigen schwarzen Locken hinters Ohr. »Wen interessiert das schon. Hast du mir überhaupt zugehört? Ich soll verschachert werden wie eine Leibeigene.«
»So schlimm wird es schon nicht werden.«
Lore verzog den Mund. »Das sagst du. Ich bleibe hier, Deutschland ist meine Heimat, basta. Hier fühle mich hier sehr wohl, außerdem kann ich dich nicht allein lassen, du schuftest dich sonst zu Tode. Jemand muss auf dich aufpassen.«
»Ich habe Juan.«
»Einen Hund.« Lore rümpfte die Nase. »Weißt du, was du brauchst? Einen Mann.«
Mariella wandte sich ab, um die Tassen zu spülen. Ihre letzte Beziehung war drei Jahre her, und längst war sie bereit für eine neue Liebe, aber wo sollte sie die finden? In Gedanken ging sie die jungen Männer des Dorfes durch: Anton, den Fleischergesellen. Mark, mit dem sie zur Schule gegangen war. Heiner Valk, der vor einem Jahr als neuer Erzieher im Kindergarten angefangen hatte. Keiner reizte sie.
Lore räusperte sich. »Antonio hat mich gefragt, ob ich ihn heiraten will.«
»Du bist bestimmt glücklich darüber.«
»Klar«, sagte Lore zögernd.
Mariella zog die Brauen hoch. »Ich denke, du liebst ihn?«
Der nächste Tag war ein Sonnabend. Wochenende. In der Nacht hatte sich der Sturm gelegt, und gleich in der Früh hatte Mariella einen Rundgang um das Haus gemacht. Erleichtert hatte sie festgestellt, dass das alte Ziegeldach unbeschädigt geblieben war. Sie hatte die grünen Fensterläden abgewischt und das überschüssige Wasser aus den Blumenkübeln geschöpft. Auch um die vom Sturm gebeutelten Pflanzen hatte sie sich gekümmert, geknickte Stängel abgezupft, abgefallene Blütenblätter zusammengekehrt. Vor allem die Pelargonien waren arg mitgenommen, doch sie würden sich wieder erholen.
Nun saß sie am Frühstückstisch und kaute an einem Marmeladenbrötchen. Der Mitteldeutsche Rundfunksender berichtete von zahlreichen Schäden; ganze Ortschaften waren von der Außenwelt abgeschnitten. Bad Düben, Laußig, Zschepplin und mehrere Flecken, die zu Eilenburg gehörten. Auch in Sabnitz hatte das Unwetter seine Spuren hinterlassen, doch wenigstens war die Stromversorgung gesichert, und auch die Straßen waren befahrbar.
»Gute Aussichten.« Mariella kraulte Juan den Rücken und beeilte sich, ihr Frühstück zu beenden und nach draußen zu kommen.
Als sie die Haustür öffnete, fuhr der Wind in den Flur. Juan zerrte an der Leine und kläffte. Irgendwo im Dorf antwortete ein anderer Hund, ansonsten herrschte Stille. Als ob sich der Ort erst von der Nacht erholen müsste, dachte Mariella. Anscheinend hatten die meisten Sabnitzer noch nicht begonnen, ihre Häuser und Grundstücke auf Sturmschäden hin zu begutachten und sie zu beseitigen, denn sonst wäre mit Sicherheit das Geknatter von Motorsägen und ähnlichen Gerätschaften zu hören.
Mariella beschloss, zu den Ausläufern der Dübener Heide zu wandern, die gleich hinter dem Dorf begannen. Seit jeher war das ihr Lieblingsziel, wenn sie mit Juan unterwegs war. Sie mochte das Gebiet, das jedermann kurz Heide nannte, obwohl sich ein Außenstehender darunter eher eine Ebene mit Erikapflanzen vorstellen würde, statt einen ausgedehnten Wald. Sie mochte auch die Bäume, die sich wie Zeugen der Vergangenheit in den Himmel reckten und ihr das Gefühl gaben, in einem beschützten Tal zu leben. Das Gesicht in die Sonne gereckt, schritt sie flott aus. Immer wieder musste sie aufpassen, dass sie auf dem schmalen Pfad, der von Sabnitz zum Wald führte, in keine Pfütze trat, aber nach einem Marsch von zwanzig Minuten hatte sie den Saum des Waldes erreicht. Erst dort löste sie Juans Leine, und als hätte der nur auf eine Gelegenheit gewartet, verschwand er augenblicklich im Unterholz.
Der Orkan hatte den Wald schwer getroffen und eine Schneise in ihn geschlagen. Entwurzelte Bäume ächzten und knirschten bei jeder Luftbewegung. Es duftete nach Harz und Kiefernadeln. Fast wie zu Weihnachten, wäre da nicht auch der Geruch von feuchter Erde gewesen. Modrig und mit einer Ahnung von Verfall. Eine unheimliche Stimmung lag über allem.
Mariella hielt sich links und lief zu dem Sandweg zurück, der sich am Waldesrand entlang zog und der von Bauern und Forstarbeitern als Fahrstrecke genutzt wurde. Weit voraus blitzte Juans helles Fell durch das Gestrüpp. Vermutlich war er auf der Jagd nach Fröschen und Mäusen, von denen es hier nur so wimmelte.
Außerhalb des Schattens der Bäume roch es nach frischem Grün. Als hätte sich die Natur gewaschen. Tief atmete Mariella ein.
Unvermittelt brach Juans Bellen ab, gleich darauf hörte sie ihn winseln. Sie stürzte ihm nach und fand ihn schließlich vor einer umgestürzten Kiefer sitzend und aufgeregt mit dem Schwanz wedelnd vor. Bei ihm angekommen, hockte sie sich neben ihn und umarmte ihn. »Du hast mir ja einen Schrecken eingejagt.«
Juan schnappte nach einem Zweig und zerrte daran. Mariella lächelte, doch ihr Lächeln erstarb, als sie etwas Rundes zwischen Ästen und Gräsern erkannte. Einen Kopf, direkt unter dem Stamm. Lange schwarze Haare hatten sich in den Zweigen verfangen. Das Gesicht war von den Kiefernadeln verdeckt, aber nicht weit genug, um zu verbergen, wie verunstaltet es war. Durch ein Loch in der Wange schimmerten weiße Zähne.
Mariella stieß Juan beiseite, nestelte ihr Handy aus der Jackentasche und wählte die 112. Aus der Notrufzentrale meldete sich eine Männerstimme.
»Ich habe einen Kopf gefunden, im Wald«, stieß sie hervor. »Er liegt unweit des Forstweges hinter den Wiesen in der Nähe von Sabnitz, am Rand der Dübener Heide. Aus dem Dorf raus und dann am Waldrand entlang. Nur ich bin hier, Mariella Rabner, Ich bin aus dem Ort, aus Sabnitz.«
Der Mann versprach, die Polizei zu informieren. Bis dahin sollte sie Ruhe bewahren und nichts anfassen.
Unschlüssig schaute sie sich um. Ein Frösteln lief ihr über den Rücken, und obwohl sie sich die Arme rieb, blieb es bestehen. Erst als etwas ihr Bein berührte, war es fort. Juan. Aufgeregt wedelte er mit dem Schwanz, als wäre das hier eines ihrer Spiele. Sie tastete nach seinem Halsband, doch ihre Hände zitterten zu stark, und sie brauchte mehrere Anläufe, um den Karabiner der Leine einzuklinken.
»Guter Hund, ein ganz feiner bist du.« Wie ein Mantra murmelte sie die Worte, als sie Juan weg von dem Baum zum Weg zog.
Hier gab es keinen Schatten, und inzwischen brannte die Sonne vom Himmel herab, so dass ihr der Schweiß ausbrach. Sie müsste sich eine kühlere Stelle suchen, im Schatten. Aber Schatten, das hieße in den Wald zurück und somit in die Nähe des grusligen Fundes. Also setzte sie sich ins Gras und schaute zum Dorf. Aus der Ferne grüßten die roten Dächer der Häuser, überragt von der Spitze des Kirchturms. Die Schindeln schimmerten im Sonnenlicht, und Licht spiegelte sich auch auf dem Zifferblatt der Kirchturmuhr. Ein Hahn krähte, ein zweiter fiel ein und dann schien sich zwischen ihnen ein Wettstreit zu entspinnen. Alles wie immer, oder wenigstens wie an Tagen, die als normal durchgingen. Dieser Tag war es nicht. Nicht für Mariella. Wie gern würde sie jetzt an ihrem Küchentisch sitzen oder durch den Garten laufen. Wie gern wäre sie daheim in ihrem Haus in der Mitte des Dorfes. Das Dorf versprach Sicherheit, und Mariella schluckte, um die Tränen hinunterzuwürgen. Sie schlang die Arme um Juans Nacken und vergrub das Gesicht in seinem weichen Fell.
Eine halbe Stunde später näherte sich ein Streifenwagen. Erleichtert sprang Mariella auf, nestelte den Karabinerhaken an das Halsband des Hundes und zog Juan mit sich, dem Auto entgegen. Vor ihr stoppte der Wagen, und zwei Männer stiegen aus. Beide trugen Uniform. Keine Kripo, dachte sie und war enttäuscht. In Filmen war der Kriminalkommissar meistens der Erste, der am Ort des Verbrechens auftauchte. Aber was wusste sie schon von der Wirklichkeit der Kriminalpolizei. Bis jetzt hatte sie noch nie etwas mit ihr zu tun gehabt.
»Wir sind vom Polizeirevier Delitzsch. Oberwachtmeister Veit Hütter«, stellte sich der Größere vor. Er war bestimmt noch keine dreißig und trug die Haare streng nach hinten gekämmt. Es glänzte wie schwarzer Lack. »Sie haben den Fund eines Kopfes gemeldet?«
Mariella nickte und wies auf den Wald hinter ihr. »Dort liegt er. Unter einem Baum.«
»Der Kriminaldauerdienst ist informiert. Sie schicken jemanden her, es kann nicht lange dauern. Waren Sie in unmittelbarer Nähe des Kopfes? Haben Sie etwas angefasst?«
»Nein.«
»Am besten, Sie warten in meinem Streifenwagen.« Hütter vergewisserte sich nicht, ob sie folgte, sondern wandte sich ab. Er hielt sich wie ein Mann, der von sich und von seinem Können überzeugt war. Mariella hätte sich nicht gewundert, wenn seine Tritte auf dem weichen Boden gedröhnt hätten, als würde er eine Asphaltstraße entlangmarschieren. Sie beschloss, den jungen Mann nicht zu mögen.
Sie lief ihm nach. »Also wird die Kriminalpolizei doch noch kommen? Weil Sie einen Mord vermuten?«
»Die übliche Vorgehensweise bei einem unklaren Todesfall wie diesem.«
Ein kalter Schauer lief Mariella über den Rücken, und sie schlang die Arme um den Leib, um sich zu wärmen. Zu Hause würde sie sich einen Tee brauen. Hopfen und Melisse – eine bewährte Mischung.
Der andere Polizist hielt ihr die Tür zum Rücksitz des Streifenwagens auf.
»Darf der Hund mit rein?«, fragte sie. »Ich möchte ihn nicht allein lassen.«
Der Polizist nickte, wartete, bis sie eingestiegen war und Juan auf ihren Schoß gezogen hatte. Dann setzte er sich neben sie. Aufmunternd lächelte er ihr zu. »Ein hübscher Kerl, der Kleine. Er hat kluge Augen.«
Hütter hatte sich auf den Fahrersitz geschoben und sich zum Fonds herumgedreht. »Wachtmeister Siebel«, sagte er zu Mariella.
»Sie steht bestimmt unter Schock«, erwiderte Siebel leise. Sein sächsischer Dialekt mit den weichen Lauten war nicht zu überhören.
Hütter zückte ein Notizbuch und einen Stift. »Name, Geburtsdatum, Wohnanschrift?«
»Sagten Sie nicht, dass die Kripo kommt?«
»Bis die Kollegen eintreffen, fange ich schon mal an.« Er trommelte mit dem Kugelschreiber auf dem Notizbuch herum.
Was für wunderbar blaue Augen er hat, dachte Mariella. Es war ein Blau, das an Meer und an Sommer erinnerte. Unwillig schüttelte sie den Kopf. Aus der Brusttasche seines Hemdes hing eine Fliegerbrille. Der Mann sah aus wie ein Cop aus einem billigen Kinofilm.
»Also: Name, Geburtsdatum, Anschrift«, brachte sich Hütter in Erinnerung.
»Rabner, das ist mein Name. Mariella Rabner, geboren am 6. März. 1988. Mir gehört die Apotheke im Dorf. Anger 17 in Sabnitz, liegt gleich um die Ecke.« Sie reichte ihm ihren Personalausweis.
Hütter runzelte die Stirn und kniff die Lippen zusammen. »Sabnitz? Das klingt wie ein Kaff.«
»Sie stammen wohl nicht von hier, oder?«
Hütter antwortete nicht, denn Motorengeräusch kündigte Neuankömmlinge an, und er stieg aus, um ihnen entgegenzugehen.
Ein schwergewichtiger Mann mit Halbglatze quälte sich aus dem Wagen, stemmte die Hände in den Rücken und streckte sich. »Kriminalhauptkommissar Norbert Breitmann«, sagte er zu Hütter, als wäre jedes weitere Wort zu viel. »Und Sie sind?«
»Oberwachtmeister Hütter. Kollege Siebel und ich vom Delitzscher Revier waren die ersten hier, abgesehen von der Frau, die den Fund gemeldet hat. Sie sitzt im Streifenwagen.«
»Ich kümmere mich gleich um sie.«
»Reden Sie von mir?« Mariella war Hütter gefolgt. Juan schnüffelte an seinem Schuh herum.
Breitmann warf Hütter einen Blick zu, nahm Mariella am Arm und führte sie beiseite. Widerwillig ließ der Hund von Hütter ab und trabte mit.
»Sie waren es, die die Notzentrale informiert hat?«, fragte Breitmann.
Mariella nickte. »Ich habe schon alles erzählt, was ich weiß.«
»Da bin ich mir sicher, aber ich hätte es gern noch einmal von Ihnen selbst gehört. Ich leite die Ermittlungen, deshalb.«
Mariella seufzte, dann berichtete sie, wie sie auf den Fund gestoßen war, und Breitmann hörte ihr zu, ohne sie zu unterbrechen.
Männer in weißen Schutzanzügen, die bis über den Kopf reichten, hatten die Stelle mit rot-weiß gestreiftem Band abgesperrt und untersuchten den Boden. Blätter, Rinde und Erdbrocken wurden eingesammelt, und auch der Kopf wurde in einer Schutzhülle verstaut.
»Bissspuren«, sagte einer der Männer. »Vermutlich von einem Tier.«
Breitmann hob die Stimme. »Das Gebiet wird weiträumiger abgeriegelt. Ich will, dass jedes gottverdammte Blatt und jeder Stein umgedreht werden, bis wir den Körper gefunden haben.«
Zwei
Hütter hatte Breitmann seine Hilfe angeboten. Machen Sie sich nützlich, indem Sie Ihren Bericht schreiben. Das waren Breitmanns Worte gewesen.
Veit Hütter stammte aus Bamberg. Eigentlich hatte er dortbleiben wollen, bei seinen Freunden und den Eltern. Aber andererseits wollte er aufsteigen, Karriere machen, und da war die Versetzung von der Bereitschaftspolizei nach Nordsachsen gerade recht gekommen. Bis er nach Delitzsch gezogen war, hatte er keine Ahnung von dem Völkchen gehabt, unter dem er nun lebte. Gemütlich und immer zu einem Schwätzchen aufgelegt waren sie, die Sachsen. Ganz anders als die Franken, die eher maulfaul waren und mit Worten geizten, wo es nur ging. Die lustige Lebensart und der ungewohnte sächsische Dialekt hatten ihm anfänglich zu schaffen gemacht, auch im Miteinander mit den Kollegen des Reviers, die gern so taten, als hätten sie die Ruhe weg. Inzwischen jedoch wusste er, wie sie tickten. So gemütlich, wie sie sich gaben, waren sie im Grunde gar nicht. Im Gegenteil, sie arbeiteten hart. Das hatte er unzählige Male erlebt und deshalb den Umzug nie bereut. Delitzsch war seine zweite Heimat geworden, und die Kollegen aus dem Revier waren seine Familie. Doch nun gab es den Kopf im Wald und damit vielleicht eine Chance für ihn, zur Kripo zu wechseln. Die Aufklärung von Todesfällen war eine ganz andere Hausnummer als die Eigentumsdelikte, mit denen er sich bisher befasst hatte.
Eine Stunde später durchkämmten Männer und Frauen den Wald. Breitmann hatte jeden Polizisten mobilisiert, der abkömmlich war. In langgezogenen Reihen liefen sie im Abstand von zwei Metern nebeneinanderher. Wortfetzen knisterten aus den Funkgeräten der Suchmannschaft.
Irgendjemand hatte Hütter einen Ganzkörperanzug samt dünner Plastiküberzüge für die Füße und Einweghandschuhe in die Hand gedrückt. Kaum hatte er die Sachen übergezogen, bekam er einen Stecken, mit dem er in dem aufgeweichten Boden herumstocherte. Stieß er dabei auf einen Widerstand, schob er Erde und Laub beiseite. Meistens waren es Steine, die sich darunter verbargen, manchmal auch Stücke abgestorbener Bäume, von denen modriger Geruch aufstieg. Langsam kämpfte er sich den Waldrand entlang, den Blick nach unten gerichtet. Hier hatte sich der Baumbestand etwas gelichtet, und Gräser von den angrenzenden Wiesen hatten sich ausgebreitet. Dazwischen gab es Stellen, an denen Himbeerbüsche wucherten.
»Verdammt.« Hütter war an den Dornen hängengeblieben und riss sich los. Da fiel sein Blick auf eine Lücke zwischen den Sträuchern. Im Sonnenlicht schillerte etwas wie blaues Metall. Er beugte sich hinab, um es besser sehen zu können. Es war ein dicker Käfer, der sich über ein Hindernis schob. Das Ding, über das er kroch, war ein Fuß. Die Zehen ragten steil aus der Erde.
Hütter holte tief Luft. »Hier ist etwas!«, rief er zu den anderen Polizisten hinüber.
Breitmann bahnte sich zu ihm durch, zusammen mit den Kollegen des Erkennungsdienstes. »Weg da, Hütter. Wir brauchen Platz.«
Einer der Männer zückte eine Kamera und machte Fotos. Ein anderer entnahm Bodenproben, dann wurde vorsichtig das Gestrüpp zur Seite gezogen und der Körper freigelegt. Es war eine Frau, und obwohl der Leib schlammverkrustet war, konnte man sehen, dass die Leiche nackt war. Der Oberkörper wies mehrere Stichverletzungen auf, und dort, wo ihr Kopf hingehörte, befand sich eine Kuhle, darum herum Abdrücke, die von Tieren stammen mussten, von Füchsen oder von Mardern möglicherweise. Die Krallen hatten deutliche Kratzspuren in der Erde hinterlassen, auch auf der Leiche.
In Hütters Magen bildete sich ein Kloß, ein heißer Schwall stieg in ihm auf. Unter einem Baum übergab er sich ächzend.
Breitmann klopfte ihm auf die Schulter. »Machen Sie sich nichts daraus, so geht es vielen.«
Veit Hütter wischte sich mit einem Taschentuch über den Mund und nickte. In seinem Magen grummelte es.
»Ab mit Ihnen ins Büro. Schreiben Sie Ihren Bericht. Arbeit ist die beste Medizin«, sagte Breitmann und wies die übrigen Helfer an, nach dem Werkzeug zu suchen, mit dem der Toten die Wunden beigebracht worden waren.
Das Polizeirevier Delitzsch befand sich in einem Betonbau, der abgesehen von den hellen Fensterrahmen trist und schmucklos war. Hütter fand eine Lücke am äußeren Rand des Parkplatzes und stellte den Wagen ab. Bruno Siebel klemmte sich seine Tasche unter den Arm und ging voraus. Ein wenig später folgte Veit Hütter nach.
Trumm erwartete sie bereits auf dem Flur. Der Leiter des Reviers war ein drahtiger Mittvierziger mit abstehenden Ohren und mit einer runden Nickelbrille, der nur für den Job lebte. Wann immer Hütter zum Dienst kam, war er schon da. Vor einigen Jahren hatte er seine Frau verloren, bei einem Verkehrsunfall, und seitdem schien er lieber im Büro als in seiner Wohnung zu sein. Man munkelte, er würde sogar manchmal im Revier übernachten.
»Breitmann hat mich schon informiert«, sagte Trumm. »Böse Sache, so ein Mord. Die Leiche war bestimmt kein schöner Anblick. Wenn Sie darüber reden wollen, Hütter, oder wenn Sie Abstand brauchen...«
»Ich will bei den Ermittlungen helfen.«
»Natürlich, aber ich würde Sie lieber … nun ja, ich würde Sie lieber im Auge behalten.«
Hütter schluckte.
Bruno Siebel rieb sich den spitzen Bauch, als hätte er wieder Magenschmerzen. Auf seiner Glatze spiegelte sich das Licht der Neonleuchte.
Von draußen kam Stimmengewirr herein, dann drängte eine Traube Männer ins Haus, Breitmann vorneweg.
»Ich weiß, was eine Moko bedeutet«, sagte Hütter schnell. »Zwölf Stunden Arbeit, sieben Tage die Woche, aber das schreckt mich nicht ab, und Breitmann…«
»Breitmann, ach der...«, fiel Trumm ihm ins Wort.
Der Kommissar musste etwas gehört haben. »Gibt es ein Problem?« Er warf Hütter einen schnellen Blick zu, dann sagte er zu Trumm: »Lassen Sie uns in Ihr Büro gehen, ich muss mit Ihnen reden.«
Hütter schaute ihnen nach, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Seufzend folgte er Siebel in ihr Dienstzimmer.
Er schaltete seinen Computer an. »Ich schlage vor, wir checken die Vermisstenmeldungen.«
Das Telefon klingelte, und Siebel nahm den Hörer ab. »Ja? – Geht klar.«
Er gab Hütter einen Wink. »Du sollst zum Chef kommen.«
Das Büro von Manfred Trumm war genauso karg eingerichtet wie die übrigen Räume: ein grauer Aktenschrank, ein grauer Schreibtisch und zwei dunkelblau gepolsterte Stühle. Trumm nannte es zweckmäßig.
Auf dem Schrank standen mehrere Geschenkpackungen, alle mit Etiketten verschiedener Weingüter. Wackerbarth, Hoflößnitz, Proschwitz. Hütter kannte keines davon, er bevorzugte Bier.
Vor dem Schreibtisch blieb er stehen.
»Diese verdammte Sommergrippe, der Krankenstand ist mal wieder viel zu hoch.« Trumm riss ein Zuckertütchen auf und kippte den Inhalt in den Kaffeebecher, der vor ihm auf dem Schreibtisch stand. Bedächtig rührte er um.
Durch das geöffnete Fenster drangen Motorengeräusche von der Halleschen Straße herauf. Hütter legte die Hände ineinander und wartete.
»Sehen Sie, Hütter, dem Breitmann fehlen Leute.«
»Hat er mit Ihnen gesprochen? Wegen mir?«
»Genaugenommen hat er nur gesagt, dass er jede Hilfe nimmt, die er kriegen kann. Wie lange sind Sie schon bei uns?«
»Fast ein Jahr.«
»Ihr Abschluss war nicht überragend, was?«
Die praktische Ausbildung an der Polizeischule war Hütter leichtgefallen, die mündlichen Prüfungen hingegen nicht; er war geradeso durchgekommen.
»Na ja, ich bin eher der zupackende Typ.«
»Tja.« Trumms Augen hatten sich verengt, und Hütter gab sich Mühe, dem Blick standzuhalten.
Eine Weile herrschte Schweigen, bis Trumm schließlich sagte: »Es ist nur vorübergehend, und Siebel wird Sie begleiten. Für unterstützende Tätigkeiten, klar?«
Um über alles zu berichten, was ich sage oder mache, dachte Hütter. Er kniff die Lippen zusammen und nickte.
Drei
Mariella erwachte mit einem Ruck. Ihre Haut war eiskalt. Durch das Fenster drang Sonnenschein und malte einen Streifen auf den Schrank. Die Zweige des Kastanienbaumes vor dem Haus bewegten sich im Wind, ihr Schatten ließ ihn mal hell, mal dunkel werden. Wie Juans Fell, genauso hatte es durch das Geäst im Wald geblitzt.
Als die Erinnerung kam, zuckte sie unwillkürlich zusammen. Sie hatte einen Kopf gefunden und dann hatte die Polizei den Wald abgesperrt. Der Kommissar hatte Fragen gestellt, aber sie hatte nicht viel gewusst und nur eines gewollt: weg aus dem Wald und vor allem weg von dem grausigen Fund. Der Kommissar war sehr verständnisvoll gewesen und hatte sie nach Hause bringen lassen. Die junge Beamtin, die sie begleitet hatte, war in ihrem Alter und vermutlich auf solche Situationen vorbereitet, denn sie hatte alles Mögliche von sich gegeben, um sie aufzumuntern.
Es muss ja weitergehen.
Für Mariella war es wie ein Déjà-vu gewesen. Den Satz hatte auch ihre Mutter oft gesagt. Bei jedem Unfall, bei jedem Tod, und vor allem, wenn sie bei einer Beerdigung gewesen war.
Es muss ja weitergehen – hatte auch die Polizistin mehr als einmal wiederholt. Karin oder Katrin. Mariella hatte ihren Namen vergessen, irgendetwas mit K jedenfalls, und ob sie psychologische Betreuung wolle, hatte Karin-Katrin gefragt, aber sie hatte abgelehnt. Stattdessen hatte sie wissen wollen, was jetzt passierte. Es würde Untersuchungen geben, hatte die junge Frau geantwortet. Später dann, bei einer Tasse Tee, hatte sie erklärt, dass zunächst festgestellt werden musste, wer die Tote war und wann und wie sie gestorben war. Erst wenn ein Unfall oder Suizid ausgeschlossen werden konnte, würde ein Verbrechen vorliegen. Fremdverschulden, so hatte Katrin-Karin es genannt und sie daran erinnert, dass sie sich in den nächsten Tagen in der Polizeiinspektion Leipzig melden müsse, um das Protokoll zu unterschreiben.
Der Tee hatte sie müde gemacht, und Katrin-Karin hatte darauf bestanden, dass sie sich ins Bett legte. Irgendwann musste sie eingeschlafen sein. Einmal war sie aufgewacht und hatte Lore an ihrem Bett sitzen sehen, müde und mit einer Trauer in den Augen, die sie erschreckt hatte.
»Geh schlafen!« Ohne zu warten, ob Lore aufstand, war sie zurück in die Dunkelheit des Vergessens gesunken. Wie ein Stein, der in einen See geworfen wurde.
Mariella schloss die Augen. Sie wollte jetzt nicht nachdenken.
Ein leises Klopfen klang durch die Tür, unmittelbar darauf lugte Lore ins Zimmer. »Bist du wach?«
»Nein.« Mariella atmete tief ein und richtete sich auf. »Komm trotzdem rein.«
Lore hielt ein gedecktes Tablett in den Händen. »Ich habe Frühstück gemacht.«
Der Geruch nach frisch gebackenen Brötchen mischte sich mit dem Duft nach Kaffee und erinnerte Mariella daran, dass sie seit dem letzten Morgen nichts gegessen hatte.
»Was war da gestern im Wald?« Lore stellte das Tablett vor Mariella auf der Bettdecke ab und setzte sich auf die Bettkante.
Mariella nahm die Tasse vom Tablett. Der heiße Kaffee wärmte ihre Hände, und erst jetzt merkte sie, dass sie eine Gänsehaut hatte. »Du wolltest doch das Wochenende bei deinem Antonio verbringen«, wich sie aus.
»Erstens muss er arbeiten und zweitens mag ich das Dorf jetzt nicht verlassen. Die Polizei fragt überall herum. Das ist immer so, wenn eine Leiche auftaucht, das kannst du in jedem Fernsehkrimi sehen. Wer hat was wann wie und warum getan – das sind die entscheidenden Punkte.«
»Mein Gott, Lore, du redest, als würde feststehen, dass ein Mord passiert ist.«
»Du weißt es wohl noch nicht?«
»Was denn?«
»Nach dem Kopf wurde auch der Rest der Frau entdeckt, und jetzt kursieren Gerüchte.«
»Was für Gerüchte?«
Lore schwieg.
»Komm schon Lore, was macht die Runde?«
»Die Hitzelmann erzählt, dass es einen Triebtäter gäbe, hier bei uns oder ganz in der Nähe. Bauer Klimmer und mein Vater glauben das auch. Mir macht die Sache Angst.« Lores Stirn umwölkte sich. »Papa besteht nun erst recht darauf, dass ich nach Palermo fahre.«
Lores Handy gab ein paar Töne von sich, wie immer, wenn sie an einen Termin erinnert werden wollte. Sie schaute auf das Display und sprang auf. »Mamma mia, so spät schon? Ich muss los, Papa wartet. Du kommst doch zurecht, oder?« Ohne eine Antwort abzuwarten, stürmte sie hinaus. Mit einem Knall fiel hinter ihr die Tür ins Schloss.
Plötzlich hatte Mariella keinen Appetit mehr auf ein Frühstück. Sie schob das Tablett beiseite, stand auf und ging ins Bad. Aus dem Spiegel über dem Waschtisch schaute ihr ein blasses Gesicht entgegen. Unter ihren Augen lagen Schatten. Sie sah aus wie vierzig statt wie Anfang dreißig. Kaltes Wasser würde die Schatten verschwinden lassen, nahm sie jedenfalls an, doch was den gehetzten Ausdruck in ihren Augen betraf, da war sie sich nicht so sicher. Sie beugte sich über das Becken, ließ Wasser in die Hände laufen und schaufelte es sich ins Gesicht. Ein erneuter Blick in den Spiegel zeigte ihr, dass sie recht gehabt hatte. Vielleicht half eine ausgiebige Dusche.
Als sie den Hahn aufdrehte, röchelte es in der Leitung, und die Brause tröpfelte vor sich hin, dann jedoch spuckte sie unvermittelt einen dicken Strahl aus. Eiskalt prasselte das Wasser auf Mariella herab, sodass sie erschrocken nach Luft schnappte. Doch sie stellte das Wasser nicht wärmer, sondern legte den Kopf in den Nacken und hielt den Atem an. Erst als sie meinte ersticken zu müssen, beugte sie sich nach vorn und atmete weiter. Dann schloss sie den Hahn und rubbelte sich mit einem Handtuch ab, bis ihre Haut brannte.
Sie hängte das Handtuch an einen Haken und ging zurück ins Schlafzimmer. Die Kleidung, die sie am Vortag getragen hatte, lag zusammengeknüllt auf einem Stuhl. Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie sie dort hingelegt hatte, und warf sie in den Wäschekorb. Dann wählte sie eine hellblaue Jeans und ein rotes Shirt. Die Sonnenstreifen auf dem Schrank waren ein Stückchen nach links gerutscht. Ein Sommertag wie viele. Sie könnte eine Runde gehen, Juan brauchte Auslauf, und er liebte den Wald. Aber ausgerechnet jetzt dorthin? Mariella schüttelte sich.
Andererseits…
Es muss ja weitergehen.
Aber Juan war nicht in seinem Körbchen, auch seine Leine fehlte, und Mariella erinnerte sich, dass Lore irgendetwas gesagt hatte, wie den Hund mitnehmen, damit du Ruhe hast. Als ob Ruhe die Gedanken in ihrem Kopf verbannen würde!
Mariella stützte die Hände auf das Fensterbrett und schaute hinaus auf den Platz. Friedliche Stille lag über dem Dorf. Ein Triebtäter? Wieso ausgerechnet hier? Sabnitz war nicht Dresden oder Leipzig, ja, nicht einmal Delitzsch, die Kleinstadt, die keine fünfzehn Kilometer entfernt war. Im Dorf hatte es noch nie ein Gewaltverbrechen gegeben. Einen Diebstahl oder eine Prügelei, das ja, aber keinen Mord. Natürlich hörte man das eine oder andere aus der Umgebung, aber das war immer weit weg. Betraf sie nicht. Ob Vera Hitzelmann wirklich etwas wusste?
Als Mariella das Hitzelmannsche Haus erreichte, war Vera gerade dabei, die Sonntagszeitung aus dem Briefkasten zu nehmen. »Diese Tote, ist das nicht furchtbar ... jetzt ist man nimmer mehr sicher«, sagte sie, als Mariella bei ihr stehenblieb.
»Ja, furchtbar.« Mariella nickte.
»Ich muss nach dem Sonntagsbraten sehen, wenn du willst, komm mit rein.«