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Von der Medizin wird erwartet, dass sie heilt. Das ist eine Täuschung: Heilen kann nur die Natur. Ärzt:innen können lediglich behandeln – ihre Aufgabe ist es, Voraussetzungen zur (Selbst-)Heilung zu schaffen sowie körperliche, psychische und soziale Heilungshindernisse zu erkennen. Doch sie sind heute zu "Leistungserbringer:innen" in einem fragwürdigen und kostenintensiven Gesundheitswesen geworden. Gleichzeitig bleiben Zuwendung, Mitgefühl und das Vertrauen auf den eigenen Körper als heilende Erfahrung oft auf der Strecke. Gesundheit kann man für alles Geld der Welt nicht kaufen. Zahlreiche teure Vorsorgemaßnahmen lassen Krankheiten zwar früher erkennen und Folgen mindern, aber nicht verhindern. Gesundheitsförderung muss früher einsetzen und Patient:innen können viel dazu beitragen, anstatt sich von einer Gesundheitswirtschaft mit Eigeninteressen bedienen zu lassen. Stephan Heinrich Nolte, seit über 40 Jahren ärztlich tätig, reflektiert, kritisiert und bietet Orientierungshilfen, was wirklich wichtig und sinnvoll für die Gesundheit ist.
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Seitenzahl: 240
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© Angelika Zinzow
Stephan Heinrich Nolte, geb. 1955, Dr. med., ist seit 30 Jahren als Kinder- und Jugendarzt in Marburg niedergelassen. Nach seiner Facharztausbildung war er Oberarzt in Marburg und trägt mittlerweile die Zusatzbezeichnungen Neonatologie, Psychotherapie, Homöopathie und Palliativmedizin. Neben Lehraufträgen an der Universität Marburg ist er auch als Fachjournalist, Kolumnist und Buchautor tätig.
Stephan Heinrich Nolte
Reflexionen zu ärztlichem Wirken heute
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Projektkoordination und Lektorat: Simone Holz, Pisa, www.lektorat-redazione-holz.eu/
Satz und Gestaltung: Martin Vollnhals, Neustadt an der Donau
Umschlagabbildung: © Yuuji/istockphoto
Umschlagbearbeitung: Franziska Brugger, Frankfurt am Main
ISBN: 978-3-86321-620-7
eISBN: 978-3-86321-586-6
Alle Rechte vorbehalten
Vorwort
Kapitel 1: Heilen oder Heiler
Heilen ist nicht Handeln: Die medizinische Ethik nach Childress und Beauchamps
Was wirkt?
Die Lebenskraft, die Seele und der Körper
Die Causa: Die Frage nach dem „Warum“
Spontanheilungen/Spontanremissionen
Defensivmedizin
Unsinn Vorsorgemedizin?
Patienten
Ärzte
Kapitel 2: Heilungshindernisse
Pathogenese oder Salutogenese?
Systematik der Heilungshindernisse
Grenzen der Nicht-Behandlung
Dynamisches versus statisches Krankheitsverständnis
Kapitel 3: Die Heilindustrie: Schlaglichter auf unser Gesundheitswesen
Der Staat und die Gesundheit
Regel- oder Maximalversorgung
Soll ich mich / mein Kind privat versichern lassen?
Wenn die Behandlung zu Ende geht: Was geschieht mit Behandlungsunterlagen, der Patientenakte?
Kapitel 4: Empört Euch!
Die Sprache der Medizin: Der „Zugang“, die „Werte“ und die „personalisierte Medizin“
„Ver-Sorgen“ oder to care: Falsch oder richtig sorgen?
Gesunde „knocken“ – denn es sind Kranke, die nur noch nicht wissen, dass sie krank sind
Ivan Illich und die Iatrogenese
Interessenkonflikte: Was beeinflusst eine medizinische Entscheidung?
Privatisierung und Computermedizin
Kapitel 5: Medizin im Kontext: Placebo oder Nocebo?
Das Wirksame des Unwirksamen
Reichhaltige Belege aus der Fachliteratur
Placebo by Proxy
Therapien sind oft gesellschaftlicher Konsens
Auch der Arzt gehört zu den „Stellvertretern“
Schadet oder hilft Aufklärung?
Nicht nur Masern sind ansteckend, auch Vorstellungen und Ängste
Du sollst dir kein Bild machen – oder doch?
Heilung in Bildern – am Beispiel der Homöopathie
Die Kontextfaktoren sind entscheidend
Wirkung oder Wirksamkeit
„Intelligente“ Placebos – man hat sich was dabei gedacht
Lehren aus Auschwitz: Zuwendung und Trost helfen immer
Nicht Gesundheit, sondern „medizinische Versorgung“ ist teuer!
Kapitel 6: „Un-Heil“ – Wie Corona den Gesundheitsbegriff verändert
Von der Epidemie zur Endemie bis zur Eradikation
Macht anlassloses Testen Sinn?
Der Erreger ist nicht die Krankheit
Weg mit den Handschuhen
Gesündere Kinder?
Wer ist gesund?
„Verschleppte Krankheit“
Das tägliche Spiel: Die „Neuinfektionen“
Coronazahlen zu Kindern in Deutschland
Was tun wir der nachwachsenden Generation an?
Die Methode, eine Gesundheitsdiktatur: Von der Dystopie zur Zustandsbeschreibung
Coronoia oder Rhinozeritis?
Nachbemerkung: Etwas Tröstliches zum Schluss
Bibliografie
Behandeln und Heilen werden oft verwechselt. Ein Arzt1 kann zwar behandeln, aber nicht heilen. Er kann Voraussetzungen zum Heilen schaffen, indem er Heilungshindernisse erkennt und behandelt, er kann aber auch Heilung behindern und unwissentlich Selbstheilungsprozesse stören. Was Ärzte üblicherweise leisten, ist, Symptome zu lindern. Sie tragen zur Erleichterung bei mit dem Ziel, Schlimmeres zu verhüten; sie unterstützen etwa beim Senken des Blutdrucks, um einen Schlaganfall zu verhindern. Den Blutdruck „heilen“ können sie nicht, aber Voraussetzungen zur Selbstheilung schaffen: Diäten, Bewegungsförderung, Stressreduktion, Raucherentwöhnung etc. Wir alle wissen, wie hilflos und rudimentär diese essenziellen Maßnahmen bleiben, und wie viel leichter es ist, zu einer Pille zu greifen. Mit Heilen hat das indes wenig zu tun, wohl aber mit Behandlung. Der Arzt kann einen Knochenbruch behandeln, indem er ihn gut einrichtet, fixiert und dann – die Heilung abwartet, auf die er wenig Einfluss hat. Er hat die Voraussetzungen geschaffen und wird versuchen, sie durch Ruhigstellung zu erhalten, aber das Heilen muss er unbekannten Heilkräften im Körper überlassen, und er kann allenfalls staunend feststellen, dass ein Bruch trotz bester Voraussetzungen auch mal nicht heilen will.
Im Nationalsozialismus hatten jüdische Ärzte nicht mehr das Recht, sich Ärzte zu nennen, sondern wurden zu sogenannten Krankenbehandlern degradiert. Was waren denn die „arischen“ Kollegen anders als ebenfalls Krankenbehandler? Der Nimbus des Arztes, der den jüdischen Kollegen nicht mehr zugestanden wurde, steht über dem reinen Behandeln. Ist das gerechtfertigt? Ja und nein. Ja, denn die ärztliche Tätigkeit besteht aus mehr als aus Behandeln, Handeln. Sie sollte auch aus Zuhören, Klären, Begleiten, Verstehen bestehen, also über den reinen Aktionismus herausgehen. Die Praxis sieht anders aus; das Tun, das Handeln, das Erbringen von Leistungen. Im Jargon der ärztlichen Selbstverwaltung und der Krankenkassen sind Ärzte „Leistungserbringer“. Das ist noch ein schlimmerer Ausdruck als Krankenbehandler, der aber in seinem Zynismus nicht hinterfragt wird. Leistung, das ist ein technischer Begriff: Arbeit pro Zeit, und am besten messbar an objektivierbaren Maßnahmen oder Eingriffen. Da technische Leistungen besser messbar sind als menschliche Beziehungen und die Qualität von „Gesprächs-Leistungen“ (auch hier taucht der Begriff auf), haben diese in der Medizin ein gewaltiges Übergewicht bekommen, von dem ein ganzer Wirtschaftszweig profitiert, der medizinisch-industrielle Komplex, auch Gesundheitswirtschaft oder -industrie genannt. Wir haben heute gewaltige technische Möglichkeiten, zu untersuchen, zu behandeln, und sind in der Diagnostik wesentlich weiter als in der Therapie. Aber ob wir damit bessere Heiler geworden sind? Den Menschen interessiert nicht so sehr, was er hat, sondern wie es ihm geht und was werden wird, nicht die Diagnose, sondern die Prognose.
Dieses Buch beschäftigt sich mit dem Heilen im Unterschied oder in der Gegenüberstellung zum Behandeln. Heilen hat, bei aller Selbstverständlichkeit, mit der dieser Begriff als Umschreibung ärztlicher Tätigkeit benutzt wird, aber auch den Hauch des Esoterischen, Alternativen: Es ist paradox: Wenn von einem Heiler gesprochen wird, meint man in der Regel damit nicht den Arzt, sondern den Geistheiler, den Handaufleger oder Steinheiler, von denen sich die Angehörigen der „Heilberufe“ in aller Regel abgrenzen.
Molière schrieb, dass die ärztliche Aufgabe darin besteht, den Kranken bei Laune zu halten (das heißt auch, ihn zu behandeln), bis die Natur ihn heilt. Wenn wir heute auch ganz andere und teilweise ebenfalls gute Möglichkeiten haben, durch Untersuchungen und zielführende Eingriffe zu erkennen, wo die Heilungshindernisse liegen und wie wir diese beseitigen können, bleibt die dann anstehende Heilung letztlich die Aufgabe derjenigen Kräfte, um deren Benennung wir uns heute gerne drücken: der Lebenskraft, der vis vitalis, der Selbstheilungskraft.
An einem Freitagmittag im Januar 2018 bin ich auf dem Fahrrad beim Queren einer Straße frontal mit einem von mir wegen einer Reihe parkender Autos übersehenen Kleinwagen zusammengestoßen. Das mindestens 40 Kilometer pro Stunde schnelle Fahrzeug erwischte mich auf der linken Seite, ich flog auf die Motorhaube, dann in hohem Bogen über das Dach und landete hinter dem Wagen mit dem Gesicht auf der Straße. Dabei zog ich mir eine Schädelprellung mit einer großen Platzwunde über dem rechten Auge zu, eine erhebliche Schulterprellung rechts, eine massive Überdehnung des rechten Knies, eine Prellung des linken Knies und mancherlei Schürfwunden zu. Der Rettungswagen brachte mich sogleich in die Notaufnahme eines Krankenhauses. Die Kopfplatzwunde ließ sich mit neun Stichen nähen, die anderen Verletzungen wollte ich erst einmal nicht näher abklären lassen und lehnte die vorgeschlagenen Untersuchungen, ein Computertomogramm des Kopfes und ein „Durchröntgen“ sowie eine kernspintomografische Untersuchung der rechten Schulter und der Knie, erst einmal ab und ließ mich nach Hause bringen. Und man ließ mich „gegen ärztlichen Rat“ ziehen.
Erst einmal wollte ich „mich sortieren“ und genau die Symptome beobachten, aus der Erfahrung, dass das, was am Anfang am meisten schmerzt, nicht das Schlimmste ist. So sieht eine stark blutende Kopfplatzwunde vordergründig dramatisch aus, ist aber nichts Schlimmes, denn Kopfplatzwunden heilen sehr schnell. Das allgemeine Zerschlagenheitsgefühl sitzt anfänglich im ganzen Körper, jede Bewegung schmerzt. Besonders schlimm waren die rechte Schulter und das rechte Knie. Sichtlich gebrochen erschien mir nichts, Schlüsselbein und Schultereckgelenk waren intakt. Was sollte eine MRT-Untersuchung zeigen? Vielleicht Blutungen und Bänderrisse, aber was wäre die unmittelbare Konsequenz? Ich nahm mir vor, mindestens drei Monate abzuwarten, bevor ich weitere Untersuchungen über mich ergehen lassen würde. Der Schmerz sollte mein Ratgeber sein: Würde es allerdings weiterhin und länger schmerzen, wäre die Entscheidung zu revidieren. Glücklicherweise besserte sich der allgemeine Zerschlagenheitszustand rasch, die Schmerzen wurden lokalisierbarer und verständlicher, verschiedene Blutergüsse breiteten sich in schillernden Farben aus. Bereits am nächsten Tag saß ich wieder auf dem Rad; laufen konnte ich wegen des Knies noch tagelang wesentlich schlechter. Nach knapp zwei Wochen unternahm ich sogar wieder eine lang geplante Schneeschuhwanderung. Bis die Beschwerden ganz vergangen waren, dauerte es vier, fünf Monate, aber dann war die volle schmerzfreie Beweglichkeit aller Körperteile wiederhergestellt.
Jetzt komme ich auf den Punkt: Wenn ich mein Fahrrad anschaue, so sieht es noch genauso aus wie nach dem Unfall: das Vorderrad völlig verknautscht, der Rahmen gebrochen, die Gabel verbogen, kurzum: ein wertloser Schrotthaufen. Keinerlei Selbstheilung oder Wiederherstellung. Ebenso die Brille: das Glas geborsten, der Bügel abgebrochen, blutverschmiert und mit einzelnen Brauenhaaren verklebt. Niemand hätte auch je erwartet, dass es anders sein könne, dass der Rahmen sich selbst geflickt, das Brillenglas sich wieder zusammengesetzt hätte.
Was ist hier der Unterschied zwischen Mensch und Maschine? Wer hat was wie geheilt? Worin bestand die ärztliche Kunst? Das Einzige, was aktiv gemacht wurde, war die Naht der Augenbraue. Aber auch hier bestand die ärztliche Kunst nicht etwa im Heilen der Wunde, sondern lediglich darin, sie zu reinigen, etwaige Fremdkörper zu entfernen, zu schauen, dass keine Augenbrauenhaare die Adaptation der Wundränder behindern, und sie dann kunstgerecht mit Nadel und Faden zu schließen. Und dann? Abwarten, dass Heilung geschieht, abwarten, dass es keine Wundinfektion gibt. Die Heilung selbst ist unbeeinflussbar und geschieht einfach. Die wichtigste und vornehmste, aber auch bescheidenste ärztliche Aufgabe war hier, die natürlichen Heilungsvorgänge nicht zu behindern. Der Rest war reines Handwerk.
Glück gehabt oder besonnen gehandelt? Natürlich hätte ich tot sein können, eine schwere Hirnblutung gehabt haben können, innere Verletzungen, Knochenbrüche oder Bänderrisse haben können. Aber muss man alles sofort wissen? Hätte es nicht der Verlauf ohnehin gezeigt?
Hilfreich war für mich, dass ein sehr besonnener Ersthelfer, ein offensichtlich in diesen Dingen erfahrener Medizinstudent, mich mit ruhiger Stimme daran hinderte, sofort aufzuspringen, mir die Hand hielt und mich beruhigte. Und dass meine telefonisch herbeigerufene Frau schnell zur Hilfe kam und ich im Krankenhaus nicht allein irgendwo in der Notaufnahme auf der Trage liegend meinem Schicksal entgegensehen musste. Es waren ganz einfache, menschliche Bedürfnisse, die mir wichtig waren und geholfen haben.
Es ist wichtig, dass das Handwerk gut gemacht wird. Der Chirurg – das Wort enthält Cheir, griechisch für die Hand – muss keine großen Worte machen, aber sein Handwerk beherrschen. Es wäre für den Patienten befremdlich, wenn der Chirurg am Tag vor der großen Operation in das Patientenzimmer träte und seine eigenen Ambivalenzen und Ängste vor dem bevorstehenden Eingriff ausbreitete.
Wir erwarten von einem „Be-Hand-ler“, dass er Hand anlegt, also ein „Hand-Werk“ ausübt. In vielerlei Hinsicht haben die Ärzte das heute verlernt, zu „be-Hand-eln“. Lange war es ohnehin verpönt und nicht als ärztliche Aufgabe angesehen. Ecclesia abhorret a sanguine – die Kirche verabscheut das Blut, hieß es seit dem Konzil von Tours 1263. Damit wurde die handwerkliche Seite der Medizin den nicht akademischen Barbieren, Steinschneidern und Feldschergen überlassen und die jahrhundertelange Fehde zwischen Chirurgen und Medizinern begründet. Der Chirurg kann alles und weiß nichts, der Arzt weiß alles und kann nichts, hieß es lange und wird auch heute noch so kolportiert, manchmal ergänzt dadurch, dass der Psychiater nichts weiß und nichts kann, und der Pathologe alles weiß und alles kann – aber erst dann, wenn der Patient tot ist.
Das Behandeln im engeren Sinne einer manuellen, handwerklichen Tätigkeit ist somit vielen Ärzten fremd geworden. Da verwundert es nicht, dass sich andere Disziplinen dessen angenommen haben, wie man derzeit am deutlichsten an der aufblühenden Osteopathie erlebt. Dabei ist das „Hand-Anlegen“ so wichtig, aber auch das „Händchen-Halten“. Den Menschen berühren: Was rührt uns an? Die Berührung. Heute werden die Menschen im Krankenhaus möglichst gar nicht mehr angerührt, und wenn, dann nur mit Handschuhen. Das „Hände-Schütteln“ ist nicht nur verpönt, sondern in manchen Kliniken sogar verboten. Kein Wunder, dass sich die Patienten andere „Be-Hand-ler“ suchen.
1 Ausschließlich aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im vorliegenden Buch die männliche Form verwendet. Alle Personenbezeichnungen gelten gleichwohl für alle Geschlechter.
„Niemand soll es glauben und niemand darf es glauben, dass ein Arzt den oder jenen geheilt hat. Es steht nicht in seiner Macht. Die Natur heilt, der Arzt behandelt.“
(Georg Groddeck, Nasamecu)
Das Wort „heilen“ hat zwei Bedeutungen, eine aktive (transitive): „heil machen“: etwas oder jemanden heil machen, und eine passive (intransitive): „heil werden“: Die Wunde heilt. Das Heil steht für Ganzheit, Wiederherstellung, Gesundheit und Erlösung, im profanen wie im religiösen Sinn. Im Englischen gibt es drei verschiedene Adjektive dieses Stammes, die den weiteren Wortsinn gut verständlich machen: whole im Sinne von „ganz“, hale im Sinne von „frisch, ungeschwächt“ und holy im Sinne von „heilig“. Letztere Bedeutung ist eine gewisse Steigerung: Das von Heil abstammende Wort „heilig“ bezeichnet etwas ganz Besonderes und Verehrtes. Dieser Begriff wird heute fast ausschließlich im Zusammenhang mit etwas Sakralem, Religiösem, Göttlichem und Übermenschlichem gebraucht. Früher kam das Wort „heilig“ durchaus in gesundheitlichem Zusammenhang vor, etwa als Heilige Krankheit für die Epilepsie oder als ignis sacer, heiliges Feuer, bei der Mutterkornvergiftung (Ergotismus).
Für uns ist im Zusammenhang des Heilens die Frage wichtig, wer oder was (transitiv) heilt, oder wie (intransitiv) etwas heilt. Der Begriff der Selbstheilung und der zugrunde liegenden Kräfte bezeichnet die Fähigkeit des Organismus, äußere und innerliche psychische und physische Verletzungen und Erkrankungen zu heilen. Die Aktivierung und Nutzung dieser Selbstheilungskräfte sollte durch den Patienten selbst erfolgen und muss das einzige und vorrangige Ziel auch der ärztlichen Bemühungen sein. Sie ist aber keinesfalls ein ärztliches Privileg; jeder, der sich um seine Mitmenschen bemüht, kann diese Selbstheilungskräfte anstoßen und aufrechterhalten.
In der medizinischen Ethik haben sich vier Grundsätze herauskristallisiert, die Leitprinzipien ärztlichen Handelns sein sollen. Der Anspruch des Heilens kommt in diesem Kodex aus den oben genannten Gründen gar nicht vor, da ist die ärztliche Ethik viel bescheidener. In Ermangelung allgemein anerkannter religiöser und allgemeinethischer Instanzen können sie in der heutigen Zeit als die Grundregeln menschlichen Umgangs allgemein gelten, ihre Reichweite geht weit über den medizinischen Bereich, aber auch den Bereich sonstiger therapeutischer und pädagogischer Tätigkeiten hinaus und gelten für das ganze Spektrum des menschlichen Miteinanders. Die üblicherweise zitierte Reihenfolge ist hier aus didaktischen Gründen geändert, weil die Berücksichtigung der Selbstbestimmung, das Autonomieprinzip für pädiatrische, geriatrische und sonst nicht einwillensfähige Patienten, ein schwieriger und nicht endgültig zu beantwortender Baustein des ethischen Gebäudes darstellt.
Primum nil nocere – in erster Linie nicht schaden: Jegliche Unternehmung, ob Handeln oder Nicht-Handeln, sollte dem Gegenüber keinen Schaden zufügen. Dieses Prinzip einer Schadensvermeidung erscheint zunächst selbstverständlich, kommt aber bei vielen Behandlungen in Konflikt mit dem Helfen; etwa dann, wenn der Erfolg einer Behandlung von einer vorherigen Beeinträchtigung abhängt, so etwa bei einer Impfung, einem vorsorglich vorgenommenen Eingriff, noch eklatanter bei einer Chemotherapie, am extremsten vor einer Knochenmarkstransplantation.
Das Prinzip, Gutes zu tun, besagt, das Wohl des Mitmenschen zu fördern und ihm Nutzen zu bringen. Auch das kann Handeln oder Nicht-Handeln sein. Dieses Prinzip der Fürsorge kann dem erstgenannten Prinzip des Nicht-Schadens entgegenstehen. Wenn ich zum Beispiel gegen eine Erkrankung impfe, verstoße ich gegen das erste Prinzip, um dem zweiten (vermeintlich) zu dienen. Es muss eine sorgfältige Abwägung von Nutzen und Schaden einer Maßnahme unter Einbeziehung der Wünsche, Ziele und Wertvorstellungen des Gegenübers vorgenommen werden. Was gut oder schlecht ist, unterliegt zudem situationsbezogenen normativen Ansichten: Im Krieg soll der Soldat seinen Gegner kampfunfähig machen, wenn nicht gar töten, was im Friedensalltag nicht erlaubt ist. Dieser Konflikt kann in vielen Fällen zu Verwirrung führen, man denke an das Problem des Tyrannenmordes.
Noch schwieriger, weil noch mehr von komplexen Randbedingungen abhängig, ist das Prinzip der Gerechtigkeit: Zuwendungen und Leistungen sollen fair und gerecht verteilt werden, in ähnlichen Fällen sollte ähnlich gehandelt werden. Wenn eine Ungleichbehandlung notwendig ist, etwa bei der Vergabe von Spenderorganen zur Transplantation, sollten moralisch relevante und konsentierte Kriterien definiert werden: Bevorzugung von Kindern – oder „aussichtsreicheren“ Kandidaten. Angesichts der unterschiedlichen Ressourcenverteilung und der resultierenden großen Ungleichheit auf der Welt ist dieses Prinzip von großer Bedeutung und Strittigkeit, man denke etwa an die Situation der Bootsflüchtlinge aus Afrika.
Das Autonomieprinzip gesteht jeder Person Selbstständigkeit und Entscheidungsfreiheit zu. Es fordert ein informiertes Einverständnis (informed consent) vor jedweder diagnostischen und therapeutischen Maßnahme oder deren Unterlassung unter der Berücksichtigung des freien Willens, der Wünsche, Ziele und Wertvorstellungen des Patienten. Bei Kindern geht man vom Kindswohl (best interest of the child) aus, einem sehr unklaren Begriff aus dem Familienrecht. Bei anderweitig nicht einwillensfähigen Patienten kann der mutmaßliche Wille nicht geklärt und so muss stellvertretend entschieden werden, etwa über einen vorher einvernehmlich bestellten Betreuer, einen eingesetzten Vormund oder das Betreuungsgericht. Das führt im medizinischen Alltag häufig zu Pattsituationen und Fortführungen von sinnlosen Behandlungen, vor allem am Lebensende im Krankenhaus, besonders auf den Intensivstationen, aber auch in Pflegeheimen und in den Familien.
„Wer heilt, hat recht“, heißt es, und damit wird mehr oder weniger resigniert zugegeben, dass es nicht immer die naturwissenschaftliche Medizin ist, die dem Patienten geholfen hat. Nicht selten geht es dem Patienten trotz oder mit abstrusen, teuren und irrationalen Maßnahmen besser, sodass man sich die Frage stellen muss, was in der Therapie eigentlich wirkt.
Drei Faktoren wurden in der Vergangenheit herausgearbeitet, die als übergreifende Wirkfaktoren für alle auch noch so divergierenden Richtungen der Medizin gelten:2
Der erste Faktor ist der Beziehungsaspekt: Das Vertrauen in den Arzt, die Institution oder das Verfahren, die Wahl des Verfahrens, die Zuweisungsmodalität, die Persönlichkeit des Behandlers, seine Übertragungen und Gegenübertragungen sind hierunter zusammenzufassen.
Der zweite Faktor ist der Klärungsaspekt: Was liegt vor, welche Umstände haben dazu geführt, wie ist der zeitliche, räumliche, biografische Zusammenhang? Hier sind häufig detektivische Fähigkeiten notwendig, und nicht selten ist allein die sorgfältige Aufarbeitung des Problems, die genaue Anamnese, klärend und heilend.
Der dritte Faktor ist der Problembewältigungsaspekt: Was ist nun zu tun? Was wirkt, was heilt? Aber auch: Was erwartet der Patient, der Arzt? Wie begründet er seine Therapie? Die Lösung kann sich auf den verschiedensten Ebenen abspielen. Für einen Chirurgen ist ein Fall ein Einsatz des Skalpells – oder es ist kein „chirurgischer Fall“. Der Internist gibt Medikamente, der Homöopath Kügelchen, der Osteopath renkt, der Ernährungsmediziner stellt die Ernährung um – jeder nach seiner Ausrichtung und seinem Wissen. Eine allgemein akzeptierte Lösung nach nachvollziehbaren Kriterien gibt es selten. Das macht es dem Patienten schwer, zumal er nicht weiß, wessen Geistes Kind sein Gegenüber ist. Denn die Heilberufler sind ein merkwürdiges Völkchen. Bevor wir uns denen zuwenden, noch etwas Theorie.
„Die Kraft des Arztes liegt im Kranken.“
(Paracelsus, 1493–1541)
Es heilt: Vis medicatrix naturae – der innere Arzt des Menschen. Die Selbstheilungskraft ist der größte und einzige Wirkfaktor der Heilung, aber gleichzeitig auch der Feind der Gesundheitsindustrie.
Die Umgangssprache macht es deutlich: Es heilt. Es ist verheilt. Es wird schon heilen. Es. Wer oder was ist dieses Es? Eines der größten Rätsel der Natur, Quell und Ursprung des Lebendigen an sich.
Was ist Leben? Was unterscheidet einen Lebenden von einem frisch Verstorbenen? Die Organe sind gleich, die Muskeln und das Skelet sind gleich – nur das Leben ist gewichen. Früher gab es einmal Versuche, die Lebenskraft zu wiegen, indem man Sterbende gewogen und das Gewicht mit dem nach dem Tode verglichen hat. Der Unterschied von einigen Gramm wurde dann mit dem Gewicht des Lebens, der Seele gleichgesetzt. Ohne Lebenskraft ist weder Empfindung noch Bewegung noch Selbsterhaltung möglich, der Organismus zerfällt und verwest. Heute ist es etwa bei einer Nierentransplantation möglich, Organen wieder Funktion zu verleihen, sie wieder zu beleben, aber wiederum nur in einem lebenden Organismus. Freilich ist es dann notwendig, dem Empfänger des Organs einen Teil der Lebenskraft durch Immunsuppression zu rauben, damit seine eigene Lebenskraft, die, wie Samuel Hahnemann schreibt, „energisch, aber verstandlos und keiner Überlegung oder Fürsicht fähig ist“3, das übertragene Organ nicht wieder abstößt.
In der ihr innewohnenden Überheblichkeit maßt sich die Wissenschaft an, Leben zu erhalten oder gar zu erzeugen, wenn sie Zellkulturen entarteter Tumorzellen zu unsterblich erscheinenden Zelllinien züchtet oder hofft, aus pluripotenten Keimzellen demnächst Organe heranzuziehen. Der Homunkulus ist eine Vision des Menschen, seit er forschend tätig ist, aber seine Versuche sind rudimentär, und eher wird es einer künstlichen Intelligenz gelingen, sich selbst zu reproduzieren, als dem Menschen, einem Ding Leben einzuhauchen, einen lebendigen Organismus zu schaffen – so groß ist das Geheimnis des Lebens.
Die Lebenskraft wird bei Hippokrates (460–375 v. Chr.) als Physis, bei Paracelsus (1493–1541) als „Archaeus“ bezeichnet. Dieser Lebensgeist ist das dynamische Prinzip der Regulation, der „inwendige Arzt“ des Menschen. Die körperliche Lebenskraft ist bei ihm die „Mumie“, das „Arcanum“ des Menschen. Johan Baptista van Helmont (1579–1644) beschäftigte sich mit der spontanen Entstehung von Leben aus unbelebter Materie, auch Abiogenese genannt. Eingeführt wurde der Begriff der Lebenskraft durch Friedrich Casimir Medicus (1736–1808) im Jahr 17744 und durch die Vitalisten am Ende des 18. Jahrhunderts, ausdifferenziert besonders durch Christoph Wilhelm Hufeland, als Prinzip aller Lebensvorgänge, der Selbsterhaltung und der Regeneration. Samuel Hahnemann (1755–1843), der oft mit dem Begriff der Lebenskraft in Verbindung gebracht wird, bezog sich erst in seinem Spätwerk auf dieses Prinzip, wenngleich mit anderen Handlungskonzepten: denen der Homöopathie. Dessen ungeachtet hat Hahnemann sehr differenzierte und allgemeingültige Aussagen zur Lebenskraft publiziert: Er beschreibt sie in § 9 seines Organon 6 treffend wie folgt: „Im gesunden Zustande des Menschen waltet die geistartige, als Dynamis den materiellen Körper (Organism) belebende Lebenskraft (Autocratie) unumschränkt und hält alle seine Theile in bewundernswürdig harmonischem Lebensgange in Gefühlen und Thätigkeiten, so daß unser inwohnende, vernünftige Geist sich dieses lebendigen, gesunden Werkzeugs frei zu dem höhern Zwecke unsers Daseins bedienen kann.“5 Deutlich macht er hier, dass ein gesunder Körper kein Selbstzweck ist, sondern ein Werkzeug zu den höheren Zwecken unserer Existenz zu sein hat. Allerdings hat er keine besonders hohe Meinung von der Lebenskraft als „innerem Arzt“: So schrieb er: „Man sah in der gewöhnlichen Medicin die Selbsthülfe der Natur des Organisms bei Krankheiten, wo keine Arznei angewendet ward, als nachahmungswürdige Muster-Curen an. Aber man irrte sich sehr. Die jammervolle, höchst unvollkommne Anstrengung der Lebenskraft zur Selbsthülfe in acuten Krankheiten ist ein Schauspiel, was die Menschheit zum thätigen Mitleid und zur Aufbietung aller Kräfte unsers verständigen Geistes auffordert, um dieser Selbstqual durch ächte Heilung ein Ende zu machen.“6 Das Handlungsspektrum der Lebenskraft ist nur auf Dinge geprägt, die der Organismus kennt; auf Unbekanntes reagiert sie mit ihrem Repertoire, welches manchmal auch unangebracht ist und zu überschießenden oder Fehlreaktionen des Organismus führt.
In der Sprache der Psychoanalyse spielt das Es eine große Rolle. Gemäß dem Schichtmodell Sigmund Freuds gliedert sich die Persönlichkeit in drei Ebenen: das Es, das Ich und das Über-Ich. Ersteres ist das unbewusste, triebhafte, vegetative, animalische, selbsterhaltende, affektgesteuerte unkontrollierte Leben in uns, das zweite unsere gegenwärtige reale und selbstkritische Persönlichkeit, das dritte das verinnerlichte und von außen kulturell und biografisch vorgegebene Ich-Ideal. Bezogen auf Krankheit ist das Es das, was unkontrolliert in mir, in meinem Körper passiert, das Ich umfasst meine Wahrnehmung, Gefühle und Verarbeitung der Symptome, und das Über-Ich stellt die Kontrollinstanz dar, in der Rollen und Handlungsnormen festgeschrieben sind, die das Ich bewertet und die mir zum Beispiel „erlaubt“, krank zu sein. Ausdrücke wie „Mir ist schlecht“ machen deutlich, dass Beschwerden nicht dem „Ich“, sondern dem Es zugeordnet werden. „Mir geht es nicht gut“ bedeutet, dass es dem Es nicht gut geht, welches dem Ich ein Schnäppchen schlägt.
Rudolf Virchow (1821–1902) soll gesagt haben: „Ich habe Hunderte von Menschen operiert und nie eine Seele gefunden.“ Wir tun diesem großen Sozialmediziner Unrecht, wenn wir nur ebendieses Zitat herauspicken.
Wie und wo soll er sie auch gefunden haben? Die Seele ist etwas Immaterielles, aber wir wissen nicht, was. Griechisch psyche bedeutet „Hauch“, „Odem“, „Atem“, „Seele“, wovon sich Psychologie, die Lehre von der Seele, und auch Psychiater, der Arzt für die Seele, Psychotherapeut, der Behandler der Seele, ableitet. Der Seelsorger in engerem Sinne ist unerklärlicherweise der Theologie vorbehalten.
Das Atmen wird zu Recht als Zeichen des Lebens angesehen. Atemstillstand ist der Tod: Die Seele ist ausgehaucht. Früher wurde nach dem Tod eines Familienangehörigen das Fenster geöffnet, damit die Seele entweichen kann. Die Vorstellung, nach der die Seele dann woanders hinwandert, lebt weiter, ist die Grundlage für den Glauben an ein Weiterleben nach dem Tod, wie sie vielen Kulturen geläufig ist.
Zu allen Zeiten hat man sich Gedanken über die Seele gemacht. Für unseren westlichen Kulturkreis sind die griechischen Naturphilosophen maßgeblich: Für Platon (427–347 v. Chr.) war die Psyche, die Seele, geistartig und unsterblich: Sie lebt im Körper gefangen und wird durch den Tod befreit. Nun kann sie bis zur nächsten Wiedergeburt in die geistige Welt der Vorstellungen zurückkehren: Vorgeburtliches Seelenleben ist in diesem Denkmodell ebenso enthalten wie eine Wiedergeburt – die Reinkarnation. Nach Aristoteles (384–322 v. Chr.) hat die Psyche drei Facetten: Die vegetative Psyche, die Lebenskraft, erfüllt die Kriterien des Lebens: Wachstum, Ernährung und Fortpflanzung. Die empfindende, sensitive Psyche ermöglicht Sinneswahrnehmung und Fortbewegung. Psyche als Geist, die denkende, die rationale Vernunft, steuert Denken und Wollen und ist nur dem Menschen eigen.
Der Kirchenlehrer Thomas von Aquin (1225–1274) bleibt in der unmittelbaren Nachfolge des Aristoteles und prägt über die katholische Scholastik viele Jahrhunderte unsere Vorstellungen von der Seele, in der katholischen Kirche bis heute. Die menschliche Psyche ist geistigen Ursprungs und für die körperlichen, seelischen und geistigen Fähigkeiten verantwortlich. Er spricht von der Geistseele, die während der Zeugung zu Beginn der Schwangerschaft von Gott erschaffen wird.
Die atheistische Position ist die, dass der Mensch überhaupt keine Seele habe. Alle einer Seele zuzuschreibenden Phänomene seien nichts anderes als die noch nicht ausreichend erforschten Wirkungen von neuronalen Netzwerken und erlernten und vererbten Verhaltensmustern: Nicht nur der Körper des Menschen, auch seine Seele und sein Geist seien eine nur noch nicht vollständig verstandene Maschine. So kam Friedrich Nietzsche (1844–1900) zu dem Schluss, dass der Mensch ein Nervensystem, aber keine Seele habe. Der Mensch hat keine Seele, weil er keine braucht. Da die Existenz einer Seele nicht beweisbar ist, zitiert Voltaire (1694–1778) in seinem beißenden Zynismus den Soldaten, der vor der Schlacht betet: „Herrgott im Himmel, falls du existierst, rette meine Seele, falls ich eine habe.“7 René Descartes (1596–1650) vollzog die bis heute gültige Trennung zwischen beseelter und nicht beseelter Natur, indem er die ausgedehnten Dinge (res extensa) und die denkenden Dinge (res cogitans) unterschied, zu denen er nur den Menschen zählte: Cogito ergo sum. Nur er habe eine geistbegabte Seele, Vernunft und Denkfähigkeit. Gemäß dieser Definition sind bis heute Pflanzen und Tiere nicht nur im juristischen Sinne seelenlose Sachwerte.
Die Ansicht zur Seele in der Psychologie wurde durch Sigmund Freud (1856–1939), Carl Gustav Jung (1875–1961) und Leopold Szondi (1893–1986) in Fortentwicklung von der Philosophie umgekrempelt, als sie das Unbewusste als mögliche Ursache für menschliches Leid und Krankheit vermuteten. Hieraus entwickelte sich das oben genannte Schichtmodell der Persönlichkeit. Von C. G. Jung stammt die Aussage: „Ich weiß nicht, wo die Seele eigentlich aufhört.“ Seele ist Lebensenergie, Libido, und allen Lebewesen eigen. Ob Trieb, Gefühl, Empfindung oder Gedanken: Es ist immer dieselbe, die eine Energie, die eine Kraft in der gesamten belebten Natur.
Der Chirurg August Bier (1861–1949) beschrieb in seiner Monografie die Seele als fließende Energie. Seiner Vorstellung nach durchpulst sie den Körper und macht ihn lebendig, sodass er Reize empfangen und darauf reagieren kann.
Eine ganz neue Sicht, die einfach und einleuchtend ist, bringt die esoterische Philosophie, so vor allem die Theosophie und Anthroposophie. Sie sieht den Menschen als eine Dreiheit von Körper, Seele und Geist. Die Seele als belebende Kraft wird, der olympischen Flamme gleich, auf dem Wege der Vererbung von einem Lebensträger auf den nächsten weitergereicht. Wissende und Eingeweihte sprachen schon immer vom Seelenfunken und vom belebenden Feuer. Körper und Seele, die wir haben, stammen demnach aus der Jahrmillionen langen Erdentwicklung. Der Geist aber, der wir sind, hat seine ursprüngliche Heimat in der geistigen, göttlichen Welt, aus der er ehemals selbstverschuldet herausgefallen ist. Im Wiederaufstieg und auf dem Weg nach Hause ist ihm die Möglichkeit gegeben, in immer neuen Erdenleben sich so lange zu verkörpern, bis er jenen ursprünglichen Zustand der Reinheit wiedererlangt, den er verloren hat. Hier begegnen wir erneut der Auffassung Platons, der eine geistige, präexistente Seele annahm und für den die Geisteswelt die einzig wahre Wirklichkeit darstellt.