Heimaten - Petra Frerichs - E-Book

Heimaten E-Book

Petra Frerichs

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Beschreibung

Das Thema Heimat ist in letzter Zeit in der Diskussion, vielleicht gerade, weil wir in einer globalisierten Welt leben, wo Kriege und Krisen die Menschen zur Massenflucht aus ihrer Heimat treiben. Aber nicht nur global und als Kriegsfolgen, sondern auch im Frieden des Nahbereichs ist viel in Bewegung gekommen, wodurch sich die Bedeutung von Heimat gewandelt hat; etwa aufgrund von meist beruflich bedingten Ortwechseln, die dazu führen, dass der Lebensmittelpunkt sich verschiebt. Aus dem Zwang zur Suche nach einer Existenzgrundlage durch Ortswechsel ist die Neigung zur Horizont- und Erfahrungserweiterung geworden. Davon ist in diesem Buch die Rede: Aus persönlicher Erfahrung schildere ich unser Leben in sehr verschiedenen Heimaten, d.h. wie und warum die Orte Köln, Zimmerschied, Wilhelmshaven, Berlin, Wetzlar, Gießen, Bremen und Bielefeld zu solchen der Heimat geworden sind, so dass es Heimat nur im Plural geben kann.

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Inhalt

Vorwort

Köln

Was macht den Platz zum Platz?

Nippeser Büdchen

Von der Beugung des Euro

Das Basil’s

Der letzte Tante Emma-Laden

Ein Lesender in der Bierkneipe

Bei Franco im Standa

Nippes kulinarisch

Mimmo & Santo

Spaziergänge rund um Nippes

Heimat im Haus

Angrenzend: Der Eigelstein

Radio-, Kirchen- und Hochkultur

Zimmerschied

Wilhelmshaven

Berliner Kindheit

Wetzlar

Gießen: Abitur, Studium und die Liebe

Abschlüsse und Absprünge: Bremen

Bielefeld

Nachwort

Angaben zur Autorin

Vorwort

Wir wohnen seit 45 Jahren in Köln und seit 35 Jahren in Nippes (vorher 10 Jahre in der Südstadt). So lange wie in keiner Stadt zuvor – weder in den Herkunftsorten (Wetzlar/Emden) noch in den Orten unseres Bildungs- und Berufsweges (Gießen, Bremen, Bielefeld). Da schlägt man Wurzeln, und man kennt sich ziemlich genau und gut aus in seinem Nahbereich: Du gehst immer wieder in dieselben Geschäfte für die alltäglichen Besorgungen; du gehst dieselben Strecken beim Spaziergang; du besuchst „deinen“ Italiener; du gehst auf den Wochenmarkt und hast deine bevorzugten Stände; du gehst in deine Stammkneipe; du triffst Leute aus dem Viertel oder Nachbarn aus dem Haus, man grüßt sich, bisweilen hält man ein Schwätzchen; du gehst jeden Morgen zum Büdchen, um die Zeitung zu holen usw.usf. – natürlich kommt auch immer wieder Neues hinzu: ein Käseladen, eine faire und nachhaltige Boutique, eine kürzlich entdeckte Wegstrecke, doch das Gewohnte hat in der Regel Bestand. Mit Fug und Recht könnte man von Heimat sprechen, wäre da nicht dieser bittere Beigeschmack von Blut und Boden und völkischem Volk. Götz Eisenberg, der in zwei Büchern1 seine Alltagsbeobachtungen und kritischen Reflexionen aus dem Nahbereich festgehalten hat, unternimmt hierin auch den Versuch, den HeimatBegriff zu retten, um ihn nicht den Rechten zu überlassen.

Für ihn bezeichnet Heimat einen „Ort fragloser Zugehörigkeit und Geborgenheit; einen sozialen Nahraum, der Identität ermöglicht angesichts zunehmender Anonymität, Mobilität, Leere und Hektik, wie sie die Einkaufsstraßen unserer Innenstädte mittlerweile ausstrahlen. Nahraum als Kategorie der Emanzipation heißt: Aufsprengen der ghettoartigen Wohnverhältnisse vor allem für Alte und Kinder, Wiederbelebung der Nachbarschaftsbeziehungen, die Vermenschlichung der Architektur … und die Transformation der Städte, die unterm Diktat der Bodenspekulation … vollkommen durchkommerzialisiert sind, in einen Raum, in dem das Leben in seiner ganzen sinnlichen Fülle sich entfalten und seine öffentliche, gesellschaftliche Dimension zurückgewinnen und ausdrücken kann.“

Es geht um Orte, an denen Demokratie gelebt und erfahren werden kann, um Bindeglieder zwischen dem einzelnen und seinem Gemeinwesen. Verschwinden diese, werden Menschen sozial isoliert, und die Gefahr von Apathie und politischem Desinteresse wächst; beides sind Risikofaktoren einer sich ausbreitenden marktkonformen Demokratie. Beispielhaft führt der Autor sein Verständnis von Heimat an einem Wochenmarkt seiner Heimatstadt aus, der von der Schließung bedroht ist. Im Kontrast zur nüchternen, geschäftsmäßigen Gleichförmigkeit von Supermärkten schildert er die Vorzüge des Marktes: „Es ist, als beträte man eine andere Zeitzone, hier geht man hin, um Zeit zu verlieren, nicht um Zeit zu gewinnen oder einzusparen. Auf dem Markt sind die sinnliche Dichte der Welt und ihre saftige Fülle und Vielfalt noch erfahrbar. Er ist auch ein Ort der Balz und des Flirts. Man geht umher, schaut, wird angeschaut und durch Überkreuzungen entstehen Blickverhältnisse, deren Reiz darin liegt, dass die Beteiligten nie ganz sicher sein können, ob sie in der Realität oder nur in der Phantasie miteinander befasst sind. Und es wird viel gelacht auf dem Markt. Der Markt bringt einen spezifischen Humor hervor, der sich nur in dieser ökonomischen Nische und seiner spezifischen Zeitstruktur entfalten kann. Kurzum: Der Wochenmarkt ist eine Enklave der Ungleichzeitigkeit, ein bunter Fleck in einer verödeten und total kommerzialisierten städtischen Lebenswelt. Er ist Teil eines sozialen Immunsystems, eines Geflechts von sozialen Bindungen und Kontakten, das Menschen ebenso dringend benötigen wie das körperliche Immunsystem … Ein demokratisches Gemeinwesen braucht Orte, an denen Demokratie und Öffentlichkeit sich materialisieren und entfalten können, Orte, die sich libidinös besetzen lassen. Dazu gehören Theater, Parks, Schwimmbäder, botanische Gärten, Bibliotheken und öffentliche Plätze. All das, möchte man hinzufügen, was im Zuge vermeintlicher öffentlicher Sparzwänge von Kürzungen in seiner Existenz bedroht ist.“2

Hieran möchte ich anknüpfen und das, was Eisenberg als begriffliche Rahmung vorschlägt, mit meinen eigenen Erfahrungen und Beobachtungen aus unserem Leben im Viertel füllen.

Fangen wir an mit den Plätzen.

1 Götz Eisenberg: Zwischen Amok und Alzheimer. Zur Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus, Ffm. 2015; ders.: Zwischen Arbeitswut und Überfremdungsangst. Zur Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus, Bd. 2, Gießen 2016. Siehe die Doppelrezension von Joke Frerichs, in: Blog der Republik: Symptome der Gefährdung demokratischer Errungenschaften, 15.12.2016.

2 Oskar Negt schreibt in seiner autobiografischen Spurensuche zum Thema Heimat: „Die Verwurzelungsfähigkeit wird in der Regel, wenn Objektbindungen einmal im Leben glücken, zum unverlierbaren Bestandteil des ‚inneren Gemeinwesens‘ eines Menschen.“ Oskar Negt: Überlebensglück. Eine autobiografischen Spurensuche, Göttingen 2016, S. 226

Köln

Was macht den Platz zum Platz?

Denkt man an die wirklichen Plätze im Süden Europas, die platias in Griechenland oder die piazze in Italien, so assoziiert man damit ein buntes Treiben von früh bis spät in die Nacht, viele Menschen jeden Alters, lautstarkes Reden, Rufen, Spielen der Kinder oder der Männer beim Boule oder Boccia, Sitzen und Verweilen auf den Bänken, gut frequentierte Cafés und andere Lokale, den Straßenverkehr nicht durch den Platz, sondern drum herum geleitet, schattenspendende Bäume u.a.m. – jedenfalls jede Menge öffentliches Leben im Freien.

Schaut man sich die Plätze von Köln an, so fällt eine gewisse Polarisierung auf: Es gibt Plätze ohne Platzcharakter, die lediglich Verkehrsknotenpunkte sind und auf denen die Fußgänger und Radfahrer um ihre Sicherheit bangen müssen (Rudolfplatz, Barbarossaplatz als arge Beispiele); und es gibt Plätze, die welche sind, obwohl sie nicht als solche ausgewiesen sind und keinen Namen haben. Dazu gehören in Nippes der von den Bürgern so benannte Schillplatz mit dem Bistro Gernot’s und dem Weinlokal Morio als Außengastronomien; in den wärmeren Jahreszeiten herrscht hier ein buntes Treiben mit spielenden Kindern und voll besetzten Tischen der Gäste (inzwischen hat sich auch offiziell seine Benennung als Schillplatz durchgesetzt). Auch dazu gehört der Platz zwischen dem Goldenen Kappes und der Kneipe Alt Neppes, in der Mitte der Obst- und Gemüsestand vom Kerschkamp (den es nun leider nicht mehr gibt, s.u.). Sein besonderer Schmuck sind drei prächtige Bäume im Platzmittelpunkt, die in der Adventszeit mit bizarr anmutenden Lichternetzen überzogen sind; eine Augenweide, weit und breit so im Viertel nicht zu sehen – fast wie auf den Champs Elysée in Paris. Sitzt man hier auf der zentral stehenden Bank oder beim Kölsch im Außenbereich der Kneipen, kann man trotz des Verkehrslärms der Neusser Straße auch hier ein buntes Leben beobachten, das neben den Gästen der Außengastronomie auch die Passanten kreuz und quer umfasst. Zu beobachten und zu unterscheiden sind nicht nur junge und alte, schnell und langsam, eilig und gemächlich Vorübergehende, auch solche sehr verschiedenen Aussehens, was auf ihre diversen Herkünfte schließen lässt, solche, die Kinderwagen schieben, Schwangere und Nicht-Schwangere, solche, die sich begegnen, grüßen, umarmen oder sich nicht kennen und einfach vorbeiziehen – und doch verbindet dieser kleine Platz, zu dem auch eine Fußgängerampel gehört, die den Autoverkehr anhält, auf anonyme Weise alle, die ihn betreten oder passieren.

Auch die Leute, die zu den Gästen der Lokale zählen, unterscheiden sich sozial und kulturell: der Goldene Kappes wird eher vom Laufpublikum und einer eher (klein)bürgerlichen Klientel frequentiert, während im Alt Neppes eher kleine Leute, aber auch Freaks und Goldkettchen-Rentner ihr zweites Zuhause haben. Stammpublikum überwiegt. Kerschkamps bilde(te)n die Komplettierung in dieser Konstellation, mit deutlicher Hinwendung zu Alt Neppes, allein schon personell: Andy, der ehemalige Fischverkäufer von Kerschkamps, ist Stammgast hier wie schon seine Mutter Claudia, die später Hähnchen in der Bude nebenan verkaufte. Natürlich ist Woche für Woche hier der FC Köln zu sehen und mitzuerleben im großen Kreis der Fangemeinde; aber hoch oben über der Eingangstür hängt auch die BVB-Fahne, was auf eine stabile Dortmund-Anhängerschaft schließen lässt. Es geht sehr familiär zu zwischen den Lokalitäten; wenn samstags nachmittags Feierabend ist, laufen/liefen die Kölsch schon einige Zeit davor von der Kneipe zum Gemüsestand, wahrscheinlich auch mitten in der Woche. Man kennt sich, man mag sich, man sieht sich tagtäglich, man braucht sich schon für ein Schwätzchen, man foppt sich und witzelt miteinander. Solche Rituale gehören zum Alltag und versüßen ihn. Und die, die regelmäßig oder auch zufällig einmal dazu stoßen, werden nicht schäl angeguckt, sondern sind im Prinzip willkommen – es sei denn, sie missachten ungeschriebene Regeln des friedlichen Zusammenseins. Auch das macht diesen Platz zum Platz.

Nippeser Büdchen

Jeden Morgen gehe ich zum türkisch betriebenen Kiosk direkt an der Haltestelle Florastraße, um den Kölner Stadt-Anzeiger zu holen. Dieser hat für mich Frühaufsteherin den Vorteil, bereits um Viertelsieben zu öffnen, so dass ich zum Frühstück Zeitung lesen kann. Mit Ahsen (gesprochen: Achsenn), eine der drei Personen, die im Kiosk die Waren verkaufen, habe ich mich ein wenig angefreundet, seit kurzem duzen wir uns. Sie ist klein von der Statur, schlank und hat, neben auffallend großen, immer geschminkten Augen, schöne grau-melierte Haare im flotten, asymmetrischen Kurzhaarschnitt. Sie spricht auffallend gut Deutsch, so dass ich schon auf einen gewissen Bildungshintergrund geschlossen hatte (man lernt im Erwachsenenalter besser eine Fremdsprache, wenn man über etwas kulturelles Kapital verfügt, so meine Beobachtung im Alltag und mit Rückschlüssen auf Bourdieus Ansatz). Dieser Tage eröffnete sie mir, dass sie große Sehnsucht nach ihrer Heimat verspüre und plane, zurückzugehen. Sie kommt aus der westlichen Türkei, nahe Izmir. Ich erfahre von ihr, dass sie vor 15 Jahren „aus politischen Gründen“ nach Deutschland/Köln emigriert ist und dass sie in der Türkei das Gymnasium besucht hatte. Auf meine Frage, wie sie die politische Lage heute einschätze, sagt sie, Erdogan sei ein Faschist und bereite faktisch eine Diktatur vor mit immer mehr Machtfülle seines Amtes, Vetternwirtschaft etc. Doch das könne sie heute nicht mehr abhalten von ihrem Plan, zurückzukehren; in der Gemeinde sei sie sicher. Sie brauche die Sonne, die Wärme, das Meer und die Menschen ihrer Heimat. Ich bin beeindruckt von ihrem Mut und ihrer Zielstrebigkeit und kann sie nur darin bestärken, das zu realisieren, um noch etwas aus ihrem Leben zu machen.

Daran kann man mal sehen, was sich so alles im Büdchen verdingt – für wenig Geld und vielen Stunden Arbeit.

Später: Meine Büdchenfrau Ahsen bietet mir eines Tages einen Kaffee aus ihrem kleinen Automaten an. Ich bitte sie, mir von ihrem Leben zu erzählen – warum sie aus der Türkei weggegangen und hier hergekommen ist, was sie vorher gemacht hat usw. Sie hat nach dem Abitur Musik mit Schwerpunkt Klavier studiert. In den frühen 1980er Jahren herrschte eine Militärjunta, und das politische Leben war lahmgelegt, sämtliche Parteien verboten. Sie hat sich gleichwohl politisch engagiert und kam dafür ins Gefängnis, wo sie anderthalb Jahre inhaftiert war, auch gefoltert wurde. Sie lernte – hier? – ihren späteren Mann kennen. Nach der Entlassung wurden sie ein Paar und sie schwanger. Sie lebten als Illegale mit gefälschten Papieren in der Türkei. Das Kind war wenige Monate alt, als sie zusammen die Flucht ergriffen: über Griechenland, die Balkan-Route bis in die DDR, und dann in den Westen Deutschlands. Ihr Mann wurde ein erfolgreicher, selbständiger Geschäftsmann und verdiente viel Geld. Sie lebten auf großem Fuß – große Wohnung, großes Auto alles war groß bei uns. Zehn Jahre nach dem ersten Kind wurde sie noch einmal schwanger. Im vierten Monat stellte sie fest, dass ihr Mann sie betrog und fremdging. Daraufhin trennte sie sich von ihm. Er wollte ihr die Wohnung und das Inventar überlassen, doch sie lehnte ab – nur eine Stelle wollte sie haben, damit sie sich und die Kinder reproduzieren konnte. Diese Stelle (ich weiß nicht, um welche Berufsposition es sich handelte, vorher hatte sie als Erzieherin in einer Kita gearbeitet), die er ihr besorgt hatte, war in Düsseldorf, und es wurde für sie als Alleinerziehende schwer, das zu organisieren. Sie war ständig unterwegs, bis es nicht mehr ging. Aus dem Verkaufserlös der großen Wohnung bestritt sie eine Weile den Lebensunterhalt für sich und die Kinder. Sie habe sich von dem großen Bekanntenkreis ihres Ex-Mannes nach der Scheidung verabschiedet und sich immer mehr zurückgezogen. Sie litt unter der Einsamkeit und der Last ihres Lebens. Sie habe sich immer wieder gefragt, ob das ihr Leben gewesen sein soll oder eher ihr Schicksal und was sie noch erreichen und ändern kann. Erreicht hat sie, die Kinder großgezogen zu haben: ganz allein