Texte und Kontexte - Petra Frerichs - E-Book

Texte und Kontexte E-Book

Petra Frerichs

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Beschreibung

Versammelt sind literarische Besprechungen und Essays aus den letzten Jahren. Seit dem Erscheinen meiner Bücher Momentaufnahmen (2010) und Vom Glück zu finden (2016) sowie den gemeinsam mit Joke Frerichs verfassten Büchern mit Rezensionen über Gelesenes (s. Angaben zur Autorin) hat sich einiges an Texten angesammelt, das zwar allermeist bereits online im Blog der Republik erschienen ist, nun jedoch in Buchform publiziert werden soll. Wie dem Inhaltsverzeichnis zu entnehmen ist, geht es bei diesen Besprechungen selten um Neuerscheinungen, vielmehr wird primär an Literatur aus der Vergangenheit erinnert, die ich für so wertvoll halte, dass sie nicht in Vergessenheit geraten und wiedergelesen werden sollte. Thematisch-inhaltlich und von Genre her ist ein breites Spektrum abgesteckt: Von Klassikern der Weltliteratur bis Fundstücken in den Nischen der literarischen Öffentlichkeit, von Romanen bis autobiografischen Werken, deutscher und ausländischer Literatur, Poesie und Sachbüchern. Insgesamt sind diese Texte dem Credo Gegen das Vergessen verpflichtet.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Henning Boëtius: Der Gnom. Lichtenberg-Roman

Edgar Allan Poe: Das Grauen, der Scharfsinn und die Poesie

Poe – Baudelaire – Arno Schmidt

Pascal Mercier: Perlmanns Schweigen

Annette Lorey: Nelly Mann. Heinrich Manns Gefährtin im Exil

Klaus Modick: Sunset

Lion Feuchtwanger: Goya oder Der arge Weg der Erkenntis

Hans Mayer: Deutsche Literatur 1945-1985

Christa Wolf: Nachdenken über Christa T.

Christa Wolf: Kindheitsmuster

Luise Rinser: Den Wolf umarmen

Walter Kempowski: Tadellöser & Wolff

Ingeborg Bachmann: Erzählungen

John Cowper Powys: Wolf Solent

Virginia Woolf: Die Fahrt hinaus

William Faulkner: Schall und Wahn

Hermann Hesse: Narziß und Goldmund

Theodor Fontane: Irrgungen – Wirrungen, Stine

Theodor Fontane: Der Stechlin

Elias Canettis Autobiografie: Eine kulturelle Zeitgeschichte Europas

Hermann Broch: Die Schlafwandler

Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften

Virginie Despentes: Das Leben des Vernon Subutex

Annie Ernaux: Die Jahre

Doris Lessing: Das Tagebuch der Jane Somers

Wolfgang Hildesheimer: Tynset

Wolfgang Hildesheimer: Paradies der falschen Vögel

Fritz J. Raddatz: Heine

Lev Tolstoi: Krieg und Frieden

Joke Frerichs: Das Haus des Dichters

Angaben zur Autorin

Vorwort

Versammelt sind literarische Besprechungen und Essays aus den letzten Jahren. Seit dem Erscheinen meiner Bücher Momentaufnahmen (2010) und Vom Glück zu finden (2016) sowie den gemeinsam mit Joke Frerichs verfassten Büchern mit Rezensionen über Gelesenes (s. Angaben zur Autorin) hat sich einiges an Texten angesammelt, das zwar allermeist bereits online im Blog der Republik erschienen ist, nun jedoch in Buchform publiziert werden soll. Wie dem Inhaltsverzeichnis zu entnehmen ist, geht es bei diesen Besprechungen selten um Neuerscheinungen, vielmehr wird primär an Literatur aus der Vergangenheit erinnert, die ich für so wertvoll halte, dass sie nicht in Vergessenheit geraten und wiedergelesen werden sollte. Thematisch-inhaltlich und von Genre her ist ein breites Spektrum abgesteckt: Von Klassikern der Weltliteratur bis Fundstücken in den Nischen der literarischen Öffentlichkeit, von Romanen bis autobiografischen Werken, deutscher und ausländischer Literatur, Poesie und Sachbüchern. Insgesamt sind diese Texte dem Credo Gegen das Vergessen verpflichtet.

Henning Boëtius: Der Gnom. Lichtenberg-Roman

Der Roman erschien 1989; an ihn soll über 30 Jahren später erinnert werden. Denn es handelt sich um ein seltenes Dokument biographisch-literarischer Entschlüsselung eines Gelehrtenlebens, das voller Widersprüche, Ambiguitäten und Obsessionen war, nämlich das des Georg Christoph Lichtenberg, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gelebt und gewirkt hat. Körperlich mit dem Makel der Kleinwüchsigkeit und doppeltem Buckel aufgrund eines verdrehten Brustkorbs versehen, verfügte er kompensatorisch über genialische Geisteskräfte, die so vielfältig waren (in den Bereichen Mathematik, Astronomie, Physik, Satire/Literatur, Philosophie), dass sie schon wieder zum Problem wurden: Noch gegen Ende seiner Lebenszeit fragte sich Lichtenberg selbst, was er denn nun sei – ein Identitätsproblem war es weniger als eines der Entscheidung. Denn Forscher, Wissenschaftler, Gelehrter war er allemal.

Henning Boëtius zeichnet mit viel Einfühlungsvermögen ein realistisches Bild von Lichtenberg, den er stets Georg nennt, aus der Kinder- und Jugendzeit gewählt, um so nah wie möglich an seiner Hauptfigur dran zu sein. Dabei wird sichtbar, dass bestimmte Eigenschaften, Vorlieben und Abneigungen, Verhaltensmuster von Kindheit an angelegt waren: so die Einsamkeit, die er, weil selbstgewählt, als Stärke empfand; so die Leidenschaft des Beobachtens und sich als Kind dabei Versteckens, als kröche er in sein Schneckenhaus; so die Liebe und Sexualität, die er anfangs nur erleben konnte, wenn er unsichtbar blieb; er war auch von klein auf ein großer Träumer, und aus späteren Jahren heißt es dazu: Merkwürdig, daß Träume zwischen Vergangenheit und Zukunft keinen Unterschied machen. Für Träume steht die Zeit still. Deshalb liebte er sie so.

Hier soll nun keine Rekonstruktion des Lebensweges Lichtenbergs aufgrund des Romans vorgenommen werden, vielmehr soll das Augenmerk auf die Person und die schon angedeuteten Dilemmata gelegt werden, so wie sie der Roman bereitstellt.

Das Problem, sich nicht entscheiden zu können oder zu wollen bzw. anderes zu wählen als zu erwarten war, zeigt sich bereits bei der Wahl seines Studienortes: nicht nach Gießen (damals die hessische Metropole der naturwissenschaftlichen Forschung und akademischen Ausbildung) zog es den gebürtigen Darmstädter, sondern nach Göttingen, wo der berühmte Mathematiker A. G. Kästner lehrte. Und nach Studienabschluss wollte er, wenn auch nur als Hauslehrer, unbedingt in Göttingen bleiben, auch wenn ihm eine lukrative Professur in Gießen zugesagt war. Ein Studienfreund bescheinigt ihm, über ungewöhnliche Talente zu verfügen, die Georg seines Erachtens verschleudere. Zu diesen zählt vor allem, in einem einzigen Satz die voneinander entferntesten Dinge in einen Zusammenhang zu bringen. Und weiter:

Du hast einen bestimmten Witz, einen natürlichen Hang zur Satire, der vielversprechend ist. Du kannst leicht und spielerisch schreiben und dabei zugleich ernste Themen in ein ihnen angemessenes Licht rücken. Das ist in Deutschland ein höchst seltenes Talent. Gewöhnlich findet man es nur in England, wo niemand ein vernünftiges Wort zu sagen vermag, ohne es mit einer feinen Schicht aus Spott zu glacieren. So solltest du schreiben. Du bist immer noch zu akademisch. Wahrscheinlich liegt das daran, daß Du ein Stubenhocker und Büchernarr bist. Dir fehlt es an Reisen.

Das ging nicht spurlos an Georg vorbei, zumal er auf den Freund bauen konnte. Auch er selbst ist sich klar darüber, dass er viel zu zögerlich ist in seinen Entscheidungen und seiner schon früh angelegten Affinität zu England nachgehen sollte. Und so unternimmt er dann auch seine erste große England-Reise, wo ihm König Georg III. höchst persönlich nicht nur einen freundlichen Empfang bereitet, sondern ihm auch alle möglichen Annehmlichkeiten, Kontakte und Beziehungen angedeihen lässt, die ihm förderlich sein sollen.

Ein zweiter mehrwöchiger Aufenthalt Jahrzehnte später bescherte Lichtenberg alles, was er sich nur denken und wünschen konnte, nämlich beste Forschungsbedingungen, tiefe Freundschaften, Anerkennung und Reputation, fürstliche Bezahlung u.a.m. Recht eigentlich geht es ihm hier in jeder Hinsicht besser als in Göttingen, er wird hofiert und eingeladen, auf Dauer in England zu bleiben – doch Lichtenberg zögert und zagt, bis er sich dagegen entscheidet und nach Deutschland zurückkehrt. Ganz nach dem Muster, sich nicht festlegen zu wollen, sich nicht entscheiden zu können. Und das, wo er Englisch wie seine Muttersprache spricht, wo er Shakespeare und dessen Theater rühmt, weil es von breiten sozialen Schichten verstanden und in Scharen besucht wird, was auch mit der Sprache zu tun hat. Georg war sich nach der Aufführung sicher, daß es nie einen deutschen Shakespeare geben würde und daß dies an der Sprache läge, die zwar schön ist, sich aber allen Gegenständen auf Stelzfüßen nähert. Seine Leidenschaft für das Theater gründet darin, dass ihm das fiktive Leben auf der Bühne als Medizin gegen die Krankheit des wirklichen Lebens erschien. England sollte sein Leben lang Lichtenbergs heimliche Liebe bleiben. Ausdruck davon ist, dass er sich (teures) englisches Bier schicken ließ, das er als poetische Flaschenpost ansah.

Lichtenberg, auch in Deutschland längst Professor der Physik, war ein Forscher durch und durch. Er liebte das Beobachten und Experimentieren, ordnete von früh bis spät Versuche an und machte so manche bahnbrechende Entdeckung; so etwa fand er heraus, dass die Elektrizität doppelpolig in plus und minus angelegt ist oder was es mit der Luft und der Thermik auf sich hat; sein ganzer Stolz waren seine kostbaren Instrumente und sein Observatorium. Er wechselte ein Forschungsgebiet, wenn sein Interesse daran erlahmte, gegen ein anderes; war überwiegend Naturwissenschaftler, aber auch in der Philosophie beschlagen (seine Kant-Lektüre war ihm ein erotisches Vergnügen); seine privat organisierten Vorlesungen wurden in späteren Jahren von hunderten Studierenden aufgesucht. Sein Name erlangte Berühmtheit, er war eine höchst anerkannte Kapazität, wenn auch nicht ohne Neider und Konkurrenten. Ihn suchten Geistes- und Standesgrößen aus Wissenschaft, dem Adel, Klerus und der Kunst auf oder heim, wie man will: Der Besuch der Großfamilie von Hardenberg etwa, im Schlepptau war der Geheime Rat Göthe, kam einer Heimsuchung gleich, und an der Schreibweise des Namens von Goethe wird die abschätzige Beurteilung des Gastgebers deutlich. Georg beobachtete den Geheimen Rat Göthe aus dem Augenwinkel. Ihm schien, daß er nie ein unbewegteres Antlitz gesehen hatte. In dem künstlichen Licht sah er wie von Gips gegossen aus.

Auch Klopstock kommt nicht gut weg. Ein Hochwürden des geistigliterarischen Lebens, den Lichtenberg als geladener Gast einer kulturellen Veranstaltung so erlebt: Als Rahmenprogramm wurde musiziert. Klopstock sagte kein Wort. Er applaudierte auch nicht. Ein mildes Desinteresse ging von ihm aus. Georg wußte, daß er an diesen Lesestunden gutes Geld verdiente. Irgendwie verstand er den Mann. Er hatte im Grunde nichts zu sagen. Deshalb blieb ihm nichts anderes übrig, als möglichst vielsagend ins Leere zu blicken. Und als Klopstock bei der Verabschiedung Lichtenbergs diesem mit beiden Händen aufs Schiff hilft, indem er ihn hochhievt, wird spöttisch bemerkt: ‚Starke Hände hat er‘, dachte Georg, ‚zweifellos hat er seinen Beruf verfehlt.‘

Lichtenberg war ein Meister der Satire und des Spotts, er war angriffslustig gerade gegenüber Respektspersonen und Berühmtheiten wie etwa dem großen Schweizer Physiognomiker Lavater. In einem Zeitschriftenartikel unter dem Titel Über Physiognomik. Wider die Physiognomen. Zur Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntnis schreibt er unter anderem:

Bezieht man denn alles im Gesicht auf Kopf und Herz? Warum deutet ihr nicht den Monat der Geburt, kalten Winter, faule Windeln, leichtfertige Wärterinnen, feuchte Schlafkammern, Krankheiten der Kindheit aus den Nasen? Was bei dem Manne Farbe wirkt, wirkte bei dem Kind Form … Daher vermutlich die regelmäßigeren Gesichtszüge der Vornehmen und Großen, die sicherlich weder an Geist noch Herz Vorzüge besitzen, die wir nicht auch erreichen könnten. Oder ist Versehen der Seele und der Amme einerlei, und wird die erstere nach Verdrehung ihres Körpers ebenfalls verdreht, daß sie nun gerade einen solchen bauen würde, wenn sie wieder einen zu bauen kriegte? Wie?

Lichtenberg nimmt hier Partei für die sozial und körperlich Benachteiligten, all die, die unter Not und ungesunden Bedingungen aufgewachsen sind und deshalb nicht über die ebenen Gesichtszüge und den perfekten Körperbau verfügen wie die Wohlhabenden (und er bezieht sein eigenes Schicksal der körperlichen Versehrtheit voll mit ein); deswegen all diese für minderwertig anzusehen, verbittet er sich. Man kann in dieser Polemik durchaus eine frühe Kritik der Rassenlehre sehen, die zweihundert Jahre später den Nationalsozialisten zur Legitimation der Judenverfolgung diente.

Trotz aller gesellschaftlichen Anerkennung, die Lichtenberg zuteilwurde, war und blieb er ein einsamer und unglücklicher Mensch voller Skrupel und Selbstzweifel. Darauf deuten etliche Stellen im Roman hin. Da heißt es etwa, dass er große Angst vor Endgültigkeiten hatte. Oder es ist die Rede von einem Dilemma der Unentschiedenheit zwischen der Reinheit – sei es ein weißes, noch unbeschriebenes Blatt Papier oder sei es ein unberührtes Mädchen – und dem Gebrauch, der Vernutzung auf Kosten des Reizes.

Es gab kein Entrinnen aus diesem Widerspruch. Wie immer konnte er nur abwarten, nur verzögern, nur die Entscheidung für das eine oder das andere, das leere oder das beschriebene Papier, die Jungfrau oder die Ehefrau auf später verschieben. Und deshalb kam er sich feige vor, deshalb ging es ihm schlecht, deshalb fühlte er sich krank.

Die vielen Talente, über die Lichtenberg verfügte und die er forschend und schreibend auf den verschiedenen Gebieten realisierte, bescherten ihm kein stabiles Selbstbewusstsein, im Gegenteil, sie verwirrten ihn auch und machten ihn unsicher und ratlos. Er litt unter der Zerrissenheit seiner Existenz.

Aber was wollte er eigentlich? Wollte er Satiriker, Rezensent, Schriftsteller werden? Oder Astronom? Oder Physiker? Freund des Königs? Er wußte es nicht. … So war es wirklich mit seinem Leben: Es gab zuviel Zusammenhang, zuviel Ansätze, zuviel Verliebtheiten, zuviel Begonnenes und nicht Zuendegeführtes. Er mußte endlich eine Lücke finden, durch die er hindurchschlüpfen konnte in ein deutlicheres Dasein.

Immer wieder geht es um das Dilemma der Entscheidungen; sich nicht festlegen zu können oder zu wollen, ist das zentrale Verhaltensmuster Lichtenbergs, das ihm, wenn nicht zum Verhängnis, so aber doch zum strukturellen Unglück geworden ist. Einerseits zuviel von allem, andererseits alles nur halb. So sieht seine Lebensbilanz aus, wenn er von sich sagt, er habe ein Leben voller Halbheiten geführt. Wenn er ehrlich zu sich war, mußte er eingestehen, daß er sich ein Leben aus Halbheiten aufgebaut hatte wie eine unzulängliche Versuchsanordnung in seinem physikalischen Kabinett. Er war halb Schriftsteller, halb Physiker, er war halb verheiratet und halb Vater. Er war halb krank und halb gesund. Auch sein Ruhm war nicht ohne Halbheiten. Auf die Spitze des Selbstzweifels getrieben, heißt es, alles wirkte so, als sei er ein genialer Kopist seiner selbst. Das Original schien verloren.

Radikaler kann man sich die kritische Bilanzierung eines Gelehrtenlebens kaum vorstellen.

Und das, obwohl er doch so vieles geleistet und geschaffen und gedacht und geschrieben hat, allen voran auch seine implizite Pädagogik, in der er Witz und Wahrheit zusammenbringen wollte:

Auch er wollte die Menschen erziehen, aber möglichst so, daß sie es kaum bemerkten. Und er wollte ebenfalls Täuschung und Lüge bekämpfen, indem er sie enthüllte. Doch sollten die Betroffenen dabei lachen können. Das würde sie vielleicht am ehesten bekehren.

Zu guter Letzt war Lichtenberg also auch ein Aufklärer und als solcher ein Geistesverwandter von Lessing. Beide schätzten sich gegenseitig. Lichtenberg war ein Aufklärer mit Humor – doch das wäre dann noch ein Talent neben den vielen anderen, für ihn selbst zu viel, für die Nachwelt unschätzbar. Ein genialer Roman über einen genialen Menschen.

Edgar Allan Poe: Das Grauen, der Scharfsinn und die Poesie

Es war eine kleine zweibändige Ausgabe des Könemann Verlags mit ausgewählten Werken, die mir einen ersten Zugang zu E. A. Poe verschaffte, bevor wir uns später die prächtige, sorgfältig edierte Gesamtausgabe, erschienen im Walter-Verlag (siehe unten), zulegten.

Im ersten Bändchen sind die ausgewählten Geschichten in drei Rubriken aufgeführt: Arabesken, Detektivgeschichten, Faszination des Grauens. Ich habe nach und nach alle gelesen. Als erstes war ich von der Sprache eingenommen: Eine die Leserin und den Leser direkt einbeziehende, sehr verbindliche An-Sprache, dabei durchaus intellektuell in der Diktion, v.a. wenn es typischerweise um die Erzählung von Begebenheiten geht, die mit höchster Gedankenschärfe rekonstruiert und deren mysteriöse Fallstruktur enträtselt und aufgeklärt werden müssen.

Allen voran die Detektivgeschichten. Sir Arthur C. Doyle, der Schöpfer des Sherlock Holmes, war wohl Zeitgenosse Poes und von daher der Nachahmung eher unverdächtig; aber der Spätgeborene Umberto Eco hat ganz sicher bei Poe maßgenommen, wenn er seine Methode der Abduktion entwickelt und im Namen der Rose angewendet hat. Poe ist ein Meister des logischen Schließens, des Aufspürens von Indizien und ihrer genauesten Analyse; hier sind alle Sinne gefragt, während der Intellekt die Arbeit des Zusammenfügens von Partikularem, des logischen Schließens und Kombinierens, des Dechiffrierens, des Verwerfens und erneuten (Ver-)Suchens leistet. So weist die typische Kriminalgeschichte neben dem Erzähler einen Mann von höchster Intelligenz auf, der zur Lösung oder Aufklärung eines mysteriösen (Mord-)Falles als letzte Hoffnung der Behörden heran oder hinzu gezogen wird; damit nicht noch mehr Zeit verstreiche, in der man im Dunkeln tappt. Eine solche Geschichte endet, wie in einem guten Krimi, mit der lückenlosen Beweiskette, vom Meister nicht ohne Stolz, gleichwohl in aller Bescheidenheit vorgeführt.

Ein anderer Erzähltypus sind die Gruselgeschichten. Auch hier kommt das Markenzeichen des methodischen Vorgehens unter Aufbietung messerscharfen Denkens – etwa bei der Planung eines Verbrechens – zum Tragen. Auch die Selbstanalyse in allen Stadien des Hergangs ist ein wiederkehrendes Mittel der Darstellung, wie z.B. in Der schwarze Kater oder Die Grube und das Pendel. Hier wird nun zusätzlich Psychologie im Sinne des Spiegels der eigenen Seelenverfassung zum Programm, Gefühlslagen wie das Aufkommen von Hass gegen eine wehrlose Kreatur wie den Kater, die Gewissensqualen infolge einer Untat oder die minutiöse Schilderung von Angst und Schrecken in einer mittelalterlichen Folterkammer aus der Perspektive des Opfers. So anschaulich und zwingend wird die Bedrängnis gespiegelt, dass man selbst beim Lesen in Nöte kommt.

Grausamkeiten, extreme Gefühlslagen, Schreckensbilder am Rande des Vorstellbaren – wie kommt Poe auf solche Themen? Und was haben sie zu bedeuten? Und warum ist Charles Baudelaire so besessen von ihm, macht ihn zu seinem ästhetischen Geistesverwandten? Warum auch Arno Schmidt als Verehrer, intimer Kenner und Übersetzer Poes? Der Abgrund, der sich in dessen Erzählungen jeweils auftut, die Wahl des Genres Grauen, Schrecken, Horror, Gewalt, Verbrechen, Qualen steht für mehr als für das Konkrete in den Geschichten. Die Affinitäten zwischen Poe, Baudelaire, Schmidt gründen womöglich auf der Gemeinsamkeit der Kritik an den strukturellen Gewaltformen der Moderne. Diese Kritik, so vermute ich, gilt den Auswüchsen der kapitalistischen Ökonomie, den Schocks (Baudelaire, Benjamin), die sie auslöst, will der Wahrnehmungsapparat des Individuums ihren rasanten technischen Entwicklungen auch nur folgen, den Häßlichkeiten, die sie als Abfall all des Glanzes ihrer Warenästhetik (W. F. Haug) hervorbringt, der Erniedrigung der Massen, der Opfer, die in ihrer Verzweiflung notfalls zur Gewalt greifen – beim Kampf ums Überleben und um das, was an Würde sich noch in ihnen regt. Das klingt bis heute ziemlich aktuell.

Poe – Baudelaire – Arno Schmidt

Es gibt glückliche Fügungen, die sich sogar mehrmals in der (Literatur-) Geschichte ereignen können. Charles Baudelaire übersetzt Poe Mitte des 19. Jahrhunderts ins Französische und schreibt mehrere Abhandlungen über dessen Leben und Werk, vornehmlich über seine Erzählungen, dann über Poe als Kritiker und schließlich über ihn als Lyriker. Hundert Jahre später macht sich Arno Schmidt an das Großprojekt einer neuen Poe-Übersetzung ins Deutsche, zusammen mit Hans Wollschläger und anderen Kennern des Poeschen Werks. Ausgangspunkt war eine katastrophal schlechte Übersetzung von W. Carl Neumann bei Reclam. Und auch Schmidt schreibt – wie Baudelaire – über Poes Sprach-, Erzähl- und Dichtkunst. Wiederum sechzig Jahre später komme ich, meine Wenigkeit angesichts solcher Größen, in den Genuss von all dem. Mein größtes Glück: In einem kleinen Antiquariat auf dem Eigelstein im Kölner Norden finden wir die 10bändige „Schmidt-Ausgabe“ von Poe. Nun sind mir alle Schätze verfügbar und die Abhandlungen von Baudelaire und Schmidt eine wertvolle Richtschnur bei der Lektüre von Edgar Allan Poe.

Arno Schmidt wirbt für eine Neuübersetzung beim Verleger, indem er diesem die ganze Größe Poes vordekliniert. Die macht er u.a. daran fest, dass Poe auch ein begnadeter Langfinger gewesen sei, aber vom Vorwurf des Plagiats – wie Brecht – meilenweit wegzurücken. Die Ascher-Geschichte beispielsweise, eine kleine banale Story mit Tatsachenhintergrund, stamme ursprünglich von H. Clauren, die Poe auch gelesen habe. Was dieser in seiner Erzählung dann daraus mache, sei große Literatur und nur einem Genius vergönnt, argumentiert Schmidt. Ähnlich liegt bekanntlich der Fall Bertolt Brechts mit der Dreigroschenoper.

Höchst amüsant dann Schmidts Abrechnung mit Herrn Neumann, dem er in einem fiktiven Brief sein zerstörerisches Werk an der Sprache Poes vorhält. In bekannt genialer Manier zerpflückt er die schlechte Vorlage an Beispielen und stellt diesen die eigene Übersetzung mitsamt den hehren Prinzipien, auf denen sie beruht, entgegen. So macht Arno Schmidt Edgar Poe hier bekannt, von dem er im Übrigen meint, dass er viel eher nach Europa statt nach Amerika gepasst hätte.

Gleiches hatte Baudelaire für Frankreich getan. Ich war angerührt, als ich diese tiefe Sym- wie Empathie vernahm, mit der Baudelaire über Poe spricht. Mit höchster Verehrung und tiefstem Verständnis setzt er alles daran, diesen noch weithin Verkannten in Frankreich bekannt zu machen. Das traurige Leben Poes, überwiegend in Armut und unter Alkoholsucht verbracht, der enorme Schaffenseifer, die extrem hohen Ansprüche an sich selbst und an andere Dichter, die Härte seiner Kritik, sein ästhetisches Credo, seine Poetik, all das Neue, Geheimnisvolle, perfekt Durchdachte und Konzipierte, sind Gegenstand der Analyse Baudelaires. Er tut dies aus der Warte des Geistes- oder Wahlverwandten, des Bruders in Sachen Einbildungskraft, Zartgefühl, Erhebung ins Überweltliche im Ton der Unsterblichkeit, der tiefsten Melancholie, wie etwa beim Gedicht The Raven. Dies las ich sogleich zweisprachig in unserer neuen Ausgabe, laut vor mich hin (im englischen Original) und war reichlich berührt von dieser Poesie.

Pascal Mercier: Perlmanns Schweigen

Über die Rahmenhandlung des Romans heißt es im Klappentext:

Ein Hotel an der ligurischen Küste im Spätherbst. Philipp Perlmann, ein angesehener Sprachwissenschaftler, erwartet eine Gruppe von berühmten Kollegen zu einem Forschungsaufenthalt. Umstellt von den hohen Erwartungen der anderen, wird Perlmann von der Einsicht überwältigt, daß ihm seine beruflichen Gewißheiten völlig abhanden gekommen sind. Diese Erfahrung macht die anderen für ihn zu bedrohlichen Gegnern. Verschanzt in einem entlegenen Zimmer des Hotels, flüchtet er sich in das Übersetzen eines russischen Textes, der von Selbstvergewisserung und der erzählerischen Aneignung handelt. Durch diese Flucht nach innen gerät Perlmann mit jedem Tag mehr in eine ausweglose Situation, die ihn schließlich in einen Strudel von Lügen und an den Rand eines Mordes treibt.

Der Roman (erschienen 1995) ist Peter Bieris Debüt, drei weitere, darunter der zum Kassenschlager gewordene Nachtzug nach Lissabon, werden folgen; alle sind unter dem Pseudonym Pascal Mercier veröffentlicht. Bieri hatte, bevor er diese Romane schrieb, eine wechselhafte Karriere als Wissenschaftler (Philosophie, Psychologie, Erkenntnistheorie) hinter sich, die er aus eigener Entscheidung vorzeitig beendete. Dieses biografische Detail ist wichtig für das Verständnis des Romans, der nicht nur als herausragender psychologischer Roman gilt, sondern auch den Wissenschaftsbetrieb durchleuchtet und die hier wirksamen Mechanismen hinterfragt. Diese nämlich haben Perlmann zum Psychopathen gemacht, eine Opferrolle, an der er selbst durch eigenes Zutun seinen Anteil hat: die Qualen, die er durchlebt, entstehen zum großen Teil durch Konstruktionen von vorweggenommenen sozialen Situationen, in denen die Angst vor den anderen, vor dem eigenen Versagen und die Unfähigkeit zur Abgrenzung die Oberhand gewinnen; Verfolgungswahn, Projektionen, gepaart mit einem erschütternden negativen Selbstbild, machen aus Perlmann einen schwachen, zerrütteten, verletzlichen Menschen, der niemandem traut, am wenigsten sich selbst. Die Abhängigkeit von der Gnade der anderen, ihm Anerkennung zu gewähren oder zu versagen, unterminiert sein Selbstbewusstsein und erzeugt das Gegenteil von Autonomie; die Macht, die andere über ihn haben, ist sowohl objektiv vorhanden – im Kampf um Anerkennung ist immer Macht im Spiel – als auch das Resultat von subjektiver Unterwerfung, Unterlegenheitsgefühlen und Projektion. Dass Perlmann Robert Walsers Jakob von Gunten als Reiselektüre bei sich führt, ist mehr als eine Fußnote, sondern Bedeutungsträger für eine Affinität im Selbstbild der Nichtswürdigkeit.

Das folgende Zitat verweist auf die Wechselwirkung von Innen und Außen, Fremd- und Selbstwahrnehmung; der russische Text, der hier vorkommt und von Perlmann ohne Wissen der anderen übersetzt wurde, ist der des zunächst an der Tagungsteilnahme gehinderten Vasilij Leskov; er sollte später zum corpus delicti werden:

Seine Angst vor der persönlichen Entblößung, davor, ohne jede Möglichkeit der Abgrenzung gegen die anderen dazustehen, mußte noch viel größer sein, als er bisher angenommen hatte, größer sogar als seine bewußten Empfindungen. Offenbar war sie so mächtig, daß die beiden anderen Möglichkeiten irgendwo in der Tiefe, ohne sein Zutun, abgeschieden worden waren und nichts anderes übrig blieb, als sich hinter Leskovs Text zu verstecken, der ihn gegen die anderen schützen sollte. Auf diese Weise war, ohne daß er es bemerkt hätte, der paradoxe Wille in ihm entstanden, seine Abgrenzung, die Verteidigung des Eigenen gegen das Fremde, durch ein Instrument zu erreichen, das gar nicht ihm selbst gehörte, nichts Eigenes war.

Wer sind die anderen? Es gelingt Mercier, mit nur sieben geladenen Gästen an der von der Firma Olivetti großzügig geförderten, sprachwissenschaftlichen Tagung eine Typisierung von Eigenschaften, Verhaltensweisen, Konkurrenzbeziehungen etc. aufzuzeigen, wie sie auch im normalen Wissenschaftsbetrieb an Universitäten und Instituten anzutreffen sind. Es sind vor allem die Interaktionen zwischen den Beteiligten, die Art und Weise, wie man miteinander umgeht, wie die jeweiligen Vorträge von den anderen aufgenommen, kommentiert und kritisiert werden, mithin die Kommunikationsstrategien, die hier ein Licht auf die Atmosphäre der Tagung werfen.

Einzig der besagte russische Sprachpsychologe Leskov, der erst absagen musste, später dann doch noch teilnehmen kann, fällt hier aus dem Rahmen: er ist existentiell ungesichert, schlägt sich an der Universität von St. Petersburg mit schlecht bezahlten Lehraufträgen durch; hat drei Jahre Gefängnis hinter sich; ist jedoch Wissenschaftler aus Emphase; bei ihm vereinigt sich Exaktheit mit tiefer Humanität, Intellektualität mit Warmherzigkeit und Empathie.

Am anderen Ende der Skala steht Brian Millar, der aus den USA angereist ist; er brilliert als Wissenschaftler und als auf J.S. Bach spezialisierter Pianist; ein Yankie-Typ, arrogant, selbstgerecht und in der Lage, andere einzuschüchtern – allen voran Perlmann; Millar ist sein Feind, also mehr als ein landläufiger Konkurrent oder Rivale; seine Texte sind in Perlmanns Wahrnehmung von niederschmetternder Brillanz, also gleichzeitig bewundernswert wie entmutigend in Bezug auf die eigenen Leistungen; Perlmann, selbst eine abgebrochene Pianistenausbildung hinter sich, neidet Millar auch seinen eigenen Stil der Bach-Interpretation, der die Melodie vollständig in Struktur auflöst.

Ungefährlich bis harmlos wirkt dagegen Laura Sand auf Perlmann, die als Expertin für impressionistische Fotografie auftritt und ihre Fotoarbeiten aus der Sahelzone darbietet; Millar wirft ihr vor, dass sie ihre Filme über Elend und Tod als poetische Kulisse missbrauche, die argen Themen sozusagen ästhetisiere, um Wirkung zu erzielen; eine Kritik, die sachlich fundiert sein mag, aber so vorgetragen wird, dass sie die Dokumentarfilmemacherin sprach- und wehrlos macht.

Es ist Achim Ruge, der ihr beisteht und Millars Einwände zurechtrückt; Ruge zeichnet sich durch den Widerspruch zwischen seinem stark vernachlässigten Äußeren (abgetragene Kleidung, defektes Brillengestell, unangenehme Verhaltensweisen wie lautes Schnäuzen, alles Polternde) und seiner Gutmütigkeit, konstruktiven Kritik sowie sprachlichen Brillanz im Englischen aus: Trotz der abenteuerlichen Aussprache war sein Englisch von verblüffender Leichtigkeit, und auch heute wieder überraschte er Perlmann mit seinem reichen Wortschatz, der beispielsweise Millars mündliche Ausdrucksweise geradezu ärmlich erscheinen ließ.

Dagegen verkörpert Adrian von Levetzov den großbürgerlichen Wissenschaftler mit geschliffenen Manieren und aristokratischer Distinktion.

Der Kontrast zu Giogio Silvestri könnte nicht größer sein; dieser forschende Mediziner hat alle Eigenschaften, die Perlmann abgehen und doch so gerne hätte: er ist lässig, hat die gelassene ironische Wachheit in seinen Augen; stellt das Ideal der Unbeflissenheit und inneren Freiheit dar; ist der widerspenstige, anarchistisch empfindende Individualist. Auch er ist ein Kontrahent von Millar; das zeigt sich bei der Präsentation seiner Forschungsergebnisse, die auf Gesprächstherapien beruhen; Millar kritisiert das methodische Vorgehen als zu weich und nicht messbar, womit er die Ergebnisse entwertet; daraufhin Silvestri:

‚Ich glaube, Herr Professor Millar‘, sagte er leise und in einer Aussprache, die jetzt einwandfrei war, ‚ich habe Sie genau verstanden. Sie wollen wiederholbare Experimente. Laborbedingungen mit ruhigen, stabilen Objekten. Kontrollierbare Variablen. Irre ich mich, oder möchten Sie auch diese Menschen [schizophrene Patienten Silvestris, PF] am liebsten auf dem Stuhl festschnallen?‘ Er drückte die kaum angerauchte Zigarette aus, nahm seine Sachen und war mit wenigen Schritten draußen.

Millar hatte rote Flecken im Gesicht und wirkte einen Moment lang wie betäubt. ‚Well‘, sagte er dann mit künstlicher Munterkeit und erhob sich. Seine Gummisohlen quietschten laut auf dem Parkett, als er mit energischen Schritten hinausging.

Erst jetzt rührten sich die anderen.

Diese Szene zeigt, dass auch Millar verletzlich ist und es einzig Silvestri gelingt, ihn in die Schranken zu weisen; der Hinweis auf den Stuhl sollte Assoziationen zur Praxis der Todesstrafe in den USA auslösen.

Schließlich Evelyn Mistral, die neben ihren großen intellektuellen und menschlichen Fähigkeiten durch ihr strahlendes Lachen und ihre jugendliche Unbefangenheit besticht; sie ist Halb-Spanierin und Halb-Italienerin, unterhält sich mit Perlmann auf Spanisch; sie sucht – vergeblich – die kommunikative Nähe zu ihm, die jedoch von allen Beteiligten höchstens Silvestri gelingt.

Man könnte sagen: So geht es eben zu auf wissenschaftlichen Tagungen – jeder ist des anderen Konkurrent, kämpft um Aufmerksamkeit und Anerkennung, da werden Spitzen und Pfeile abgeschossen, man kennt doch die Waffen, die hier zum Einsatz kommen, das muss man eben aushalten, wenn man dazugehören will usw. Was macht es Perlmann, der schließlich diesen Kollegenkreis selbst eingeladen hatte, so schwer, sich zu behaupten und die Situation zu meistern? Was ist es, das ihn in eine schier ausweglose Lage bringt? Da ist zum einen die erst hier ihm klargewordene Gewissheit, dass er in seinem Fach nichts mehr zu sagen hat, d.h. ihm sind die Inspirationen und Ideen ausgegangen, die er für einen Vortrag hätte verwenden können. Er hatte nichts vorbereitet und vertraute darauf, während des vierwöchigen Aufenthalts in der Tagungsstätte, einem luxuriösen Hotel, noch etwas zustande zu bringen. Damit hatte sich Perlmann selbst unter Druck gesetzt: Er, der einen Namen zu verlieren hatte, durfte nicht scheitern, sich nicht entblößen, auch nur mittelmäßige Gedanken vorzubringen – er meinte jedenfalls von den anderen, dass sie wie bisher immer die größten Erwartungen an ihn hegten, die er erfüllen musste. Statt eines eigenen Vortrags macht er sich – zunächst aus Neugierde – an einen fremden Text (Leskov hatte ihm vorher seinen für die Tagung gedachten Vortrag auf Russisch zugeschickt), den er mit ungeheurer Energie und Akribie aus dem Russischen übersetzt. Dabei lernt er die Freiheit als Dolmetscher kennen, d.h. gegen all die Zwänge und Nöte der wissenschaftlichen Existenz erfährt er die niedere Arbeit des Übersetzens als Befriedigung und Befreiung – das Jakob von Gunten-Motiv klingt an.

Der Gedanke, diesen Text als seinen eigenen auszugeben und hier zu verhandeln, ist einerseits eine (Not-)Lösung, andererseits bringt er ihn in eine lähmende Beklemmung, weil er sich dem Vorwurf des Plagiats und Betrugs aussetzt und damit Scham und Schande auf sich lädt. Zudem kommt eine biografische Konstante zum Vorschein, die mangelnde Fähigkeit zur Verteidigung des Eigenen gegen das Fremde. Die Vorstellung, als Betrüger geächtet und als Versager abgetreten zu sein, versetzt ihn in einen Zustand panischer Angst und innerer Leere. Der vorläufige Gipfel der Verwirrung ist mit dem Eintreffen eines Telegramms von Leskov erreicht, in dem dieser sein Kommen ankündigt – damit wird alles auffliegen, und die schon gedanklich vorweggenommene Katastrophe tritt wirklich ein. Perlmann erwägt vorübergehend, sich den anderen oder auch nur einer Person unter ihnen anzuvertrauen und seine Notsituation zu erklären; doch dazu ist er nicht in der Lage – der Titel des Romans hat auch hiermit zu tun: er kann sich nicht mitteilen, geschweige anvertrauen, weil er die anderen zu seinen Gegnern gemacht hat und von allen Ängsten, die er in sich trägt, die der Entblößung und des Versagens wohl die größte ist. So verwirft er auch den Gedanken an Suizid, weil er einem Schuldeingeständnis gleichkäme. Paradoxerweise sieht er die Rettung in einem fingierten Autounfall, bei dem Leskov und er gemeinsam ums Leben kommen sollen. So stürzt sich Perlmann wiederum akribisch in die Planung dieses Unfalls und erlebt ein wahres Martyrium bei der Vorstellung des Doppelmordes.

Beim Lesen dieses langen Romabschnitts, der sich hier zum Kriminalroman wandelt, kommen einem fast physische Schmerzen auf, so dicht dran ist man an Perlmanns Nöten und Leiden, Phantasien und Horrorvorstellungen. Er kommt immer mehr herunter, ist leichenblass (was auch die anderen bemerken), stets außer Atem und hält sich nur mit einem Abusus von Nikotin und starken Schlaftabletten über Wasser. Die Verstrickung in die Katastrophe ist wie ein sich selbst verstärkender Effekt beschrieben: immer, wenn man meint, es könne nicht noch schlimmer kommen oder es ist gerade einmal eine Entlastung da, kommt noch ein Unglück oben drauf. So, als Leskov, der von Perlmann vom Flughafen in Genua mit einem Leihwagen abgeholt wird, ihm eröffnet, dass er eine zweite Fassung seines Textes (von dem es keine Kopie gibt) mitgebracht habe, die die erste für überholt und wertlos erklärt, so grundlegend sei die Überarbeitung ausgefallen. Auf dieser Fahrt soll schließlich der tödliche Unfall passieren. Perlmanns Phantasie geht dahin, dass dieses Manuskript unbedingt vorher vernichtet werden müsse, denn man könnte es sonst im Wrack des Autos finden und Rückschlüsse auf seine Schuld und seinen Betrug ziehen. Folglich entwendet er es unter einem Vorwand aus Leskovs Gepäck und wirft es auf die Straße. Wohl wissend, dass mit diesem Text auch Leskovs berufliche Zukunft verbunden ist.

Die Unfallszene, ungeheuer spannend geschrieben: mit Schwindel- und Panikattacken, Zittern und zuckenden Gliedern sowie einem symbolischen wie tatsächlichen Nasenbluten Perlmanns und einem erstaunlich besonnenen und besorgten Leskov, der rettend das Steuer herumreißt und so das Schlimmste verhindert, mündet lediglich in eine Leitplanken-Karambolage und nicht im Tod zweier Menschen. Ich bin nicht zum Mörder geworden, das ist Perlmann sofort bewusst. Und für Leskovs ruhiges Verhalten hat der auch eine Erklärung: Nein, er hat keinen Verdacht. Weil er das Motiv nicht kennt.

Gerade der schlimmsten Katastrophe entronnen, hegt Perlmann aufs Neue Schuld- und Schamgefühle sowie Phantasien von seiner Enttarnung. Durch eine Kette von Zufällen bleibt ihm diese dann doch erspart, auch wenn Perlmann bei seinem eigenen Vortrag zusammenbricht und in Ohnmacht fällt. Wie symbolisch war damit auch seine wissenschaftliche Karriere zusammengebrochen. Die Tagung wie auch der Roman gehen ihrem Ende entgegen, und nach allem, was vorgefallen war, zieht er eine bittere und kritische Bilanz über sein Verhältnis zu den anderen und ihr Verhalten ihm gegenüber; das folgende Zitat ist eine Schlüsselstelle für Perlmanns Schweigen:

Jetzt, nachdem sie seinen Zusammenbruch erlebt hatten und er einstweilen als Rivale und Gegner im akademischen Spiel ausfiel – jetzt redeten sie alle so verständnisvoll, waren voller Großmut und schienen nicht das geringste Gespür dafür zu haben, wie abstoßend moralische Selbstgefälligkeit sein konnte. Hätten sie auch dann so gedacht und geredet, wenn nichts derart Dramatisches mit ihm geschehen wäre, nichts, was in die Nähe einer Krankheit kam? Oberflächlichkeit als Wirkung und Ursache von Angst; das stimmte. Andererseits: Wie genau hätte er es denn sagen sollen? Wo waren die einzelnen Wörter, aus denen sich seine Erklärung zusammengesetzt hätte? Wie hätten die Gesichter beim Hören seiner Eröffnung im einzelnen ausgesehen? Und wann genau hätte er sie denn machen sollen? Perlmann war wütend über die Oberflächlichkeit ihrer Großmut, über ihren Mangel an präziser Phantasie. Mit jeder Frage nach Einzelheiten, die ihm durch den Sinn ging, wuchs die Wut weiter, er wurde blind und taub für die Umgebung und merkte nicht, daß ein langes Stück seiner Asche auf das frischgestärkte, blütenweiße Tischtuch fiel.

Das Schweigen hat also mindestens eine doppelte Bedeutung: Die Einsicht, im eigenen Fach nichts mehr zu sagen zu haben, so dass nur die Abdankung bleibt; und die Unfähigkeit, sich zu erklären, sich anderen verständlich zu machen, sich ihnen anzuvertrauen und dafür den richtigen Moment zu wählen. Einer, der so geschlagen ist von den symbolischen Kämpfen im wissenschaftlichen Feld, kann nicht anders, als anderen mit tiefem Misstrauen zu begegnen und sie von sich fernzuhalten. Ob das mit dem Ausdruck der Oberflächlichkeit hinreichend beschrieben ist, sei dahingestellt – hier sind schon objektive Strukturen und subjektive Dispositionen im Spiel, die es den Beteiligten verunmöglichen, menschlich miteinander umzugehen und die Humanität an den Tag zu legen, die etwa Leskov oder Mistral verkörpern.

Zu guter Letzt sei noch einmal auf das Robert Walser-Motiv eingegangen. Perlmann fühlt sich von Beginn an als Wissenschaftler unfrei, fremdbestimmt, zumindest fehlgeleitet. Man erfährt, dass er die akademische Laufbahn – nach einer abgebrochenen Karriere als Pianist – nur eingeschlagen hatte, um den Erwartungen seines Vaters gerecht zu werden, nicht aus freien Stücken. Beim Übersetzen des russischen Textes macht er nun die Erfahrung, dass er eigentlichen in den Sprachen zu Hause und eher für das Übersetzen in mehrere von ihnen bestimmt sei als für das akademische Spiel. Nach der Tagung beschließt er, seine Professur aufzugeben und bewirbt sich beim Olivetti-Konzern in Turin um die Stelle eines Dolmetschers. Das ist die freiwillige, selbstgewählte Degradierung nach dem Muster Jakob von Guntens. – Eine zweite Stelle verweist auf einen ähnlichen Mechanismus: Statt an seinem Vortrag zu arbeiten und im Hotel zu speisen wie die anderen, geht er fast täglich in ein kleines, schäbiges Restaurant, um dort billig das zu essen, was es bereits für die Familie gegeben hat; dort verbringt er Stunden damit, in einer Chronik zu lesen (sie ist im Boulevardstil geschrieben und bebildert), die auch seine eigene Lebenszeit mit den damals aktuellen Ereignissen festhält. Perlmann meint, hierüber seine Gegenwartslosigkeit zu überwinden. Als er diese Chronik mit ins Hotel bringt und seine Kollegen darin blättern lässt, macht er sich zum Gespött der anderen. Warum tut Perlmann das? Einen Hang zu den kleinen Leuten im Restaurant ist ihm nicht nachzuweisen, im Gegenteil, er geht hier nur hin, um in der Chronik zu lesen; das Essen wird ihm eher aufgezwungen, als dass er es genösse. Im Grunde verachtet er das einfache Leben dieser Leute, und sein intellektuelles Format passt nicht zu dieser billigen Lektüre. Ergo bietet sich auch hier die Jakob von Gunten-Erklärung an: ein selbstgewähltes Sich-Kleinmachen, der masochistische Hang, sich zu erniedrigen.

Vielleicht erreicht Perlmann, gäbe es ihn wirklich, ja eher so sein Ziel oder Ideal: Einen Standpunkt außerhalb seiner selbst finden, um von da aus innerhalb seiner selbst in größerer Freiheit zu leben.

Annette Lorey: Nelly Mann. Heinrich Manns Gefährtin im Exil