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Von wegen Gedächtnisverlust! Javier erinnert sich genau, dass ihre Ehe gescheitert ist. Das ist Emily sofort klar, als sie das Krankenzimmer ihres Noch-Ehemannes betritt und in seine blitzenden Augen schaut. Warum verleugnet er das Scheitern? Das erkennt sie, als sie ihn auf sein spanisches Anwesen begleitet: Er will endlich herausfinden, warum sie ihn vor sechs Jahren trotz ihrer übermächtigen Leidenschaft ohne Erklärung verließ. Und noch etwas spürt Emily bestürzt: Das Verlangen zwischen ihnen erwacht erneut – der arrogante Tycoon will sie zurückerobern!
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Seitenzahl: 199
IMPRESSUM
JULIA erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
© 2022 by Pippa Roscoe Originaltitel: „The Wife the Spaniard Never Forgot“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: MODERN ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA, Band 2594 05/2023 Übersetzung: Nicole Lacher
Abbildungen: Harlequin Books S. A., alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 05/2023 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783751518499
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Zwei Marmorstufen auf einmal nehmend, verließ Javier Casas das In Venum – Madrids neuesten und angesagtesten Nachtclub. Müde rieb er sich die Augen. Das passiert, wenn du dir zu viel abverlangst, hatte ihn sein engster Freund erst vor wenigen Tagen gewarnt. Javier schnaubte. Ausgerechnet Santi musste das sagen! Tagsüber drehte er seinen nächsten Blockbuster, und abends kümmerte er sich um die Nachbearbeitung seines letzten Films.
„Casas!“, rief eine Frau. Er stockte. Um zwei Uhr morgens konnte er auf dieser verlassenen spanischen Straße unmöglich so tun, als hätte er nichts gehört. Obwohl die Versuchung groß war.
Er drehte sich um. Trotz der zwei Stufen, die die Frau über ihm stand, befand sie sich nur knapp auf Augenhöhe mit ihm. Sein Blick traf den des Türstehers auf dem obersten Treppenabsatz. Diskret schüttelte Javier den Kopf. Mit dieser Frau kam er allein klar. Sie hatte seine zunächst taktvollen und später weniger taktvollen Abfuhren ignoriert. Darum war er ihr, so gut es ging, aus dem Weg gegangen. Ursprünglich hatte er nicht einmal herkommen wollen, aber er konnte schlecht die Eröffnungsparty einer Bar schwänzen, an der er als stiller Teilhaber mit neunundvierzig Prozent beteiligt war.
Jetzt streckte sie die rechte Hand mit den rot lackierten Nägeln aus und packte ihn bei der Schulter. „Ich dachte, wir könnten irgendwo hingehen.“
Sie leckte sich die Lippen auf eine Art, die wahrscheinlich sinnlich wirken sollte, Javier aber verstörend fand. Das Licht am Eingang des Nachtclubs hüllte sie in eine grelle Aura, die ihre Mischung aus Verzweiflung und Gier betonte.
„Du brauchst ein Taxi, das dich nach Hause bringt, Annalise.“
„Ich brauche eine ganze Menge, Javier, und ich denke, du könntest mir dabei helfen.“
„Annalise …“
„Ich will deine Hände auf mir spüren“, flüsterte sie. Bevor er sie davon abhalten konnte, nestelte sie am Reißverschluss seiner Hose.
„Basta ya! Es reicht!“ Er umklammerte ihre Hände, damit sie nicht noch andere Teile seiner Kleidung oder seines Körpers packte. Als sie versuchte, sich an ihn zu drängen, trat er einen Schritt zurück. „Ich bin verheiratet, Annalise“, knurrte er.
Sie verdrehte die Augen. „Du lässt dich nie mit einer Frau an deiner Seite blicken. Wir wissen alle, dass das nur ein Trick ist. Es sei denn, du schließt die Arme in dein Haus ein und lässt sie nie raus?“
Javier runzelte die Stirn. Wen meinte sie mit wir alle? Sollte das ein Scherz sein?
„Du könntest mich einschließen, wenn du möchtest“, bot sie an.
Er hatte keine Zeit für diesen Unfug. Sein Fahrer wartete, und in fünf Stunden begann die nächste Besprechung. Darum sparte er sich eine Antwort. Stattdessen nickte er dem Türsteher zu, der die Treppe herunterkam und Annalise sacht von ihm wegzog.
„Sorgen Sie dafür, dass die Dame wohlbehalten nach Hause kommt“, sagte Javier über die Schulter und setzte seinen Weg zum Wagen fort.
„Sehen Sie mich nicht so an“, grollte er, als er Esteban erreichte. Die Miene seines Fahrers verriet nichts, aber Javier merkte ihm die Belustigung an.
„Ich habe keinen Ton gesagt, Sir.“
Als Javier auf der Rückbank saß, nahm er sein Handy und vergewisserte sich, dass alles für die Besprechung um sieben Uhr vorbereitet war. Dann überflog er die zweihundert E-Mails, die Gnade vor den Augen seines persönlichen Assistenten gefunden hatten. Schließlich checkte er den Familien-Chat, zu dem seine Halbschwester, seine Mutter und er gehörten. Allerdings lenkte ihn nichts von den unerwünschten Gedanken an die Ehefrau ab, die er seit sechs Jahren nicht gesehen hatte.
Ärgerlich auf sich selbst, weil er nicht mehr Selbstbeherrschung besaß, rief er einen Zeitungsartikel vom letzten Monat auf:
Mehr als nur ein hübsches Gesicht mit einem Pinsel – Die neue britische Star-Innenarchitektin schlägt hohe Wellen
Die Lobeshymne war eher gönnerhaft als aufschlussreich. Inzwischen hatte Javier den Artikel rund zehnmal gelesen, und immer war sein Blick an dem Foto der Frau hängen geblieben. Sie hatte ihn an einem Abend verlassen, der ihrer beider Leben aus völlig anderen Gründen hätte verändern sollen.
Auf dem Schwarz-Weiß-Foto trug sie ein weißes Hemd. Sie hielt eine Kaffeetasse in der Hand und blickte in die Kamera, als wollte sie den Lesern ein Geheimnis anvertrauen. Ihre Augen strahlten auf eine Weise, an die er sich kaum erinnerte. Wut brannte in ihm, weil sie die Tasse so hielt, dass ihr Ringfinger verdeckt war.
Trägt sie ihn noch?
Esteban drosselte das Tempo und wich von der üblichen Strecke ab. Javier schaute hoch. Im Rückspiegel traf sein Blick den des Fahrers.
„Schlecht ausgeschilderte Baustelle. Wir müssen …“
In der nächsten Sekunde schien die Welt zu explodieren. Metall quietschte ohrenbetäubend laut. Glas zersplitterte. Javier fühlte sich, als würde eine Welle die Limousine mitreißen und immer stärker zusammenquetschen, bis er kopfüber lag. Ein scharfer Schmerz in seiner Seite raubte ihm fast den Atem. Sein Zeitempfinden wechselte zwischen Hochgeschwindigkeit und unbegreiflicher Langsamkeit hin und her. Licht drang zu ihm durch, irgendetwas zwischen Weiß und Blau und so blendend, dass er das Gesicht verzog. Er sah jemanden in Glasscherben knien. War der Mensch tatsächlich da? Blut tropfte ihm ins rechte Auge, doch er brachte es nicht fertig, die Hand zu heben und es wegzuwischen.
Etwas Schlimmes war passiert. Vielleicht sogar etwas Furchtbares. Aber was? Er schnappte das Wort Krankenhaus auf und den beruhigenden Satz, alles werde gut. Jäh fiel sein Blick auf das Handy links von ihm. Ein langer Sprung zog sich über den Bildschirm. Unter den kleinen Scherben zu beiden Seiten davon sah er das Foto von Emily, die gerade ihr Geheimnis verraten wollte. Dann wurde alles schwarz.
„Okay, meine Damen und Herren, Feierabend.“
„Aber Boss …“
„Es ist ein Uhr nachts. Zieht es euch nicht in eine Bar? Zu einem Date? Nach Hause?“, neckte Emily. Sie liebte ihr kleines Team. Alle waren ehrgeizig und motiviert, genau wie sie selbst. Gleichzeitig wusste sie, wie schnell sich Ehrgeiz in ein Burn-out verwandeln konnte.
„Aber wir haben noch nicht alle Kacheln für das Bad ausgesucht. Auch nicht die Farben für das dritte und vierte Schlafzimmer und …“
„Das kann bis morgen warten.“ Emily stellte die Kaffeetassen auf ein Tablett und schnitt ihre Angestellten dadurch von dem Nachschub ab, der sie bis jetzt bei der Stange gehalten hatte. Zuerst räumten die beiden Designerinnen das Feld, danach der Architekt und ihre Assistentin.
Als Emily allein war, seufzte sie. Mit dem Projekt in den Cotswolds waren sie ein gutes Stück weitergekommen, aber das Restaurant in San Antonio saß ihnen im Nacken. Dafür hatten sie noch nicht das Richtige gefunden. Erst wenn sie auch hier eine Lösung gefunden hätten, würde Emily zur Ruhe kommen.
So lief es immer. Seit sie den Abendkurs am Designinstitut abgeschlossen hatte. Es war schrecklich gewesen, mit Liebeskummer aus Spanien zurückzukehren, ohne eine Bleibe und eine Idee, was sie tun sollte. Bis ihre beste Freundin Francesca verreiste und ihr für diese Zeit ihr Apartment anbot. Als Gegenleistung überwachte Emily die Renovierung der Küche.
Mit der Aufgabe lenkte sie sich von der Hoffnung ab, ihr Ehemann werde ihr nachreisen, weil er sie durch ihre plötzliche Abwesenheit endlich wahrnahm. Anfangs schaute sie lediglich der Innenarchitektin über die Schulter. Mit der Zeit mauserte sie sich zur Projektmanagerin und koordinierte die Termine der Handwerker.
Javier will mich nicht zurückholen, stellte sie im Lauf der Monate fest. Sie liebte ihn mit einer Unbedingtheit, an der sie fast zerbrochen wäre. Er hingegen nahm ihre Abreise so locker hin wie einen Wetterumschwung. Diese Erkenntnis brachte sie beinahe um – da empfahl ihr die Innenarchitektin einen Kurs am Designinstitut.
Also hatte sich Emily in die Welt der Inneneinrichtung gestürzt. Ihr erster eigener Job war Furcht einflößend gewesen, geprägt von einer steilen Lernkurve und harter Arbeit. Durch Empfehlungen hatten sich neue Aufträge ergeben. Die Leute liebten Emilys Hingabe. Ihr Talent, herauszufinden, was Kunden nicht nur wollten, sondern brauchten.
Sie ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank und schenkte sich ein Glas weißen Rioja ein. Mit dem Rücken an die Arbeitsplatte gelehnt, genoss sie die Stille in dem früheren Lagerhaus im Londoner Stadtteil Bermondsey. Diese Etage gehörte ihr allein. Im Büro lagen Papiere und Laptops auf einem langen Tisch. Breite Fenster und sorgsam platzierte Töpfe mit üppigen Grünpflanzen trennten diesen Teil des Stockwerks vom Wohnbereich.
Ein langer weißer flauschiger Läufer lag vor einem L-förmigen Sofa, das noch bequemer als ihr Bett war. Das Licht der Deckenlampe fiel auf den Artikel der Zeitschrift, der Emily letzten Monat ein Interview gegeben hatte. Sie krümmte sich innerlich. Es hieß ja, dass schlechte Publicity nicht existierte, aber der Redakteur hatte sich stärker auf ihr Aussehen konzentriert als auf ihre Arbeit. Andererseits klickten seit der Veröffentlichung mehr Leute auf ihre Website.
Inzwischen war ihre Firma gut ausgelastet und am Rande ihrer Kapazitäten. Trotzdem konnte sie der verlockenden Sicherheit nicht widerstehen, die mehr Arbeit versprach. Stell einfach mehr Personal ein. Den Satz in ihrem Kopf begleitete ein typisch spanisch lässiges Schulterzucken vor ihrem geistigen Auge. Ich gebe dir das nötige Geld.
Ihr spanischer Noch-Ehemann hatte nicht begriffen, wie wichtig es Emily war, die Firma auf ihre Art zu führen. Aber so war es ja immer gewesen – Javier hatte die Dinge ausschließlich aus seiner Warte betrachtet. Nein! Ich werde weitermachen, bis sie die Gewissheit habe, dass ich expandieren kann.
Emily nippte an ihrem Wein und blickte aus dem Fenster auf die verlassenen Straßen hinunter. Kleine Cafés versuchten, sich neben der Konkurrenz internationaler Ketten zu behaupten. Luxusapartments standen neben viktorianischen Reihenhäusern, und am ehemaligen Hafen hatten Künstlerateliers ebenso Einzug gehalten wie Sternerestaurants. Ein Durcheinander in seiner für London einzigartigen Schönheit. Doch bei aller Wertschätzung für das Viertel und ihren beruflichen Erfolg konnte Emily nicht leugnen, dass etwas fehlte. Dieses Gefühl begleitete sie schon ein paar Jahre. Als würde nun, da sie sich allmählich beruflich etabliert hatte, eine neue Sehnsucht am Horizont auftauchen. Ein persönlicheres Bedürfnis.
Sie stellte ihr Glas auf das Fensterbrett. Dabei fiel ihr Blick auf den schlichten goldenen Ehering an ihrem Finger. So eilig hatten sie es mit der Hochzeit gehabt … Als hätten sie schon damals befürchtet, sie könnten es sich anders überlegen. Javier wären eine größere Hochzeit und ein prächtigerer Ring lieber gewesen, aber Emily hatte in Glückseligkeit geschwelgt. Der unauffällige Ehering bedeutete ihr mehr als ein kostbares Schmuckstück, das nicht zu ihr passte.
Sie spreizte die Finger. Sollte sie es tun oder nicht? Als wäre dies eine rote Linie. Als könnte sie es nie rückgängig machen, wenn sie ihn ablegte. Emily biss die Zähne zusammen, zog den Ehering vom Finger und legte ihn neben ihr Glas. Prompt fühlte sie sich unwohl in ihrer Haut. Sie holte tief Luft und trank einen Schluck Wein, um die Anspannung herunterzuspülen. Dann schüttelte sie die ringlose Hand, ballte sie zur Faust und ließ wieder locker, in der Hoffnung, das ebenso jähe wie intensive Gefühl der Leere zu verscheuchen.
Ihr Handy klingelte. Sie zuckte zusammen. Ein Anruf um diese Zeit? Die Nummer auf dem Display erkannte sie nicht, wohl aber die spanische Vorwahl. Eine unheilvolle Ahnung ließ sie schnell und scharf einatmen. Sie nahm den Anruf an und bestätigte, dass sie Mrs. Casas war. Im nächsten Moment glitt das Weinglas aus ihren tauben Fingern und zerbrach auf dem Boden.
Schmerzen.
Javiers Kopf schien in einem Schraubstock zu stecken. Bei jedem Atemzug kam er sich vor, als würde ihm der Teufel einen glühenden Schürhaken zwischen die Rippen stoßen. Eine lebenslange Gewohnheit ließ ihn das Ächzen ersticken, das seiner Kehle entschlüpfen wollte. Er wusste, dass er nicht allein war, obwohl er es so gern wäre.
Vorhin hatte er geglaubt, seine Mutter zu hören. Es war keine Überraschung, dass ihre Stimme gereicht hatte, um ihn wieder in die Bewusstlosigkeit sinken zu lassen. Jetzt versuchte er, sich an den Stimmen festzuhalten. Ein Mann sprach leise, aber hörbar frustriert. Also ist meine Mutter doch hier, dachte Javier.
Er atmete so tief ein, wie er sich traute. Fast hätte der Schmerz in seiner Brust ihn dazu gebracht, laut aufzuschreien. Irgendwo piepste ein Monitor schnell und laut. Die Stimme verklang. Als der Monitor leiser und gleichmäßiger piepste, sprach der Mann weiter.
Warum kann ich mich nicht erinnern, was passiert ist?
Er war in einem Krankenhaus, so viel stand fest.
„Der Mann gehört eingesperrt!“, rief seine Mutter schrill und viel zu laut. Javier fragte sich, ob sie ihn meinte.
„Er hat der Polizei bei ihren Ermittlungen geholfen und steht nicht unter Verdacht.“
„Wie kann das sein? Er ist doch gefahren!“
Esteban. Wir hatten einen Unfall? Ist Esteban gesund? Zu Javiers enormem Unmut piepste der Monitor wieder schneller. Er wollte eine Frage stellen, aber sein Mund gehorchte ihm nicht.
„Es steht fest, dass ihn keine Schuld trifft. Darum wird er noch heute entlassen.“
„Während mein Sohn hierbleiben muss? Ich will Ihren Vorgesetzten sprechen!“ Jetzt kreischte Renata regelrecht.
„Ich bin der Leiter der Chirurgie.“
„Wer ist Ihr Vorgesetzter?“
„Mrs. Casas, warum gehen wir nicht in mein Büro?“
„Ich lasse meinen Sohn nicht allein!“ Der Zorn in ihrer Stimme klang entsetzlich vertraut. Er trieb Javier mehr kalten Schweiß auf die Stirn als der Schmerz. Renata war schwierig. Wahrhaft schwierig. Nur mit räumlicher Distanz konnte er ihre Persönlichkeit ertragen. Wäre seine Halbschwester Gabi nicht gewesen, hätte er sich ans andere Ende der Welt begeben. Sein benebeltes Hirn konfrontierte ihn mit einer Erinnerung aus der Kindheit. Hätte er jetzt gestanden, wäre er glatt eingeknickt.
Bitte, Mamá, es tut weh.
Wieder verlor er das Bewusstsein.
Als Javier das nächste Mal zu sich kam, herrschte Stille. Er riskierte es, die bleischweren Lider einen Spalt zu öffnen. Das strahlende Weiß verwirrte ihn. Bevor die Kopfschmerzen noch stärker wurden, schloss er die Augen wieder. Wenigstens konnte er in der Stille nachdenken. In Venum. Dort war er gewesen. Zur Eröffnung …
Ich will deine Hände auf mir spüren.
Annalises Worte bescherten ihm eine unangenehme Gänsehaut. Er war zu Esteban in den Wagen gestiegen und – die Baustelle. Javier erinnerte sich an den Moment des Aufpralls. An die Art, wie die Welt geschwankt und sich gedreht hatte. Blut in seinem Auge …
„Wer ist Emily?“, fragte eine Frau, deren Stimme er nicht kannte.
Der Monitor piepste laut und schnell, weil Javier das Herz bis zum Hals schlug.
„Er hat den Namen wieder und wieder gesagt“, fuhr die Stimme fort.
Habe ich das?
„Niemand“, antwortete seine Mutter scharf und schneidend wie eine Stahlklinge.
Sein Hirn schien leer gefegt zu sein. Er glaubte schon, er wäre wieder ohnmächtig geworden, aber seine Sinne funktionierten noch.
„Mutter“, hörte er Gabi entrüstet sagen. „Emily ist seine Ehefrau.“
Vor Wut spannten sich seine Nackenmuskeln an. Er ballte die Hände zu Fäusten. Seine Ehefrau war vieles, aber definitiv nicht Niemand. Renatas Abneigung gegen seine Auserwählte hatte ihn nicht überrascht: eine Engländerin, noch keine zwanzig, die kein Wort Spanisch sprach.
„Das Mädchen war nicht mehr als ein …“
Javier zwang sich, die Augen zu öffnen. Was auch immer seine Mutter hatte sagen wollen, wurde durch die Betriebsamkeit erstickt, die jetzt um sein Bett herum einsetzte. Jemand stupste und betastete ihn. Jemand anders schüttelte ihn an den Schultern. Nicht sacht genug, um es zu ignorieren, aber auch nicht grob genug, um wehzutun. Die Leute wollten ihn wachhalten, dabei sehnte er sich danach, wieder bewusstlos zu werden.
„Mr. Casas?“, fragte die Frau. „Können Sie mich hören?“
Sie war hartnäckig. Er wollte sie wegschieben, doch sein Arm bewegte sich kaum. Vor lauter Frust hätte er am liebsten gebrüllt. Verdammt! Warum tat sein Körper nicht, was er tun sollte?
„Mr. Casas, wissen Sie, wo Sie sind?“
Javier versuchte zu antworten, brachte aber kein Wort heraus. Darum nickte er. Die knappe Bewegung schmerzte so sehr, dass er sie rasch wieder einstellte.
„Ich hole etwas Wasser für Sie, okay?“
Ein Strohhalm erschien in seinem Blickfeld. Nach ein paar vergeblichen Anläufen konnte er genug Wasser trinken, um das Brennen in seiner Kehle zu lindern.
„Gut“, sagte der Mann, dessen Stimme er schon vorhin gehört hatte. „Noch einmal von vorn. Wissen Sie, wo Sie sind?“
„Ja“, antwortete Javier mühsam.
„Wissen Sie auch, warum Sie hier sind?“
Er kniff die Augen leicht zusammen und wollte seinen Mund dazu bringen, die Worte auszusprechen, da stellte der Mann eine weitere Frage.
„Können Sie mir die letzte Sache sagen, an die Sie sich erinnern?“
Javier zog die Stirn kraus. Er spürte eine andere Erwartung in der Luft liegen als bei den vorigen Fragen. Sein Blick glitt durch das Zimmer – seine Mutter, Gabi, ein Arzt, eine Krankenschwester – und blieb am Türrahmen hängen.
„Emily.“
Bestürzt von dem Bild, das sich ihr bot, stand Emily auf der Schwelle von Javiers Zimmer. Er trug ein hellblaues Klinikhemd und war an Monitore angeschlossen. Man hatte seinen Oberkörper ein wenig höhergelagert. Auf der linken Wange prangte ein großer Bluterguss, und über die Stirn zog sich eine Schnittwunde. Doch was Emily wirklich entsetzte, war seine bleiche Haut. Javier war nie blass.
Während der hastigen Fahrt zum Flughafen und des nervenaufreibenden zweieinhalbstündigen Flugs hatte sie sich eingeredet, ihr Ehemann sei wohlauf. Es gab keine Welt, in der er etwas anderes als eine Naturgewalt war.
Sie hatte die Tatsache nicht überbewerten wollen, dass sie noch immer als seine nächste Verwandte galt. Trotzdem machte ihr Herz einen ebenso vertrauten wie verhassten Sprung. Sie kannte das Gefühl nur zu gut aus den ersten Monaten nach ihrer Abreise aus Spanien. Als sie noch gehofft hatte, Javier würde nach London fliegen, um sie zurückzuholen.
In der Klinik angekommen, machte sie sich auf die Suche nach der Privatstation. Fast wäre sie an Javiers Zimmer vorbeigegangen, da ließ sein Anblick sie wie angewurzelt stehen bleiben. Mit hämmerndem Herzen hörte sie zu, wie der Arzt ihm Fragen stellte. Sie musste unbedingt hören, dass er in Ordnung war. Er musste es sein. Unwillkürlich fuhr sie mit der Daumenkuppe über ihren Ehering, den sie übergestreift hatte, kurz bevor sie ihr Apartment verlassen hatte. Da hörte sie Javier ihren Namen sagen.
Abrupt sah sie ihm in die Augen und konnte sich nicht losreißen von dem eindringlichen Blick, bis …
„Amnesie!“, schrie seine Mutter.
Müde und erschöpft verdrehte Emily die Augen. Sie glaubte, die Andeutung eines jungenhaften Grinsens in Javiers Miene zu erspähen, doch in der nächsten Sekunde war es wieder fort.
Der Arzt blickte über die Schulter und nickte Emily zu.
„Mein Baby hat Amnesie! Tun Sie doch etwas!“, schrie Javiers Mutter.
„Mrs. Casas“, sagte der Arzt so bestimmt, dass Renata stockte. Er bedeutete ihr mit einer Geste, ihn auf den Korridor zu begleiten.
Sobald sie ihre Schwiegertochter erspähte, nahm ihr Gesicht einen hässlichen Rotton an. „Ich habe keine Ahnung, was sie hier macht“, sagte sie auf Spanisch.
„Sie ist Javiers nächste Verwandte“, erwiderte der Arzt und wandte sich Emily zu. „Sie sind doch die Ehefrau von Mr. Casas?“, fragte er ebenfalls auf Spanisch.
Emily wollte gerade antworten, als Renata verächtlich erklärte: „Sie spricht kein Spanisch.“
Ihre Schwiegertochter verkniff sich eine Retourkutsche. Am Anfang ihrer Beziehung zu Javier hatte sie tatsächlich kein Spanisch gesprochen, sich aber bemüht, es zu lernen. Sogar nachdem sie wieder in London gewesen war. Weil sie gedacht hatte, sie bräuchte ihre Sprachkenntnisse noch.
Renata hielt den Blick auf den Arzt gerichtet. Erstaunt stellte Emily fest, dass die Missachtung sie noch immer traf. Selbst in den besten Zeiten hatte Javiers Mutter sie gerade eben geduldet – und dies waren nicht die besten Zeiten.
Sie sagte nichts, als der Arzt sie auf Englisch über Javiers Zustand informierte. Ihr Ehemann hatte bei dem Unfall drei gebrochene Rippen, mehrere tiefe Schnittwunden und Prellungen davongetragen. Wie durch Zauberhand war nichts Schlimmeres passiert.
Am Arzt vorbei schaute sie zu Javier. Der stritt gerade mit der Krankenschwester, weil er sich die Elektroden vom Brustkorb ziehen wollte. Emily nutzte den Umstand, dass er abgelenkt war, und ließ den Blick über seinen Körper wandern. Die Blutergüsse auf der gräulichen Haut … Seit ihrer allerersten Begegnung war Javier ihr wie eine Explosion aus Leben und Farbe vorgekommen. Der Inbegriff von Männlichkeit, mit einem geradezu verbotenen Charme, dem sie absolut und unwiderruflich verfallen war.
Als er seine Aufmerksamkeit von der Krankenschwester auf seine Noch-Ehefrau lenkte, sah Emily wieder den Arzt an. Javiers Blick mochte sanft wie ein Streicheln sein, doch er war gleichzeitig heiß wie eine Flamme – und genauso gefährlich.
„Sie sind beunruhigt wegen seines Erinnerungsvermögens?“, fragte sie den Arzt.
„Ja. Er hat eine Gehirnerschütterung erlitten. Die Computertomografie zeigt eine leichte Einblutung. Sie wird sich mit der Zeit zurückbilden, aber wir müssen weitere Tests vornehmen, um herauszufinden, ob ein Grund zu ernsthafter Sorge besteht.“
Sie zwang sich, Javier anzusehen. Der Ausdruck in seinen Augen ließ sie stocken. Berechnung. Entschlossenheit. Absolut nichts beeinträchtigte seine geistige Leistung. Doch der Arzt schien nicht dasselbe zu sehen wie Emily.
„Was bedeutet das? Falls es wirklich … Amnesie ist?“, erkundigte sie sich.
„Es hängt davon ab, an wie viel und woran er sich erinnert. Das Hauptziel ist allerdings, dass er sich wohlfühlt und ein vertrautes Umfeld hat, ohne die Rückkehr von Erinnerungen zu erzwingen.“
„Machen Sie bitte Ihre Tests.“
Während der folgenden Stunden wartete Emily vor dem Zimmer. Javiers Mutter war das nur recht. Seine Halbschwester kam heraus und setzte sich schweigend neben Emily. Sie war überrascht, als Gabi, die sie als bildschönen Teenager in Erinnerung hatte, ihre Hand nahm und festhielt.
Was soll ich tun? Unabhängig vom Ergebnis der Untersuchungen würde Javier Hilfe brauchen. Vielleicht engagierte er eine Pflegekraft, die bei ihm wohnte? Emily hatte gelesen, dass er in ein Apartment in Madrid gezogen war. Sie schämte sich, weil sie so gierig alle Informationen über ihn in den Klatschspalten verschlang.
Er wird wieder gesund, sagte sie sich immer wieder. Sobald sie die Bestätigung hatte, konnte sie abreisen. Mit etwas Glück verpasste sie nur einen einzigen Arbeitstag in London.
In Wirklichkeit wusste Emily, dass sie sich selbst belog. Zwar hatte sie Javier zuletzt vor sechs Jahren gesehen, aber sie fühlte es: Die Zeit war reif. Sie wollte sich nicht mehr vor der Ehe mit dem spanischen Milliardär verstecken. Es kam ihr vor, als würde ihr jemand mit einem eiskalten Finger die Wirbelsäule abwärtsstreichen, als der Arzt aus dem Krankenzimmer kam.
„Mr. Casas ist auf einem guten Weg. Sämtliche geistigen Fähigkeiten sind erhalten. Allerdings kann er sich so gut wie gar nicht an die letzten paar Jahre erinnern. Im Moment kämpft sein Gehirn mit der Verletzung. Er braucht eine ruhige und friedliche Umgebung. Wichtig ist, dass Sie rund um die Uhr bei ihm sind, um alle Risiken zu minimieren. Es mag Phasen geben, in denen ihn der Genesungsprozess frustriert oder er mehrmals dieselbe Frage stellt. Das ist zermürbend und schwierig, darum sollten auch Sie Unterstützung in Anspruch nehmen.“
„Ich? Warum sollte ich Unterstützung brauchen?“ Emily war zu müde, um sofort zu schalten.
„Weil Sie Ihren Ehemann in ein paar Tagen mit nach Hause nehmen dürfen und für ihn sorgen können.“
Abrupt drehte sie den Kopf und sah Javier an. Er beobachtete sie abwartend.