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Christian Ditfurth

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Beschreibung

Der erste Fall des außergewöhnlichen Hauptkommissars de Bodt

Die Täter hinterlassen nichts außer den Kugeln ihrer Maschinenpistolen in den Leichen ihrer Opfer. Und einem Gedicht über den Tod. Nach dem Mordanschlag auf den Vorstand eines Berliner Chemiekonzerns zieht ein Killer eine Blutspur durch das Land. Hauptkommissar Eugen de Bodt steht vor einem unlösbaren Fall. So scheint es jedenfalls. Verlassen kann er sich nur auf seine Mitarbeiter: Silvia Salinger, die ihn stärker anzieht, als es seiner Ehe guttut. Und Ali Yussuf, der unter der Zappelphilippkrankheit ADHS leidet.

Ditfurths coole Mischung aus Härte und Esprit erzeugt atemlose Spannung.

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Seitenzahl: 623

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Christian v. Ditfurth

HELDENFABRIK

Ein De-Bodt-Thriller

Informationen über dieses Buch:www.cditfurth.de

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Copyright © 2014 by carl’s books, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkster Str. 28, 81673 München.

Covergestaltung: Hafen Werbeagentur gsk

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-12362-8V005www.cbertelsmann.de

Der Tod ist groß.Wir sind die Seinenlachenden Munds.Wenn wir uns mitten im Leben meinen,wagt er zu weinenmitten in uns.

Rainer Maria Rilke

Prolog

Die Nacht begann wie die anderen zuvor. Er blickte auf die Uhr an der Wand. 22 Uhr 12. Jens Hüttmann gähnte. Knapp acht Stunden musste er noch im Glaskasten sitzen. In der riesigen Vorhalle der Berlin-Brandenburgischen Chemie AG an der Spree, zwischen Schilling- und Elsenbrücke in Friedrichshain. Auf die Grundstücke dort hatten sie sich nach der deutschen Vereinigung gestürzt wie die Aasgeier, die Musikkonzerne, Hotelketten, Immobilienhaie. Stahl und Glas. Licht, das sich im Fluss spiegelte. Reste der Mauer. Die Graffiti betonten das Grau des Verfalls.

Das Gebäude war leer. Nur der Vorstand war gekommen, wie jeden zweiten Montag. Die große Runde im Sitzungsraum. Diese Sitzungen fingen um halb acht an mit einem Imbiss und endeten spät in der Nacht, manchmal auch am Morgen.

Hüttmann saß mit gestreckten Beinen auf einem Schreibtischstuhl, einer Spezialanfertigung wegen seiner Bandscheiben. Vor ihm der Tresen aus gebeizter Eiche. Darauf Monitore. Sie zeigten die Bilder der Überwachungskameras. Das Zwielicht draußen verrauschte die Ansicht, aber bessere Kameras gab es nicht zu kaufen, und sie filmten alles, was er sehen musste. Das Pärchen, das auf dem Bürgersteig der Mühlenstraße nach Hause wankte. Das Taxi, das vorbeischoss, als würde es verfolgt. Männer, grölend, Flaschen in der Hand, Eisbären-Berlin-Schals um den Hals.

Er betrachtete das Bild auf dem Tisch. Der einzige persönliche Gegenstand an seinem Arbeitsplatz. Ein Frauenporträt. Sabine. Er spürte die Bitterkeit immer noch, obwohl es neun Jahre her war, dass er sie an einem sonnigen Herbstnachmittag auf dem Alten St.-Jacobi-Friedhof in Neukölln beerdigt hatte. Sie war sanft gewesen. Und melancholisch, seit sie ihren Sohn im Kreißsaal verloren hatte. Dann kam der Krebs. Bald nachdem sie tot war, ging er nachts arbeiten. Erst in einer Spedition in Wilmersdorf. Als die Schlepperei zu hart wurde und der Umgangston ruppiger, fand er den Job als Nachtwächter. Er erinnerte sich gut an das Einstellungsgespräch. »Sie müssen doch gar nicht mehr arbeiten«, hatte der Personalchef der BBC gesagt. Ich halte die Nächte nicht aus, hatte Hüttmann gedacht und von Langeweile geredet. Tagsüber konnte er schlafen, wenn auch nicht gut. Der Tran der Dauermüdigkeit half zu verdrängen.

Ein Lieferwagen rollte zum Haupteingang. ExpressNachtkurier in gelber Schrift auf dunklem Grund. Merkwürdige Schreibweise. Der Wagen bremste zwei Meter vor der Panzerglastür. Ein Mann stieg aus. Hüttmann beobachtete ihn auf dem Monitor, der die Bilder der beiden Kameras vom Eingang zeigte. Split Screen. Eine Kamera filmte ihn schräg von oben, aber das Gesicht erkannte Hüttmann gut. Es war breit, fast rund, mit kleinen Augen. Untersetzt, kräftig. Ein Ferkel, dachte Hüttmann und grinste in sich hinein. Das Ferkel trug einen Blaumann und eine Baseballkappe mit dem Firmennamen. Die andere Kamera saß an der Gebäudeecke und filmte den Mann von rechts. Stumpfe Nase, fliehendes Kinn. Auch der Lieferwagen war genau zu erkennen. Berliner Kennzeichen.

Der Kurierfahrer trug ein schmales Paket in der einen Hand. In der anderen den Strichcodescanner. Er stellte sich vor die Doppelschiebetür und klingelte. Dass das Ferkel auch zu blöd war, den Einwurfschlitz zu finden. Hüttmann drückte den Knopf der Gegensprechanlage. »Werfen Sie die Sendung bitte in den Briefkasten. Der Schlitz ist beleuchtet.«

»Ich brauch eine Unterschrift.« Der Typ hob entschuldigend die Arme.

Hüttmann legte den Türöffnungsschalter um und stand träge auf. Lautlos verschwanden die Türflügel in der Wand. Das Ferkel trug Schnürstiefel. Es legte den Scanner und das Päckchen auf den Tresen und zog eine Pistole. Hüttmann erkannte die Glock 17L. Mit Schalldämpfer. Er hatte die Pistole im Schützenverein Lichtenrade gesehen, wo er früher Kleinkaliber geschossen hatte, bis Sabine krank wurde. Als alles noch gut war.

Hüttmann sah, wie Männer aus dem Transporter stiegen. Vier. Masken über den Gesichtern. Bewaffnet mit Maschinenpistolen. Hüttmann erkannte die Heckler & Koch MP7. Das waren Profis, bewaffnet wie eine Spezialeinheit. Sie betraten den Vorraum und warteten fast provozierend gelassen.

»Schließ die Tür.« Eine ruhige Stimme.

Hüttmann drückte auf den Knopf. Butterweich schwebten die Türflügel zusammen.

»Wo werden die Aufnahmen gespeichert?«

Hüttmann führte den Anführer durch die Tür hinter dem Tresen. Merkwürdig, er spürte keine Angst. Sein Hirn war wie gelähmt. Ein kurzer Flur. Drei Türen, links, rechts, hinten. Er deutete auf die rechte Tür. Ein Wink mit dem Pistolenlauf. Hüttmann betrat den Technikraum. Der Typ trat einen Schritt zurück und zeigte zum Tresen. Ein Komplize löste sich von der Gruppe und kam in den Raum. Er war größer als der Boss und hager. Er zog den Computer nach vorn, dessen Festplatte die Kamerabilder speicherte. Routiniert zog er die Kabel und trug den PC in den Vorraum.

»Wo tagt der Vorstand?«, fragte der Boss in einem Tonfall, der Hüttmann verriet, dass der Mann die Antwort kannte.

»Ganz oben, neunter Stock, Sitzungsraum 908.«

Der Mann nickte und schoss Hüttmann in die Stirn. Blut und Hirn spritzten an die Wand. Hüttmann prallte dagegen und rutschte auf den Boden. Er hinterließ eine rote Spur auf dem Putz. Es ploppte noch einmal, als der Mann dem Nachtwächter ins Herz schoss.

Der Boss verließ den Technikraum und schloss die Tür. Zurück in der Vorhalle, zeigte er mit der Pistole zum Aufzug.

Wilhelm Wittstock schaute in die Runde. Fünf Männer, eine Frau. Er kannte sie alle seit Jahren. Es waren gute Leute. Jeder hatte seine Stärken. Und mancher offensichtliche Schwächen. Aber nicht so ausgeprägt, dass sie sich im Team nicht ausgleichen ließen. Der Vertriebschef Norbert Müller etwa brauste gern auf. Dazu passte es, dass er aussah wie ein Proll, schwitzig, auch wenn er nicht schwitzte. Den Schlips locker, das Jackett über der Stuhllehne, die Manschetten hochgekrempelt. Umso mehr hatte sich Wittstock gewundert, als er einmal bei Müllers zum Essen eingeladen war. Da war der Vertriebschef die Sanftheit in Person gewesen. Er lebte mit seiner Frau und den beiden Kindern in einem modern-puristisch eingerichteten Bungalow. Sie gab den Ton an, erzog den Sohn und die Tochter fast im Alleingang. Sie war stark und klug.

Wolfgang Böttcher sagte selten etwas auf Sitzungen, geschweige denn, dass er sich erregte. Aber niemand konnte Politiker und Ministerialbeamte geschickter umgarnen als er. Er fand die richtigen Worte. Er gehörte nicht zu diesen Plumppropagandisten. Er bestach durch seinen Witz, dem man ihm nicht ansah und der seine Gesprächspartner umso mehr überwältigte. Über sein Privatleben wusste Wittstock wenig, nur dass Böttcher allein mit ein paar tausend Büchern am Wannsee wohnte.

Julian Ahlfeld war meistens schlecht gelaunt, oder er tat so. Die Chemiker und Pharmazeuten in der Produktion zitterten nicht vor ihm, aber sie hatten einen Heidenrespekt vor seinem Fachwissen. Er war nicht nachtragend und setzte sich für seine Leute ein. Wittstock wusste, dass Ahlfeld früher ein ganz Linker gewesen war, aber das war schon ewig her. Vielleicht hatte er damals sein Talent als Organisator entdeckt. Wittstock war noch nie bei ihm zu Hause gewesen. Anbiederung wäre das Letzte gewesen, was er dem Produktionsvorstand hätte vorwerfen können.

Wolf-Dietrich Holter von der Forschung lebte in Scheidung. Von der Frau wusste Wittstock nur, dass sie eine Professur als Literaturwissenschaftlerin in Tübingen hatte. Holter liebte die Kunst und hatte eine kleine Sammlung von Minimalisten zusammengekauft, wie er einmal im Zwiegespräch verriet.

Otto Hübschers Frau und Tochter waren auf dem Berliner Ring gestorben, als ein Lastwagen ihr Auto zerquetschte, weil der Fahrer eingeschlafen war. Seitdem war Hübscher noch blasser. Wittstock gestand sich ein, dass der Finanzchef unersetzlich war, seit er sich nur noch mit seiner Aufgabe beschäftigte. Eine zynische Wahrheit.

Genauso wahr war Wittstocks Schwäche für Helene Schneider. Sie hatte nichts von der Seifigkeit der PR-Leute. Vielmehr beeindruckte sie alle, die mit ihr zu tun hatten, durch ihren Verstand und ihre Schnelligkeit. Sie hasste die üblichen Pressemitteilungsfloskeln und erzog ihre Mitarbeiter, gut zu schreiben. Vor allem aber besaß sie ein Gespür für Stimmungen in den Medien. Wittstock wusste längst, dass Entscheidungen des BBC-Vorstands nur die Hälfte bewirkten, wenn Helene Schneider sie nicht nach außen vertrat. Sie hatte lange gelitten unter ihrer Vorgängerin und wirkte wie befreit, seit Wittstock der Dame erklärt hatte, dass sie zwei Möglichkeiten habe, die BBC zu verlassen. Freiwillig oder unfreiwillig. Helene Schneider lebte mit einem Journalisten zusammen, den sie kaum wegen seines Erfolgs lieben konnte. Wittstock wusste, dass sie ihm Aufträge für Broschüren und Pressetexte zuschob. Er bedauerte nur, dass sie es mit dem Verlierer so lange aushielt. Er hätte vielleicht Frau und Sohn verlassen für sie.

Er warf ihr einen Blick zu. Sie schien es nicht zu merken. Doch manchmal schaute sie ihn ein paar Sekundenbruchteile länger an. Aber Wittstock würde nichts tun, das den Erfolg der Firma beeinträchtigen könnte. Es waren seine Leute. Jeden hatte er gefördert. Jeder verdankte seinen Job, die Anerkennung, den er einbrachte, das gute Gehalt, den Audi 8 auf die eine oder andere Weise Wittstock.

Wittstock konzentrierte sich wieder auf die Beschlussvorlagen. Der BBC-Vorstand bestand aus neun Mitgliedern, aber Köhler war krank und Wels in Brüssel. Die Sitzung war hitzig. Seit Monaten stritten sie sich über die Produktpalette, über die Ausrichtung auf alten und neuen Märkten, über Konsolidierung oder Expansion. Vorstandssprecher Wittstock gehörte zur alten Garde. Er war schon länger als zwanzig Jahre im Unternehmen, hatte sich hochgedient, nachdem er als Diplomchemiker in der Produktion angefangen hatte. Es graute ihm, wenn er hörte, die BBC müsse sich neu erfinden. Modegewäsch. Die BBC spielte in der ersten Liga der Chemieriesen. Ihre Forschungsabteilung war Weltspitze, und Wittstock hatte alles getan, um ihr die Mittel und das Personal zu geben, damit sie vorn blieb.

»Der EU-Markt ist gesättigt, da gibt’s kaum noch Wachstum«, polterte Müller.

»Es sei denn mit neuen Produkten«, erwiderte Holter von der Forschung. Er hatte zu Beginn der Sitzung einige vielversprechende Entwicklungen vorgestellt. Aber nichts davon war schon produktionsreif. Doch Holter war sich mit Wittstock einig. Statt Experimenten auf gefährlichen Märkten sollten sie Produkte und Verfahren entwickeln, mit denen die BBC ihre Position auf den bewährten Märkten ausbauen konnte. Europa, USA, Japan. In China würde man Versuchsballons starten, immer mal wieder. Vielleicht auch eine kleine Fertigungsanlage aufbauen, um guten Willen zu zeigen. In Indien genauso, obwohl die dort das Patentrecht auf eine gewöhnungsbedürftige Weise interpretierten. Immerhin waren sie nicht so dreist wie die Chinesen. Über so etwas wie den Schutz des geistigen Eigentums lachten die nur. Eine typische europäische Marotte. Wittstocks Strategie brauchte Geduld und strapazierte die Nerven mancher Vorstandskollegen, denen die Aktionäre in den Ohren lagen. Am Ende setzte sich Wittstock aber durch. So war es immer gewesen. Und im Nachhinein hatten ohnehin alle dessen Position vertreten.

Helene Schneider schüttelte den Kopf. Sie mischte sich gern in andere Zuständigkeiten ein. Und dies meist mit klugen Argumenten. Wittstock hielt sie für das intelligenteste Vorstandsmitglied, sich selbst eingeschlossen. »Wir müssten Kredite aufnehmen, wenn wir nach China gehen. Und wer gibt uns die Sicherheit, dass die Chinesen uns einfach machen lassen …«

»Die klauen doch wie die Raben. Lassen uns nur rein, solang sie uns ausnehmen können«, knurrte der Produktionsvorstand Ahlfeld.

Böttcher hüstelte. Er verantwortete in seinem Ressort nicht nur die Beziehungen zur Politik, sondern war auch zuständig für die Firmensicherheit.

»Und selbst wenn nicht«, warf Helene Schneider ein. »Sie betrachten Wirtschaft als Krieg. Wenn es ihrer Industrie nutzt, holen sie uns ins Land. Wenn es ihr schadet, führen sie Kampagnen gegen uns. Denen sind nicht mal unsere Bahnen und Autos mehr gut genug, nachdem sie die abgekupfert haben.«

Sie hat nur eine Schwäche, dachte Wittstock. Sie lässt sich hin und wieder von Medienkampagnen beeindrucken. »Kopieren heißt anerkennen. In den Augen der Kunden ist das Original immer besser als die Nachahmung …«, sagte er bedächtig.

»Es sei denn, man kann sich das Original nicht leisten«, warf Müller ein.

»Bei der Produktivitätssteigerung in Asien steigt auch die Kaufkraft, das Wohlstandsniveau. Als die Japaner auf dem hiesigen Markt auftauchten, war das Abendland fast schon untergegangen. Und ist es das? Das Gedächtnis ist kurz.« Wittstock schaute in die Runde. Nur der Finanzvorstand Hübscher erwiderte seinen Blick nicht, weil er in seinen Zahlen kramte.

Ein paar Sekunden Schweigen.

Wittstock beendete es mit dem Vorschlag, eine Pause zu machen. Er zeigte zum Nebenraum, wo das Büfett wartete. Da platzte die Tür zum Gang auf.

Nachdem die Truppe den Aufzug verlassen hatte, führte das Ferkel sie zum Sitzungsraum. Das Ferkel drückte die Klinke und stieß die Tür auf. Bevor die Vorständler begriffen, was geschah, standen die Eindringlinge nebeneinander am Fußende des Tischs. Vierzehn Augen starrten sie an. In den Gesichtern der Vorstände spiegelte sich Überraschung, Empörung und dann nur noch Angst. Drei Männer hoben die Maschinenpistolen und eröffneten das Feuer. Es ertönte nichts außer dem Geknatter der Waffen. Der Boss beobachtete, wie die Opfer fielen. Nach vorn auf den Tisch. Zur Seite auf den Teppich. Nach hinten. Auf Tisch und Teppich strömte Blut. Dann gab er das Zeichen, und die Waffen schwiegen.

Ein Ächzen. Sonst nichts.

Wittstock war zweimal in der Brust getroffen worden. Die Wucht der Treffer hatte ihn umgerissen. Er starb mit weit aufgerissenen Augen auf dem Teppich. Helene Schneider hatte es noch geschafft, sich zu ducken und ihre Hand vor den Kopf halten. Die Hand wurde von drei Neun-Millimeter-Geschossen zerfetzt. Ihr Gesicht platzte, während ihr Oberkörper auf die Tischplatte sackte. Müller hatte ein Loch in der Stirn, als der Treffer in der Schulter ihn auf Helene Schneider fallen ließ. Böttcher lag verkrümmt auf dem Boden, die Hälfte seines Kopfs fehlte. Hübschers Oberkörper war auf die Tischplatte gerutscht. Sein Rücken war zerfetzt. Holter saß mit blutroter Brust in seinem Stuhl. Ahlfeld hatte nur einen Streifschuss an der Stirn. Er hatte beim Bund gedient und besaß militärische Erfahrung. Zitternd kroch er hinter das Stehpult. Das Ferkel ging gemächlich nach vorn, hob die Glock und schoss Ahlfeld erst in die Stirn, dann in die Brust. Dann gab er seinen Leuten ein Zeichen. Zwei Mann verschwanden. Das Ferkel betrachtete jede Leiche genau. Er ließ sich nicht anmerken, ob es ihn erleichterte, dass keine Fangschüsse mehr nötig waren.

Sie warteten ein paar Minuten, bis die beiden Männer zurückkehrten. Sie hatten einen großen Handwagen dabei.

I.

Der schlaksige Mann mittleren Alters klopfte an und drückte die Klinke. Er betrat das Vorzimmer des Kriminalrats. Es war leer. Schreibtisch, PC, Regale, ein typisches Sekretärinnenbüro. Die Tür zum Zimmer des Kriminalrats war angelehnt. Auch darin war niemand. In der Ecke stand ein verstaubter Gummibaum, an der Wand hinter dem Schreibtisch ein Aktenregal, zwei Fenster zeigten auf den Tempelhofer Damm. Ein Polizeikalender. Nur das gedämpfte Verkehrsdröhnen und das Ticken einer Standuhr waren zu hören. Der Schreibtisch glänzte vor Leere.

Er ging zurück auf den Flur. Der zog sich fast endlos hin in beiden Richtungen. Er klopfte an weiteren Türen. Doch schien die 3. Mordkommission des Berliner Landeskriminalamts im Polizeipräsidium menschenleer zu sein. Hinter der nächsten Tür fand er endlich jemanden. Eine junge Frau mit blondem Pony. Sie hatte sich in eine Akte versenkt und blickte ihn verwirrt an.

»Ja?«

»Ich suche den Kriminalrat Weber«, sagte de Bodt.

Die junge Frau schob mit dem Zeigefinger die Brille zur Nasenwurzel. »Ich bin nicht das Auskunftsbüro. Gehen Sie zur Pforte …«

»Da war ich«, sagte de Bodt.

Die Frau musterte den Mann mit der Achtelglatze. »Ich kann Ihnen wirklich nicht helfen.« Sie klang ungeduldig.

»Wo sind die alle?«

Die Frau blickte ihn misstrauisch an. »Sie kennen doch bestimmt unsere Pressestelle.« Sie nannte eine Zimmernummer.

De Bodt fingerte eine Karte aus der Tuchtasche seines grauen Jacketts und warf sie auf den Schreibtisch.

Die Frau wollte protestieren, griff dann doch erst zur Karte und erblasste. »Ich wusste nicht …«

De Bodt bremste sie mit einem Fingerzeig. »Wo ist die 3. Mordkommission?«

»An der Spree, Herr Hauptkommissar. Es tut …«

Wieder ein Fingerzeig. »Ich brauche jemanden, der mich hinfährt.«

Sie blickte ihn fragend an.

»Soll ich laufen?«

»Ich weiß …«

Der Fingerzeig.

»An der Spree. Ein Tatort?«

Sie nickte.

»Wo?«

»Mühlenstraße, Höhe Rummelsburger Platz …«

»Passen Sie auf die auf«, sagte er und stellte eine Aktentasche an den Fuß ihres Schreibtischs. Dann verschwand er eiligen Schritts. Sie saß starr, bis seine Schritte verhallt waren.

De Bodt ließ das Taxi am Straßenrand halten. Er sah beim Aussteigen den Polizistenauflauf am Spreeufer. Eine Bö fegte über das Ufer. Es hatte getröpfelt, doch nun linste die Sonne durch die Wolken. Dieser Frühling war kalt und dunkel. Rechts stand ein Häuserblock, alt und verwittert. Die meisten Fenster waren zerstört. Links eine Baustelle. In der Lücke drängten sich Gaffer am Absperrband. Dahinter Uniformierte. Der VW-Bus eines Fernsehsenders rumpelte über die Wiese am Hauptkommissar vorbei. Der rbb war da. Andere waren schneller gewesen und hatten ihre Kameras bereits aufgebaut. Fotografen mit wuchtigen Teleobjektiven suchten günstige Positionen. Aber das Einzige, was sie ablichten konnten, waren Polizisten, Sanitäter, Ärzte, Polizeiwagen, Krankenwagen und Blinklichter.

De Bodt drängte sich zur Absperrung durch und hielt einem Uniformierten seinen Dienstausweis unter die Nase. Der hob das rot-weiße Band, und de Bodt ging zum Ufer. Er erkannte eine Gruppe von Zivilbeamten direkt am Fluss und hielt auf sie zu. Der Ekel meldete sich vor dem Anblick des Leichenfundorts. Er kannte dieses Würgen aus dem Magen, die Bitterkeit der Säure, wenn sie zum Mund drängte. Den Geschmack würde er nicht so bald loswerden.

Die Polizisten zeigten ihm die Rücken. Als er neben ihnen stand, sah er, warum.

Sie waren an den Händen zu einem Kranz zusammengebunden. Sieben Leichen. Sechs Männer, eine Frau. Er wollte wegblicken, konnte die Augen aber nicht von dem Bild lösen. De Bodt erkannte immer mehr Einzelheiten. Sie trugen Schwimmringe um Arme und Beine. Zwei Gesichter waren zerstört. In der Kranzmitte lag eine Tasche. Ihr Griff war an die Hände der Leichen gebunden. Beamte in Schlauchbooten hatten den Kranz ans Ufer geschleppt. Andere Polizisten hatten ihn an einem Poller befestigt.

Er versuchte das Würgen zu unterdrücken. Ihm wurde heiß.

De Bodt versuchte sich die Umgebung einzuprägen. Am gegenüberliegenden Ufer lag Kreuzberg. Früher hatte die Mauer Friedrichshain und Kreuzberg entlang dem Spree-Ostufer geteilt. Reste standen bemalt am Straßenrand und waren als East Side Gallery eine vom Bauwahn bedrohte Touristenattraktion. Links lagen zwei Hotelschiffe, schräg gegenüber ein Restaurant, dessen Eingang und Fenster ins Ufer eingemauert waren. Rechts die Schillingbrücke, links die Oberbaumbrücke.

De Bodt hörte die Stimmen der Kripobeamten wie durch eine Wand. Sein Handy klingelte, aber er drückte den Anruf weg, ohne zu schauen, wer es war. Eine Frau näherte sich. Schlank, mittelgroß, kurze blonde Haare. Mitte dreißig. Ihre blauen Augen wanderten über die Gruppe und blieben an de Bodt hängen. Sie runzelte kaum sichtbar die Stirn, zögerte und ging dann zu ihm. Sie sah gut aus.

»Sie sind der Kollege de Bodt, nehme ich an?«, sagte sie.

In ihrer Stimme klang etwas mit, das ihn berührte. Er ließ sich nichts anmerken, nickte knapp und reichte ihr die Hand.

»Silvia Salinger.«

Er hoffte, dass sie sein Würgen nicht roch. Er presste die Lippen zusammen. Während er sie noch musterte, trat ein kleiner, dürrer Mann von der Seite heran. Ein grauer Typ. Salinger blickte hin und sagte: »Das ist unser Kriminalrat Weber.«

»Ach, der Kollege de Bodt. Hier ist doch gleich richtig was los. Nicht, dass Sie glauben, Hamburg sei die Metropole des Verbrechens. Hier gibt es vielleicht weniger Rotlicht, dafür mehr Leichen.« Er lachte kaum hörbar.

De Bodt erwiderte nichts. Der Händedruck des Kriminalrats war knöchern. Er strich sich durchs schwarze Haar, das sich an der Stirn lichtete. »Ihr Fall«, sagte er. »Die KOK Salinger haben Sie ja schon kennengelernt. Sie hat die 3. Kommission in den letzten Wochen in Vertretung geleitet und ist bestimmt froh, dass sie diese Aufgabe nun los ist.«

Salinger verzog keine Miene.

»Ihr Vorgänger, der Kollege Tschilkowski, wurde frühpensioniert, ziemlich plötzlich. Das Herz. Nicht jeder hält den Druck aus.« Ein prüfender Blick. »Die Kollegin Salinger bringt Sie jetzt auf den Stand der Dinge. Mich brauchen Sie hier nicht mehr.« Wandte sich ab und trippelte Richtung Mühlenstraße.

»Schon ist er weg«, sagte Salinger trocken.

Ein Grinsen zog über de Bodts Gesicht. Kurz, kaum wahrnehmbar.

»Wir haben sieben Leichen. Offenbar alle erschossen. Zusammengebunden zu einer Art Kranz. In der Mitte eine Tasche. Schwimmen seit ein paar Stunden in der Spree, sagt der Rechtsmediziner. Spuren bisher keine. Fundort ist nicht gleich Tatort.«

»Was wissen wir über die Opfer?«

»Es handelt sich fast um den kompletten Vorstand der BBC.« Ein Blick: »Berlin-Brandenburgische Chemie AG.«

»Ich weiß«, sagte de Bodt. »Sind eine große Nummer.«

Sie nickte. »Die achte Leiche liegt im Gebäude.« Ihr Finger zeigte auf den Glas-Stahl-Beton-Koloss in Richtung Oberbaumbrücke.

Nun zeigte sein Finger zur Spree. »Die Leichen waren fixiert?«

Sie nickte. »Sonst hätte die Strömung sie mitgenommen.«

»Der Nachtwächter auch erschossen?«

Sie nickte. »Ein Schuss in den Kopf. Ein Schuss ins Herz.«

»Kameraüberwachung?«

Wieder ein Nicken. »Die Festplatte wurde ausgebaut.«

»Klar.« De Bodt trat ans Ufer. Salinger folgte ihm. Der Rechtsmediziner saß in einem Schlauchboot und untersuchte die Leichen. In einem anderen Boot sah er drei Kriminaltechniker in ihren Ganzkörperanzügen. Einer fotografierte. Auf dem anderen Ufer hatten sich Neugierige versammelt. Objektive glitzerten. Der Himmel riss auf, als wollte die Sonne den Ort beleuchten.

»Wir gehen zur Zentrale«, sagte de Bodt. »Hier können wir nichts tun.«

Sie querten schweigend die matschige Wiese zum Firmengebäude. Ganz oben prangten in Blau die Initialen BBC. De Bodt spürte Nässe in seinen Schuhen. Er fühlte, wie ihm wärmer wurde. Bald würde er in der Kälte schwitzen. Wie immer, wenn er begann, den Druck zu spüren.

Auch das Firmengebäude war weiträumig abgesperrt. Hier drängten sich aber weniger Gaffer und Journalisten am rot-weißen Band. Einer hielt de Bodt das Mikrofon vors Gesicht, doch der schob es weg. Sie betraten die Vorhalle. Die Leiche lag in einem Gang, zu dem eine Tür hinterm Tresen führte. Eine Lache geronnenen Bluts um den Kopf. An der Wand hatte der Mann eine rote Rutschspur hinterlassen.

De Bodt schmeckte noch mehr Galle. Er hasste intensive Körperlichkeit, am meisten bei Toten. Sie waren erstarrt oder schlaff, immer bleich. Er hätte nicht Arzt werden können. Ihn peinigte schon die Vorstellung, fremde Körper anfassen zu müssen.

Salinger reichte ihm Gummihandschuhe und zog selbst welche an.

»Profis«, sagte Salinger.

»Gibt’s hier einen Medizinmann?«, fragte de Bodt.

»Nein, eine Wunderheilerin, die in diesem Fall aber auch machtlos ist.« Eine Frauenstimme aus einem Nebenraum. Ein Kriminaltechniker drängte sich grußlos vorbei. Die Ärztin war groß, schlank, hatte ein kantiges Gesicht und zurückgebundene schwarze Haare. De Bodt schätzte sie um die Vierzig. Sie lächelte und reichte ihm die Hand. »Zander, wie der Fisch«, sagte sie.

»De Bodt«, erwiderte er. »Leider heißt kein Fisch so.«

Sie verzog keine Miene. »Er war sofort tot. Todesursache muss ich Ihnen nicht erklären.«

»Hat er sich gewehrt?«, fragte Salinger.

»Wie denn?«, erwiderte die Ärztin.

»Er wurde nicht gestoßen oder geschlagen …«

»Wir suchen natürlich noch Spuren an seinem Körper. Aber ich setze jetzt schon mein nicht existierendes Morphiumdepot darauf, dass wir nichts finden außer den Kugeln. Eine hat die KT schon gefunden. Glatt durch Schädel und Brust. ’ne Luftpistole war das nicht.«

Wie bestellt, tauchte der Kriminaltechniker auf, der sich kurz zuvor vorbeigedrängt hatte. »Sie sind …?«, fragte er. Die Frage stand auch in seinem sommersprossigen Gesicht.

»Hauptkommissar de Bodt«, sagte Salinger.

Der Ganzkörperpräservativling reichte ihm eine Plastiktüte. Darin eine verformte Bleikugel.

»Neun Millimeter«, sagte de Bodt. »Und die zweite?«

»Finden wir noch.« Der Beamte stockte, dann sagte er: »Morgen früh wissen wir, aus was für einer Waffe sie stammt.« Er zog ab.

Zurück zur Eingangstür. »Schließen Sie die mal«, sagte de Bodt zu einem Beamten, als er draußen stand. Der guckte erstaunt, ging dann aber zum Tresen und fand nach ein paar Sekunden den Knopf. Die Türflügel schlossen sich. De Bodt trat ein paar Schritte zurück. Seine Augen suchten den Boden ab. Asphalt, vor der Tür Betonplatten. Über der Tür ein schmaler Regenschutz aus schwarzem Stahl. Rechts neben der Tür die Klingel und der Schlitz des Briefkastens. Über dem Eingang und an der Gebäudeecke Kameras. De Bodt drückte die Klingel. Sie war draußen als Summen hörbar.

Inzwischen war das Unterhemd feucht. Er fror. Kalter Schweiß. Er wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn trocken.

Salinger hatte sich hinter den Tresen gestellt und beobachtete ihn.

De Bodt zeigte ihr an, die Tür zu öffnen. Sie drückte den Knopf. De Bodt betrat den Vorraum und ging zum Tresen. »Die Tür ist nicht beschädigt. Der Nachtwächter hat sie hereingelassen.«

»Er brauchte einen Grund. Die Tür ist nachts mit Sicherheit geschlossen«, erklärte Salinger.

»Er hat den Nachtwächter mit der Knarre bedroht«, sagte eine Stimme. Ein kleinwüchsiger blonder Mann tauchte neben Salinger auf. Er trug eine blaue Hose und einen gelben Pullover. Er reichte ihr an die Schulter. Das Gemetzel im Bürohaus schien ihm die Laune nicht zu verderben.

»Das ist Ali Yussuf«, sagte Salinger ungerührt. »Ihr Assistent, wenn Sie so wollen.«

De Bodt musterte ihn. »Wo kommen Sie denn her?«

»Aus Neukölln«, erwiderte Yussuf.

»Anwärter?«, fragte de Bodt.

Yussuf nickte eifrig. »Jawohl, Herr Hauptkommissar.«

De Bodt ließ sich nichts anmerken. Ihm gingen übereifrige Anfänger auf die Nerven. Und: Ein blonder Türke, wo gibt’s denn so was?

»Dann gehen wir mal.« Und zu Salinger: »Wer hat uns geholt?«

Salinger guckte in ihr Notizbuch. »Jemand … der Hausmeister.«

»Wann?«

»Kurz nach sieben Uhr.«

»Geht’s genauer?«, fragte er, nachdem er den Aufzugknopf gedrückt hatte.

»Sieben Uhr und drei Minuten. Die Sekunden hat der Kollege am Notruf leider nicht notiert. Ich werde ihn dafür tadeln.« Sachlich, fast eisig.

Er grinste innerlich und stieg ein, nachdem der Lift gegongt hatte.

Sie roch gut.

Der Schweiß trocknete langsam. Das Frösteln blieb.

Yussuf fummelte an seinem Smartphone.

Salinger führte ihre Kollegen in den Sitzungsraum. Ein süßlicher Gestank schlug ihnen entgegen, vermischt mit etwas Scharfem. Pulvergeruch. Auch hier arbeiteten Kriminaltechniker. De Bodts Magen verkrampfte sich wieder. An den Wänden, auf den Tischen und auf dem Teppichboden Blut, Gewebe, Hirn. Yussuf band sich einen Mundschutz um. Salinger schien unberührt. Sie deutete auf das Ende des langen Konferenztischs und blickte in ihre Notizen. De Bodt schluckte ein paarmal, aber es wurde nicht besser.

»Da saß Dr. Wittstock. Er hat die Sitzung geleitet. Er ist der Vorstandssprecher.« Ein Blick zu ihm, als wollte sie fragen, ob er einverstanden sei mit ihrem Vorgehen.

Er nickte. Der Speichel schmeckte bitter.

Ein Fingerzeig zum Platz neben Wittstock. »Norbert Müller, Vertrieb. Daneben Wolfgang Böttcher, Kontakt zur Politik und Sicherheitschef.«

»Seltsame Kombination«, sagte de Bodt.

»Was?«, fragte Yussuf laut. Er schrieb in einem Block und blickte de Bodt an, als erwartete er von ihm die Offenbarung.

»Dr. Wolf-Dietrich Holter, Forschung«, sagte Salinger.

Yussuf schrieb.

Sie deutete auf die andere Seite des Tischs. »Hübscher …« Ein Blick ins Notizbuch. »Otto.« Dann: »Helene Schneider.« Wieder ein Blick ins Buch. »Auch Doktor. Marketing, Werbung, Presse …« Fingerzeig. »Und hier Ahlfeld, Julian, kein Doktor.«

Yussuf gab einen Laut von sich, der sich nach unterdrücktem Prusten anhörte.

Salinger tat so, als hätte sie es nicht gehört. »Produktionsleiter.«

»Die haben alle Vorstandsmitglieder umgebracht«, sagte Yussuf. Erstaunen lag in seiner Stimme.

»Nein«, widersprach Salinger. »Es fehlen Werner Köhler und Hermann Wels. Köhler habe ich erreicht. Der ist krank, liegt mit Magen-Darm-Katarrh im Bett. Sagt er. Wels ist in Brüssel. Sagt die Sekretärin von Köhler.«

»Ich brauche die Sekretärinnen und sonstigen Mitarbeiter. Wir müssen mit Köhler und Wels sprechen.«

»Wels ist informiert und auf dem Weg nach Berlin«, sagte Salinger. Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht.

»Gibt’s hier ein Büro …?«

»Ich habe ein Büro belegt«, sagte Salinger. »Im fünften Stock.«

»Wir brauchen Verstärkung. Die müssen alle befragt werden, ob ihnen irgendetwas aufgefallen ist in letzter Zeit. Zuerst der Hausmeister.«

»Wir sind schon dabei«, sagte Salinger.

De Bodt überlegte kurz. »Gut, dann fahren wir jetzt zu Köhler. Sie wissen …«

»In Zehlendorf.«

»Und Sie kümmern sich um die Befragungen. Plündern Sie die anderen Kommissionen. Wenn die zicken, rufen Sie mich an. Klar?«

»Jawohl, Boss!« Ein Lächeln zog über Yussufs Gesicht. Hätte noch gefehlt, dass er die Hacken zusammengeschlagen hätte.

Ob es vom Durchfall kam oder vom Schrecken oder von beidem: der Mann war blass wie ein Blatt Papier. Er saß in einem Trainingsanzug und mit Hauslatschen in einem Ohrensessel. Der Mann erschien de Bodt wie der Pensionär einer Versicherungsgesellschaft. So stellte er sich ein Vorstandsmitglied eines weltweit tätigen Chemiegiganten jedenfalls nicht vor. Seine Frau zitterte und japste, während de Bodt knapp den Grund ihres Kommens schilderte.

»Und mein Mann, und mein Mann«, sagte sie. Immer nur »Und mein Mann«, während sie die Schürze ablegte, aber nicht wusste, wo sie die loswerden sollte. Hilflos starrte sie auf das Kleidungsstück in ihrer Hand.

»Koch den Polizisten Kaffee, für mich einen Tee«, sagte Köhler. Nässe glitzerte auf seiner Stirn. Er fingerte am Bügel seiner Brille, setzte sie ab, legte sie auf eine Illustrierte auf dem Beistelltisch und setzte sie gleich wieder auf. »Ja, nehmen Sie Platz.« Er deutete zum Sofa.

De Bodt und Salinger setzten sich nebeneinander. »Frau Schindler hat mich schon angerufen, heute früh«, sagte er leise.

Salinger räusperte sich: »Das ist Ihre Sekretärin.«

Er blickte sie verwirrt an und nickte. »Alle tot …«

Er schaute sich um, als wäre er gerade eingezogen in das verwohnte Haus in Zehlendorf. »Ich wäre auch …«, sagte er.

De Bodt überlegte, ob es ein Zufall war, dass Köhler überlebt hatte. Der Mann sah krank aus, aber diesen Anschein konnte einer leicht erwecken. »Seit wann sind Sie krank?«

»Seit gestern … Abend.«

»Sie waren am Vormittag noch in der Firma?«

Er nickte. »Nach dem Mittagessen hatte ich einen Termin in Lichterfelde …«

»Was für einen Termin?«, fragte Salinger.

»Privat.«

»Geht’s genauer?«

»Das hat mit dem … nichts zu tun.«

»Das entscheiden wir«, sagte Salinger.

»Massage«, erwiderte Köhler.

»Bei wem?«

Köhlers Gesicht rötete sich. Er erhob sich ächzend und verließ den Raum. Nach wenigen Sekunden kehrte er zurück, setzte sich und schob eine Visitenkarte zu Salinger. De Bodt nahm sie an sich, blickte kurz darauf und steckte sie ein. Er wusste, was für eine Massage Köhler bekommen hatte. Trotzdem würden sie es überprüfen. In diesem Moment erschien Frau Köhler mit einem Tablett. Darauf Tassen, Kanne, eine Schale mit Butter- und Schokokeksen.

»Und dann?«, fragte de Bodt.

»Dann fühlte ich mich nicht wohl und bin gleich nach Hause gefahren.«

»Sie haben …«

»Ich habe Frau Schindler angerufen.«

»Sonst niemanden? Weil Sie ja auf der Vorstandssitzung gefehlt haben.«

»Frau Schindler hat es Dr. Wittstock ausgerichtet.«

»Haben Sie es bedauert, nicht auf der Sitzung gewesen zu sein?«

Köhler blickte ihn mit entsetzten Augen an.

»Gestern, als Sie wussten, dass Sie nicht dort sein würden.«

Köhler überlegte und nickte.

»Warum? War die Sitzung wichtig? Für Sie?«

»Es ging hin und her in letzter Zeit«, sagte Köhler. Seine Stimme verriet die Einsicht, dass es damit vorbei war. Es gab keine Diskussionen mehr mit diesen Leuten, mit denen er so lange zusammengearbeitet, über die er sich so oft geärgert und mit denen er sich manchmal doch gefreut hatte.

»Gab es Streit?«, fragte Salinger.

»Es gab immer Streit. Das ist normal. Aber wir haben die Dinge vernünftig … ausgetragen.«

»Um was ging es?«, fragte Salinger.

»Um die Strategie. Die Märkte ändern sich. Globalisierung …«

»Streit?«, unterbrach de Bodt. »Was heißt das genau?«

»Dass unterschiedliche Positionen vertreten wurden. Die einen wollten aggressiv in neue Märkte investieren. Asien, Lateinamerika, sogar Afrika, Russland und die neuen Staaten dort. Die anderen warnten vor den Risiken. Dass man seine Investitionen verlieren könne und nicht nur die, sondern dass der Konzern in eine Krise verstrickt werden könnte, wenn man die eigenen Mittel überreizte.«

»Gab es persönliche … Animositäten?«, fragte de Bodt.

Köhler überlegte und schüttelte den Kopf. »Es gab keine Feindschaften. Die Leute sind halt unterschiedlich. Wittstock« – er rieb sich das Auge – »ist … war ein guter Moderator. Niemand hat seine Autorität bezweifelt. Wenn es … scharf wurde in den Diskussionen, hat er ausgeglichen. Ein Mann des Kompromisses. Wissen Sie« – er schaute an die Decke, und es schien, als käme ihm eine Erleuchtung –, »wenn Sie so viele Talente haben, die Schneider, Holter …, dann brauchen Sie doch einen, der ihre Energien zusammenführt. Und das war Wittstock.«

Köhler verehrte Wittstock. Oder tat er so, um jeden Verdacht von sich abzulenken? De Bodt wollte sich noch nicht festlegen.

»Wo waren Sie in der letzten Nacht?«, fragte Salinger. Als hätte sie de Bodts Gedanken gelesen.

Köhler drehte sein Gesicht zu Salinger. Wie in Zeitlupe. Die Augen vergrößerten sich. Ein blasses Rot zog auf die Wangen. Seine Frau hielt die Luft an und atmete zischend aus.

»Wir müssen das fragen«, sagte de Bodt. »Wir fragen das jeden, der …«

»Auf dem Klo«, sagte Köhler. »Ich habe mehr geschissen, als ich essen kann.«

Salinger warf der Frau einen Blick zu.

»Er war hier«, sagte sie. »Die ganze Nacht … den Abend auch.«

De Bodt und Salinger wechselten einen Blick. Sie hatte warme Augen. Sie dachte das Gleiche wie er: Was soll die Frau sonst sagen?

»Gibt es weitere Zeugen? Einen Arzt …?«, fragte Salinger.

Beide schüttelten den Kopf.

»Sie glauben doch nicht etwa …«, stotterte Köhler.

»Darum geht es nicht«, sagte de Bodt. »Wenn wir das nicht fragen, wären wir keine Polizisten.« Und dachte: Ich verfluche den Tag, als ich beschloss, Polizist zu werden. Immer die gleichen Fragen, immer die gleichen Antworten. Der Ekel angesichts der Leichen, die Langeweile der Routine, die Biederkeit der Kollegen. Die Ödnis der Büros.

Sein Handy klingelte. Nach einem Blick auf die Anzeige drückte er den Anruf weg.

»Was wird jetzt aus der BBC?«, fragte Salinger.

Köhler zuckte mit den Achseln. Er kratzte sich am Ohr. »Wels und ich … werden die BBC kommissarisch leiten, bis der Aufsichtsrat neue Vorstände ernennt.«

»Wollen Sie Vorstandssprecher werden?«, fragte Salinger.

Köhler zögerte, dann schüttelte er den Kopf. »Nein.«

»Fehlt Ihnen die Qualifikation?«

Die Frau japste wieder. Wie kann man es mit so jemandem aushalten?, dachte de Bodt. Er hielt es mit kaum einem aus. Oft auch nicht mit sich selbst.

Köhler runzelte die Halbglatze. »Sie haben eine Art …« Er blickte Salinger böse an.

»Wenn Sie so freundlich wären …«

»Das Urteil darüber steht mir nicht zu. Das entscheidet der Aufsichtsrat.«

»Also sind Sie scharf auf den Job«, sagte sie trocken.

Er hustete laut.

»Kennen Sie den Film Adel verpflichtet?«

Köhler schüttelte unwillig den Kopf. »Ich dachte, Sie sind von der Mordkommission.«

»Da steht einer beim Erbe ganz hinten in der Reihe der Anwärter. Er erbt also nur, wenn er einen Haufen Leute aus dem Weg schafft. Und so bringt er alle um, die vor ihm stehen.« Salingers Blick wich nicht von Köhlers Augen.

Der hustete wieder.

An der Wand über der Kommode entdeckte de Bodt Fotos. Ein junges Paar, zwei Kinder.

»Das ist absurd. Wenn Sie keine Fragen mehr haben, würde ich Sie bitten, das Haus zu verlassen. Sie sollten sich bemühen, den Mörder zu fassen. Hier verschwenden Sie Ihre Zeit.«

»Stellen Sie sich das doch einfach mal vor: Sie oder Wels sind versessen auf Wittstocks Job. Den kriegen Sie aber nur, wenn Wittstock abtritt und mit ihm alle seine Unterstützer.« Salinger sagte es mit Überzeugung, als wüsste sie, was sich im Vorstand abgespielt hatte.

»Das ist doch Unsinn!«, brach es aus ihm heraus. »Vollkommener Quatsch.«

»Also, ich halte die Tatsachen fest: Sie waren scharf auf Wittstocks Posten. Wittstock und sechs weitere Vorstandsmitglieder wurden ermordet. Der Weg ist jetzt frei für Sie. Oder für Wels. Wir nennen so was ein Motiv.«

Köhler schnappte nach Luft, seine Frau japste wieder. De Bodt kam sich einen Augenblick vor wie im Aquarium.

»Ist Wels so ehrgeizig wie Sie?«

»Muss ich solche … Fragen beantworten? Das ist eine Zumutung. Ich sage nichts mehr ohne meinen Anwalt.«

»Sie haben zu viele Krimis gesehen. Sie haben kein Recht auf einen Anwalt in diesem Stadium der Ermittlungen.«

»Unerhört.«

Salinger blickte ihn fest an. »Das bestimmt die Strafprozessordnung. Und die bestimmt auch, dass Sie meine Fragen beantworten müssen. Es sei denn, Sie würden sich durch Ihre Antworten selbst belasten. Sollten wir Sie als Beschuldigten betrachten, dürfen Sie natürlich schweigen. Aber noch ist es nicht so weit.«

De Bodt grinste innerlich. Salinger war gnadenlos. Sie hatten keine Zeit und unendlich viel zu tun.

Als hätte Salinger es gehört, erklärte sie: »Wenn wir die Täter nicht binnen achtundvierzig Stunden festnehmen, wird es schwierig. Deswegen haben wir es eilig. Und deswegen behindert Ihre … Zögerlichkeit die Ermittlungen. Wir können keine Rücksicht nehmen auf Ihre Empfindlichkeiten. Es geht um achtfachen Mord.«

Köhler sackte in sich zusammen.

De Bodt überlegte sich, wie Salinger im Bett wäre. Welche Seiten würde er da an ihr entdecken? Er verdrängte den Gedanken so schnell, wie er gekommen war.

Sein Handy klingelte. Ein Blick auf die Anzeige und ein Druck auf die Taste, um das Gespräch abzuweisen.

Nach einer Weile erklärte Köhler: »Natürlich sage ich, was ich weiß.«

»Also«, erwiderte Salinger gleichmütig, »Sie wären gern Vorstandschef geworden. Und Wels auch.«

»Wels nicht.«

»Warum nicht? Ich stelle mir vor, wenn man solche Karrierehöhen erreicht, will man alles. Nur noch ein Sprung, und man ist ganz oben. Danach gibt’s nur noch Bundeskanzler oder Papst.«

»Wels war zufrieden. Er hat sich das nicht zugetraut. Er hat mal gesagt, er sei ein Teamplayer, kein Mannschaftskapitän. Er hätte nie etwas gegen Wittstock unternommen.«

»Sie aber schon.« Eine Feststellung, keine Frage.

Wels schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe keine Ahnung, wer das getan hat.« Er wischte sich den Angstschweiß von der Stirn. »Ich verlange Polizeischutz, bis Sie die Täter haben.«

De Bodt nickte, rührte sich aber nicht.

Wels hatte seine Termine in Brüssel abgesagt – »sogar den beim EU-Kommissar« – und war mit dem nächsten Flieger zurückgekehrt. Während des Flugs hatte er genug Zeit gehabt, um panisch zu werden. Er sprach hektisch. De Bodt hatte gerade sein neues Büro betreten, da stand Wels schon in der Tür. De Bodt rief Salinger und Yussuf dazu. Der brachte ungefragt ein Tablett mit Kaffee mit.

De Bodt musterte den Haarschopf seines Kollegen, suchte nach schwarzen Haarwurzeln. Da waren aber keine.

De Bodt zeigte die Handfläche. »Haben Sie auch einen Tee?«

»Äh, Beutel, heißes Wasser …«

De Bodt winkte ab und deutete auf den Stuhl am kleinen Tisch in der Ecke. Aber da hatte sich Yussuf schon abgewendet.

Das Büro stank nach seinem Vorgänger, der es mit dem Rauchverbot nicht so ernst genommen haben konnte. Oder war Yussuf der Übeltäter? In den Gestank mischten sich faulige Gerüche, als vermoderte unter dem Linoleumboden eine Ratte. Er schmeckte immer noch Galle. Immerhin war ihm nicht mehr kalt.

Yussuf setzte sich an de Bodts Schreibtisch und bearbeitete abwechselnd ein Notizbuch und sein Smartphone. Seine Füße trappelten auf dem Boden. Er blinzelte pausenlos. De Bodt versuchte ihn zu übersehen und zu überhören.

»Und Köhler?«, fragte Salinger. »Der hatte doch Ambitionen, oder?«

»Gewiss. Aber der würde doch nie …«

»Hat es Ärger gegeben zwischen Köhler und Wittstock? Oder zwischen Köhler und dem Rest des Vorstands?«

»Ich muss meine Frau anrufen«, sagte Wels. Er nestelte an seinem Jackett herum. »Die ängstigt sich zu Tode.«

»Sie müssen unsere Fragen beantworten«, erwiderte Salinger.

»Polizeischutz«, sagte Wels. »Sofort.«

Salinger warf de Bodt einen Blick zu. Er saß auf dem Stuhl an der Wand mit Blick auf Wels. Im Hintergrund veranstaltete Yussuf Zappelübungen.

De Bodt nickte.

»Ali, schick mal einen Streifenwagen vor die Wohnung von Herrn Wels«, sagte Salinger.

»Zu diesem Feine-Pinkel-Bunker Am Friedrichshain? Die haben doch bestimmt Wachleute.«

»Trotzdem. Und zu Köhler schicken Sie auch einen Streifenwagen«, sagte de Bodt.

Yussuf schnaufte und verließ das Büro.

»So, und jetzt kommen wir zur Sache«, sagte Salinger. »Köhler wollte ganz nach oben. Da saß aber schon einer. Wie haben Sie diese Lage erlebt? Hat Köhler aufbegehrt? Hat er intrigiert? Mit dem Aufsichtsrat? Mit Aktionären?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Und woher wissen Sie das? Hat Köhler es Ihnen verraten: Nein, Kollege Wels, ich würde nie hinter dem Rücken unseres Chefs …?«

Wels lief rot an. »Das ist doch Unsinn.«

»Woher wissen Sie, dass Köhler nichts versucht hat?«

»Das hätte man gemerkt.«

»Ja? Woran?« Salingers Augen wurden schmal.

Wels überlegte. »An der Stimmung. Es hätte ein … Getuschel gegeben. Gereiztheit.«

»Aha«, sagte Salinger.

»Köhler hat Dr. Wittstock … respektiert. Obwohl er sich selbst die Aufgabe auch zugetraut hat. Köhler bringt doch niemanden um. Schon gar nicht Wittstock.«

»Und er beauftragt auch keine Berufskiller? Die Sache kostet vielleicht fünfhunderttausend oder eine Million, dafür winkt der zweitbeste Job der Welt?«

»Sie sind doch verrückt«, stieß Wels hervor. Speicheltröpfchen glänzten im Licht.

Die Tür wurde aufgestoßen. Yussuf kam zurück. »Auftrag erledigt!«, tönte er und setzte sich hinter den Schreibtisch seines Chefs. Dem Gestank nach zu urteilen, hatte er auch noch Zeit gefunden, eine zu paffen.

»Noblesse oblige, das ist es nicht«, sagte de Bodt.

Salinger blickte ihn an. Aber es kam nichts mehr.

Yussufs Finger trommelten auf der Tischplatte. Er hatte Köhlers Massagesalon angerufen und sich dessen Besuch bestätigen lassen. »Ganzkörpermassage«, berichtete er. Yussuf saß immer noch am Schreibtisch seines Chefs, obwohl Wels längst in seinen Wohlstandsbunker zurückgefahren war. Vielleicht prüfte Yussuf von dort, ob der Hertha-Wimpel auf dem eigenen Tisch optimal aufgestellt war. »Ist doch klar, der Fall«, sagte er im Ton eines Typen, der aller Rätsel Lösungen kannte.

»Vielleicht weihst du uns ein. Dann können wir bald Feierabend machen«, sagte Salinger.

Draußen donnerte ein Laster vorbei. Ihm folgte die Sirene eines Krankenwagens. Über dem Rauschen des Feierabendverkehrs, der sich zur Stadtautobahn quälte.

»Die Killer wollten nur einen von den Vorständen umbringen. Und haben die anderen auch ermordet, um ihr Motiv zu tarnen.«

»Und jetzt verrätst du uns noch, wer das Ziel war. Das getarnte Motiv wäre auch hilfreich.«

Yussuf warf ihr einen bösen Blick zu. Darin lag der Vorwurf: Ich bringe den Laden auf Touren, und dafür ernte ich nur Spott. Aber er sagte nichts.

De Bodt bedachte die Möglichkeiten. Yussufs Idee war zwar abwegig, aber nicht ausgeschlossen. Sie würden es prüfen müssen. Eine Weile ertönte nur das Getrappel von Yussufs Füßen. Salinger nippte an ihrem Kaffee. De Bodt war in sich versunken. Er kämpfte gegen seinen Widerwillen. Nur wenn sie unverschämt viel Glück hatten, würden sie die Mörder und ihre Hintermänner bald greifen. Es würde also schwierig, zäh, doch intellektuell eher langweilig. Klinken putzen. Jedem Schwachsinn nachgehen. Er hasste diese Arbeit. Dem dramatischsten Verbrechen folgte die Routine.

Sein Handy klingelte, er schaltete es aus und legte es auf den Tisch. Ein Nokia-Modell aus der Kreidezeit, abgegriffen. Es passte nicht zum Maßanzug und zu den italienischen Schuhen. Salinger musterte ihn, dann schweifte ihr Blick zu Yussuf.

»Vielleicht sollten wir über Motive und Täter nachdenken, bevor wir die Ochsentour machen«, sagte sie. »Eine halbe Stunde Brainstorming, und dann fallen wir über die Angehörigen her. Die sind doch schon informiert, oder?«

»Weber hat die Bullen losgeschickt«, maulte Yussuf. Er war immer noch beleidigt. Seine Laune litt auch darunter, dass die Befragung der BBC-Mitarbeiter nichts gebracht hatte. Sie würden alle Protokolle lesen müssen. Aber dass nichts drinstehen würde, war jetzt schon klar.

»Zu den Motiven. Oder?«, sagte Salinger. Sie blickte zu de Bodt, aber der war nicht wieder aufgetaucht.

»Motiv Nummer eins: Konkurrenz. Ein anderer Konzern kämpft mit der BBC um einen Markt oder um was die auch immer kämpfen, Patente, Leute.«

»Am Ende geht’s doch nur um die Kohle«, sagte Yussuf.

»Motiv Nummer zwei: auch Konkurrenz. Nur diesmal zwischen Mitgliedern des Vorstands. Köhler und/oder Wels beseitigen das feindliche Lager. Allerdings wissen wir noch nicht, ob es überhaupt solche Lager gegeben hat.«

»Köhler wollte Boss werden. Hat er doch gesagt«, warf Yussuf ein. Die Mundwinkel endeten dicht über der Schreibtischplatte.

»Deswegen muss er nicht gleich zum Massenmörder werden.«

»Der war gar nicht in Brüssel, sondern hat seine Killertruppe …«

Die Tür ging auf. Die Frau mit dem blonden Pony stand in der Tür, eine Akte in der Hand. »Wem darf ich die geben?«

Yussuf deutete auf den Schreibtisch. Die Frau guckte irritiert, dann legte sie die Akte auf den Tisch. Ein Blick zu de Bodt, und weg war sie.

Yussuf zog die Akte vor sich und schlug sie auf. »Rechtsmedizin und Kriminaltechnik«, sagte er. Er las murmelnd. »Maschinenpistolen. Mindestens vier Täter. Im Sitzungsraum vermutlich hauptsächlich Heckler & Koch MP7. Die zweite Kugel vom Pförtner steckte in einem Schrank. Stammt wohl aus einer Glock 17. Fundort nicht gleich … das wissen wir doch schon … Tatort. Der ist das Konferenzzimmer und der Flur hinterm Empfangstresen.« Er guckte zu Salinger, dann zu de Bodt. Aber der blickte irgendwohin.

Ein Klopfen, die Tür öffnete sich. Kriminalrat Weber. De Bodt kam er noch grauer vor als am Spreeufer. Er stellte sich vor den Schreibtisch, die Hände auf dem Rücken. »Was haben Sie?« Hektisch. Wippen auf den Fußballen.

Salinger wartete auf de Bodt, der sagte aber nichts. »Nichts«, antwortete sie. »Nicht mal plausible Spekulationen.«

»Keine Spuren?«

»Viele, aber wohin sie uns führen … keine Ahnung. Werden ausgewertet. Auf Fingerabdrücke wage ich nicht zu hoffen. Vielleicht findet die Spusi ein Haar.«

»Tut mir leid, Herr Hauptkommissar«, sagte Weber.

De Bodt zuckte mit den Achseln.

»Sie haben sich bestimmt einen besseren Einstand gewünscht. Das holen wir nach. Wenn wir den Fall aufgeklärt haben. Doppelter Grund zu feiern.«

Durch die offene Tür kam die Ponyfrau. »Sie kennen sich ja schon«, sagte der Kriminalrat. »Frau Engel ist eine großartige Sekretärin.«

Engel nickte dankbar.

De Bodt nickte knapp zurück. Sie stand ein paar Sekunden, blickte zu Salinger, Yussuf, Weber, dann verschwand sie.

Weber streckte den Rücken gerade. »Ich muss Ihnen ja nicht erklären, dass es von größter Wichtigkeit ist, diesen Fall schnellstmöglich aufzuklären.«

De Bodt blickte ihn kurz an, dann fixierten seine Augen die Tischkante. Weber nickte grundlos, aber energisch zweimal. »Dann will ich Sie nicht aufhalten.«

Ein Grinsen huschte über Salingers Gesicht.

Yussuf trappelte.

»Die Motive, bevor wir Klinken putzen«, sagte Salinger.

Yussuf: »Wenn ich die KT und die Medizinfrau richtig verstehe, handelt es sich um Profis. Dafür sprechen auch die Waffen. Wer beschäftigt Profis?«

Ein Blick zu de Bodt. Salinger zögerte, dann sagte sie: »Wer das Geld dazu hat. Und ein handfestes Motiv. Etwas Schwerwiegendes. Vielleicht was Politisches …«

»Industriespionage«, trötete Yussuf und übertönte das Fußtrampeln mit Fingerklopfen auf der Tischplatte.

»Vielleicht. Das wären dann drei Motive: zweimal Konkurrenz, Industriespionage …«

»Oder ein Geheimdienst. Was produzieren die eigentlich? Kampfstoffe?«

»Vielleicht. Aber wenn es rauskommt, gibt’s einen Wahnsinnsärger. Und so was kommt immer raus. Die Wahrheit liegt ganz woanders.«

»Die Wahrheit ist nur ein Anschein«, sagte de Bodt.

Salinger blickte ihn verwirrt an. Doch de Bodt tauchte wieder ab.

»Die haben die zu einem Kranz zusammengebunden«, staunte Yussuf.

Wieder öffnete sich die Tür. Diesmal waren Klopfen und Öffnen ein Klang. Ein groß gewachsener Mann mit roten Haaren und Backenbart kam mit festem Schritt herein. Er steuerte de Bodt an. »Sie sind der Neue«, sagte er. »Krüger, Hauptkommissar, ein bisschen länger dabei als Sie und immer im Eldorado des Verbrechens.« Er streckte die Hand aus.

»Freut mich«, sagte de Bodt. »Für Sie.« Er blieb sitzen und übersah die Hand.

Krüger guckte zu Salinger. »Tag, Silvia.« Seine Augen zeichneten ihre Figur nach.

»Tag.«

»Ich wollte nur sagen, dass ich und meine Kollegen gerne weiterhelfen. 2. Mordkommission. Die besten …«

»Klar«, sagte Yussuf. »Ihr habt die Kripo erfunden.«

Krüger tat so, als hätte er es nicht gehört. »Also, ihr wisst Bescheid.«

An der Tür übernahm er die Klinke von einem anderen Mann. Unscheinbar. Graue Hose, blauer Blazer, Hornbrille, Borstenhaare.

»Aha, der Herr de Bodt. Da haben Sie ja gleich einen richtigen Fall.« Er blieb kurz hinter der Tür stehen und warf einen missbilligenden Blick auf Yussuf. De Bodt musterte den Mann kurz. Der kam zu ihm. »Oberstaatsanwalt Dr. Sebald. Ich habe, wie soll ich’s sagen, ein wenig dazu beigetragen, dass Ihnen dieser Fall übertragen wurde.«

»Warum?«, fragte Salinger, während Sebald sich vor de Bodt aufbaute.

»Der Hauptkommissar de Bodt hat sich einen guten, ja, sehr guten Ruf in Hamburg erarbeitet. Vielleicht haben Sie vom Fall Fahlinger gehört …«

»Die Frau, die ihren todkranken Mann ermordet haben soll«, platzte Yussuf dazwischen. »Die es aber nicht war …«

»Sondern der Enkel, der gehört hatte, dass sein Großvater das Testament zu seinen Ungunsten ändern wollte.«

Yussufs Gesicht spiegelte Bewunderung. »Und es lag nur an einem …«

»Wir verlieren Zeit«, sagte de Bodt.

»Sie haben recht, Herr Hauptkommissar«, sagte Sebald betont förmlich. »Haben Sie schon etwas für mich?«

Wie denn, wenn dauernd Wichtigtuer hier auftauchen und den Neuen beglotzen wollen?, dachte de Bodt.

»Nichts außer Spekulationen. Und die taugen nichts.«

»Wie ich höre, bricht die Zentrale fast zusammen vor Anrufen«, sagte Sebald und wandte sich zum Gehen. »Sobald Sie was haben … die Medien … Sie wissen ja.«

Natürlich würden die Aasgeier von Bild, Kurier & Co. sich an dem Mord aufgeilen.

Das Telefon klingelte. Yussuf nahm ab, hörte zu und sagte: »Der Großkotz von der Presseabteilung …«

»Soll sich an den Kriminalrat wenden. Wofür wird der bezahlt?«, sagte Salinger.

»Wo gibt’s hier ein Café?«, sagte de Bodt.

»Café Luftbrücke, in der Richthofenstraße«, sagte Salinger.

Das Café war auf Fünfzigerjahre getrimmt. Auf den Tischen standen Schirmlämpchen. Salinger und Yussuf bestellten Kaffee, de Bodt grünen Tee. »Zweiter Aufguss, sieben Minuten.« Die Kellnerin schlug die Augen nach oben, dann trabte sie los. »Die erste Tasse für den Feind, die zweite Tasse für den Freund«, murmelte de Bodt ihr nach. »Welche Motive können wir mit hoher Wahrscheinlichkeit ausschließen?«

»Eifersucht«, antwortete Salinger.

»Von wegen«, erwiderte Yussuf. »Manche Leute sind so eifersüchtig, dass sie alles und jeden umbringen würden.« Gleichzeitig befummelte er sein Smartphone.

»In Anatolien vielleicht«, sagte Salinger.

»Das ist rassistisch.« Yussuf hob den Zeigefinger.

»Kennen Sie Ockhams Rasiermesser?«, fragte de Bodt.

»Ich rasier mich elektrisch«, patzte Yussuf.

Salinger nickte. »Kenn ich.«

»Du rasierst dich nass?«, fragte Yussuf.

Sie schwiegen eine Weile.

Yussuf blätterte in der Akte mit den ersten Ergebnissen von KT und Rechtsmedizin. »Wir müssen sie alle fragen. Die Angehörigen. Die geheimen Freundinnen.«

»Ein Fass ohne Boden«, sagte Salinger.

»Wir finden vielleicht etwas Typisches. Pars pro toto«, sagte de Bodt.

Yussuf starrte ihn an.

»Das stimmt. Wir können nicht jeder Spur folgen. Und wenn Weber uns noch so viel Verstärkung beschafft. Wo fangen wir an?«

»Wir machen mit den Motiven weiter«, sagte de Bodt. »Und setzen die Vernehmungen fort, bis es keinen mehr gibt, den wir fragen können.«

Yussuf blätterte wieder. »Niemand hat etwas bemerkt. So was wie Nachbarschaft gibt’s dort nicht. Vielleicht melden sich noch ein Kneipengänger oder irgendein Nachtschwärmer.«

»Was ist passiert?«, fragte de Bodt.

Salinger blickte ihn erst verwundert an, dann nickte sie.

»Die Typen sind vorgefahren …«, sagte Yussuf.

»Woher weißt du das?«, fragte Salinger.

»Damit sie schnell verschwinden konnten. Und die Leichen muss man auch erst mal zur Spree bringen«, erwiderte Yussuf. Plötzlich war er ganz und gar konzentriert. Finger und Füße blieben ruhig. Er verzog das Gesicht, als die Kellnerin die Getränke brachte. Die rückte erst die Zuckerdose und den Salzstreuer zur Seite, dann wischte sie mit der Handfläche über die Tischdecke.

Salingers Handy klingelte. Sie nahm ab, hörte zu und sprach nach, was sie hörte:

Der Tod ist groß. Wir sind die Seinen lachenden Munds. Wenn wir uns mitten im Leben meinen, wagt er zu weinen mitten in uns.

II.

Er lag auf der Pritsche, draußen rauschte der Wind durch die Tannen. Das Kra-kra-kra eines Raben hallte. Ein Knacken erschreckte ihn. Aber dann war es still. Er berührte die Glock unter der Pritsche. Der Griff lag satt in der Hand. Es beruhigte ihn. Niemand konnte wissen, dass er hier lag. Er selbst hatte es ja bis vor Kurzem nicht geahnt. Durch die Ritzen des Fensterladens schien die Morgensonne. André hatte Hunger, aber nichts zu essen. Er schloss die Augen und öffnete sie gleich wieder.

Die Bilder in seinem Kopf.

Die ganze Zeit hatte André einen Geruch in der Nase. Es roch nach einer Sauerei. André war ein kluger Mann. Er hatte sogar ein paar Semester Betriebswirtschaft studiert. Er wusste oft im Vorhinein, wenn sich etwas zusammenbraute. Er hatte einen Riecher. Schon an der Uni. Aber diesmal ging es nicht um fiese Klausuren und hinterlistige Prüfer. Nicht um Statistik.

Diesmal ging es um sein Leben.

André hatte zusammengerechnet, was er wusste. Der Auftraggeber hatte eine Spitzentruppe rekrutiert. Über Bob, den Chef, der Söldner gewesen war in Afrika, im Irak und sonst wo. Der einen Schweinchenschädel hatte und noch viel schlauer war. Bob war glasklar. Ruhig. Schnell. Perfekt. Der Plan war einfach gewesen. Das Risiko gering. Die Recherche hatte alle Möglichkeiten berücksichtigt. Der Auftraggeber hatte erstklassiges Infomaterial geliefert. Sie mussten kein einziges Mal improvisieren bei der Aktion. Da tauchte kein Wachschutz unerwartet auf, nachdem sie den Pförtner erledigt hatten. Niemand drückte einen Alarmknopf. Nirgendwo waren Bullen zu sehen. Gerade weil es so gut gelaufen war, rechnete André eins und eins zusammen. Die Summe war: Der Auftraggeber musste die Helfer beseitigen. Spurlos. Erst dann war das Unternehmen abgeschlossen. Nicht einmal ihre Leichen durften auftauchen. André hätte es so gemacht, wenn er der Auftraggeber gewesen wäre.

Aber André wollte nicht auf die Million Euro verzichten. Ein Haufen Geld auch für Berufskiller. Daher mühte er sich, seiner Rechnung nicht zu glauben.

Doch dann hatte er aus dem Fenster des Hotels Jensen in Lübeck den Lieferwagen gesehen. Er parkte an der Obertrave. Zwei Typen in Blaumännern stiegen aus. Groß und kräftig. Einer hatte eine Glatze und trug eine Brille. Der andere hatte kurze schwarze Haare und eine dunkle Gesichtsfarbe. Solarium. André beobachtete sie mit dem Fernglas. Die Anzüge hatten Knitterfalten. Gerade gekauft und ausgepackt. Er guckte zum Handy auf dem Nachttisch und dann wieder hinaus.

Das Handy klingelte. Er blickte hinaus, während er abnahm. Es war die Glatze. Seine Augen suchten die Hotelfenster ab. André stellte sich neben das Fenster.

Sie sollten ihn abholen und beseitigen. Die Kameraden auch. Sie waren in anderen Hotels abgestiegen. Jeder für sich. Und niemand wusste, wo. Außer Bob. André begriff das Schema. Da gibt es einen Auftraggeber. Der hat sich einen Typen gesucht, der Hindernisse aus dem Weg räumte. Das war Bob. Vielleicht kannte Bob den Auftraggeber gar nicht, sondern bekam seine Jobs per anonymer Mail oder aufs Prepaidhandy. Oder es gab tote Briefkästen, ganz klassisch.

Aber das war jetzt egal. André wollte überleben. Und er wollte eine Million Euro. André verzichtete nie auf Geld, das ihm zustand. Dem Typen von der Russenmafia hatte er im September den Kopf weggeblasen. Vorher hatte er ihn gezwungen, den Safe zu öffnen in seiner Dahlemer Villa. Als der Russe tot war, hatte er sein Honorar genommen und den Rest als Strafgebühr eingesteckt. André wusste, dass er nicht im Bett sterben würde. Höchstens im Bett einer Nutte mit einer Kugel im Kopf und einer im Herz. Bis dahin folgte André seinen Prinzipien. Prinzip 1: Lass dir nichts gefallen. Prinzip 2: Lass dich nicht betrügen. Prinzip 3: Zahl es allen heim. Bob hatte ihn ausgesucht, weil er gut war. Vielleicht wusste Bob nicht, wie gut er war.

André linste hinter dem Vorhang hinaus. Die Blaumänner waren weg. Der Transporter parkte unverändert. Eine Gruppe japanischer Touristen zog vorbei. Auf dem Fluss dümpelte ein Ausflugsschiff.

Er nahm seinen Rucksack. André trug Jeans, Turnschuhe, T-Shirt und eine Trainingsjacke. Er verließ das Zimmer. Sein letzter Blick fiel auf einen Stich von Altlübeck an der Wand und den Notfallplan an der Tür. Die drückte er leise zu. Er lauschte hinunter zum Erdgeschoss. Sie mussten drei Treppen steigen oder den Aufzug nehmen. Wenn André sie geschickt hätte, würde einer die Treppe nehmen, der andere den Aufzug. Bob hatte sie geschickt. Sie würden keinen Fehler machen. Irgendwo heulte ein Staubsauger. Er beobachtete die Anzeige des Aufzugs über den Aluminiumtüren. Er war im fünften Stock. Also würde er es versuchen. Der Aufzug wurde nach unten gerufen. Das konnten sie sein. Er stoppte den Aufzug, stieg ein und drückte den Knopf mit dem K. Das hatte er sich nach dem Einchecken eingeprägt, wie er es immer tat. Fluchtwege sichern. Jetzt gab es zwei Möglichkeiten. Je nachdem, wie der Lift programmiert war. Entweder fuhr er durch in den Keller. Oder er stoppte im Erdgeschoss. André hielt die Glock mit Schalldämpfer hinterm Rücken. Er war schnell und gut. Aber das waren die Typen auch. 2–1–E. André fühlte den Aufzug im Erdgeschoss ruckeln, aber er hielt nicht. K. Die Tür schob sich auf. Niemand. André stand in einem Flur, von dem drei Stahltüren abzweigten. Die Aufzugtüren schlossen sich, der Lift ruckelte und fuhr nach oben. André stellte sich vor, dass ein Blaumann im Erdgeschoss zusteigen würde. Wartete auf der Rückseite des Hotels jemand auf ihn? Er hatte nur zwei Männer aus dem Transporter aussteigen sehen. Vielleicht hatten sie den dritten Mann abgesetzt, bevor sie parkten. André redete sich Mut zu. Sie rechneten nicht damit, dass er was ahnte. Sie hatten erwartet, dass er runterkommen würde. Dass er sich abholen ließ wie vereinbart. Wie sie es vielleicht schon mit den anderen gemacht hatten.

Die linke Tür war abgeschlossen, die rechte auch. Die mittlere öffnete sich schwer. Sie knarrte unter ihrem Gewicht in den Türangeln. Die Tür führte in einen Kellerraum mit Gerümpel. Er konnte sich hier verkriechen und hoffen, dass sie ihn nicht fanden. Er konnte versuchen, aus dem Fenster zu steigen, das an der Wand gegenüber spärlich Licht einließ. Es beschien die Staubwolke, die er aufgewirbelt hatte. Er schob Stühle, Hocker, Bettrahmen, Tische beiseite. Der Staub ließ ihn husten. Er presste ein Taschentuch gegen den Mund. Als er am Fenster stand, wartete er. Er lauschte. Draußen hörte er ein Auto. Dann noch eines. Er wischte Dreck von der Scheibe. Sie war milchig. Das Fenster zeigte auf ein Parkhaus. Zwischen Hotelrückseite und Parkhaus war ein Durchgang. Wenn an dessen Ende einer stand, konnte der André abknallen, sobald er den Kopf aus dem Fenster streckte. André beschloss zu warten.

Was würden die Blaumänner denken? Was er, wenn er in ihrer Lage wäre?

Dass der Typ abgehauen war. Dass er sich versteckte. Zwei Möglichkeiten, nicht mehr. Die Konsequenz? Bob fragen. Bob würde Verstärkung schicken, wenn er sie hatte. Wenn er keine hatte, würden die beiden Blaumänner warten. Und Bob würde die Umgebung absuchen. Aber sie hatten einen Plan. Sie mussten über die Grenze. Die Anweisung war gewesen, dass sie in Lübeck untertauchten. Jeder in einem anderen Hotel. Lange vorher gebucht. Die Grenzen wurden nach der Aktion schärfer überwacht. Also zwei Tage verstecken. Touristen spielen. Dann sollte André in Travemünde die Fähre nach Helsinki nehmen. Die anderen woandershin fahren. Sich in Luft auflösen. Ein Jahr Pause machen. Südsee, Karibik.

Wieder ein Auto draußen. Dann ein Rumpeln im Gang. André verkroch sich unter einem Tisch in der Ecke. Die Wand im Rücken. Die Glock in der Hand. Den Blick durch einen Spalt im Gerümpel auf die Tür gerichtet.

Die öffnete sich knarrend. André erkannte den Brustkorb eines Blaumanns. Aber nicht, welcher es war. Gespannt wartete er, ob der zweite mitgekommen war. Der andere konnte im Erdgeschoss Fahrstuhl und Treppe absichern. André hätte nur einen geschickt. Der Blaumann leuchtete mit einer Taschenlampe die Winkel aus. Der Scheinwerferkegel blieb am Fenster hängen. Der Typ schnaufte einmal. Er tastete sich in den Raum hinein. Stieß gegen etwas und fluchte leise. Er schob ein Stück nach dem anderen zur Seite.

André fröstelte. Kalter Schweiß auf dem Rücken und auf der Stirn. Er richtete die Glock auf den Blaumann und sah in diesem Augenblick dessen Waffe. André drückte ab und traf den Blaumann in die Brust. Der Schuss ploppte. Der Blaumann wurde nach hinten geschleudert und landete krachend im Mobiliar. André schoss ihm in den Kopf, rannte los und stolperte. Er fiel auf die Leiche, stieß sich von ihr ab und stöhnte auf. Ein stechender Schmerz schoss ins Schienbein. Weiter. Er humpelte nach draußen. Er drückte den Liftknopf. Aufzug oder Treppe? Der Aufzug klapperte leise, als er im Keller bremste. André öffnete die Tür, wählte den siebten Stock und raste zurück in den Kellerraum. Er verkroch sich in seinem alten Versteck. Blaumann Nummer zwei erschien. Er sah die Leiche und fluchte. Dann stürzte er aus dem Raum und knallte die Tür zu.