Zeit des Terrors - Christian Ditfurth - E-Book

Zeit des Terrors E-Book

Christian Ditfurth

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Beschreibung

Eine packende Krimireihe im Berlin zur Zeit des Dritten Reichs: Polizeikommissar Karl Raben deckt eine Nazi-Verschwörung auf. Doch sein Kampf für Gerechtigkeit wird für ihn immer mehr zum lebensbedrohlichen Verhängnis.

Berlin, 1938. Die Beraubung der Juden erreicht ihren Höhepunkt, die Synagogen brennen. Die Angst ist überall. Der Berliner Kommissar Karl Raben fürchtet, dass alles auffliegt – seine Hilfe für Verfolgte, seine Sabotage von Heydrichs Befehlen, seine Ermittlungen in eigener Sache: Er will den dritten Mörder des Redakteurs Kurt Esser stellen. Zwei SA-Täter hat er schon bestraft. Gerade als die Verzweiflung ihn ergreift, stolpert er über einen Raubüberfall in der Friedrichstraße. Das Opfer ist ein Juwelier, ein Jude, dem Raben erst kürzlich die Flucht in die Schweiz ermöglicht hatte. Als weitere jüdische Juweliere überfallen werden, übernimmt Raben mit seinem Kollegen Georg Lichtigkeit die Ermittlungen. Sie stoßen auf eine Nazi-Verschwörung, und wieder muss sich Raben mit Mächtigen anlegen. Mittendrin schickt Heydrich seine Spürnase in die Tschechoslowakei, um deren Befestigungsanlagen an der Grenze auszuspionieren. Hitler ist entschlossen, seinen Krieg zu führen. Jetzt oder nie.

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Eine packende Krimireihe im Berlin zur Zeit des Dritten Reichs: Polizeikommissar Karl Raben deckt eine Nazi-Verschwörung auf. Doch sein Kampf für Gerechtigkeit wird für ihn immer mehr zum lebensbedrohlichen Verhängnis.

Berlin, 1938. Die Beraubung der Juden erreicht ihren Höhepunkt, die Synagogen brennen. Die Angst ist überall. Der Berliner Kommissar Karl Raben fürchtet, dass alles auffliegt – seine Hilfe für Verfolgte, seine Sabotage von Heydrichs Befehlen, seine Ermittlungen in eigener Sache: Er will den dritten Mörder des Redakteurs Kurt Esser stellen. Zwei SA-Täter hat er schon bestraft. Gerade als die Verzweiflung ihn ergreift, stolpert er über einen Raubüberfall in der Friedrichstraße. Das Opfer ist ein Juwelier, ein Jude, dem Raben erst kürzlich die Flucht in die Schweiz ermöglicht hatte. Als weitere jüdische Juweliere überfallen werden, übernimmt Raben mit seinem Kollegen Georg Lichtigkeit die Ermittlungen. Sie stoßen auf eine Nazi-Verschwörung, und wieder muss sich Raben mit Mächtigen anlegen. Mittendrin schickt Heydrich seine Spürnase in die Tschechoslowakei, um deren Befestigungsanlagen an der Grenze auszuspionieren. Hitler ist entschlossen, seinen Krieg zu führen. Jetzt oder nie.

Christian v. Ditfurth, geboren 1953, ist Historiker und lebt als freier Autor in Berlin und in der Bretagne. Neben Sachbüchern und Thrillern wie »Der 21. Juli« und »Das Moskau-Spiel« hat er u. a. die Krimiserie um den Historiker Josef Maria Stachelmann und die Eugen-de-Bodt-Serie veröffentlicht. »Zeit des Terrors« ist der dritte Band einer historischen Krimiserie um den Polizeikommissar Karl Raben, die im Berlin der 1930er-Jahre beginnt und in der Bundesrepublik endet.

»Christian von Ditfurths Bücher sind ausgesprochen gut recherchiert, unterhaltsam geschrieben, und – bei Krimis nicht unwichtig – sie sind spannend.« NDR Info

»Christian v. Ditfurth zeigt, dass deutsche Autoren bestens gegen internationale Konkurrenz bestehen können.« Focus

»Jeder Thriller dieser Serie ist ein Politthriller der Extraklasse: Action pur. Fünf von fünf Punkten.« HR 2, »Krimi mit Mimi« (über die De-Bodt-Reihe)

www.cbertelsmann.de

Christian v. Ditfurth

ZEIT DES TERRORS

Der dritte Fall für Karl Raben

Kriminalroman

Weitere Informationen über dieses Buch:

www.cditfurth.deDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2024 C. Bertelsmann in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Claudia Alt

Umschlaggestaltung: bürosüd

Umschlagabbildung: © ullstein bild / brandstaetter images / Archiv Seemann

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-30635-9V001

www.cbertelsmann.de

Für Chantal

Dann erst wirst du nicht weiter dich über so vieles verwundern.Wundert sich denn noch jemand von uns, wenn einen das Fieber Packt und glühender Brand sich durch unsere Glieder verbreitet?

Lukrez

Prolog

»Um Himmels willen. Was machen Sie noch hier? Hat die Abwehr …?« Karl Raben starrte den Mann an. Der hatte ein zerschlagenes Gesicht und lag mehr auf dem Sessel, als dass er saß. Um ihn herum Trümmer, Fetzen. Es stank nach Kot und Urin. Raben musste nicht fragen, wer das gewesen war.

Der Mann auf dem Sessel stöhnte.

»Ich rufe Ihnen einen Arzt.«

»Haben Sie vergessen, dass mich nur ein Jude behandeln darf? Da …« Er zeigte zum Flur, wo eine Kommode unterm Wandtelefon stand.

Jetzt fiel Raben der Name des Juweliers ein. »Herr Hunold …« Die Schubladen der Kommode waren herausgerissen. Er bückte sich, entdeckte ein Schulheft und nahm es. Blätterte und fand Eintragungen über alles Mögliche. Namen, Adressen, schließlich die eines Doktors Mühsam. Das Telefon funktionierte erstaunlicherweise, und der Doktor war da.

Raben hatte einen Trupp SA aus dem Haus in der Friedrichstraße laufen gesehen und wusste gleich, dass die Braunen wieder auf Judenjagd waren. Neben dem Eingang lagen Scheibensplitter und eine Halskette mit einer Perle.

Er reichte Hunold die Kette und holte dem Mann ein Glas Wasser aus der Küche. Es war das Einzige, das die Schläger heil gelassen hatten. Er blickte sich im Rest der Wohnung um. Sie war vor dem Überfall modern und teuer eingerichtet gewesen. Jetzt aber hatten die SA-Männer sogar die Stehlampe in Teile getreten. Die Bilder an der Wand waren wertvoll gewesen, die Leinwandfetzen verteilten sich im Raum. Warum, verdammt, war der Mann zurückgekehrt in die Hölle?

Raben setzte sich auf den Boden und blickte Hunold an. »Haben die Kerle gesagt, warum?« Er wusste, dass diese Leute keine Gründe brauchten. Hunold war Jude, das reichte.

»Die Helldorff-Spende«, sagte Hunold. »Hab sie nicht bezahlt. Vergessen … wollte nicht.« Er wischte sich mit dem Jackettärmel Blut vom Mund.

Raben schüttelte den Kopf. Seine Frau Lena hatte ihm einen Artikel vorgelesen. Der Berliner Polizeipräsident Wolf-Heinrich von Helldorff hatte beschlossen, vermögenden Juden der Hauptstadt eine Zwangsabgabe aufzuerlegen. Sie solle die Not der deutschen Juden lindern, landete stattdessen aber in der Reichskasse.

»Mein Gott, warum sind Sie zurückgekommen? Woher?«

»Aus der Schweiz. Ich dachte, mit den Judengesetzen hätte die Bande sich abgeregt … Ich durfte mein Geschäft nicht zurückkaufen, aber mein Freund hat es mir sofort überlassen.«

»Ehrenwert«, sagte Raben. »Üblicherweise müssen Juden ihre Geschäfte zu einem Spottpreis verkaufen, den das Finanzamt dann großteils einkassiert. Sonst darf keiner ausreisen. Es herrscht Ordnung in Deutschland.«

Hunold blickte ihn an und nickte. »Wir haben uns getäuscht. Viele Juden dachten, es wird nicht schlimmer. Andere sind ausgereist, weil sie ahnten, was geschehen würde. Wie konnte ich nur so dumm sein, auch nur ein Fünkchen Hoffnung in diesen Gangsterstaat zu setzen?« Er blickte Raben mit Tränen im Gesicht an. Winkte ab, mit beiden Händen. »Nein, nein, Sie habe ich nicht gemeint …«

»Ich weiß«, sagte Raben. Er hatte seine Haut riskiert und den Juwelier an Canaris’ Abwehr übergeben, damit die ihn als angeblichen Agenten ins Ausland schickte. In die Schweiz also. »Haben die den Laden geplündert?«

»Der ist doch sowieso Reichseigentum …«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Ich habe mich gerade zum Hellseher gemausert.« Er lächelte bitter.

»Ich fürchte, Sie müssen Ihre neue Gabe nicht überstrapazieren.«

Hunold nickte.

»Was wollen Sie jetzt machen?«

»Ich muss aus Deutschland raus.«

Raben hob die Brauen.

»Vielleicht … wieder die Abwehr? Canaris und Oster.«

»Haben Sie wirklich für die gearbeitet?«

Hunold schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht.«

»Natürlich«, sagte Raben. »Ich fürchte, der Admiral ist nicht erfreut. Auch er hat etwas für Sie riskiert.«

Hunold starrte an die Wand. Blut und Speichel tropften aus seinem Mund. »Ich bin ja nicht der Einzige, der sich Hoffnungen gemacht hatte«, flüsterte er. »Mir hat jemand erzählt, dass es bei den Olympischen Spielen … entspannt war. Keine Schilder gegen Juden. Aber jetzt wieder: Die Parkbank nicht benutzen, in dieser Gemeinde sind Juden unerwünscht, kein Kino für Juden, kein Schwimmbad, kein Restaurant. Bald ist uns alles verboten. Wo sollen wir bleiben?«

»Sie hätten in der Schweiz bleiben sollen.« Raben legte die Hand auf den Mund. »Entschuldigung …«

Aber Hunold schien es nicht gehört zu haben. Er ließ den Kopf hängen und hockte regungslos. Er schloss die Augen und nickte.

»Haben Sie eine Frau, Kinder?«

»War eine Mischehe, sie wollte nicht mehr. Die Anfeindungen … Wir hatten uns auseinandergelebt. Natürlich sind die Kinder ihr zugesprochen worden. Sie als Arierin …« Er stöhnte leise. Er sah das Elend seines Lebens mit geschlossenen Augen vor sich. »Alles vorbei.«

»Wurden Sie bestohlen, der Laden …?«

»Weiß ich nicht, hab nicht nachgesehen.«

»Warten Sie hier …« Raben eilte die Treppe hinunter. Die Splitter des Schaufensters lagen auf dem Gehsteig. Ein Schupo hatte sich davor postiert, der Schlagstock klopfte auf seine Hand. Raben zeigte dem Mann die Gestapo-Marke. Der Mann straffte den Körper, schleuderte die Hand an die Mütze. »Herr Kommissar …«

»Lassen Sie niemanden in den Laden.«

»Jawohl!«

»Auch keine SA oder SS. Es handelt sich um eine Ermittlung der Geheimen Staatspolizei. Beschwerden bitte direkt an Gruppenführer Heydrich.«

Der Mann begann zu schwitzen, obwohl es ungewöhnlich kalt war im Januar 1938. Ja, alle kannten Heydrich, den Chef der Gestapo. Wer sich mit ihm anlegen wollte, bekam es im schlimmsten Fall mit dem Reichsführer SS Heinrich Himmler zu tun. Des Führers erster Mörder.

Raben winkte ein Taxi an den Straßenrand und ließ sich zum Polizeipräsidium bringen.

Der Pförtner hob die Hand zum Gruß. »Schön, Sie wieder einmal zu sehen, Herr Kommissar.«

Er betrat Lichtigkeits Büro, dessen Kopf über Akten gebeugt war.

»Du sollst die lesen, nicht futtern, Georg.«

»Ach, was treibst du hier?«

»Hast du einen Augenblick Zeit?«

»Setz dich.«

»Erinnerst du dich an Wolfgang Hunold, den Juwelier?«

»Auch daran, dass der plötzlich im Ausland verschwunden war, wie unsere Chefs behauptet haben.«

»Er gehörte zu Aphrodites Kunden«, sagte Raben.

Georg nickte. Aphrodite, das war ein Fall zum Vergessen. Aber ihr Gesicht blieb im Gedächtnis, ob er wollte oder nicht. »Was ist mit ihm?«

»Er ist nach Berlin zurückgekehrt und wurde gleich Opfer der Helldorff-Spende. Er hat nicht gezahlt und bekam SA-Besuch.«

Lichtigkeit starrte ihn an, Falten auf der Stirn. »Ist der verrückt?«

»Ist nicht der einzige Jude, der zurückgekommen ist.«

»Um Himmels willen. Wo war er?«

»In der Schweiz.«

»Noch verrückter«, sagte Lichtigkeit. »Mein Gott.«

»Den Schmuckladen hat die braune Kacke auch heimgesucht. Der Schupo vor dem Schaufenster reicht nicht. Wenn die SA zurückkehrt, um den Laden zu plündern, schieben die den weg. Was soll der Mann tun?«

»Ich schicke Wendig hin.«

»Danke, Georg.«

»Und was nun?«, fragte der.

»Das weißt du besser nicht.«

***

Der Unterscharführer Johann Kahle saß im Wachgebäude seiner Kaserne in Lichterfelde-West, wo in der Finckensteinallee die Leibstandarte SS Adolf Hitler hauste, dort, wo die SS beim Röhm-Putsch SA-Kameraden erschossen hatte.

An der Einfahrt sah er den Mercedes mit dem SS-Kennzeichen und der SS-Standarte. Er eilte hinaus, während seine Wachsoldaten die Schranke hoben. Kahle grüßte zackig, Sepp Dietrich auf dem Rücksitz grüßte locker und mit einem Lachen zurück. Am wohlsten fühlte er sich doch bei seinen Männern.

Kahle sah dem Wagen nach und kehrte in die Wachstube zurück. Er war zufrieden mit seinem Leben. Die SS war ihm Heimat geworden. Er war bei seinen Kameraden so beliebt wie bei seinen Vorgesetzten.

Der Muckefuck war noch warm, er trank und zündete sich eine Zigarette an. Alles war gut. Außer, dass ihn dieser Raben umbringen wollte. Er hatte schon Fehrkamp und Ehrig getötet, auch wenn er nicht selbst Hand angelegt hatte. Aber es war klar, dass Raben alle erledigen wollte, die im November 1932 den kommunistischen Redakteur Heinz Esser erschossen hatten. Sie waren zu siebt in den Goldenen Anker eingedrungen und hatten die Bolschewistensau in Stücke geschossen. Seitdem hatten sie Raben an der Hacke. Der schaffte es, Helden der Revolution umzubringen, ohne selbst dran glauben zu müssen. Dieser Bulle war gefährlich. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass er Fehrkamp und Ehrig straflos ausschalten konnte.

I. Chaos

1.

»Den hat der Wahn gebissen!«, schrie Lena, die nie schrie. »Du hast deinen Hals riskiert, und dieser Scheißkerl …« Sie setzte sich auf den Küchenstuhl.

Oma Elisabeth öffnete die Kinderzimmertür, schüttelte den Kopf, legte den Zeigefinger auf die Lippe und verschwand wieder.

»Der hat sich Hoffnungen gemacht, dass mit den Judengesetzen alles geregelt sei. Übel geregelt, aber berechenbar.«

»Seit wann sind die Nazis berechenbar? Die drehen am Rad, und es wird schlimmer, gemeiner, blutiger. Keine Ahnung, was die sich morgen für eine Sauerei einfallen lassen. Aber dieser feine Herr steht über den Dingen. Unfassbar.«

»Er hatte Heimweh.«

»Wenn’s nur das ist.«

»Beruhige dich. Die Leute, welche die Nazis vertrieben haben, sind die ärmsten Schweine. Nicht Einstein, nicht die Manns, aber die anderen. Ausgeraubt hausen sie in Ländern, die andere Sorgen haben. Die sie als Eindringlinge und Schmarotzer fürchten. Natürlich hoffen unsere Landsleute da draußen, dass es hier besser wird. Und manche hoffen zu stark. Hunold ist nicht der Einzige, der es nicht ausgehalten hat. Im Ausland bist du der letzte Dreck ohne Namen oder Vermögen. In der Gestapo reißen sie Witze, wenn wieder einer zurückkehren will.«

Lena schüttelte den Kopf. »Ich hab oft versucht, mir die Hölle auszumalen …« Sie blickte ihn traurig an. »Und du wirst ihm wieder helfen.« Matt und erschöpft klang ihre Stimme. So, wie sie sich fühlte.

»Vorher ess ich eine Stulle.«

Am Morgen sah Raben, dass Lena nicht geschlafen hatte. Er nahm sie in die Arme, drückte sie und gab ihr einen Kuss auf die Nasenspitze.

»Aber du passt auf dich auf«, flüsterte sie.

»Versprochen«, sagte er.

Sie nickte im Schneckentempo, wischte sich die Tränen aus den Augen.

Beim Frühstück war Karl der Kleine in Bestform. Der Becher knallte samt Inhalt auf den Boden, und Hiel Hitla! hatte er sich auch noch nicht abgewöhnt. Wenn das der Führer wüsste! Aber er brachte sie doch zum Lachen. Auch Elisabeth lächelte, aber sie sah krank aus. Sie fühlte sich umzingelt. Immer dichter rückten die Verbrecher heran. Irgendwann konnte auch Karl nicht mehr helfen. Die wollten die Juden loswerden, und sie würden es durchsetzen.

Raben rief im Büro an, dass er später kommen werde. In Hunolds Wohnung sah es nicht besser aus als am Vortag.

»Immerhin wird Ihr Laden bewacht«, sagte Raben. »Wie viel fehlt? Haben Sie schon einen Blick auf Ihre Bestände werfen können?«

Hunold schloss die Augen und bestarrte die Wand, an der sich die Ecke eines Bilderrahmens festhielt, wogegen sich die andere Hälfte samt Leinwandfetzen in der Trümmerwüste versteckte.

Raben setzte sich auf die Sofakante. »Kennen Sie einen Juwelier, der nicht zum Schwein geworden ist?«

Hunolds Stirn faltete sich.

»Sie hatten Ihren Laden doch einem … Bekannten überschrieben.«

Hunold nickte.

»Können Sie das nicht wieder tun?«

Hunold starrte ihn an. Schloss die Augen.

Der Mann wohnte in einer Grunewalder Villa und bezahlte einen Butler mit Bonbon, wie das Parteiabzeichen gern genannt wurde.

»Doktor Schmidt-Woller ist leider beschäftigt. Vielleicht geben Sie mir Ihre Karte, dann kann ich Ihnen einen Termin per Telefon vermitteln. Vielleicht.«

Raben zückte den Dienstausweis.

»Oh, das habe ich nicht gewusst.« Er verbeugte sich.

Gleich saß Raben in einem Empfangssaal mit Wendeltreppe, die ein SS-Sturm in Formation hätte hochmarschieren können. An der Stirnwand hing der Führer im Mantel und in Öl, den Arm in die Zukunft gestreckt.

Es erschien ein kleiner Mann mit Halbglatze und Hornbrille, dessen Wangenwarze zitterte, als er Raben begrüßte. Der Arm wäre zur Decke geflogen, hätte die Schulter ihn nicht mit arischer Zähigkeit festgehalten.

»Heil!«, sagte Raben lässig.

Das Büro sah aus, wie ein Knabe sich den preußischen Generalstab achtzehnsiebzigeinundsiebzig vorstellte. Karten an den Wänden, Zinnsoldaten auf dem Schreibtisch, Kavallerie und Artillerie. Sogar ein Sandkasten.

»Sedan«, sagte Doktor Schmidt-Woller.

Raben beachtete es nicht.

Der kleine Mann wies ihm einen Sessel zu, barock wie das ganze Büro. Er setzte sich auf die Couch, legte die Beine übereinander, zündete sich eine Zigarette an, sog und nickte Raben zu. »Was kann ich für die Gestapo tun?«

»Sie haben Herrn Wolfgang Hunold dessen einstigen Juwelierladen zurückgegeben, obwohl Hunold Jude ist.«

»Der Laden gehörte Hunold, und ich hatte ihm versprochen, ihn für ihn zu führen, damit nicht irgendein Goldfasan ihn sich unter den Nagel reißt, obwohl er letztlich unserem Staat gehört. So verstehe jedenfalls ich die Entjudung unserer Wirtschaft. Es wird Zeit, dass die Regierung klare Verhältnisse schafft, Göring …«

Was ist denn das für einer?, fragte sich Raben. »Ich verstehe. Vielleicht könnten Sie den Laden wieder übernehmen und Herrn Hunold gleich mit.«

Schmidt-Woller hob die Brauen. »Wie darf ich das auffassen?«

»Ich glaube, dass der Beauftragte für den Vierjahresplan ein Mann der Ordnung ist. Glauben Sie, dass Minister Göring Exzesse mag?«

Der kleine Mann schwieg eine Weile. Dann schüttelte er den Kopf. »Was ist denn passiert?«

»Ein Trupp SA hat Hunold aufgesucht …«

»Um Himmels willen, warum musste er zurückkommen?«

»Er konnte sich wohl nicht vorstellen, dass in einem Staat der Disziplin und Ordnung eine Schlägerbande …«

Schmidt-Woller hob die Hand.

»Mein Chef mag diese Ausschreitungen nicht. Der Reichsführer genauso wenig. Wir wollen die Juden aus dem Land treiben, aber … ordentlich. Nicht mit SA-Methoden.«

»Sie sind sich ganz sicher? Wo gehobelt wird …«

Raben nickte. »Der Reichsführer hätte nicht gewollt, dass man einen Juwelier verprügelt, obwohl er Jude ist.«

Schmidt-Woller lächelte. »Wenn Sie das so sagen, dann bleibt mir keine Wahl, als Herrn Hunold hier aufzunehmen. Am Ende ist man ja Mensch.«

2.

Am Morgen grinste der Sturmbannführer Eckes Raben an. »Auch schon da, Kamerad?«

Raben nickte. »Heil!«

Heydrich hatte sie beauftragt, die Akten der Kommune auszuwerten. Der Gestapo-Chef fand, da sei geschlampt worden. Raben empfand es wie eine Bestrafung für seine Extratouren. Gab es für die Scheißakten nicht besser geeignete Kameraden niederen Rangs?

»Sie haben mir noch gar nicht von Ihrem Italienurlaub erzählt«, sagte Eckes.

O ja, der Italienurlaub, weil er den Führer vor einem Attentat gerettet hatte. Eckes ahnte, dass es nicht mit rechten Dingen zugegangen war, aber er wusste es nicht. Trotzdem hatte er ihm gesagt, sie seien jetzt quitt. Raben hatte Eckes das Gesäß gerettet, als sie aus Prag zurückgekehrt waren, wo sie den kleinen Strasser umbringen sollten, nachdem der große beim Röhm-Putsch ermordet worden war. Eckes hatte es vermasselt. Aber jetzt glaubte der, dass Raben den SA-Mann Ehrig ermordet hatte, jedenfalls um die Ecke. Geschossen hatten andere. Ehrig wollte Hitler ermorden, die Beweise fanden sich in seinem Koffer, den aber vorher niemand gesehen hatte. Tja, wer weiß?

Ihnen war für die Sichtung der Akten aus dem Karl-Liebknecht-Haus Zimmer 17 der Prinz-Albrecht-Straße 8 zugewiesen worden. Dort saß die Gestapo, die im Keller ihre Gefangenen folterte. Sonst aber suchte sie nach Feinden des Reichs.

»Haben Sie was Staatszersetzendes gefunden?«, fragte Raben.

»Ohne Sie?«

»Sie können doch lesen. Und Sie wissen, dass die Bolschewisten Messer zwischen den Zähnen tragen.«

Eckes grinste. »Schön, dass Sie mir das zutrauen.«

»Ich durfte Ihre überragenden Fähigkeiten ja bei unserer Exkursion in die Tschechei bewundern.«

»Ist ja gut. Besser, als Kameraden umzubringen«, platzte es aus Eckes heraus.

Immer wenn es gefährlich wurde, zwang Raben seinen Puls in den Eisschrank. »Was wollen Sie andeuten? Wenn es das ist, was ich glaube, sollten wir besser mit dem Gruppenführer sprechen.«

»Nein, das ist es nicht … Es ist gar nichts, nichts …«

»Was dann?«

»Vergessen Sie’s.«

»Wenn ich im Amt oder sonst wo irgendwas höre, das nur aus Ihrem Mund gekommen sein kann, haben Sie ein …«

»Ist ja gut. Vergessen Sie es.«

»Was ich so alles vergessen soll. Hoffentlich hab ich keine schwache Sekunde und sage, was ich nicht sagen wollte.«

»Nun hören Sie doch auf!«

»Womit?«, fragte grell eine helle Stimme.

Eckes fuhr zusammen.

Heydrich stand in der Tür. »Was hat der Hauptsturmführer gegen Sie in der Hand?«

Raben hatte den Chef gerade rechtzeitig bemerkt und gesagt, was Eckes das Maul stopfen würde. Mindestens für tausend Jahre.

»Da geht’s doch um Ihr Verhalten in Prag, stimmt’s, Eckes?«

»Jawohl, Prag«, sagte der.

»Können Sie mir Auskunft geben, Kommissar?«

Wenn Heydrich so anfing, brannte der Wannsee.

»Ich weiß nicht, was der Sturmbannführer meint.«

»Sie wissen doch sonst alles.«

»Ich widerspreche Ihnen ungern.«

Heydrich lachte sein Heydrich-Lachen. Es klang nach Klospülung, nur heller. Dann war er weg.

Stille.

»Danke«, sagte Eckes endlich.

Raben nickte und grinste innerlich. Jetzt war die Ordnung wiederhergestellt. »Haben Sie schon was gefunden im bolschewistischen Sumpf?«

»Hitler wählen bedeutet Krieg«, sagte Eckes mit verklemmtem Grinsen.

Raben lachte, aber sein Hirn lachte nicht mit. Wenn die Kommune recht hatte, hatte sie recht. Raben hatte sich durch den Schwulst von Mein Kampf gequält, laut dem es dem Volk zu eng sei und es daher Lebensraum brauche. Im Osten schien es dem Dichter leichter zu sein, wo ohnehin nur Untermenschen hausten, die kein Recht auf Leben hatten, es sei denn als Sklaven der Herrenrasse. Lena hatte ihm bei einem ihrer Spaziergänge erzählt, schon kurz nach seiner Ernennung zum Reichskanzler habe die Mensch gewordene Rotzbremse den Generalen erklärt, seine Ziele seien nur durch Krieg zu erreichen. Öffentlich feierte sich der Führer als Friedensbringer.

»Ist bisher nicht ausgebrochen«, sagte Raben, betrachtete einen Aktendeckel, der Weisheiten über den Sozialfaschismus der SPD enthielt, glaubte man der Aufschrift. Ja, wenn SPD und KPD zusammengegangen wären, hätten sie Hitler gestürzt. Vielleicht. Aber ein Versuch wäre es gewesen, besser, als sich abschlachten zu lassen. »Kommt aber.«

»Wenn Sie es sagen.«

»Erinnern Sie sich an den Einmarsch im Rheinland? Wohin laut Versailler Vertrag kein deutscher Soldat seinen Fuß setzen durfte. Das war ein Test. Wie weit kann ich gehen, ohne dass Franzosen und Engländer Panzer schicken? Der Führer ist schlauer, als Sie glauben, Kamerad.«

Eckes öffnete den Mund, vergaß aber, Schallwellen zu erzeugen. Nickte, schloss den Mund. »Meine Frau ist Ihrer Meinung. Der Führer weiß millimetergenau, was er tut. Die Feinde werden dem Reich zurückgeben, was sie ihm weggenommen haben. Der Führer will keinen Krieg, aber wenn es ohne nicht geht …«

»Sie haben eine kluge Frau, Sturmbannführer.«

»Nennen Sie mich doch Walter«, sagte Eckes. »Wir haben so viel zusammen durchgestanden.«

»Gut«, sagte Raben. Stimmt, Eckes hing ihm schon eine Weile am Fuß wie eine Bleikugel. »Sie wissen, dass ich Karl heiße.«

»Klar, Karl.«

3.

Lena begrüßte das Holzbein auf Wagners Schreibtisch in der Redaktion des Berliner Tageblatts. »Frisch poliert«, sagte sie. »So macht es noch mehr her.«

»Guten Morgen auch«, brummte der Kriminalreporter Wagner, ohne sich ihr zuzudrehen. »Endlich sind Sie eingetroffen. Bin erfreut.« Keine Frage, er hatte seine Prothese so lang angemeckert, bis die erschöpft abgewunken hatte. Jetzt suchte sein Zorn ein anderes Opfer. »Heute hat das Holzbein keinen Ausgang, es sei denn, Sie wollen es ausführen.«

»Was vermiest Ihnen die Laune?«

»Alles«, sagte er. »Wirklich alles.«

»Schön«, erwiderte sie. »Wenn sich was ändert, sagen Sie mir bitte Bescheid.« Sie setzte sich an ihren kleinen Tisch.

Wagner legte ihr einen Zettel hin. Mit klarer Handschrift stand darin, dass SA-Männer einen Juwelier in dessen Wohnung in der Friedrichstraße überfallen hätten.

Darüber müssen Sie berichten, wenn Sie sich selbst ernst nehmen wollen.

»Keine Unterschrift«, sagte sie leise.

»Ja, glauben Sie, jemand würde seine KZ-Einweisung selbst beantragen?« Für seine Verhältnisse war das ein Ausbruch.

»Der Zettel hat recht«, sagte sie.

»Woher wissen Sie das schon wieder?«

Sie nickte, sagte aber kein Wort.

Er schwieg. Dann: »Mein Gott, was sind wir auf den Hund gekommen.«

»Die SA-Überfälle gehören bekanntlich der Vergangenheit an«, sagte sie. »Es herrscht Ordnung im Reich. Jawoll!«

»Wir dürfen darüber« – der Finger zeigte auf den Zettel – »nichts schreiben. Das hat es nie gegeben«, sagte Wagner.

»Wenn das der Führer wüsste«, sagte sie. Aber es gab nichts zu lachen.

»Ihr Mann kümmert sich drum?«

Natürlich, sie konnte das nur von Ihrem Mann erfahren haben. »Weiß ich nicht. Ist ein Fall für die Kripo.«

Das Holzbein nickte. Alle Verbrechen waren Fälle für die Kripo. Außer denen, welche die Gestapo übernahm, zuständigkeitshalber oder sonst wie. Den wirklichen Verbrechern ging es sowieso nicht an den Kragen. Die waren an der Macht.

»Ich werde die Zeit nicht erleben, wo es diesen Leuten« – Daumen nach oben – »an den Kragen geht.« Er quetschte die Zunge aus dem Mundwinkel und legte den Kopf schräg.

»Haben Sie Kopfschmerzen?«

»Jeden Tag, vierundzwanzig Stunden.«

»Sie sollten eine Kur machen. Sie als Held des Weltkriegs …«

»Und Krüppel«, sagte er.

»Hätte ich auch noch gesagt.«

»Sie hätten gesagt: als glücklicher Besitzer eines Holzbeins, weil Sie in allem das Gute sehen wollen. Das geht heute nicht mehr. Kacke, wohin man blickt.«

Ein Bursche stürmte ins Büro. In der Hand einen Telexstreifen. Den legte er neben das Holzbein und trat im Galopp den Rückzug an.

»Ist der Führer aus dem Fenster gefallen, weil sein rechter Arm zu schwer geworden ist?«, fragte Lena.

»Nee, Überfall auf ein Juweliergeschäft in Charlottenburg.«

4.

»Heil Hitler!«, sagte Lichtigkeit.

»Heil Hitler!«, antwortete Raben. »Komm rein.«

Am Abendtisch plagte Raben die Ungeduld. Nach der Gute-Nacht-Zeremonie mit Kniereiten, Ins-Loch-Plumpsen und noch mal Kniereiten und noch mal Ins-Loch-Plumpsen zockelte Karl der Kleine quietschend an Großmutters Hand ins Kinderzimmer.

»Kann Zufall sein«, sagte Lichtigkeit.

»Hoffentlich nicht«, sagte Lena.

Raben blickte sie an, nickte dann aber. »Wenn wir SA-Leute drankriegen können, wünsche ich mir noch ein paar Überfälle. Habt ihr die Streifen verstärkt, Georg?«

Lichtigkeit wiegte den Schädel. »Ein bisschen. Wir bereiten uns darauf vor, Berufsverbrecher und Asoziale einzusammeln. Kam gerade von oben. Im März geht’s los.«

»Ich weiß«, sagte Raben. »Himmler will beweisen, dass seine SS das Verbrechen ausrottet.«

»Glaubt man ihm, ist Verbrechertum vererbbar. Will deine Gestapo auch die Kinder einsammeln?«, sagte Lena.

»Das trauen die sich nicht, noch nicht«, sagte Raben.

Sie legte ihre Hand auf seine.

Es klingelte. Raben dröhnten die Ohren. Nie war die Türklingel lauter gewesen. »Bleibt sitzen«, flüsterte er. Warum flüstern?, fragte er sich.

Die Klingel schrillte, als wollte sie das Glas splittern lassen. Er hatte urplötzlich das Bild vor Augen, wie ein Foto. Hagen und ein zweiter SD-Offizier, geschickt von Heydrich. Für die Abrechnung. Irgendetwas in ihm sagte: Endlich, die Ungewissheit ist vorbei. Doch die Angst ließ ihn erstarren.

»Was ist …?« Lena stand auf, nahm ihn in die Arme. »Georg, ob du bitte …?«

Georg ging zur Wohnungstür. Kehrte zurück und sagte: »Ein Herr Mahlmann.« Er legte eine Visitenkarte auf den Tisch.

Lena griff nach der Karte, betrachtete sie kurz. »Mein Gott«, sagte sie. Und dann nichts mehr.

5.

»Was ist denn mit Ihnen los, Karl?«

»Schlecht geschlafen.«

»Die Dämonen?«

»Welche Dämonen?«

»Das wissen Sie besser als ich«, erwiderte Eckes und blätterte in einer Akte. Ein Berg von Umzugskisten wartete noch auf sie. 1933 erbeutet, und mit jedem Tag taugten die Akten weniger. Adressen stimmten nicht mehr. Die meisten kommunistischen Kader hatten sie in KZ gesperrt, andere waren nach Moskau geflohen oder ins westliche Exil. Manche dürften sich inzwischen nach einem Gefängnis oder KZ sehnen. Besser, als dem Sensenmann des Führers der Völker in Moskau in die Hände zu fallen und kurzerhand erschossen zu werden. Die Personalkartei hatte die Gestapo längst abgearbeitet und aus den Gefangenen herausgeprügelt, was fehlte. Manche hatten durchgehalten wie der Parteivorsitzende Thälmann. Andere aber waren zur SA übergelaufen und jagten jetzt mit Konvertiteneifer Juden und ehemalige Genossen.

Aber das war ihm heute nicht wichtig. In seinem Hirn veranstalteten Ideen ein Wettrennen. Einige schleuderte die Zentrifugalkraft aus der Bahn, sie zerschellten am Schädelknochen. Die übrig blieben aber ließen ihn schwindeln. In der Nacht hatte er sich übergeben, während Lena auf dem Bett lag und schluchzte, wie er es nie erlebt hatte. Ihr Körper wurde geschüttelt, als hätte sie in ein Starkstromkabel gegriffen.

Wenn es ein Ergebnis seiner Grübelei gab, dann, dass es zu Ende war. Der Todesstoß überraschte sie. Er kam aus dem Nichts, sie hatten keine Sekunde damit gerechnet. Aber war es nicht egal, warum sie getötet würden? Alle seine Ängste bestätigten sich. Jetzt konnte ihn nichts mehr retten. Heydrichs falscher Ariernachweis für Lena und Elisabeth würde ihn den Kopf kosten. Raben war der Fälscher, der Gruppenführer würde so etwas nie tun. Raben war in Heydrichs Falle gefangen. Jetzt wurde abgerechnet.

Es klopfte. Lichtigkeit steckte seinen Kopf in den Türspalt. »Heil Hitler, Sturmbannführer, darf ich Ihnen den Kollegen entführen? Die Kripo braucht seinen Rat.«

»Natürlich, Herr Kommissar. Der langweilt sich hier nur.«

Draußen liefen sie im Schnee zum Anhalter Bahnhof. In der Bahnhofsgaststätte konnten sie sich den Tisch aussuchen. Nur in der Ecke saß ein alter Mann und las im Völkischen Beobachter.

Als sie zwei Bier bekommen hatten und Lichtigkeit eine Bratwurst mit Kartoffelsalat, sagte er mit vollem Mund: »Es gibt nur eine Möglichkeit. Ich bin dabei.«

Raben blickte dem Freund in die Augen. »Der wird nicht der Letzte sein, der uns heimsucht. Ich habe mich schon gewundert, warum sich kein Erpresser traut.«

»Zu viel Angst vor der Gestapo«, sagte Lichtigkeit.

»Ist ja richtig lustig, dass uns die Gestapo davor schützen soll.«

»Ist so«, sagte Lichtigkeit. »Wie gesagt, wenn du was unternehmen willst, ich mach mit. Mehr habe ich nicht zu sagen. Eine bessere Idee habe ich auch nicht.«

6.

»Womit hab ich das verdient?«, fragte Lena, als Raben früher nach Hause kam.

»Ich werde versuchen, es zu klären. Georg hilft.«

»Red nicht weiter«, sagte sie. »Lass es.«

»Nein«, erwiderte Raben. »Es ist unsere einzige Chance.«

»Und dann kommt der Nächste.«

»Kann sein, aber niemand ist so gefährlich wie Mahlmann. Schließlich ist er Karlchens Vater, biologisch.«

Der hatte vor der Wohnungstür gestanden, mit einem Lächeln. Den Hut in der Hand, den Mantel aufgeknöpft, ein Hitlerbärtchen unter der Nase, das Bonbon am Revers, natürlich.

»Herr Mahlmann, Sie wünschen?«, hatte Raben gefragt, mehr gezittert als nachgedacht.

»Wenn ich mich vorstellen darf. Mahlmann, Hugo, Buchhalter der Gauleitung. Ich bin, wie Ihnen Ihre Frau gewiss gern bestätigt, der Vater ihres Sohns. Vielleicht bitten Sie mich …«

»Nein, das passt jetzt nicht. Kommen Sie übermorgen Abend.«

Ein breites Lächeln ließ weiße Zähne leuchten. »Aber selbstverständlich, Hauptsturmführer.«

»Vielleicht stellen wir ihm eine Falle. Schließlich hat er Rassenschande begangen, wenn auch zur Systemzeit«, sagte Lichtigkeit.

»Bist du verrückt? Wenn wir damit anfangen, können wir uns gleich erschießen. Lena ist Arierin, dafür hat sich Heydrich verbürgt. Wenn wir dieses Fass aufmachen …«

Lichtigkeit schrak zurück. »Entschuldigung, war ein Schnellschuss.« Er wurde blass, trank hastig.

»Vergiss es, du glaubst gar nicht, was mir so einfiel in der Nacht. Wir müssen ihn schleunigst beseitigen. Nur wie?«

»Und wenn der rumgequatscht hat?«

»Dass er Rassenschande begangen und einen Halbjuden gezeugt hat?«, fragte Raben.

»Du hast recht. Wir schaffen den weg, ein Nazi weniger. Aber ein Gewinn für die Volksgemeinschaft.« Er versuchte zu grinsen. Ließ die Brauen tanzen, um Raben aufzumuntern.

Aber das klappte nicht. »Der weiß, dass Lena … du weißt schon.« Und fragte sich, woher Lichtigkeit es wusste. Aber darauf kam es jetzt nicht mehr an.

»Ich werde Wendig suchen lassen. Vielleicht haben wir was in der Kartei.«

Raben nickte. »Tu das, danke!« Er legte seine Hand auf die Lichtigkeits. »Du bist mein einziger Freund, alle anderen sind Schlangen. Kein Widerspruch.«

»Und du bist ein Schwarzseher. Wir kriegen das hin«, sagte Lichtigkeit. »Ich muss zurück ins Präsidium. Ruf mich an, wenn was ist. Oder komm vorbei.«

Raben saß noch lange, trank ein zweites Bier, bevor er ging. Draußen dämmerte es schon. Schneeflocken umtänzelten ihn in der Windstille.

7.

Lena war schon zu Hause. Auch sie ein Mensch, der nicht dazugehörte, obwohl die Volksgemeinschaft es noch nicht wusste. Sie hielten sich lange in den Armen.

»Hab mit Georg gesprochen, wir machen was.«

»Ah, daher der Biergestank!« Sie tat fröhlich. »Hast du dir Mut angetrunken?«

Raben setzte sich, schüttelte den Kopf. »So viel kann ich nicht trinken. Mir zeigt diese Sache, dass jeden Augenblick einer kommen kann wie jetzt Mahlmann. Dieses Bild von dir und Elisabeth in der Zeitung. Das haben doch Tausende gesehen …«

»Und längst vergessen«, sagte sie.

»Dein Wort in Gottes Ohr.«

»Nun sei doch nicht so … schwarz. Wir klären das mit Mahlmann, irgendwas wird schon gehen.«

»Willst du in der Gewissheit leben, dass uns ein Nazi jederzeit erledigen kann?«

»Wir wissen doch gar nicht, was der will.«

»Das wird er uns morgen Abend erklären. Was ist das für ein Mann? Wann und wie hast du ihn kennengelernt?«

»In einem Tanzcafé in der Leipziger, im März 1932. Es war einer dieser Zufälle, nicht ganz so verrückt wie mit dir …«

»Wie schön«, sagte er bissig.

»Ich brauchte gerade eine Schulter, und er hatte eine.«

»War er damals schon Nazi?«

»Nein. Er wählte die Deutschnationalen, verehrte Hindenburg.«

»Na, vielen Dank«, sagte Raben.

»Nicht jeder wusste am Anfang, was am Ende herauskam, du Klugscheißer.«

Er nickte.

»Elisabeth mochte ihn nicht. Sie sagte immer: Der hat nichts Echtes. Gibt sich bürgerlich, anständig, aber sobald ein Wind weht, liegt er flach. So ist es auch gekommen. Nur andersherum, als ich dachte.«

Raben blickte sie an.

»Plötzlich, wie ein Bombeneinschlag. Er wartete in einem Café auf mich, den Hut noch auf dem Kopf. Er sagte: ›Du Judenflittchen‹, und verschwand. Einfach so.«

»Hast du ihn danach noch einmal gesehen? Wusste er, dass du mit Karlchen schwanger warst?«

»Zweimal nein.«

»Ich freu mich schon auf weiteren Nachwuchs. Wir wollen doch eine arische Musterfamilie sein. Schon um unseren Blockwart zu erfreuen.«

»Vor allem das«, sagte sie. »Danke, Kalle.«

»Aber …«

Es klingelte an der Tür.

Sie zuckte zusammen.

»Das ist bestimmt Georg«, sagte er, eilte aber doch mit einem blöden Gefühl im Bauch zur Tür. »Ach, nur du. Ich hatte den Parteigenossen Mahlmann erwartet.«

»Tut mir leid«, sagte Lichtigkeit grinsend.

Die Tür gegenüber öffnete sich, und es trat der Blockwart in vollem Wichs auf den Flur. »Ah, der Herr Kommissar beim Hauptsturmführer, ich wünsche Ihnen einen vergnüglichen Abend. Ich muss in die Gauleitung, große Versammlung, sogar der Doktor Goebbels will kommen. Heil Hitler!«

»Heil Hitler, Herr Trenker!«, sagte Raben. »Na, Sie sind ja wieder zu beglückwünschen!«

»Wir leben in großen Zeiten!«

»Viel gibt’s nicht über den Mahlmann«, sagte Georg. »In der Kartei taucht er nur einmal auf. Er wurde verdächtigt, einen reichen Juden erpresst zu haben. Natürlich wurde das Verfahren an die Gestapo abgegeben, und ich habe nichts mehr davon erfahren. Ich habe beim Raub und der Sitte vorgefühlt, nichts.«

»Na toll«, sagte Lena. »Ich weiß auch nichts. Er hat bei einer Bank gearbeitet, Kassierer, dann wurde er Oberkassierer. Eine Freundin hat mir erzählt, dass er zu den Märzgefallenen gehört, Leuten, die im letzten Augenblick auf die Nazis gesetzt haben. Inzwischen ist er wohl Parteifunktionär. Ich weiß nicht, was er will.«

»Zählen wir eins und eins zusammen«, sagte Lichtigkeit. »Er will euch erpressen. Vermutlich ließe es sich leicht nachweisen, wenn ich lauschen würde. Aber dann spielt er die Trumpfkarte. Ich muss euch nicht erklären, welche die ist.«

»So eine Scheiße!«, sagte Lena.

»Lena, das sagt man nicht«, sagte Elisabeth.

Da stand Karl der Kleine, zupfte an Lenas Kleid und landete auf ihrem Schoß. Er lachte, als gäbe es kein Elend.

»Entschuldigung«, sagte Elisabeth, »manchmal kann ich die Klappe nicht halten.«

»Ist gut, alles gut, nichts gut«, sagte Lena. »Erinnerst du dich an Mahlmann?«

»Leider. Was ist mit ihm?«

»Er ist gestern hier aufgetaucht. Da warst du mit dem Bengel im Kinderzimmer.«

»Glücklicherweise. Was will er?«

»Das wissen wir noch nicht. Ich fürchte, er will uns erpressen.«

»Was soll man von so einem auch erwarten? Er will einen Gestapo-Kommissar erpressen? Ist der lebensmüde?«, sagte Elisabeth.

»Der sieht das nicht so«, sagte Raben. »Er ist in der Partei und glaubt, seine Zeit sei gekommen.«

»Er hatte doch selbst Umgang mit Juden …«, murmelte sie.

»Der Mahlmann hat die Kurve gerade noch gekriegt.«

»Große Verbrecher produzieren viele kleine Verbrecher«, sagte Elisabeth. »Wenn die Gangster an der Macht sind …«

»Es ist besser, du … überlässt die Sache uns, Georg und mir.«

Sie blickte erst den einen an, dann den anderen. Und nickte. In ihren Augen las Raben, dass sie alles wusste.

8.

Heydrich war in Himmlers Haus in Dahlem gekommen.

»Kommen Sie, Reinhard, uns erwartet ein Frühstück.« Unter den Augen des Führers an der Wand verzehrten sie Schusterjungen mit Wurst, Käse, Marmelade. Dazu Bohnenkaffee.

»Der Führer muss Krieg führen, wir wissen es. Wenn wir Europa umgestalten wollen, müssen wir damit beginnen, solange der Führer lebt. Er hat mir gerade wieder von seinen Plänen berichtet. Der Aufbau unserer Getreidekammer im Osten, die Germanisierung Polens und Russlands. Jahrhundertelang haben Germanen und Slawen um den Osten gekämpft, auf Leben und Tod. Wir werden diese Geschichte beenden.«

»Ja, Reichsführer«, sagte Heydrich. »Der Führer nimmt keine Rücksicht beim Wiederaufbau unserer Streitmacht. Hätten wir nur im Weltkrieg so durchgegriffen, er wäre 1915 beendet gewesen. Der Führer gibt uns eine zweite Chance.«

»Die wir ergreifen werden. Würden doch alle unsere Männer so klar blicken wie Sie, Reinhard. Wer weiß, was nach dem Führer kommt.« Er sah zum Fenster hinaus, wo graue Wolken Schnee über die Hauptstadt schoben. »Er will das Wichtigste vor seinem Tod schaffen, und er vertraut uns. Gerade von Ihnen hat er in letzter Zeit gern gesprochen: ›Wären doch unsere Führer nur alle wie Sie und Ihr Heydrich.‹«

»Danke. Das ehrt uns, Reichsführer. Wir sollten noch mehr mobilisieren, auch die Frauen. Es fehlen schon Arbeitskräfte in der Rüstungsindustrie, erzählt mir der SD jede Woche.«

»Mehr ist mit dem Führer nicht zu machen. So weit kommt es noch, wir rüsten zum Krieg und zerstören die deutsche Familie.« Himmler schüttelte den Kopf, setzte die Brille ab und massierte die Nasenwurzel. »In wenigen Jahren nur verändern wir die Welt oder gehen unter.«

Sie schwiegen und kauten. Himmler schenkte Heydrich Kaffee ein. »Was macht eigentlich unser Wunderknabe?«

»Der studiert die Akten aus dem Karl-Liebknecht-Haus.«

»Verstehen Sie mich richtig, Reinhard, aber unterfordert es ihn nicht? Haben Sie nicht anspruchsvollere Aufgaben für ihn? Man wächst an Herausforderungen. Wer wüsste das besser als Sie.«

»Er ist uns auf der Nase herumgetanzt. Ich musste die Zügel ein wenig anziehen, damit er nicht vergisst, für wen er arbeitet. Ich mache aus ihm einen Führer.«

Himmler nickte, überlegte. »Aber wenn das nicht seine Begabung ist? Vielleicht sollten Sie seine sichtbare Fähigkeit nutzen und entwickeln. Aber Sie kennen ihn besser.«

»Danke für die Hinweise, ich werde darüber nachdenken. Vermutlich haben Sie recht, Reichsführer.«

»Sie entscheiden das. Mir ist irgendwann eingefallen, dass er im SD womöglich besser aufgehoben sein könnte. Vielleicht sollte der Kamerad Jost ihn anlernen?« Himmler lächelte ihn an.

Heydrich nickte. »Ich werde darüber nachdenken.«

»Tun Sie das, Reinhard. Aber, wie gesagt, Sie entscheiden.«

9.

Sie saßen in einem zivilen Dienstwagen der Polizei und beobachteten den Ausgang des Gauhauses in der Voßstraße. Hakenkreuze auf Fahnen und Plakaten. Braune Uniformen, manche auf der Brust überladen mit Glitzer. Das Dritte Reich verteilte freudig Orden und Ehrenzeichen, um seine Gefolgsleute anzuspornen.

»Hast du die Adresse?«, fragte Raben.

»Hab ich dir schon gesagt«, sagte Lichtigkeit.

»Ich hab Schiss«, sagte Raben. »Der ist verheiratet, zwei Kinder. Was will er von uns?«

»Erpressung und Denunziation sind derzeit Volkssport. Wir werden den erledigen, aber irgendwann kommt der Nächste. An deiner Stelle würde ich abhauen. Frankreich, Holland.«

»Wenn ich es richtig verstanden habe, sind das auch Reiseziele des Führers.«

»Die Franzosen und Engländer sind ihm über«, sagte Lichtigkeit. »Aber was hältst du von Amerika? Da reist er nicht hin, der Führer.«

»Die nehmen doch niemanden mehr auf. Auf die Dominikanische Republik habe ich keine Lust. Verkommen unter Sonne und Palmen … Da ist er!«

Lichtigkeit startete den Wagen. Der Motor ließ den Wanderer vibrieren. Mahlmann trug Mantel und Schal. Ein Wind pfiff durch die Straßenschluchten Berlins. Mahlmann presste den Hut auf den Kopf, bevor der eine Flugübung hinlegte.

»Der geht zum Bahnhof Potsdamer Platz«, sagte Lichtigkeit. Hinter ihnen hupte es, Raben hielt die Winkerkelle aus dem Fenster, sofort herrschte Ruhe. Lichtigkeit hielt Abstand.

»Wenn er zur U-Bahn will, folge ich ihm«, sagte Raben.

»Nein«, sagte Lichtigkeit. »Der wohnt in der Körnerstraße und fährt zum Gleisdreieck. Dort warten wir auf ihn.« Er blickte Raben an. »Ich kann mich an Zeiten erinnern, als du noch Ideen hattest, von denen zwei, drei brauchbar waren.«

Raben hatte Angst, nur noch Angst, der Brustkorb bestand aus Zement. Er schwitzte, dachte daran, dass er zum Mörder würde. Er hatte diese SA-Männer umbringen wollen, er hätte es getan, aber bisher hatten ihm andere die Aufgabe abgenommen. Er redete sich zu, dass er keine Wahl habe, Lenas, Karlchens und Elisabeths Leben hingen davon ab. Seines auch. Wenn Mahlmann auspackte, waren sie geliefert. Heydrich würde seinen Zorn auf sie loslassen, unerbittlich. Und sie hoffte gerade jetzt auf Nachwuchs. Der Himmel stürzte auf ihn herab.

Vom Gleisdreieck aus auf dem Weg zu seiner Wohnung musste Mahlmann hier vorbeikommen. Draußen regnete es, die Scheibenwischer kämpften mit der Wassermasse, verloren, waren aber arischer Herkunft und würden niemals aufgeben.

Raben riss die Tür auf, aber Lichtigkeit hielt ihn fest. »Lass mich!« Die Pistole in der Hand.

Lichtigkeit zog ihn zurück ins Auto. »Bist du wahnsinnig!«

Raben sah, wie Mahlmann sich entfernte. Er krümmte sich auf dem Sitz. Lichtigkeit öffnete das Handschuhfach. Ein Revolver lag darin, Smith & Wesson. »Nimm den. Der wurde an einem Tatort vergessen.«

Raben blickte ihn an. »Aha.«

»Ist nicht originell heutzutage, dass man glaubt, man könne so was nötig haben.«

Raben befühlte die Waffe, schwer und solide. Die Trommel war bestückt.

»Es gibt sogar Ersatzmunition, nimm die Schachtel.«

Raben packte beides ein. »Warum erst jetzt?«

»Du wärst am helllichten Tag auf den losgegangen. Hier gucken Leute aus Fenstern, hier gibt es Passanten. Einer hätte sich unsere Nummer gemerkt.«

»Danke«, sagte Raben. »Ich bin ein Idiot.«

»Da hast du ausnahmsweise recht. Du musst dich am Riemen reißen. Bestform ist angesagt, geistig und körperlich. Ich habe keine Lust, meine Rübe abzugeben, nur weil du beschlossen hast, dein Hirn in Urlaub zu schicken. Reiß dich zusammen, verdammt.«

Lena fand beide in der Küche vor. »Oh, ich habe gerade einen Artikel geschrieben, wie man Einbrüche verhindert.«

»Er darf hier sitzen«, sagte Lichtigkeit. »Und ich bin sein Kindermädchen.«

Ein Grinsen flog über ihr Gesicht und stürzte gleich ab. »Mein Gott, wie siehst du denn aus!«

»Alles in Ordnung. Georg sagt, ich sei ein Idiot, und ich hab ihm zugestimmt. So blöd sieht ein Idiot aus.«

Lichtigkeit schüttelte den Kopf. »Am besten, du verpasst ihm eins mit dem Nudelholz, dann schläft er endlich ein.«

»Du errätst meinen geheimsten Wunsch«, flüsterte sie. »Mein Gott, Mahlmann kommt heute Abend. Was sollen wir tun?«

»Nichts«, sagte Lichtigkeit. »Ihr hört euch an, was er will. Ich verkriech mich in euer Schlafzimmer und hör zu. Einen besseren Zeugen als einen Bullen gibt’s nicht.«

Sie lächelte. »Jetzt müssen wir erst unseren Hauptsturmführer in Form bringen.«

Aus dem Kinderzimmer ertönte Geschrei. Die Tür wurde aufgestoßen. »Mama!«

Elisabeth stand hinter Karlchen und hob die Hände.

»Alles gut«, sagte Lena.

Sie hob den Kleinen hoch, zog ihn an den Ohren, ließ seine Nase zwischen Fingern verschwinden. Er kreischte, bis sie ihn wieder absetzte. »Geh zur Oma, wir müssen noch arbeiten.« Sie schnippte ihm seine Nase zurück ins Gesicht.

Er stürmte zur Großmutter.

»Das wird mal ein toller Pimpf im Jungvolk«, sagte sie bitter.

Sie kochte Kaffee und zwang Raben, seine Tasse auszutrinken. »Karl, wenn du nicht gleich aus deinem Loch kriechst, hat uns der Mahlmann am Wickel«, sagte sie.

Raben erhob sich, murmelte »Entschuldigung« und verschwand im Flur. Die Schlafzimmertür klappte.

Er legte sich aufs Bett und schloss die Augen. Er hätte fast einen tödlichen Fehler begangen. Zorn und Verbitterung hatten seine Selbstbeherrschung besiegt. Er notierte die Niederlage im Geist, nahm sie hin. Er war ein Wicht, der dem Schicksal ans Bein pinkelte. Es war zu viel für ihn. Die Angst vor Heydrich, wie oft schon hatte er Lena im Folterkeller der Gestapo gesehen? Er wachte davon auf und schlief nicht mehr ein. Hinter jeder Ecke lauerte eine Falle. Je länger er seinem Plan folgte, desto tiefer verstrickte er sich im Dschungel seiner Ängste. Überall Gefahren. Er war nur noch damit beschäftigt zu überleben. Na, was ist denn aus deinem Plan geworden, den Typen mit dem M1918-Stahlhelm zu stellen wie zuvor Fehrkamp und Ehrig?, fragte er sich. Und in diesem Zustand willst du die restlichen fünf Mörder des KPD-Redakteurs Esser erledigen? Na prost Mahlzeit.

Er erinnerte sich, wie er mit Lichtigkeit den Tatort betrat, die Kiezkneipe Goldener Anker, wo Nazis Esser in Stücke geschossen hatten. Der Erkennungsdienst hatte zweiunddreißig Kugeln gefunden, abgefeuert aus nächster Nähe. Er spürte noch sein Staunen, dass Lichtigkeit ihm den Fall praktisch übertrug, ihm, dem Anfänger. Bis er begriff, dass sein Chef sich nicht mit Nazis anlegen wollte, weil er die Gefahr gerochen hatte, dass die bald an die Macht kamen. Was war Lichtigkeit für ein Opportunist gewesen. Und wie hatte er sich gewandelt. Raben kam das ewig vor, aber es war knapp fünf Jahre her. Die Geschichte hatte mit dem Finger geschnippt. Nachher kam Mahlmann, den er fast mit seiner Dienstwaffe erschossen hätte. Vielleicht wäre es das Beste gewesen. Er hätte nur sagen müssen, dass er es aus Eifersucht auf den Vorgänger bei Lena getan hätte. Weil er ein Gestapo-Offizier war, gab es vielleicht nicht die Todesstrafe, oder vielleicht erst recht. Schließlich hielt sich die Gestapo für vorbildlich, da durfte einer nicht ausscheren, weil er sonst den Laden beschmutzte.

Raben massierte sich die Stirn. Er mühte sich, eine Aussicht zu finden, die nicht tiefschwarz war. Er fand keine. Das liegt an dir, dachte er. Es gibt eine Chance für dich, aber du siehst sie nicht. Wie sollte er Kahle, den Mann mit dem Helm, erwischen, wenn ihn schon Mahlmann umwarf?

Dieser Mahlmann war doch nur ein Opportunist, ein Drecksack ohne Bedeutung. Wenn er erledigt war, wer würde ihm nachweinen? Raben malte sich aus, dass selbst Mahlmanns Frau erleichtert wäre.

Dann weckte ihn Lena. Er schlug die Augen auf. »Er ist da, beeil dich.«

10.

»Verdammt, wo steckt er?« Heydrich hatte die Tür des Zimmers 17 aufgerissen. Eckes war aufgesprungen, doch die Hand des Gruppenführers befahl ihm, sitzen zu bleiben.

»Ich weiß es nicht. Er wollte heute Mittag was erledigen und ist nicht zurückgekommen, Gruppenführer.« Eckes wollte wieder in die Höhe, aber ein Blick traf ihn wie eine Ohrfeige. »Ich hoffe, er ist nicht krank. Er machte keinen … guten Eindruck.«

»Holen Sie ihn her und schicken Sie ihn zu mir. Aber dalli!«

»Jawohl, Gruppenführer«, sagte Eckes zur Tür, die schon zugeknallt war.

Eckes ging in sein Büro und wählte Rabens Privatnummer. Aber es tutete, besetzt. Er versuchte es immer wieder, dann schrieb er Raben eine Nachricht und legte das Papier auf dessen Platz im Zimmer 17.

Was war denn jetzt wieder im Busch?

11.

Mahlmann war pünktlich. Raben baute sich in der Tür vor ihm auf, verweigerte den Handschlag, führte ihn ins Wohnzimmer und wies ihm einen Sessel zu. Lena saß auf dem Sofa, Raben lehnte sich an die Wand, neben der Kommode mit den Platten. Sie hatte noch schnell ein Führerbild aufgetrieben und es auf die Kommode gestellt.

Mahlmann blickte sich um. Er blickte Lena an. »Die guten alten Zeiten«, sagte er.

Sie zeigte keine Regung.

»Was wollen Sie?«, fragte Raben.

»Ich wollte mich nach meinem Sohn erkundigen. Geht es ihm gut? Vielleicht darf ich ihn sehen?«

»Das geht Sie nichts an«, sagte Raben.

»Ich bin sein Vater.«

»Wie schön, dass du dich jetzt daran erinnerst«, sagte Lena.

Raben warf ihr einen strengen Blick zu. Sie hatten sich verständigt, dass nur er sprechen sollte. Sie erwiderte den Blick und hob die Brauen.

»Genug der Präludien«, sagte Raben. »Sie sagen uns jetzt, was Sie wirklich wollen. Keine Märchen.« Er legte seine Gestapo-Marke vor Mahlmann auf den Tisch.

Der grinste ihn an. »Ich weiß, wer Sie sind. Ich frage mich allerdings, wie Sie es werden konnten. Sie ist Jüdin, Sie wissen schon …«

»Und Sie sind ein Schwein. Was wollen Sie?«

»Ich dachte an eine kleine Opfergabe. Schließlich mache ich mich schuldig, wenn ich Sie nicht anzeige.«

»Was haben Sie sich vorgestellt?«

»Zwanzig Prozent Ihres Verdienstes, jeden Monat. Als Vorauszahlung schlage ich tausend Reichsmark vor. Eine runde Summe.«

»Sie sind ja richtig bescheiden«, sagte Raben. »Und wie soll das gehen?«

»Ich kündige Ihnen an, wo Sie das Geld übergeben.«

»Das haben Sie sich ja richtig schön ausgedacht«, sagte Raben.

»Gut, sind wir uns einig?«

»Wie kommen Sie darauf? Sie wollen sich mit der Gestapo anlegen?«

»Nicht mit der Gestapo«, sagte Mahlmann. »Wenn Ihr Dienstherr erfährt, dass Sie in einer Mischehe leben, dann war’s das mit der Gestapo. Außerdem haben Sie Ihren Ariernachweis gefälscht und den von Lena sowieso. Sonst wäre Ihre Existenz nicht erklärbar. Ein knapper Brief an Heydrich genügt.«

»Dann verliert Ihr Sohn seine Mutter. Wo sie landen würde, muss ich Ihnen nicht erzählen.«

Er grinste. »Wir kennen beide das Gesetz.«

»Sie finden, Ihre ehemalige Geliebte gehört in ein KZ?«

»Das Gesetz gilt für uns alle«, sagte Mahlmann selbstzufrieden.

»Außer bei Erpressung.«

»Ich will Sie schützen, gehe ein Risiko ein, und Sie kommen mir mit Erpressung. Wo ist mein Sohn?«

»Nicht hier.«

»Und die Großmutter Elisabeth, was treibt die eigentlich?«

»Das geht Sie nichts an.« Rabens Verzweiflung wuchs. Der Typ wusste, was er tat. Für eine Denunziation würde er belohnt.

»So, Sie können sich überlegen, wie Sie das Geld auftreiben. Sagen wir, nächste Woche, gleicher Tag, gleiche Zeit.« Er erhob sich.

Lichtigkeit betrat das Wohnzimmer und schoss.

12.

»Wie sehen Sie denn aus, Kommissar?« Heydrich blickte ihn fragend an, den Kopf leicht zur Seite geneigt. »Setzen Sie sich.«

Raben setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. »Gestern gab es einen Schusswechsel in meiner Wohnung. Der Arzt sagt, ich sei unter Schock. Halte ich aber für übertrieben. Meine Frau allerdings und mein Sohn …«

Heydrich hob die Brauen und nickte. »Das kann ich mir vorstellen. Was ist passiert?«

»Mein Sohn hat einen leiblichen Vater, und der ist aufgetaucht und wollte Karl mitnehmen.«

»Wie bitte? Einfach so?«

»Ja, Gruppenführer.«

»Was ist … war das für einer?«

»Er war Buchhalter im Gauhaus. Er hat sich vor zwei Tagen gemeldet … hat an der Tür geklingelt und angekündigt wiederzukommen.«

»Was hat er gesagt?«, fragte Heydrich.

»Wir sollten es uns überlegen. Da gab es nichts zu überlegen. Als er wiederkam, zog er eine Pistole. Wir sollten irgendeine Erklärung unterschreiben. Er hat sie uns aber nicht gezeigt. Ich glaube, er war krankhaft eifersüchtig und wirr im Kopf. Er steigerte sich in einen Wutanfall, obwohl wir ganz ruhig waren. Schließlich hat er auf mich geschossen, einfach so. Er hat aber nicht getroffen, nicht gezielt, sondern mit der Waffe herumgefuchtelt. Dann kam der Kommissar Lichtigkeit ins Wohnzimmer und hat geschossen. Leider ist Mahlmann tot und kann nicht mehr verraten, wie er auf die Wahnvorstellung kam. Er wollte wohl mit Lena und Karl abhauen.«

»Sagen Sie Kommissar Lichtigkeit, dass ich ihm danke. Wenn er einmal Hilfe braucht …«

»Vielen Dank, Gruppenführer.«

»Ein Soldat bedankt sich nicht.«

»Jawohl, Gruppenführer.«

»Machen Sie eine Woche Urlaub, dann melden Sie sich wieder. Ich habe einen Auftrag für Sie, der Sie mehr fordert als das Kramen in alten Akten.«

Als er heimkam, putzten Elisabeth und Lena hektisch die letzten Flecken weg. Sie schwitzten.

»Hiel Hitla!«, begrüßte Karlchen den Vater. »Was das?« Er deutete auf die schwarz gewordenen Flecken auf Sessel und Boden.

»Der Onkel hat Tomatensoße verschüttet.«

»Wo ist der Onkel?«

»Im Krankenhaus. Er hatte schreckliches Bauchweh.«

»Ah«, sagte Karl der Kleine. »Armer Onkel.«

Elisabeth legte die Bürste auf den Boden, wischte sich die Hände an der Schürze ab und wusch sie sich im Becken. »Komm, Karlchen, wir bauen einen Schneemann.«

»Erinnerst du dich an Essers Blut im Goldenen Anker?«, fragte Lena.

»Natürlich«, sagte er.

»Ich habe ja nur die Putzflecken gesehen, aber die Leute bedauert, die es wegwischen mussten. Hatte das Gefühl, Esser würde so restlos beseitigt. Die Flecken hier finde ich weniger eklig als Mahlmann, ich putze sie fast mit Vergnügen weg. Bin ich erleichtert …«

»Hat Georg sich gemeldet?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob er es von Anfang an so lösen wollte. Egal, er hat uns den Hals gerettet. Er hätte es nicht tun müssen. Jetzt hängt er mit drin.«

Raben hätte nicht beschreiben können, was das war, worin sie steckten. Vielleicht im Sumpf, bis zur Unterlippe. Er vermied es, daran zu denken, was geschehen könnte. Er wusste nicht einmal, welche seiner Lügen zuerst platzen würde. Dass er es bisher geschafft hatte zu überleben, war ein Wunder. Wie viele brauchte er noch? Zu viele. Viel zu viele. Er musste immer damit rechnen, dass aus irgendeiner Ecke jemand auftauchte, der ihm was vorwarf. Material gab es reichlich.

»Georg ist gekommen und hat gleich geschossen, hat diese andere Pistole aus der Tasche gezogen, dem toten Mahlmann in die Hand gedrückt und zweimal in die Wand geschossen«, sagte Lena. »Das wäre die Wahrheit, an die wir nicht mal denken dürfen.«

Raben erinnerte sich, dass mit der Mordkommission sogar der alte Kriminaldirektor Gennat aus seiner Höhle gekrochen war. Er hatte sich umgesehen, den Kopf geschüttelt. »Der Fall ist klar.« Dann stellte er sich neben Raben. »Übertreibt es nicht«, flüsterte er, bevor er schweren Schritts ging. »Räumt hier ordentlich auf. Wir liefern die Leiche dem Herrn Schoene, damit der herausfindet, was wir längst wissen.«

»Bin schon hier«, hatte Schoene gerufen.

»Dann gucken Sie sich das an und nehmen den Herrn bald mit.«

»Jawohl, Herr Generalfeldmarschall!«

Gelächter.

»Ich habe eine Woche Urlaub«, sagte Raben. »Den ersten Nachmittag verbringe ich im Polizeipräsidium.«

»Das ist ja eine echte Liebeserklärung.«

»Ich hoffe, Sie kommen zu uns zurück, Herr Kommissar!«

Raben winkte dem Pförtner zu.

»Herr Kriminaldirektor lassen sich auch mal blicken«, sagte Lichtigkeits Sekretärin Steinkopf. »Kaffee wie immer?«

»Klar, danke.«

Lichtigkeit saß hinterm Schreibtisch, vor sich eine Akte. »Ah, du«, sagte er.

Raben nickte, winkte. »Geht’s?«

»Ich bin es nicht gewohnt, mich selbst als Mörder zu sehen. Was ich zweifellos bin. Ein Polizist hat an so was zu kauen, jedenfalls wenn er …«

»Du hast keine Ahnung, wie dankbar ich dir bin.«

»Ja, ja. Hör auf.«

Raben setzte sich auf den Stuhl vorm Schreibtisch. Er zwang sich, nicht immer nur an den Mord zu denken. »Wie steht die Juwelensache?«

Lichtigkeit blickte ihn müde an. »Hunold hat sich abgesetzt.«

»Und der Überfall auf dem Ku’damm?«

»Arbeitest du nicht bei der Gestapo?«

»Ich hab Urlaub, eine Woche.«

»So ist das also bei euch, pro Mord eine Woche Ferien. Glückwunsch.« Er murmelte es vor sich hin.

»Du hast uns das Leben gerettet. Du bist ein Held«, sagte Raben.

»Erspar mir das Gesülze. Ich bin kein Held, ich habe diesen Kerl vorsätzlich erschossen. Ich wollte nicht, dass er überlebt. Ich war geladen mit Hass auf dieses Schwein. Aber das rechtfertigt nichts.«

»Du hattest die Wahl: der oder wir. Hättest du nicht geschossen, wären wir über kurz oder lang geköpft worden, mindestens ich. Und Heydrich hätte mich vorher foltern lassen, aus Wut.«

Lichtigkeit winkte ab. »Ein Gewissen hat nichts mit Mathematik zu tun. Jedenfalls meines.«

Raben nickte. »Wollen wir den Juwelier auf dem Ku’damm aufsuchen? Vielleicht können wir eine weitere Schweinerei verhindern.«

Der Mann saß hinter dem Schreibtisch im Büro auf der Rückseite des Ladens und weinte. Er drückte ein Taschentuch gegen die Augen. »Sie sind wer?«

»Kriminalpolizei, Kommissar Lichtigkeit, das ist mein Assistent.« Er setzte sich auf einen Stuhl, Raben lehnte sich neben der Tür an die Wand.

»Aber die Polizei war doch schon da. Sie hat mir befohlen, aufzuräumen und gestohlene Stücke zu melden.«

»Wir sind die Kripo. Ob Sie uns bitte erzählen, was geschehen ist, Herr Leuthfels.«

»Noch einmal?«

»Ja, bitte«, sagte Lichtigkeit.

Leuthfels atmete tief ein und seufzte. »Ich stand hinterm Tresen, da öffnete sich die Tür. Drei Männer in SA-Uniform betraten das Geschäft, stürzten sich auf mich. Es setzte Hiebe und Tritte. Dann zerschlugen sie den Laden mit Prügeln, die sie mitgebracht hatten. Ich brauche gar nicht zu zählen, hab doch gesehen, wie die sich die Taschen vollstopften. Aber die Polizei« – er blickte Lichtigkeit an – »hat gesagt, dass ich jeden Verlust nachweisen muss. Dafür brauche ich Tage. Und wenn die vorher wiederkommen?«

»Haben Sie um Polizeischutz gebeten?«, fragte Raben.

Leuthfels blickte Raben an und lachte, fast wie eine Ziege meckert. »Meinen Sie das ernst?«

»Tut mir leid«, sagte Raben und erntete Verblüffung in Leuthfels’ Blick.

»Ich schicke Ihnen jemanden«, sagte Lichtigkeit.

Ein Knall, die Ladentür wurde aufgetreten.

»Bleibt hier«, sagte Raben. Er stellte sich in den Verkaufsraum. Drei Männer, in Zivil. »Was wollen Sie?«

»Wir konfiszieren, was der Jude unterschlagen will«, sagte einer mit Hornbrille und Schmiss auf der Wange.

»Sind Sie von der Polizei?«

»Das geht dich nichts an«, sagte die Hornbrille, während seine Kumpane ihre Hüte auf einem Tisch ablegten.

Raben zeigte seine Gestapo-Marke.

Die Hornbrille zuckte zusammen. Dann winkte sie die beiden Kameraden zu sich und zog eine Pistole. »Hat der Jude einen von der Gestapo umgelegt? Was suchst du hier?«

Lichtigkeit stand in der Tür, die Pistole in der Hand. »Kommissar Lichtigkeit von der Kriminalpolizei. Waffen auf den Boden, Hände in den Nacken. Ausführung!« Er ließ seine Pistole bellen. Die Kugel schlug in einen Hut auf dem Tisch.

Die drei gingen zur Tür. Lichtigkeits Pistole bellte noch einmal. Ein Schmerzensschrei. Die Hornbrille fasste sich ans Bein und sackte auf den Boden. Die beiden anderen blickten sich entsetzt an, legten die Pistolen auf den Tisch. Raben und Lichtigkeit verpassten ihnen Handschellen. »Stellen Sie sich dahin, Gesicht zur Wand.«

Lichtigkeit telefonierte die Schupo, Wendig und einen Krankenwagen herbei. Er wandte sich Raben zu. »So eine Frechheit hab ich noch nicht erlebt. Die Herren hatten in der Nacht keine Zeit zum Plündern, da kommen sie also am Tag.«

Raben stellte sich zu dem Mann, der auf dem Boden lag, seinen Oberschenkel umklammerte und winselte wie ein getretener Hund. »Binden Sie den Oberschenkel mit dem Gürtel ab, oberhalb der Wunde, Idiot. Und solche Figuren wie Sie wollen Lebensraum im Osten erobern. Das wird nichts. Dazu braucht der Führer Männer und keine Heulsusen.«

»Wir sprechen uns noch«, sagte der Mann.

»Ja, beim Verhör«, erwiderte Raben lächelnd.

Er fasste dem Mann in die Taschen. Ein Portemonnaie, ein SA-Ausweis. Wehner hieß der Mann.

Raben fragte sich, wem er diesmal auf den Fuß getreten war. Zwei SA-Überfälle auf Juweliere, das sah nach Planung aus. Wer plante das?

Kriminalassistent Wendig samt Anhang tauchte auf mit Tatü-Tata. Sie verteilten sich im Laden und auf der Treppe zur Wohnung.

»Bei Hunold alles abgesichert?«, fragte Lichtigkeit.

»Vernagelt und verriegelt, Wappen drauf …« Wendig erblickte Raben. »Was …?«

»Raben hat Urlaub«, sagte Lichtigkeit. »Keine Sorge …« Er schickte ein Lächeln hinterher. »Kommissarlehrgang ab 1. Mai, das steht fest. Und den Kameraden Raben übersehen Sie besser.«

»Wen?«

13.

Wieder der Nazi-Butler, der vielleicht kein Nazi war. Wieder Doktor Schmidt-Woller, der sie pikiert ansah, erst Raben, dann Leuthfels. Doch natürlich durfte der bleiben. »Aber nicht, dass Sie meine Hütte zur Massenunterkunft machen. Irgendwann erzählen Sie mir, was das Theater mit der Gestapo zu tun hat, ja?« Ein strenger Blick.

Am Abend, als Karlchen im Bett lag, erzählte Raben von Leuthfels.

»Die Gangster machen Druck. Erinnerst du dich an unsere Schneiderin, die jetzt, hoffentlich, in Rotterdam lebt? Die haben früh angefangen, die Juden zu bedrängen. Jetzt nennen die das die Entjudung der Wirtschaft. Sie werden alle jüdischen Eigentümer enteignen und aus dem Reich vertreiben. Der Terror gegen Ladenbesitzer passt da rein.«

»Ich glaube nicht an Zufall«, sagte Lena. »Da plant jemand Überfälle auf Juweliere, aber nicht für die Staatskasse, sondern um sich selbst zu bedienen. Die nutzen die Chance und fühlen sich unverwundbar. Niemand regt sich auf, wenn es gegen Juden geht.«

»Man denkt, es wird nicht übler, weil es nicht übler werden kann, aber die Nazis unterbieten alles, was man sich vorstellt. Sie sind enthemmt«, sagte Raben. »Ich fühle mich wie im schwarzen Loch. Alles, was um uns herum besteht, ist absurd. Wir beschäftigen uns nur noch mit uns selbst … Diese elende Angst. Dabei planen die auch woanders Schweinereien. Die Nazis dürfen in Österreich nun wieder Zeitungen veröffentlichen. Alle Verbote aufgehoben. Der Mord am Kanzler Dollfuß, war da was? Der Putsch, der in die Hose ging, den hat’s doch nie gegeben. War eine Schnapsidee junger Leute. Muss man doch verstehen. Österreichs Braune sind aufrechte Patrioten, wenn auch ein wenig voreilig. Klar, der Führer hat nichts damit zu tun. So ein Quatsch. Nazis putschen mit dem Segen der Vorsehung. Ich krieg das Kotzen.«

»Daran könnt ihr nichts ändern, ich sowieso nicht«, sagte Lena. »Aber wenn ihr ein paar Juweliere retten könntet, wäre es nicht übel.«

»Ich habe Urlaub. Ich besorge mir eine Liste jüdischer Juweliere, die gibt’s bestimmt.«

14.

»Sie haben nichts gehört, Sturmbannführer?«

Hagen blickte Heydrich an, schüttelte den Kopf. »Nein, Gruppenführer.«

»Zwei Überfälle auf Judenläden, das beunruhigt die Bürger. Das ist Anarchie wie in der Kampfzeit. Aber jetzt sind wir an der Macht. Wir sind die Ordnung, und Chaos fällt auf uns zurück. Aber kommen wir zum Thema. Laufen die Vorbereitungen?«

Hagen nickte. »Der SD ist bereit, ich habe schon mit Eichmann gesprochen. Sobald wir freie Bahn haben, geht’s der Judenbrut an den Kragen. Wir werden ein Modell schaffen und zeigen, was die SS vermag im Kampf gegen das auserwählte Volk. Ordentlich, organisiert, ohne Exzesse. Unsere neuen Reichsbürger werden stolz auf uns sein, und auf sich. Wien wird früher judenfrei sein als Berlin.«

»Gut, dann warten wir, bis der Führer befiehlt.«

15.

»Passen Sie auf sich auf«, sagte Gennat und betrachtete traurig das letzte Stück Schwarzwälder Kirsch auf dem Teller. »Keiner weiß, ob das eine Aktion der SA-Gauleitung ist oder, sagen wir, auf dem Mist gewachsen, den manche statt eines Hirns im Kopf tragen. Man blickt nicht mehr durch heutzutage.«

»Haben Sie den Kriminaldirektor Nebe drauf angesprochen?«, fragte Lichtigkeit.

»Ja«, sagte Gennat. »Er hat auch geantwortet. Ich sag Ihnen Bescheid, sobald ich aus der Antwort schlau geworden bin.«

Raben lachte. Gennat hatte ihn begrüßt wie einen alten Freund. »Wollen Sie nicht zurück in die Familie?«

»Sagen Sie das bitte dem Gruppenführer.«

Da hob Gennat nur die Brauen und bestellte eine Runde Kaffee bei seiner Sekretärin Frau Steiner.

»Was machen wir mit den Tatverdächtigen?«

»Wir verhören die. Herr Raben, wenn Sie daran teilnehmen wollen?«

Der erste saß schon im Vernehmungszimmer. Er begrüßte Lichtigkeit und Raben mit einem Grinsen. »Sie leben immer noch in der Systemzeit. Der Führer wird Ihnen und Ihrer Justiz die Beine langmachen.«

»Offensichtlich tut Ihnen die Wunde nicht mehr weh«, sagte Lichtigkeit.

»Ich bin SA-Mann.«

»Name, Alter, Adresse«, sagte Lichtigkeit kalt.

Der SA