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De Bodt ermittelt wieder!
Terroranschlag beim Staatsbesuch in Berlin. Nur um zwei Sekunden verpasst die Bombe die deutsche Bundeskanzlerin und den russischen Präsidenten. Die Russen behaupten, dass tschetschenische Terroristen hinter dem Anschlag stecken – doch eine Bekennerbotschaft gibt es nicht. Verfassungsschutz, Bundeskriminalamt und Berliner Polizei tappen im Dunkeln. Öffentlichkeit und Politik fordern Ergebnisse. Der Druck wächst. Widerwillig akzeptiert das BKA, dass Hauptkommissar Eugen de Bodt eigene Ermittlungen anstellt. Vor allem in höheren Polizeikreisen ist de Bodt unbeliebt bis verhasst. Doch will sich niemand nachsagen lassen, nicht alles unternommen zu haben. De Bodt und seine Mitarbeiter suchen verzweifelt eine Spur zu den Tätern. Aber erst, als er alle Gewissheiten in Frage stellt, bekommt de Bodt eine Idee, wer die Drahtzieher sein könnten. Doch um sie zu entlarven, muss er mehr einsetzen, als ihm lieb ist: das eigene Leben.
Zwei Sekunden, Kommissar de Bodts zweiter Fall, ist ein sehr heutiger Thriller über Terror und Staatsräson.
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Seitenzahl: 606
Das Buch
Terroranschlag beim Staatsbesuch in Berlin. Nur um zwei Sekunden verpasst die Bombe die deutsche Bundeskanzlerin und den russischen Präsidenten. Die Russen behaupten, dass tschetschenische Terroristen hinter dem Anschlag stecken – doch eine Bekennerbotschaft gibt es nicht.
Verfassungsschutz, Bundeskriminalamt und Berliner Polizei tappen im Dunkeln. Öffentlichkeit und Politik fordern Ergebnisse. Der Druck wächst. Widerwillig akzeptiert das BKA, dass Hauptkommissar Eugen de Bodt eigene Ermittlungen anstellt. Vor allem in höheren Polizeikreisen ist de Bodt unbeliebt bis verhasst. Doch will sich niemand nachsagen lassen, nicht alles unternommen zu haben. De Bodt und seine Mitarbeiter suchen verzweifelt eine Spur zu den Tätern. Aber erst, als er alle Gewissheiten in Frage stellt, bekommt de Bodt eine Idee, wer die Drahtzieher sein könnten. Doch um sie zu entlarven, muss er mehr einsetzen, als ihm lieb ist: das eigene Leben.
»Zwei Sekunden«, Kommissar de Bodts zweiter Fall, ist ein sehr heutiger Thriller über Terror und Staatsräson.
Der Autor
Christian v. Ditfurth, geboren 1953, ist Historiker und lebt als freier Autor in Berlin. Neben Sachbüchern und Thrillern hat er Kriminalromane um den Historiker Josef Maria Stachelmann veröffentlicht. Zuletzt erschien der Thriller Heldenfabrik, der erste Fall für Kommissar de Bodt.
Informationen über dieses Buch:www.cditfurth.de
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1. Auflage
Copyright © 2016 carl’s books, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-17066-0www.carlsbooks.de
Für Chantal
»Die Angst läuft vorweg, sie entdeckt die Folge, ehe denn sie kommt, so wie man es an sich selber spüren kann, dass ein Wetter im Anzuge ist.«
Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Prolog
Zwei Sekunden. Dann war alles anders. Später würden die Leute die Zeit teilen. Vor dem Ereignis und nach dem Ereignis. Vor dem Ereignis war es ein sonniger Vormittag gewesen. Die Berliner hatten lang gefroren in der Kälte eines Schmuddelwinters. Der war über Nacht einem Hoch gewichen, dem die Meteorologen den Namen Helmut verpasst hatten. Helmut verdrängte Ines. Die verschwand, als hätte sie nie jemanden frieren lassen. Wenige Wochen später schon stöhnte Berlin über eine Hitzewelle. Selbstverständlich war sie einzigartig. Gewissermaßen einzigartiger als die Hitzewochen des vorigen Sommers.
Mittags brannte die Sonne aus wolkenlosem Himmel aufs Tegeler Flugfeld. Die Iljuschin Il-96 spiegelte sich im Lack der Luxuslimousine. Vier Triebwerke. Wenige Passagiere stiegen aus. Sie erschienen im Lackspiegel wie Punkte in den Gläsern einer Sonnenbrille.
Simon Weinert spürte das Gewicht der SIG P226 im Schulterhalfter unter dem Jackett. Fünfzehn Neun-Millimeter-Patronen im Magazin, eine im Lauf. Die beste Beruhigungspille. Er stand neben der Beifahrertür des Mercedes-Benz S 600 Guard. Eine Hochsicherheitszelle auf Rädern. Stahl, Armidmatten, Panzerglas. Hart genug, um MG-Salven abzufangen. Die Scheiben so schwer, dass spezielle Fensterheber eingebaut werden mussten. Die Karosserie geschützt gegen Handgranaten und Sprengsätze. Notlaufreifen.
Weinert gehörte seit viereinhalb Jahren zur Sicherungsgruppe des Bundeskriminalamts. Vorher hatte er sich bei der GSG 9 ausgezeichnet. Er war früh am Morgen von seiner Dienststelle in Treptow nach Tegel gefahren, nicht wie sonst von der Wohnung in Lichtenberg. Der Chef hatte sie vergattert. Es seien Gerüchte in Sicherheitskreisen im Umlauf. Nur Gerüchte. Doch könnten sie es sich nicht leisten, sie zu überhören. Der Moskauer Präsident habe Feinde. Sein Besuch dürfe nicht gestört werden. Um keinen Preis. Sie läsen ja alle Zeitung. Die Ukrainekrise sei nur gedämpft, nicht gelöst. Ein neuer Kalter Krieg habe begonnen. Und islamistische Terrorgruppen würden den Präsidenten mit größter Freude in die Luft sprengen. Tschetschenen. Und wenn dabei noch die Kanzlerin draufginge, umso besser. Eine Katastrophe wäre es, wenn in Berlin etwas passierte. So wie 9/11. Madrid, London, Paris. Es sei eine Frage der Professionalität und der Ehre, nichts zuzulassen. Gar nichts. Nicht das Pfeifen einer Maus. Der Chef neigte zum Pathos. Aber bei Georg Hoffmann nervte es nicht. Pathos, in dem die Erfahrung eines Haudegens steckte. Er war dabei gewesen, als sie die Landshut gestürmt hatten. Und in der Dienststelle rumorte es von seiner Beteiligung an Einsätzen, die es nie gegeben hatte. Zwei Schussverletzungen hatten sich herumgesprochen. Die stammten nicht von der Landshut-Aktion. Hoffmann hatte eine imaginäre Locke von seiner Dreiviertelglatze gewischt und gesagt: »Ihr macht es richtig, Männer. Wie immer.«
Sie mochten ihn. Er war der gute Geist der Truppe. Väterlich. Hatte ein Ohr für seine Leute. Verständnis. Er stellte sich vor sie, wenn es Anfeindungen gab. Hundertprozentig.
Weinert erkannte die Kollegen sofort. Einheitslook der Personenschützer. Dunkler Anzug, helles Hemd, Schlips. Neutral. Profis, keine Papageien. Drei Männer, die dem Staatspräsidenten und seiner Frau folgten. Zwei kräftig und groß, ihre Haltung zeigte jahrelanges Training. Sie trugen Sonnenbrillen. Der in der Mitte war dicht beim Präsidenten. Kleiner, drahtig. Keine Sonnenbrille, sondern ein rahmenloses Gestell. Der Chef der Leibwächter. Dem Präsidenten nah. Wie zur Bestätigung sah Weinert, dass der Präsident den Kopf halb nach hinten drehte und dem Drahtigen etwas zuflüsterte, den Mund hinter der Hand verborgen. Der Drahtige nickte. Sie waren vertraut miteinander. Man sah es. Der Personenschützer überholte den Präsidenten und kam auf Weinert zu. Alles an ihm strahlte Selbstsicherheit aus. Der Gang, die Armbewegungen, die Miene.
»Konstantin Merkow, guten Tag«, sagte er in perfektem Deutsch. Das reichte als Vorstellung. Maßanzug. Strahlend blaue Augen.
Weinert nickte. »Guten Tag.«
»Wo finde ich Ihren Chef?«
»In der Halle. Fragen Sie nach Herrn Hoffmann.« Weinerts Daumen zeigte über die Schulter nach hinten, zur Glasfront des Terminals.
Merkow nickte und ging los.
Weinert ließ den Blick schweifen. Der Präsident interessierte ihn nicht. Im Augenwinkel sah er, wie die Kanzlerin ihn begrüßte. Gefahr nähert sich von der Peripherie. Sie hatten den Flughafen abgesichert, keine Ratte kam durch. Aber sogar, wenn sie in einem türlosen Bunker säßen, seine Augen würden die Umgebung scannen. Er konnte nicht anders.
Wir haben an alles gedacht.
Die Kanzlerin und der Präsident sollten im zweiten Wagen auf der Rückbank sitzen. Zwischen ihnen der Dolmetscher. Auf dem Beifahrersitz Volker Rettig, Hoffmanns Vertreter und rechte Hand. Im Führungsauto der Fahrer plus drei Personenschützer. Dem Wagen mit den Politikern folgte ein Audi A8, darin der Chauffeur, zwei Personenschützer und ein Assistent der Kanzlerin. Weinert und Scholz, der Glatzkopf, humor- und fehlerlos. Am Kolonnenende ein Benz mit BKA-Beamten. Die russischen Leibwächter würden der Motorradstaffel folgen, die das Kolonnenende sicherte. Eine weitere Staffel würde die Kolonne anführen.
Spezialkräfte hatten die Kanalisation unter der Route zum Kanzleramt durchsucht. Die Kanaldeckel verschweißt. An den Straßenrändern Tausende von Polizisten. Alle nördlichen Bundesländer mussten Bereitschaftspolizei abstellen. Sondereinsatzkommandos, Scharfschützen. Hubschrauber. Radarschirme drehten sich auf der Suche nach Drohnen.
Der russische Präsident war kleiner, als Weinert ihn sich vorgestellt hatte. Und älter. Falten am kurzen Hals. Seine neue Frau jung, zierlich, sportlich. Anmutig, aber leere Augen. Die Kanzlerin fast unscheinbar. Ihre Masche. Die Prominenz stieg ein. Weinert und Rettig schlossen die hinteren Türen. Dann setzte sich Rettig auf den Beifahrersitz. Weinert eilte zum Terminal. Dort warteten der Audi und die anderen Wagen mit offenen Türen. Überall Polizei. Uniformiert und zivil.
Der Assistent war ein Milchgesicht. Dünne rote Haare, Flaum über der Oberlippe. Polster an der Taille. Das Hemd spannte am Bauch. Anzug von der Stange. Der Typ setzte sich auf die Rückbank, den Aktenkoffer auf dem Schoß, darauf ein Krypto-Smartphone. Weinert nahm den Beifahrersitz.
Niemand im Auto sagte etwas. Der Assistent tippte auf seinem Smartphone. Weinert war schon so oft in Regierungskolonnen mitgefahren. Nie war etwas passiert. Auch diesmal sah alles gut aus. Doch störte ihn etwas. Irgendetwas stimmte nicht. Er beobachtete das Umfeld noch genauer. Blickte immer wieder in die Spiegel. Irgendetwas stimmte nicht. Es gab kein Zeichen. Nur ein Gefühl. Und diese Sache. Sein Fehler.
Tempo achtzig.
Wir haben an alles gedacht.
Den Saatwinkler Damm hinunter. Die Unterführung! Sie unterquerten die Stadtautobahn. Nichts geschah. Dort wäre ein guter Platz für einen Anschlag gewesen. Oder um Granaten zu werfen. So, wie sie früher Kieselsteine von Brücken auf Flussdampfer geworfen hatten. Aber dann fiel ihm ein, dass auch die Fahrbahn auf der Brücke bewacht wurde. Nein, sie hatten Vorkehrungen getroffen. Niemand konnte von der Brücke aus etwas werfen. Sie hatten sich für diese Route entschieden, weil sie am besten zu sichern war. Und sie hatten sie geheim gehalten. Als würden sie auf einem Schleichweg zum Kanzleramt fahren. Er hatte die Strecke zusammen mit Kollegen mehrfach kontrolliert. Sie hatten auf der Karte jeden Ort markiert, von dem Gefahr ausgehen konnte.
Wir haben an alles gedacht.
Doch irgendetwas beunruhigte ihn. Rechts Gewerbebauten. Ein Silo glänzte im Licht. Links der Kanal. Er sah das Wegschild zur Gedenkstätte Plötzensee. Und dann erkannte er es.
Ein Schlag hob den Wagen von der Straße. Die Straße explodierte. Die Detonation zerriss die Panzerung des Wagenbodens. Schoss Trümmer und Splitter wie ein Schrapnell in den Audi. Der Wagen stand einen Augenblick in der Luft, drehte sich zur Beifahrerseite und knallte dumpf auf die Straße.
Da waren die Insassen längst zerfetzt.
1.
Das hasste er am meisten an diesem Scheißjob. Er hatte den Rücken an die Wand gepresst. Die P6 in der Hand. Er beobachtete das Treppenhaus. Hörte das Schleifen des Aufzugs. Legte den Finger auf die Lippen. Zeigte zur Wand neben dem Liftausgang. Salinger blickte mürrisch zurück, gehorchte aber. De Bodt winkte Yussuf zu sich. Stellte sich vor den Eingang und schob Yussuf an die Wand. Links und rechts die Kollegen, de Bodt vor der Aufzugtür, die Pistole im Anschlag. Den Abzug unter Spannung. Noch drei Millimeter, und der Schlagbolzen war entsichert. Der Aufzug bremste. Es dauerte ewig. De Bodt spürte die Angst. Kalter Schweiß. Sein Darm kniff. Der Aufzug ruckte, stand still. Wie mit einem Seufzer.
Piss off! stand auf der Tür. Ein Männerschwanz. Naturalistisch, dachte de Bodt. Verschwendetes Talent.
Die Türflügel schoben sich auf. De Bodt starrte auf eine alte Frau. Zwei Plastiktüten in der Hand. Sie starrte zurück. Öffnete den Mund, schloss ihn. Stille.
De Bodt senkte die Waffe. Kramte seinen Dienstausweis hervor. Ließ ihn auf den Boden fallen. Sagte: »Polizei, tut mir leid!« Bückte sich, hob den Ausweis auf und reichte ihn ihr. Sie hob die Hände mit den Tüten. Nur ein paar Millimeter. De Bodt hielt ihr den Ausweis vor die Augen. Sie schüttelte den Kopf und drängte ihn zur Seite. Kein Wort, bis die Haustür ins Schloss fiel.
»Scheiße!«, sagte Yussuf. »SEK.«
»Bis die hier sind, ist der weg«, sagte Salinger.
»Wenn er überhaupt hier ist. Egal. Wir müssen ihn in Bewegung halten. Damit er sich nicht verkriechen kann. Ihr klappert jedes Stockwerk ab. Von oben nach unten. Mit Lärm. Ich warte hier. Ihr bleibt zusammen. Gebt euch Deckung. Verstanden?«
Salinger schüttelte den Kopf, tippte Yussuf auf die Schulter. Sie stiegen die Treppe hoch.
Sie jagten ein Phantom. Aber wenn es sich als Mensch entpuppen würde, ging es um Leben oder Tod. Der Mann hatte zwei Angestellte der Sparkassenfiliale am Clara-Zetkin-Park erschossen. Für ein paar Euro. Weil er seine Nerven nicht im Griff hatte. Oder weil er keine hatte. Dann war er abgehauen. Hatte einen Golf angehalten, die Fahrerin mit dem Revolver verjagt. Und allen eine Geiselnahme erspart. War wie ein Blöder durch die Gegend gerast. Ohne Ziel. Oder mit Absicht. Bald hatte es vor Kollegen gewimmelt. Blaulicht, Blaulicht, Blaulicht. Ein Hubschrauber flappte im Himmel. Die Sonne ließ ihn glänzen. Und plötzlich war der Bankräuber verschwunden. Dann meldeten die Kollegen im Heli einen Verdächtigen, waren sich aber nicht sicher. Der Typ habe sich auffällig verhalten. Sei in dem Haus verschwunden, in dessen Nähe de Bodt mit seinen Kollegen gerade stand. Blöder Zufall.
Es würde schiefgehen. Der Typ hatte Zeit gehabt nachzudenken. De Bodt hatte nur gesehen, wie die Haustür zufiel und ein Junge mit einem Fußball unter dem Arm sich vom Haus entfernte. Nur ein Schemen im Hausflur durchs schmutzige Glas der Tür. Wer immer das war. Vielleicht hatte der Typ sich im Keller verschanzt. Vielleicht war er in einem anderen Betonsilo.
Marzahn.
Salinger und Yussuf stiegen in den Aufzug. Die Türen schlossen sich. Über dem Eingang zeigten Ziffern die Etage an. Der Lift trödelte. Oder de Bodt war ungeduldig. Zeit ist relativ. Wenn man sich elend fühlte, brauchte alles doppelt so lang. Im Treppenhaus hallte ein Fernsehgerät. Gekreische. Ein Kind. Ein Mann brüllte. Ein Handy rappte. Schritte auf der Treppe. De Bodt stellte sich hinter die Treppe, zog die Waffe und wartete. Zwei junge Männer, der Schädel an den Seiten fast kahl.
»Wat fürn Arsch«, sagte der eine, stoppte, zündete sich eine Zigarette an und ging weiter.
»Gib mir auch mal eine …« Die Haustür schlug zu.
»Wir gehen los.« Salinger im Ohr.
Ich hätte die beiden nicht schicken sollen. Wenn was passierte? Sein inneres Auge sah die Kugel. Sie bohrte sich in Salingers Bauch. Er schüttelte den Kopf. Übelkeit, kalter Schweiß. Salinger, er dachte zu oft an sie. Obwohl sie in letzter Zeit schlecht gelaunt war. Kaum antwortete. Abweisend blickte. Das war schon anders gewesen. Als sie zusammen im Nest in der Görlitzer Straße gesessen hatten. Vor dem Eingang standen und lange den Abschied nicht fanden. Ein Augenblick des Glücks. Verloren. Sie verkroch sich in einem Panzer.
De Bodt stellte sich vor, wie Salinger und Yussuf den Flur absuchten, dann die Treppe hinunter. Nächster Flur.
Die Haustür sprang auf. Das SEK. Männer mit Helmen, Schilden, Maschinenpistolen, schusssicheren Westen. Graue Uniformen.
Die beiden Jedi-Ritter vorne richteten ihre Heckler & Koch-MPs auf ihn. De Bodt hob die Hände. Halbherzig. War erleichtert, dass er Salinger und Yussuf abziehen konnte. Zückte vorsichtig seinen Dienstausweis. Die MPs senkten sich.
Einer drängte sich vor und nahm den Ausweis. »Herr Hauptkommissar«, sagte er.
»Sind noch zwei oben. Ich ziehe sie ab. Warten Sie.« Nicht, dass die Kollegen von den eigenen Leuten erschossen wurden. »Wir sind hier fertig«, sagte de Bodt ins Mikro. »Kommt runter. Das SEK übernimmt.«
»Verstanden.« Salinger.
»Warum haben Sie uns nicht gerufen?«
Weil ich mir einbilde, dass man solche Situationen ohne Geballer lösen kann, dachte de Bodt. Er schwieg. Mich kotzen Aufmärsche von Uniformierten an, hätte er am liebsten hinzugefügt.
Der andere musterte ihn neugierig.
Klar, was der dachte. Das war der Hauptkommissar, der den Laden aufgemischt hatte. Was dem Polizeipräsidenten, einem Kriminalrat und ein paar anderen Kollegen Job und Pension gekostet hatte. Ein Kollegenschwein. Hielt sich für was Besseres.
»Jetzt sind Sie ja da.«
Kaum saßen sie im Auto, ging die Schießerei los. Kurz und heftig.
Im Funkgerät ertönte eine aufgeregte Stimme: »Alle Einsatzkräfte zum Saatwinkler Damm, Abzweig Emmy-Zehden-Weg.«
»Weißt du, wo das ist?«, fragte de Bodt.
Salinger nickte und raste los.
2.
Sie sahen das Chaos schon von Weitem. Salinger steuerte langsam zur Absperrung. Noch nie hatte de Bodt so viel Polizei an einem Tatort gesehen. Und es jagten immer noch Autos mit Sirene und Blaulicht heran. Die Krankenwagen hätten für einen Flugzeugabsturz gereicht. Im Gedränge der Menschen und Autos war kaum etwas zu erkennen. Eine Qualmwolke stand über dem Ort. Es stank nach Benzin.
»Und was sollen wir hier?«
Im Radio hatten sie gehört, dass es einen Anschlag auf eine Regierungskolonne gegeben hatte. Schon spekulierten Leute, ob Al-Qaida, sonst eine Terrorgruppe oder Tschetschenen dahinterstecken könnten. Oder ukrainische Terroristen. Kein Provinzblatt, das nicht mit einem Terrorexperten aufwartete.
»Man sollte sie alle knebeln«, hatte de Bodt mehr vor sich hingesagt.
Yussuf lachte. Aber es klang ängstlich. Die Welt, die sie kannten, begann sich vor ihren Augen aufzulösen. Was sollte werden, wenn Leute, deren Ziele niemand verstand, einfach andere Leute umbrachten? Wenn es überall knallen konnte?
Sie blieben im Auto und starrten nach vorn. Yussuf hatte sich in die Mitte der Rückbank gesetzt.
Niemand beachtete sie.
»Sollen wir nicht hin?«, fragte Yussuf.
»Niemand braucht uns. Das übernehmen der Generalbundesanwalt und das BKA. Aber wenn du dich ans Absperrband stellen willst.«
Schweigen.
Salinger schwieg sowieso.
»Wir fahren ins LKA«, sagte de Bodt. Endlich waren ihre Diensträume in der Keithstraße renoviert, und sie hatten das Präsidium am Tempelhofer Damm verlassen können.
Salinger blickte ihn zweifelnd an. Aber sie sagte nichts. Sie fürchtete den Anschiss, dass sie sich nicht einmal am Tatort gemeldet hatten. Geschweige denn abgemeldet. Aber sie wusste, dass de Bodt das Gemecker der Vorgesetzten egal war. Er nahm die neuen Führungskräfte genauso wenig ernst wie deren Vorgänger. Als legte er es darauf an, dass sie ihn rausschmissen. Oder zum Chef der Asservatenkammer beförderten. Der Mann war ihr ein Rätsel. Aber das war längst nicht alles.
Im LKA war außer dem Pförtner, Grünschnäbeln und ein paar Sekretärinnen niemand zugange.
Yussuf warf die Kaffeemaschine an. De Bodt hatte sie vor Kurzem spendiert, nachdem sein Neid auf den Espressoautomaten der Rechtsmedizinerin Dr. Pönisch zu schmerzhaft geworden war. Und Yussuf hatte sich sofort berufen gefühlt, alle Raffinessen des Apparats zu erkunden. Salinger hatte es sich angewöhnt, nur noch mit den Fingern zu schnippen, wenn sie einen doppelten Espresso brauchte. Das war in letzter Zeit oft der Fall. Sie kam müde zur Arbeit.
De Bodt hatte sie ein paarmal sorgenvoll angeblickt, aber sie hatte nicht reagiert. Eine eigentümliche Spannung. Aber de Bodt sprach es nicht an. Er respektierte ihre Distanz. Schließlich war er nicht ihr Freund, sondern ihr Vorgesetzter. Solange sie ihre Pflicht erfüllte, gab es keinen Grund, etwas zu sagen. Doch hatte er in Marzahn Angst gehabt, dass sie falsch reagieren könnte. Wer erschöpft ist, macht Fehler.
De Bodt hatte einen Cappuccino bestellt, obwohl ihm mehr nach dem soundsovielten Aufguss eines grünen Tees war.
»Das gibt einen Anschiss«, sagte Yussuf und schaltete das Radio ein.
Wenn einer einen Anschiss bekam, dann de Bodt. Der saß am Schreibtisch und blätterte gelangweilt in der Decker-Akte. Manchmal verbarg sich die Wahrheit in Akten, oft zwischen Zeilen. Manchmal führten einen Akten in die Irre.
Die Radiohysterie bedrängte ihn. Es war etwas im Gange. Eine Riesengeschichte. Wenn man den Nachrichten glaubte, hatte jemand versucht, die Kanzlerin und Russlands Präsidenten in die Luft zu jagen. Es hatte die armen Schweine im nachfolgenden Wagen der Kolonne erwischt. Ihm stand die Rauchwolke vor Augen. Fahrer, Leibwächter, Assistent. Die waren unschuldig. Keine noch so perverse Fantasie konnte ihnen eine Verantwortung für was auch immer andichten. Der Präsident hatte sich viele Feinde gemacht. Russische Soldaten und Sicherheitskräfte hatten Grausamkeiten begangen. Sie hatten mitgemischt im Ukrainekrieg, den keiner Krieg nennen wollte. In Tschetschenien herrschte in des Präsidenten Namen ein Despot. Die Kanzlerin machten viele für die Not in Europas Süden mitverantwortlich. Auch de Bodt. Und sie hatte zu lange zugesehen, als Tausende Flüchtlinge im Mittelmeer ersoffen. Dann hatte sie die Grenze aufgemacht, aber schließlich einen schmutzigen Deal mit den Türken abgeschlossen. Außerdem gab es Islamisten, denen es egal war, wen sie umbrachten. Hauptsache viele. Und wenn es Spitzenpolitiker waren, umso besser. Mit ein bisschen Nachdenken fand man weitere Motive. Polizisten mussten sich in die Hirne der Täter versetzen. Aber man musste eine Ahnung haben, um welche Täter es sich handelte.
»Islamisten«, sagte Yussuf, als hätte er die Gedanken seines Chefs belauscht.
De Bodt lächelte. Eigentlich war ihm nicht danach zumute. Nicht nur wegen des Anschlags. Auch in seinem Privatleben ging es drunter und drüber. Er hatte lang gewusst, dass er so nicht weitermachen konnte. Und doch überraschte ihn die Heftigkeit. Und die Trauer, die er empfand. Meist nachts, wenn ihn wenig ablenkte.
»Liegt nah. Oft ist die naheliegende Erklärung …«
Yussuf winkte ab. »Der olle Mönch Ockham und sein Rasiermesser …«
De Bodt musste grinsen. Occam’s razor, wie die Engländer sagten. Das Rasiermesser, das alle abseitigen Erklärungen wegschnitt. Wenn ein Betrunkener im Teich schwamm, dann nicht, weil er sich zum Amphibium wandelte, sondern weil er ins Wasser gefallen war.
Aber vielleicht war alles anders. Und das Messer schnitt die richtige Erklärung weg. Es gab auch abseitige Gründe. Da half das Messer nicht.
3.
Das Mobiliar war funkelnagelneu. Der Teppich auch. Die Wände frisch tapeziert. Raufaser. An den Wänden Stiche von Frankfurt am Main. Paulskirche, Mainschifferei, Römer.
Stahl und Leder. Dieser Stil, den alle für modern hielten. Das Bauhausklischee.
De Bodt hasste es. De Bodt hasste Stiche. De Bodt hasste Spießer.
Der Kriminalrat hieß Dr. Werner Tilly. Ja, wie der aus dem Dreißigjährigen Krieg. Klang so, als hätte der neue Chef dessen Siege erkämpft.
Am Besprechungstisch saßen fünf Männer. Einheitslook der Bürokraten.
»So, was hat Sie denn abgehalten, den Tatort aufzusuchen, Herr Kollege?«
»Zu viele Kollegen. Die werden schon genug Spuren zertrampelt haben. Man wird der Bedeutung eines Verbrechens nicht durch die Zahl der Polizisten gerecht.«
Die anderen wechselten Blicke.
»Sie sind hin- und wieder weggefahren.«
De Bodt spielte mit seinem Bleistift. Er betrachtete die Herren am Tisch.
Der Kriminalrat blickte ihn an in Erwartung einer Antwort. De Bodt hatte die Frage schon beantwortet.
Die anderen schienen verärgert.
Einer lächelte.
»Ich wollte Sie bitten, dass Sie sich unserer Taskforce anschließen, Herr Hauptkommissar«, sagt er.
De Bodt fixierte ihn. Und zuckte mit den Achseln.
Der Kriminalrat atmete durch, die Hemdknöpfe am Bauch drohten abzuplatzen. »Wir stellen Sie ab.«
De Bodt blickte sich um.
»Wer sind die?«, fragte de Bodt den Kriminalrat.
»Hoffmann«, sagte der, der gelächelt hatte. »Sicherungsgruppe Berlin. Ich bin stellvertretender Leiter besagter Taskforce. Die trägt übrigens den originellen Namen Anschlag.«
De Bodt musste nicht einmal grinsen. Seit der Sonderkommission Bosporus waren sie vorsichtig geworden. Die Beamten dieser Sonderkommission hatten die Mörder der NSU-Opfer unter Türken gesucht. Namensgeber war das Vorurteil gewesen. Man konnte auch sagen, der Rassismus.
Ein Anschlag war es zweifellos gewesen.
Aber was hatte er damit zu tun? Sie nahmen ihm seinen einsamen Feldzug gegen die Mörder übel, die fast den kompletten Vorstand des Berliner Chemiekonzerns BBC umgebracht hatten. Weil er sie alle vorgeführt hatte. Was niemand zugab. Stattdessen hielten sie ihm einen Mangel an Kollegialität vor. Einzelgängertum. Da hatten sie recht. Er hielt seine Kollegen menschlich und fachlich für mittelmäßig. Bestenfalls. Außer Salinger und Yussuf, die der Gott des Glücks ihm geschenkt hatte. Obwohl es den nicht gab.
Aber jetzt, wo es unter ihren Ärschen brannte, jetzt kamen sie.
»Wir brauchen die Besten«, sagte Hoffmann.
Da nickte der Kriminalrat Tilly. Es musste ihm schwerfallen.
»Wir möchten wirklich alle, dass Sie mitmachen«, sagte Hoffmann.
Tilly erbleichte.
Das lohnte die ganze Sitzung. Der Kriminalrat biss sich in den Hintern, öffentlich.
De Bodt lächelte. Wenn man sich freute, sollte man das zeigen.
»Ah, ich sehe … klar, man muss so was erst mal überdenken.«
»Muss ich nicht«, sagte de Bodt.
»Noch besser.«
»Ich sitze am Fall Decker.«
»Eine Leiche in Zehlendorf und keine Spur.«
»Gar nichts«, sagte de Bodt.
»Danke, dass Sie die Ermittlungen abgeben«, sagte Hoffmann.
»Wie kommen Sie darauf?«
De Bodt nickte knapp und verließ den Raum.
4.
Salinger saß lang auf der Bank vor ihrem Haus. Eine Seitenstraße, Kopfsteinpflaster. Bäume, breiter Bürgersteig, Bänke. Parkende Autos. Die Anwohner saßen gern draußen. Ein Stück weiter hinten standen uralte Motorräder. Eines mit Beiwagen. Puch. Den Namen hatte sie schon gehört. Bestimmt von ihrem Vater, der hatte Motorräder geliebt, bis ihn ein Lastwagen umwalzte. Auf der Beerdigung erschienen Männer in Kluft. Sie kannte diese Leute nicht. Fast schien es ihr, dass der Vater ein geheimes zweites Leben geführt hatte. Sie wollte nicht wissen, ob es andere Geheimnisse gegeben hatte. Weil sie es ahnte. Weil sie fürchtete, dass der Vater ihr Vertrauen missbraucht hatte. Dass alles eine Lüge gewesen war. Die Ehe der Eltern. Du bist doch meine Liebste. Das hatte er gesagt, wenn sie weinte. Doch sie war nicht die Einzige. Manchmal überlegte sie, ob dieser erste Vertrauensbruch ihr die Unfähigkeit eingeimpft hatte, jemandem zu trauen. Alles war Fassade. Auch wenn es sich anfangs anfühlen mochte wie Mauerwerk.
Salinger liebte die Stunde, in der sich das Licht in den Baumkronen brach. Die Blätter schimmerten. Sie nippte an ihrem Pinot Grigio. Es war windstill. Die Stadt rauschte. Weitab das Heulen einer Alarmsirene. Bald ebbte es ab.
Sie war vor zwei Monaten hergezogen. Wollte alles zurücklassen. Den Duft des Mannes, der sie verlassen hatte. Weil sie zu viel Vertrauen gefordert hatte. Inzwischen wusste sie es. Es war nicht so, dass sie nicht verstand, was sie tat. Aber wenn sie es tat, schien es richtig, unvermeidlich. Eine innere Qual trieb sie dazu.
Ein paar Straßen weiter wohnte de Bodt. In seinem Provisorium. Er war jetzt ein Jahr in Berlin. Seitdem hatte sich viel geändert für sie. Sie ging wieder gern ins Büro. Die Zusammenarbeit mit ihm war anders. Kein Trott, er hatte stets eine Idee. Inzwischen hatte sie gelernt, sie nicht gleich abzutun. Sogar wenn er falsch lag, brachte es sie voran. Yussuf und sie lernten, anders zu denken. Sich neben sich zu stellen. Alles anzuzweifeln. Es gab keine Gewissheit mehr außer der, dass Irrtum der Weg zum Erfolg war.
»Wahrheit wird Irrtum, Irrtum wird Wahrheit.« Sie lächelte. Er hatte wieder einen Philosophen zitiert. Mitten in einer Besprechung. Tilly hatte den Kopf geschüttelt, ein paar hatten gegrinst. Niemand verstand ihn. Außer Yussuf und ihr. Es mag eine absolute Wahrheit geben, aber unsere Wahrheiten sind relativ. Brüchig. Und dann hatte er nachgelegt. Popper, ja, so hieß der Philosoph, dessen Namen verklemmtes Gelächter erzeugt hatte. Falsifizierung. Sie hatte es sich gemerkt. Das erklärte de Bodts Arbeitsweise am besten. Wir suchen nicht nur Beweise gegen einen Verdächtigen, sondern von Anfang an auch die Beweise gegen seine Schuld. Nicht, um gerecht zu sein. Sondern, um uns der Wahrheit anzunähern.
Wenn man sich auf de Bodt einließ, ertastete man eine neue Welt. Jedenfalls für Kripobeamte. Und erkannte, dass eines auf jeden Fall unendlich war. Das Unwissen. Damit wussten Yussuf und sie schon mehr als die anderen.
De Bodt hatte sich nicht nur unbeliebt gemacht, als er Präsident und Kriminalrat kalt erwischte. Er hasste Besprechungen im Konferenzsaal. Aber wenn er mal erschien, zerpflückte er mit größtem Vergnügen die Beweise, die Kollegen vorlegten. In zwei Fällen hatte er Beschuldigte aus der U-Haft geholt.
Aber jetzt hatte er all den Wichtigtuern vom BKA die kalte Schulter gezeigt. Taskforce. Mit Typen von BND und Verfassungsschutz zusammenarbeiten. Unter Aufsicht des Kanzleramts, des Innenministeriums und von wem auch immer. Man spürte die Erregung überall. Auf den Gängen tratschten und tuschelten sie. Ganz oben war die Hölle los. Hektik. Ein Dienstwagen hetzte den anderen.
De Bodt hatte am Fenster gestanden und nur gemurmelt: »Vergeudung von Kraft und Energie. Geflatter und Geschnatter auf dem Hühnerhof.«
»Und wie soll man es machen?«, hatte Yussuf gefragt.
De Bodt hatte gelächelt. »Leise. Ganz leise.«
Salinger reimte sich ihren Teil zusammen. Die Hektik sollte auch zeigen, dass die Sicherheitsorgane alles taten, um die Täter zu fassen. Denn sie hatten versagt, die Geheimdienste. Von morgens bis abends hatten sie den Leuten eingeredet, dass es sie geben müsse. Dass man sie nicht stören, ihre Kompetenzen nicht stutzen solle. Weil sie Anschläge verhinderten. Weil ohne sie Bürger und Politiker ungeschützt dem Bösen ausgeliefert wären.
Nun hatte das Böse zugeschlagen.
»Ganz leise.« Salinger hatte keinen Zweifel, dass de Bodt die Täter finden konnte. Wenn einer, dann er. So viel hatte sie verstanden seit den BBC-Morden. Aber sie wusste auch, dass der Apparat so einen wie de Bodt früher oder später ausspuckte. Inzwischen glaubte sie, dass er wollte, dass der Apparat ihn ausspuckte.
Warum ging er nicht?
Sie erschrak bei dem Gedanken, dass sie dann wieder mit den anderen zusammenarbeiten musste. Mit den Normalbullen, die Weisungen der Chefs abnickten. Die routiniert nach allen Regeln der Kunst ermittelten.
Aber nie gegen die Regeln. Das war die Kunst.
Sie hatte verdammt viel gelernt.
Aber sie fühlte sich beklommen. Sie waren sich nah gewesen. Das konnte er nicht abstreiten. Aber seit Monaten hatte er kein persönliches Wort verloren. Als wäre nie was gewesen.
War was gewesen? Was?
Am Morgen nahm sie die U1 bis zum Wittenbergplatz. Sie fühlte sich klebrig, als sie ausstieg. Der Weg zum LKA durch den Frühsommer vertrieb die Trübnis. Sommerkleider, Spatzen zankten sich um Krümel, Partytouristen standen im Weg. Es würde wieder heiß werden.
Doch die Finsternis lauerte in ihr. Sie wusste das.
Im Büro zappelte Yussuf am Schreibtisch. Sie nahm sein hektisches Getue schon nicht mehr wahr. Sie mochte den Kollegen. Sie mochte nicht so schnell jemanden. Dass es bei Yussuf anders war, lag auch an dem Klima, das de Bodt geschaffen hatte. Er redete nie darüber, vertraute ihnen aber, und sie gaben es zurück. Wie selbstverständlich.
»Wo ist der Meister?«, fragte sie.
»Kaffee?« Schon erhob er sich vom Schreibtischstuhl und begann an der Maschine zu hantieren. Er liebte sie fast so innig wie sein Smartphone.
»Cappuccino.«
»Zu Befehl!« Es zischte eine Weile, dann brummte es. »Keine Ahnung, wo der ist.«
Pünktlichkeit hielt de Bodt für eine Tertiärtugend. »Ich arbeite nicht mit dem Gesäß, sondern mit dem Kopf.« Wo er seinen Kopf herumtrug, wussten sie oft nicht. Ans Telefon ging er auch nicht immer. Aber wenn es brannte, war er da.
Die meisten Menschen lernte man mit der Zeit besser kennen. De Bodt aber wurde zum Mysterium. Salinger wunderte sich nicht mehr darüber. Auf eine eigene Weise verließ sie sich auf ihn. Was sie von ihm kannte, mochte sie, verwunderte sie, verstand sie nicht. Aber sie hätte ihn sich nicht anders gewünscht.
»Wo ist Ihr Chef?«
Die Tür war aufgeflogen.
Tilly, zwei Herren im Gefolge. Sahen aus wie Geheimdienst. Guckten wie Geheimdienst.
»Ermittelt im Fall Decker«, sagte Yussuf, ohne von seinem Smartphone aufzusehen.
»Können Sie ihn telefonisch erreichen?«
»Natürlich. Aber er hat gerade mitgeteilt, dass er im Funkloch sitzt.«
Der Herren blickten sich erstaunt an.
»Herr Yussuf, wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«
»Niemals. Er hat von einem Festnetzanschluss angerufen.«
Salinger mühte sich, ernst zu bleiben.
Tilly blickte Yussuf verwirrt an. »Sagen Sie Ihrem Chef, ich wünsche ihn zu sprechen, und zwar sofort.«
»Gern.«
Die drei blieben einen Augenblick stehen. Wahrscheinlich überlegten sie gerade, ob sie Yussuf auf die Streckbank legen sollten oder ob glühende Eisen angesagt waren. Doch dann zogen sie ab.
5.
»Herr Hauptkommissar, treten Sie ein.«
De Bodt stand in der Tür.
Tilly zeigte zum Besprechungstisch. Dort saßen zwei Herren in grauen Anzügen. Der Kriminalrat kam hinter seinem Schreibtisch hervor und nahm am Tischkopf Platz.
»Herr de Bodt, wir haben ja schon über den Anschlag gesprochen …«
De Bodt nickte kaum sichtbar.
Tilly räusperte sich.
»Ich bin Dr. Klein«, sagte der eine.
De Bodt hätte sich nicht gewundert, der andere hätte sich als Dr. Groß vorgestellt.
»Anhof mein Name.«
»Herr Dr. Klein ist vom Bundesamt für Verfassungsschutz, Herr Anhof vom Bundesnachrichtendienst.«
De Bodt warf jedem einen kurzen Blick zu. Wieder solche mausgrauen Gestalten.
Die drei blickten ihn an. Anhofs Stirn zeigte Falten.
»Wir haben ja schon mal darüber gesprochen. Wir möchten, dass Sie in der Taskforce Anschlag mitarbeiten. Sie steht unter Leitung des BKA-Vizepräsidenten, wird in der Tagesarbeit aber geleitet von Herrn Hoffmann. Den haben Sie ja schon kennengelernt.«
De Bodt hatte ihn nicht vergessen. Typ Haudegen. Menschlich, mutig, aber nicht der Hellste. Es gab Schlimmere. Zum Beispiel die Typen am Tisch. Aber wenn es schon anfing mit dem Vertreter, der die Leitung übernahm. Weil sein Boss den Ruhm einstreichen wollte. Aber nicht die Verantwortung übernahm, wenn es schiefging. Organisierte Verantwortungslosigkeit. Feigheit institutionalisiert.
»Sie sorgen schon vor«, sagte de Bodt.
Die anderen blickten ihn an. Aber warum sollte de Bodt ihnen erklären, was sie wussten. Und für normal hielten. Sie waren Jahrzehnte in diesem Gestrüpp aufgewachsen. Darin konnte man sich gut verstecken, wenn es brenzlig wurde.
»Nein, suchen Sie sich einen anderen Sündenbock.«
Wenn nämlich der Stellvertreter den Kelch weiterreichte. De Bodt war unbescheiden genug. Er wusste, dass er besser war als die anderen. Aber unbeliebt. Würde er die Taskforce auf die richtige Spur führen, würde Hoffmanns Boss triumphieren. Und für Hoffmann fielen ein paar Ruhmbröckchen ab. Wenn sie die Täter nicht fassten, würde Hoffmanns Boss seinen Vertreter verantwortlich machen. Die faktische Leitung der Ermittlungen oblag Herrn Hoffmann. Und der würde sich enttäuscht zeigen. Die Berliner Polizei hat uns ihren angeblich besten Mann …
Es war so primitiv. Und sie hatten es so oft schon gespielt, das Spiel. Sie konnten nicht genug davon bekommen.
Aber ich spiele nicht mit.
»Herr Hauptkommissar, ich möchte ungern zum Mittel der Weisung Zuflucht nehmen müssen.«
Was für eine Formulierung! Allein dafür lohnte sich die Sitzung. Manche Leute machten sich lächerlich, ohne es zu merken.
Die drei blickten ihn streng an. Sie glaubten tatsächlich, es würde ihn beeindrucken. Vielleicht einschüchtern. In den Blicken lag die Frage: Wollen Sie wirklich Ihre Karriere riskieren?
In de Bodts Blick lag: Ihr könnt mich mal. »Es gibt keinen Zwang, unter Zwang zu leben.«
Die Herren wechselten Blicke. Anhof verdrehte die Augen.
Klein räusperte sich: »Die Kanzlerin wünscht, dass Sie ermitteln. Sie hat sich an Sie erinnert. Vielleicht überzeugt Sie das?«
De Bodt lächelte ihn an. »Aber sie hat bestimmt nicht gesagt, wie ich das tun soll.«
Klein schwieg.
»Es gibt nur eine Möglichkeit: Sie lassen mich und meine Leute allein ermitteln. Wie Sie uns bürokratisch einsortieren, ist mir egal.«
»Sonst?«
»Sonst kann es passieren, dass einer bei Ihrer Taskforce herumsitzt und nicht mal guten Morgen sagt.«
»Aber das gibt doch ein totales Durcheinander«, sagte Tilly. De Bodt spürte, wie der sich mühte, seinen Zorn zu beherrschen. Dass einer seiner Untergebenen im Beisein hoher Herren so einen Affentanz aufführte. Ihn bloßstellte.
De Bodt wollte diesen Fall. Nichts war aufregender. Wenn es überhaupt einen Sinn hatte, Bulle zu sein, dann für so einen Fall. Aber er wollte ihn zu seinen Bedingungen. Er konnte das Mittelmaß in all den Kommissionen und Unterkommissionen nicht ertragen.
»Wie soll das funktionieren?«, fragte Klein.
»Wir bekommen Zugang zu Ihren Daten. Das zeigt uns, was Sie haben. Sie bekommen Zugang zu unseren Daten. Sie sehen, was wir haben. So kreuzen sich unsere Wege selten. Und wir vergeuden keine Zeit. Ich glaube, der Kanzlerin würde das gefallen. Zwei Eisen im Feuer.«
Klein überlegte, nickte bedächtig. Eine Haarsträhne rutschte einen Millimeter auf die Stirn. Er wischte sie zurück. Unter dem Mausgrau bewegte sich was.
Eine Parfümwolke. Herb. Duftporsche. Tilly schwitzte.
Anhof kratzte sich an der Schläfe. Sein breiter Mund erinnerte de Bodt an Hanns Martin Schleyer, den die RAF dereinst ermordet hatte. Vierkantschädel.
»Wir denken darüber nach, Herr Hauptkommissar«, sagte Anhof endlich.
»Und wenn wir die kriegen, schenke ich Ihnen den Ruhm«, sagte de Bodt.
Tilly lief rosa an.
De Bodt erhob sich und ging ohne ein Wort.
Draußen grinste er. Ganz kurz.
6.
Konstantin Merkow saß am Besprechungstisch im abhörsicheren Raum. Sie hatten den Präsidenten und seine Frau nach dem Anschlag in die Botschaft Unter den Linden gebracht. Davor war eine Hundertschaft Polizei aufmarschiert.
Überflüssig, hatte Merkow gedacht. Sie wollen uns zeigen, dass sie sich sorgen.
Er saß am Tisch und hörte zu. Glücklicherweise war niemand ihrer Leute verletzt worden. Merkow spürte noch die Ausläufer der Detonationswelle. Die Vibration des Autos nach der Explosion hatte er nicht bemerkt. Aber jetzt spürte er ihren Nachhall. Eine Nervensache. Er galt als Mann ohne Nerven. Doch hatte er sich nur gut im Griff. Ein Mann ohne Nerven könnte seine Aufgabe nicht erfüllen.
Der Präsident hatte kein Wort gesagt, während sie nach Mitte gerast waren. Er war fahl gewesen. Seine Frau hatte geweint. Merkow saß auf dem Beifahrersitz. Polizei schützte sie. Vor ihnen ein Benz, hinter ihnen ein Audi. Beide mit Blaulicht.
Merkow hatte die Abfahrt organisiert. Schnelle Entscheidungen, klare Ansagen. Die Zwischenanfrage eines deutschen Personenschützers erstickte er mit einem Blick. Er zog den Präsidenten aus dem Wagen, sicherte dessen Rücken, während ein Kollege ihn vorn schützte. Sie setzten ihn in das Auto seiner Frau. Merkow stellte die kleine Kolonne zusammen, gab ein Zeichen. Sie rasten los. Niemand hatte seine Autorität auch nur eine Sekunde anzweifeln können.
Es war immer so, seit er beschlossen hatte, den harten Weg zu gehen. In der Schule hatten sie ihn gehänselt, verprügelt, bespuckt. Er war schmächtig gewesen. Niemand hatte ihn verteidigt. Die Lehrer hatten weggeblickt. Söhne von Funktionären bestrafte man besser nicht. Konstantin begriff früh, dass es nur zwei Möglichkeiten gab. Sich lebenslang zu bücken. Oder sich zu wehren.
Er begann heimlich mit Kampfsport und ertrug die Erniedrigung. Bis zum Tag, an dem er sich stark genug fühlte, zurückzuschlagen. Es war weniger seine Kampftechnik als die Verblüffung seiner Gegner, die ihm half. Es dauerte zwei Minuten, und sie hatten blutige Nasen, Beulen und Schrammen. Sie rannten weg. An diesem Tag war Konstantin ein neuer Mensch geworden. Niemand traute sich mehr, ihn anzugreifen. Er umgab sich mit einer Aura des Schweigens. Die Winsler, die sich an den Starken anschmeichelten, wies er ab. Was sie umso gefügiger machte. Konstantin lernte in diesen Tagen fast alles, was er über Männer wissen musste. Frauen blieben ihm noch lang ein Rätsel.
Er hörte kaum zu, was die anderen am Tisch sagten. Der Resident des Auslandsnachrichtendienstes SWR salbaderte, wie er immer salbaderte. Merkow hatte Boris Michailow bei einer Besprechung zwischen dem FSO und dem SWR in Jassenewo kennengelernt. Seit damals hielt er ihn für einen Schwätzer. Aber er war schlau. Man durfte ihn nicht unterschätzen.
Neben Michailow starrte Georgi Chamalow auf seine Fingernägel. Das tat er immer, wenn er sich konzentrierte. Alle nannten ihn Präsidentenberater, obwohl es diesen Titel nicht gab. Der Präsident hatte ihn dereinst ins Amt mitgebracht. Chamalow war überall dabei außer bei Regierungsgesprächen. Aber er reiste mit dem Präsidenten und war mit ihm auch privat unterwegs. Gerüchte gingen um, dass zu seinen Aufgaben auch delikate Dinge gehörten. Der Präsident liebte junge Frauen. Chamalow stammte aus einem Kaukasusdorf, und er hatte seine Derbheit nie abstreifen können. Er wirkte unbeholfen, war aber intelligent und erfasste komplizierte Lagen sofort. Der Präsident fragte ihn gern nach seiner Meinung, und meistens gab er ihm recht. Wer sich mit Chamalow anlegte, bekam Schwierigkeiten.
Merkow hatte ein sachliches Verhältnis zum Präsidentenberater. Er hatte keine Freunde, und warum sollte gerade der mürrische Mann aus dem Kaukasus einer werden? Für Merkow gab es zwei Sorten von Menschen: solche, die einen betrogen, und solche, die einen noch nicht betrogen hatten. Zu welcher Gruppe Chamalow zählte, war nicht ausgemacht.
Sie waren jetzt der Vorposten der russischen Sicherheitsorgane in Deutschland. Ihre Chefs erwarteten Vorschläge. Der Präsident erwartete Vorschläge.
»Der Botschafter hat der deutschen Regierung kondoliert«, sagte Chamalow.
Michailow nickte. »Wir müssen verdammt noch einmal herausfinden, welche Dreckschweine dahinterstecken. Und dann müssen wir sie bestrafen.«
»Was sind unsere Ansätze?«, fragte Merkow.
7.
»Wo fangen wir an?«, fragte Salinger.
Sie saßen im Café Luftbrücke. Mit Exponaten aus der Zeit der Rosinenbomber. Sie hatten sich das Café als inoffiziellen Besprechungsraum ausgesucht, als sie im Präsidium am Tempelhofer Feld gearbeitet hatten. De Bodt schaltete sein Handy auf stumm. Die anderen desgleichen.
»Was ist?«, hatte Yussuf gefragt, nachdem sie sich gesetzt hatten. De Bodt hatte Salinger gebeten, sie hierhin zu fahren. Er hatte keinen Grund genannt.
»Der Anschlag«, sagte de Bodt.
Salinger wurde blass. Sie sah die Gefahr sofort. »Die haben dich zur Taskforce abgezogen.«
De Bodt grinste, schüttelte den Kopf und sagte: »Wir bilden eine eigene Ermittlungsgruppe. Inoffiziell, aber genehmigt. Was wir rausfinden, geben wir dieser Taskforce. Was die rausfinden, geben sie uns.«
Salinger lachte auf.
Die beiden anderen blickten sie verdutzt an. Sie hatte schon ewig nicht mehr gelacht.
»Wie hast du das hingekriegt?«, fragte Yussuf, nachdem er begriffen hatte, was sein Chef meinte.
»War ganz einfach.«
Salinger kicherte.
»War ganz einfach«, wiederholte sie. Hielt sich die Hand vor den Mund und flüsterte. »Natürlich. Ganz einfach.«
Yussuf verdrehte die Augen. »Und du glaubst wirklich, die geben uns alles?«
»Keine Sekunde.«
Jetzt lachte Yussuf. »Und wir geben …«
»Solange es den Ermittlungserfolg nicht gefährdet.«
Yussuf und Salinger grinsten.
»Wir stehen allerdings vor der Tür der Hölle, und die ist schon halb geöffnet.«
»Wenn die Täter nicht gefunden werden, sind wir schuld. Und wenn sie gefasst werden, waren es die anderen«, sagte Yussuf.
»Wie sollte es anders sein?«, sagte de Bodt. »Ihr wisst, was sie mit Sündenböcken machen. Mir ist es egal, aber ich kann euch nicht schützen. Also, wenn jemand nicht mitmachen will, kann er sich Hoffmann und Krüger anschließen.«
Yussuf tippte sich an die Stirn. »Lieber lass ich mich von Tilly fressen.«
»Womit fangen wir also an?«, fragte Salinger.
»Mit den Motiven«, erwiderte Yussuf.
De Bodt beobachtete seine Mitarbeiter. Sie hatten viel gelernt. Besonders Yussuf hatte enorme Fortschritte gemacht. Er hatte meist klare Vorstellungen, was zu tun war. Und originelle Ideen. Doch war seine Beförderung bisher gescheitert. Vielleicht gerade weil de Bodt sich für ihn eingesetzt hatte. Den meisten Kollegen galt er als blonder Zappeltürke. Dabei verbarg sich hinter seiner Unruhe Intelligenz. Es haperte nur am Selbstbewusstsein.
Da ähnelte er Salinger. Die dachte aber strukturierter. Kühl, messerscharf. Ihr stand nur etwas im Weg, das de Bodt insgeheim Melancholie nannte. Weil er keinen besseren Begriff fand, ihren rätselhaften Gemütszustand zu beschreiben. Zumal in jüngster Zeit.
De Bodt spürte eine Nähe zu ihr. Sie zog ihn so stark an, dass er sich dem Sog mit aller Willenskraft widersetzen musste. Das durfte nicht sein. Die Katastrophe wäre unvermeidlich. Auch wenn er sich längst im Klaren darüber war, dass seine Ehe gescheitert war. Schon vor der Heirat. An der Scheidung hinderte ihn sein Desinteresse. Sie war ihm so egal, dass er sich nicht einmal mehr über sie ärgerte. Sie kam in seiner Welt nur noch vor als die Mutter seiner Töchter. Und als Grund, sich Vorwürfe zu machen. Er war seiner Verantwortung als Vater keine Sekunde gerecht geworden.
»Al-Qaida, IS, freiberufliche Terroristen, Tschetschenen, ob aus Kadyrows Clan oder aus dem Separatistenlager …« Yussuf trommelte mit seinem Handy auf der Handfläche.
»Langsam, langsam«, warf Salinger ein. »Wir müssen das eingrenzen, auf die Leute, die so ein Attentat hinkriegen. Also analysieren wir erst den Tatort, dann die Motive.«
Yussuf winkte ab, dann nickte er doch.
De Bodt hatte die Tatortanalysen gelesen. Er hatte sich ein Tablet zugelegt, um jederzeit Zugriff auf die Datenbank der Taskforce zu haben. Er loggte sich ein und fasste zusammen: »Die Bombe lag unter dem Asphalt und wurde offenbar per Handy gezündet …«
»Das erklärt, warum sie zu spät hochging«, sagte Yussuf.
De Bodt nickte. »Manchmal verspäten sich Handysignale. Oft nur Sekundenbruchteile, aber das hat offenbar gereicht.«
»Merkwürdig, dass Leute an so was nicht denken.«
»Vielleicht war es ihnen auch egal. Die wollen nur möglichst viele Leute umbringen«, sagte Yussuf.
»Dann hätten sie das Ding im Hauptbahnhof gezündet«, erwiderte Salinger.
»Wir müssen ganz vorn anfangen«, sagte de Bodt. »Unsere erste Frage ist: Wie kann man auf einer öffentlichen Straße eine Bombe unter Asphalt verlegen?«
8.
»Ich bin Polizist«, sagte der Mann.
Die Antwort war ein Fausthieb in den Magen.
Der Mann japste und ging auf die Knie. Er spürte den Stahl an der Schläfe. Der Typ im Blaumann hatte gleich eine Walther PPK gezogen, als er die Wohnung betrat. Die GASAG, ein Notfall, er bitte um Entschuldigung.
Und der Mann war darauf reingefallen.
»Ich bin Kriminalpolizist«, beteuerte der Mann.
Der Typ im Blaumann lächelte. Der Pistolenlauf winkte zum Flurende. Der Polizist erhob sich und wankte zum Wohnzimmer, die Hand auf den Magen gepresst.
Die Pistole zeigte zum Sessel.
»Tun Sie mir nichts«, sagte der Polizist. Er blickte dem Blaumann demonstrativ nicht ins Gesicht. Lächerlich.
Der Blaumann legte zwei Fotos auf den Tisch neben dem Sessel. Ein Mädchen auf dem Spielplatz. Ein anderes Mädchen, das gerade die Schule verließ. Gute Fotos. Scharf.
»Was ist …?«
»Die machen Ferien. In einem schönen Land. Sonne, Wasser.«
»Und meine …?«
»Deine Exfrau passt auf sie auf. Anna heißt sie, stimmt’s?«
Er legte ein Foto dazu. Strand, die beiden Kinder, Anna im Bikini. Hübsch. Alles idyllisch.
9.
Merkow blickte Michailow an. »Sie sollten wissen, welche feindlichen Gruppen in Berlin aktiv sind. So einen Anschlag macht man nicht mal eben so.«
»Gewiss«, erwiderte Michailow mit trauriger Stimme. »Das muss man vorbereiten. Nur, wenn wir wüssten, wem der Anschlag gegolten hat …«
Chamalow knetete seine Nase. »Natürlich unserem Präsidenten.«
»Wissen Sie mehr als wir?«, fragte der Resident.
Chamalow blickte ihn nicht einmal an. »Unser Präsident verhilft Russland zu wahrer Größe. Jelzin hat das sowjetische Erbe verschleudert, nachdem der Verräter Gorbatschow …«
Merkow kannte die Sprüche. Manche verklärten das Sowjetreich, dass es schon lächerlich war. Aber mit ihm war Russlands Größe verschwunden. Das schmerzte. Der Präsident war der Arzt mit dem Skalpell.
»Es ist keiner von unseren zu Schaden gekommen. Vier Deutsche. Wir sind eigentlich nicht zuständig.«
Chamalow pumpte sich auf. »Es war ein Anschlag auf unseren Präsidenten. Wir haben den deutschen Behörden unsere Mitarbeit angeboten. Nach Auffassung des Präsidenten stecken Tschetschenen dahinter. Wie sollen deutsche Polizisten in Tschetschenien ermitteln?«
In sich logisch, dachte Merkow. Wenn man die Voraussetzung akzeptierte. »Ich will unserem Präsidenten nicht widersprechen.« Natürlich stimmte das nicht. Merkow hatte es schon erlebt, dass der Präsident Widerspruch im Vieraugengespräch schätzte. Der Mann war umgeben von unzähligen Menschen und doch einsam. Widerspruch war nur verpönt, wenn andere zuhörten.
Chamalow warf Merkow einen skeptischen Blick zu. »Der Präsident wünscht, dass wir in die Ermittlungen einbezogen werden.«
Wieder dieser Blick. Früher war so ein Blick die Vorstufe für die Degradierung gewesen. Noch früher für Sibirien. »Der Präsident wünscht, dass Sie die Ermittlungen … unterstützen. Sie berichten mir.«
10.
Er hatte sich in der Nacht einen runtergeholt. Mit dem Bild von Salinger, das er insgeheim mit dem Handy geschossen hatte. Es war verschmiert vom Hautfett. Er würde bald einen neuen Ausdruck brauchen. Er hatte auf ihre Titten gestarrt, die sich unter dem T-Shirt abhoben. Die Ansätze im Ausschnitt. Die Brustwarzen angedeutet. Aber Sex war Vorstellungskraft. Jedenfalls der Sex, den Krüger derzeit mochte. Er musste sie haben, aber er wusste, er würde sie nicht kriegen. Es sei denn, er zog die ganz große Nummer ab. Dann stach er de Bodt aus. Der hatte längst ein Auge auf Salinger geworfen. Kein Zweifel möglich. So, wie die miteinander umgingen. Schlimmer: Salinger schien nicht abgeneigt. Fiel auf den Schnösel rein. Diesen Typen, der aus Hamburg nach Berlin versetzt worden war. Unter fraglichen Umständen. Man hörte so einiges. Und der in Berlin gleich die Kripo aufgemischt hatte. Krüger war nicht so blöd, den Kollegen nicht ein bisschen zu bewundern. So, wie ein kluger Krieger den Feind respektierte, bevor er ihm den Hals durchschnitt.
Tilly hatte ihn gestern zur Taskforce beordert. »Die brauchen dort jemanden, der Ortskenntnis hat. Die Berliner Polizei muss helfen, wo sie kann. Und Sie sind unser Mann. Im Krieg würde man sagen, Verbindungsoffizier.«
Verbindungsoffizier – das gefiel Krüger. Er hatte ein Faible fürs Militär. Für Kriegsgeschichte. Verbindungsoffiziere spielten eine wichtige Rolle. Ihre Befehle konnten sich als kriegsentscheidend erweisen, wie die Weisungen dieses Oberstleutnants Hentsch in der ersten Marneschlacht 1914.
Krüger würde seine Schlacht schlagen. Er würde sie zu den Tätern führen. Er malte sich den letzten Feuerwechsel aus. Wie er dem Boss der Killer den Blattschuss gab. Einen Kollegen rettete, der verletzt im Feuer lag. Und vom Polizeipräsidenten gefeiert wurde. Salinger würde begreifen müssen, dass er der Richtige war für sie.
Als er endlich wach war, wusste er, dass er beim Dösen einen Knabentraum geträumt hatte. Aber er würde allen zeigen, was in ihm steckte. Und Salinger würde ihn in einem anderen Licht sehen. So, wie er war.
11.
Der frühe Morgen ist die Zeit des Jägers. Sie hatten den Zugriff lange geplant und geübt. Und nur auf die richtige Stunde gewartet. Fast fünfzig Mann. Die besten. Die Leibgarde. Bewaffnet mit AK-12-Sturmgewehren. Sie warteten auf sein Zeichen. Die Hand schnitt durch die Luft. Einer brach die Haustür auf. Eine Sirene ertönte. Sie stürmten in das Haus. Fünfzehn Mann nach oben, fünfzehn in den zweiten Stock, fünfzehn ins Erdgeschoss. Die anderen warteten mit angelegten Gewehren, ob es jemand nach draußen schaffte.
Türen aufgebrochen. Feuerstöße. Blendgranaten. Immer noch die Sirene. Schreie. Todesangst. Ein alter Mann torkelte vor die Haustür, blutüberströmt, und endete im Feuerhagel. Das Schießen ließ nach. Hin und wieder ein Schuss aus einer Glock 17. Irgendwo schrie ein Säugling. Ein Schuss, dann schwieg auch er.
12.
»Das Straßenbauamt weiß nichts von einer Baustelle«, sagte Yussuf.
Schweigen.
De Bodt hatte sich einen Besucherstuhl neben das Fenster gestellt. An seinem Schreibtisch saß Yussuf und blätterte in Akten des Hauptkommissars. Er war ans Telefon gegangen und sitzen geblieben. Salinger war an ihrem Platz, die Füße auf dem Tisch, die Hände hinterm Nacken verschränkt.
Draußen war es heiß. Auf der Straße röhrte ein tiefgelegter Hirnamputierter.
»Dann mal los«, sagte de Bodt.
Sie fuhren zum Tatort. Unterwegs schaltete Yussuf das Radio ein. Salinger saß auf der Rückbank und blickte hinaus. Der Silo glänzte in der Sonne.
Es war ein Gewerbegebiet. De Bodt begriff sofort, was das hieß. »Wie lange brauchte man?«
»Eine Nacht. Man bricht den Asphalt auf, packt die Bombe rein und kippt Asphalt drauf. Dann sperrt man die Stelle, damit der Asphalt aushärtet. Beseitigt die Sperre. Das war’s.«
»Wir suchen eine Nachtbaustelle«, sagte de Bodt mehr zu sich. »Wann?«
»Vielleicht kann man das dem Asphalt ansehen«, sagte Salinger.
»Das hat nur dann einen Sinn, wenn man so die Zeit genau bestimmen könnte. Solche Fragen lassen wir die Taskforce klären und bedienen uns«, sagte de Bodt. »Wir konzentrieren uns auf die wichtigen Dinge.«
Der Tatort war gereinigt. Vom Anschlag zeugten schwarze Flecken und Schmorspuren auf dem Asphalt. De Bodt stellte sich an den Straßenrand. Ein Lastwagen, ein Motorroller, zwei Radfahrer fuhren in die eine Richtung, ein Taxi in die andere. Er merkte sich jede Einzelheit. Die Brandflecken am Straßenrand, wo glühende Splitter im Gras gelandet waren. Den Riss in der Scheibe des Pförtnergebäudes neben dem Eingangstor eines Fabrikgeländes. Die schwarzen Punkte neben dem Torgriff.
Yussuf fotografierte den Ort aus allen Winkeln.
Salinger hatte sich neben de Bodt gestellt. »Eigentlich ganz einfach. Loch in die Straße. Bombe rein. Loch zu. Niemandem fällt eine Straßenbaustelle auf. Nicht mal den Kollegen.«
»Wann haben die angefangen, die Route zu sichern?«, fragte de Bodt.
Yussuf tippte auf seinem Smartphone. »Drei Wochen vor dem Staatsbesuch haben sie begonnen, die Strecke zu checken. Die Kanäle haben sie drei Tage vorher geprüft und die Deckel verschweißt.«
»Unsere Täter haben es gewusst«, sagte de Bodt.
»Und mit der einfachsten Methode der Welt alle ausgetrickst.«
»Straßenbaustelle vier Wochen vorher … mindestens … nein, ich tippe …« Yussuf kratzte sich an der Stirn. »Wir können die Zeit eingrenzen. Wenn wir …«
»… wissen, wann die Strecke bestimmt wurde …«, sagte Salinger.
»… haben wir den frühesten Zeitpunkt.« Yussuf fummelte an seinem Spielzeug. »Es sind« – er runzelte die Stirn – »genau sechs Wochen vor der Tat. Da hat sich die Sicherungsgruppe auf die Strecke festgelegt.«
»Und dann haben sie mit den Sicherheitsprüfungen begonnen«, sagte Salinger.
»Woher kannten die Täter die Strecke?«, fragte de Bodt.
13.
Konstantin Merkow war ein kluger Mann. Er wusste, dass die Welt nicht geteilt war in Gute und Böse. Es gab alles auf allen Seiten. Die Welt war grau. Wer gut sein wollte ohne Vorbehalt, war bald einsam, lächerlich oder tot. Drei Zustände, denen Merkow nichts abgewinnen konnte. Aber das absolut Böse war nicht lächerlich. Es zog seine Blutspur durch die Geschichte. Es fand viele Gesichter. Manchmal erkannte man es nicht. Manchmal verbarg sich das Gute hinter der Maske des Bösen. Merkow kannte die Wechselfälle der Geschichte. Mord ist nicht gleich Mord. Krieg ist nicht gleich Krieg.
Merkow verstand alles, und doch verstand er nichts. Er las die Stellungnahme noch einmal, die er in seinem Postfach gefunden hatte. Die russischen Sicherheitskräfte hatten die Drahtzieher des Anschlags auf den Präsidenten und die Kanzlerin in Grosny gestellt. Da die tschetschenischen Banditen sich aber den Sicherheitskräften nicht ergeben wollten, sei es zu einem Kampf gekommen. Dabei seien alle Feinde getötet worden. Darunter seien auch Angehörige der lokalen Polizei gewesen. Das Innenministerium in Moskau erklärte, die Sicherheitsorgane in Tschetschenien würden einer strengen Kontrolle unterworfen. Russland sei ein Rechtsstaat, der Verbrecher nirgendwo dulde, schon gar nicht in staatlichen Einrichtungen. Es gebe aber weitere Täter, die Sicherheitsorgane würden auch sie bald in ihren Höhlen ausräuchern.
Merkow stellte sich ans Fenster. Auf der großen Straße vor der Botschaft staute sich der Verkehr. Auf dem Grünstreifen zwischen den Fahrbahnen tummelten sich Fußgänger. Er verfolgte ein Pärchen mit Hund. Eingehakt, lachend. Der Hund sprang umher, einen Ball im Maul. Die Frau nahm ihm den Ball ab und warf ihn weg. Der Hund raste hinterher. Ein Radfahrer bremste scharf vor dem Hund, hob die Faust und wollte zu schimpfen beginnen. Aber er lachte, schüttelte den Kopf, setzte sich wieder auf den Sattel und fuhr weiter. Er verabschiedete sich mit einem Wink vom Pärchen.
Merkow dachte an Rosa. Wie gern wäre er mit Rosa am Ufer der Moskwa spazieren gegangen. In diesem Augenblick. Nichts anderes. Aber Rosa musste warten. Er musste warten. Sie wusste, dass er den Präsidenten begleitete, und sie würde ihn nicht bedrängen. Er nahm ihr Bild aus seinem Portemonnaie. Haarkranz über einem Gesicht von klassischer Schönheit. Wie man es sonst nur auf alten Fotos sah. Er fand sie makellos. Sie war klug, hatte Architektur studiert und arbeitete in einem Büro für Stadtplanung. Sie hatte ihm Winkel gezeigt, in denen sich die Geschichte der Stadt nicht weniger eindrucksvoll zeigte als im Kreml, in Kirchen und Klöstern. Sie fand, dass die Russen ihre Stadt viel zu sehr mit den Augen der Touristen sahen. Dass sie beim Bemühen, ihren Besuchern die schönsten Seiten zu zeigen, die Stadt auch wie Besucher bestaunten. Moskau, das waren für Rosa die Gassen, die Ecken mit alten Steinhäusern, die schon Napoleon gesehen hatten. Das waren Keller und Kneipen, welche alles überdauert hatten, die Franzosen, die Zaren, die Bolschewisten und sogar den Modernisierungswahn unserer Tage.
Nachdenklich trat er an seinen Schreibtisch, nahm den Telefonhörer in die Hand und wählte eine Nummer in Grosny.
14.
Der Polizist beendete seinen Bericht. Der Blaumann hatte ihm einen Zettel gegeben. Eine Website, Benutzername, Passwort. Er war der einzige Polizist, der Kontakt mit einem Täter hatte. Aber wenn er etwas verriet, waren seine Töchter tot. Und seine geschiedene Frau. Er hatte versucht, sie zu erreichen, nachdem der Blaumann gegangen war. Aber niemand hob ab.
Die Einsatzbesprechung dauerte schon länger als zwei Stunden. Wobei, was hieß »Einsatz«? Sie würden zurückkehren an ihre Computer. Spuren auswerten, Profiler befragen, Zeugen suchen. Dazu hatten sie einen Aufruf in den Medien lanciert. Aber bislang hatten sich nur Bekloppte gemeldet.
Auf der Sitzung waren Experten aufgelaufen. Kriminalpsychologen des BKA, Terrorexperten aus dem Innenministerium, Russlandspezialisten des BND. Es war nicht seine erste Sitzung, aber keine war so groß gewesen. Und an keiner hatten Vertreter des Kanzleramts teilgenommen.
Die beiden Psychologen fielen sich immer wieder ins Wort. In Wahrheit sagten sie wortreich nichts. Sie schlossen eine Affekthandlung aus. Um zu dieser grandiosen Erkenntnis zu kommen, hätte man die Herren nicht gebraucht. Der BND schien sich in Russland gut auszukennen. Aber das konnte der Polizist nicht beurteilen. Vielleicht war der Typ auch nur ein geschickter Aufschneider. Geheimdienste waren ein Paradies für Hochstapler. Wenn sie es raffiniert anstellten, wer konnte schon ihre Berichte überprüfen? Der erste Hochstapler des BND war Gehlen gewesen, der Begründer und erste Präsident, der den Amerikanern vorgegaukelt hatte, alles über die Sowjetunion zu wissen. Dank seiner Spionage für den Führer. Da die Amerikaner nichts wussten, war schon wenig ziemlich viel gewesen. Der Polizist hatte gern die einschlägige Literatur über die Geheimdienste gelesen. Viele Polizisten liebten diese Bücher, sofern sie anderes als Bild lasen.
Aber so bedeutend, wie er sich die Nachrichtendienstler vorgestellt hatte, schienen sie nicht zu sein. Beamte, wie sie auch beim Zoll hätten arbeiten können. Mit jener abgeschliffenen Sprechweise, die niemandem eine Angriffsfläche bieten sollte.
Der Chef der BKA-Kriminaltechnik Arnold Mölders fabulierte über das Glück, dass die Kanzlerin und der Präsident überlebt hatten. Sie taten eine Weile traurig wegen der drei Kollegen von der Sicherungsgruppe. Und wegen des Assistenten.
Nach Meinung aller handelte es sich um Profis. Hauptkommissar Krüger staunte darüber, dass die Täter sich auf den Mobilfunk verlassen hatten. »Wenn ich eine SMS verschicke, kommt die manchmal verspätet an. Das weiß doch jeder.«
Mölders straffte seinen schmächtigen Körper, um sich in Positur zu bringen: »Wir wissen inzwischen, dass die Bombe nicht per Mobilfunk gezündet wurde, sondern per Lichtschranke. Wir haben Reste davon gefunden. Von der Detonation zwar schwer beschädigt, aber eindeutig zuzuordnen. Das Gerät stammt von der Firma Vellemann. Es ist offenbar per Funk scharfgemacht worden.«
»Warum dann das Handy?«
»Wir nehmen an, dass die Täter die Bombe per Mobilfunk scharfgemacht haben, um sie dann per Lichtschranke auszulösen. Wir haben auch Reste eines Hochleistungsakkus gefunden, den sie mit dem Explosivkörper in der Straße vergraben haben. Was unsere These stützt.«
»Also zu spät auf den Knopf gedrückt«, sagte Krüger.
Mölders nickte. »Oder die wussten nicht, in welchem Wagen die Bundeskanzlerin und der Präsident saßen. Die Sicherungsgruppe hatte ja die höchste Alarmstufe gesetzt.«
Hoffmann nickte. »Wir gehen davon aus, dass die Lichtschranke ein Fahrzeug zu spät scharfgemacht wurde. Auch wenn wir der anderen Hypothese folgten, führte uns das nicht zu neuen Spuren.«
Beifälliges Nicken. Hoffmann war ein Pragmatiker.
Die Tür öffnete sich. Der Polizeipräsident betrat den Raum. In seiner Begleitung ein Mann. So ein Typ, der alle Augen auf sich zieht. Nicht weil er besonders groß war, besonders hässlich, besonders schön, sondern weil er eine Aura hatte. Jene unbestimmbare Ausstrahlung, die manchen Menschen eigen ist. Wenn das Innere nach außen scheint. Das fiel besonders auf neben dem Präsidenten, der in dieser Begleitung unscheinbar wirkte, obwohl er doppelt so groß und mindestens viermal so breit zu sein schien.
»Darf ich Ihnen Herrn Merkow vorstellen?«, sagte der Präsident.
Sein Begleiter nickte knapp.
»Herr Merkow ist leitender Mitarbeiter des FSO, des russischen Sicherheitsdienstes. Unsere Bundeskanzlerin hat einem Ersuchen des russischen Präsidenten stattgegeben, dass Herr Merkow in unsere Ermittlungen einbezogen wird.«
»Ich dachte, ihr habt die Täter schon. Ich sage nur Grosny«, sagte ein Oberkommissar von der Spusi.
Merkow verzog keine Miene. Der Präsident bot ihm einen Platz an. Merkow setzte sich.
»Werden Sie Ihre Erkenntnisse mit uns teilen?«, fragte Hoffmann höflich.
»Selbstverständlich«, erklärte Merkow in einem unmissverständlichen Tonfall. Der besagte: Wir werden euch ein paar Brocken hinwerfen.
15.
»Die haben recht«, sagte Salinger versonnen.
»Warum die Täter den Präsidenten nicht erwischt haben …«
»Oder die Kanzlerin«, ergänzte Salinger.
Yussuf hielt dagegen. Er hatte es sich angewöhnt, am Tisch seines Chefs zu sitzen. Kratzte sich an der Backe und erklärte: »Der Präsident hat mindestens zwei Millionen Feinde. Und wenn du mich fragst, hat er sich jeden mit ehrlicher Arbeit verdient.«
»Beim nächsten Mal solltest du aber im richtigen Augenblick auf den Knopf drücken.«
»Okay, ich habe versagt«, sagte Yussuf. Er war froh, wenn Salinger mal den Kopf aus ihrem Schwermutsmorast streckte.
De Bodt trat ein. Er kam oft zu spät. Jedenfalls sein Körper, weil der Kopf zu arbeiten begann, sobald er aufwachte. Er gehörte nicht zu den Bekloppten, die Akten mit nach Hause nahmen. Er nahm Fragen mit. Und oft kam er mit Antworten zurück.
Er grüßte knapp und rückte sich einen Stuhl neben das Fenster. In der Nacht hatte er überlegt, ob es so klug gewesen war, diesen verrückten Ermittlungsauftrag zu übernehmen. Obwohl er ihn sich maßgeschneidert hatte. Sie wollten ihm einen Strick drehen. Das war klar. Fragte sich aber, wer am Ende wem einen Strick drehte. Seine Mitarbeiter blickten ihn an, aber de Bodt reagierte nicht. Dann fragte er: »Haben die schon Zeugen vernommen?«
»Klar«, sagte Yussuf. »Die haben eine halbe Hundertschaft ausschwärmen lassen und jede Stubenfliege ausgequetscht.«
De Bodt und seine Leute hatten das Ergebnis ihrer Befragungen nicht ins Ermittlungsprotokoll eingetragen. »Die Zeugen brauchen wir noch. Wenn jetzt das BKA anrückt, sagen die nichts mehr.« Salinger und Yussuf hatten gegrinst. So kannten sie ihren Chef. Vorschriften bastelte er sich selbst.
Als Erstes hatten sie einen Mann mittleren Alters entdeckt. Der fuhr mit einem Gabelstapler Europaletten über den Hof mit rissigem Betonboden, Kopfhörer auf den Ohren. Ein Handschuh schlug den Takt auf dem Lenkrad. Yussuf hatte sich in den Weg gestellt. Fast wäre er umgefahren worden, weil der Fahrer einer Frau nachglotzte, die gerade aus dem Bürogebäude kam, einen Aktenordner unterm Arm.
Der Fahrer hatte eine Vollbremsung hingelegt, den Kopfhörer runtergerissen und war auf Yussuf losgestürmt. Er stellte sich einen halben Millimeter vor ihm auf und schrie mit ampelrotem Kopf los. Yussuf grinste, schubste ihn zurück und hielt ihm seinen Dienstausweis vor die Augen. Dann nahm der Fahrer de Bodt und Salinger wahr. Schmiss die Arbeitshandschuhe auf den Boden, wischte sich die Hände am T-Shirt ab und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr könnt mir mal.
»Wir kommen wegen des Anschlags«, sagte Yussuf. Sein Daumen zeigte über die Schulter nach hinten.
Der Mann nickte.
»Die Papiere«, sagte Salinger.