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Atemberaubende Spannung im Berlin der 30er Jahre – wie kann ein Polizist für Gerechtigkeit sorgen, wenn das Unrecht die Macht ergreift?
Berlin, November 1932: Die Zahl der Arbeitslosen ist auf Rekordniveau. Die Stadt fürchtet den Bürgerkrieg. Eines Abends stürmen SA-Männer eine Kneipe im Wedding und erschießen Kurt Esser, Redakteur des KPD-Blatts »Rote Fahne«. Dem jungen Kriminalpolizisten Karl Raben gelingt es, den Anführer der Mörder, Gustav Fehrkamp, zu stellen. Doch kaum ist Hitler an der Macht, kommt Fehrkamp auf freien Fuß. Raben hat fortan nur noch einen Gedanken: Gerechtigkeit. Für sein Vorhaben geht er einen Pakt mit dem Teufel ein und arbeitet für die Geheime Staatspolizei. Damit ist sein Leben in der Hand von Gestapo-Chef Reinhard Heydrich. Genauso wie das seiner Frau Lena, die jüdischer Herkunft ist.
»Tanz mit dem Tod« ist der erste Band einer neuen historischen Krimireihe in Berlin. In den folgenden Bänden jagt Karl Raben Essers Mörder in den Zeiten des Aufstiegs und des Untergangs des Nationalsozialismus und löst den letzten Fall in der gerade gegründeten Bundesrepublik.
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Seitenzahl: 646
Atemberaubende Spannung im Berlin der 30er Jahre. Wie kann ein Polizist für Gerechtigkeit sorgen, wenn das Unrecht die Macht ergreift?
Berlin, Wedding, November 1932: Sieben SA-Männer erschießen in einer Kneipe einen Redakteur des KPD-Blatts »Rote Fahne«. Dem jungen Kriminalpolizisten Karl Raben gelingt es, den Anführer zu stellen. Doch kaum ist Hitler 1933 an der Macht, kommt der Mörder auf freien Fuß. Raben hat fortan nur noch einen Gedanken: Gerechtigkeit. Für sein Vorhaben geht er einen Pakt mit dem Teufel ein und arbeitet für die gerade gegründete Geheime Staatspolizei (Gestapo). Damit ist sein Leben in der Hand von SS-Standartenführer Reinhard Heydrich. Noch mehr aber das Schicksal seiner Frau Lena, die jüdischer Herkunft ist.
»Tanz mit dem Tod« ist der fulminante Auftakt einer Krimireihe im Berlin der sterbenden Weimarer Republik und des Aufstiegs des Nationalsozialismus.
Christian v. Ditfurth, geboren 1953, ist Historiker und lebt als freier Autor in Berlin und in der Bretagne. Neben Sachbüchern und Thrillern wie »Der 21. Juli« und »Das Moskau-Spiel« hat er die Krimiserie um den Historiker Josef Maria Stachelmann und die Eugen-de-Bodt-Serie veröffentlicht. »Tanz mit dem Tod« ist der Auftakt einer historischen Krimiserie um den Polizeikommissar Karl Raben, die im Berlin der 1930er Jahre beginnt.
Christian v. Ditfurth in der Presse:
»Christian v. Ditfurth liefert Action mit Anspruch. Die beste Art, einen klugen Politthriller zu schreiben.« Westdeutsche Allgemeine Zeitung
»Christian von Ditfurths Bücher sind ausgesprochen gut recherchiert, unterhaltsam geschrieben, und – bei Krimis nicht unwichtig – sie sind spannend.« NDR Info
»Christian v. Ditfurth zeigt, dass deutsche Autoren bestens gegen internationale Konkurrenz bestehen können.« Focus
»Ditfurth spinnt viele Handlungsfäden, denen der Leser mit Begeisterung und neuen Erkenntnissen folgt. Eine Krimi-Reihe mit Suchtfaktor.« Ruhr Nachrichten (über die De-Bodt-Reihe)
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Christian v. Ditfurth
TANZ MIT DEM TOD
Der erste Fall für Karl Raben
Kriminalroman
Weitere Informationen über dieses Buch: www.cditfurth.deDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Copyright © 2022 C. Bertelsmann in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Redaktion: Claudia Alt
Covergestaltung: www.buerosued.de
Coverabbildungen: Alamy/Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-27851-9V005
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Für Chantal
Reiche ohne Gerechtigkeit, was sind sie anderes als große Räuberhaufen?
Augustinus
I. Kampf
»’N Abend, Kurt.« Der Wirt winkte vom Tresen. »Schöne Scheiße, was?«
»Schöne Scheiße, Franz.« Kurt Esser schlug die Schiebermütze gegen den Türrahmen. Wasser spritzte. Er löste die Knöpfe seines Mantels. Zog die Rote Fahne aus dem Gürtel und den Mantel aus. Hängte ihn über einen Stuhl. Er tropfte auf den Holzboden. Gleich umgab ihn der Gestank aus Zigarettenqualm und Bier, das sich an seinen Geschmackshöhepunkt nicht mehr erinnern konnte. Das Licht war schummrig wie in einer Spelunke am Schlesischen Bahnhof. Überm Tresen pries eine Schiefertafel schon seit mindestens einem Jahrhundert Soleier oder Teller mit Bock-, Blut- oder Bratwurst an. Weinbrandverschnitt kostete 25 Pfennig, richtiger Weinbrand das Doppelte, der Cognac wartete im Adlon.
An der Wand saßen Männer um einen Tisch und teilten sich ein Bierglas. Esser nickte ihnen zu.
»Haben die dich nass gemacht, Kurt?«, fragte der Mann am Kopfende.
Esser lachte. »Nur der Regen.«
Der Wirt kam und stellte eine Molle auf den Tisch in der Ecke, von der aus man den Raum im Blick hatte, vor allem die Tür. Franz Puth entfernte das Schild Reserviert. »Hunger?«
»’ne Käsestulle tät’s«, sagte Kurt.
»Bring ich dir. Die Braunen haben so richtig auf die Fresse gekriegt«, sagte Franz. »Den Führer kannst du in der Pfeife rauchen. Seit dem Sechsten könnte ich mich nur noch besaufen. Aber wenn ich das täte, könnte ich mich nicht mehr freuen … So richtig auf die Fresse gekriegt. Aber dafür habt ihr den BVG-Streik vermasselt. Mannomann.«
Die Rote Fahne titelte:
SPD für Maßregelung von 2500 Verkehrsarbeitern
Darunter:
Verraten, aber nicht geschlagen
„Das, ja, das haben die Nazis versaut. Alles Streikbrecher. Wollen sich bei den Proleten einschmeicheln. Scheißkerle«, sagte Kurt.
»Schnauze«, zischte der Lange. »Wir ziehen das jetzt durch. Jammern kannste bei Mutti.« Sie waren sieben, drückten sich an eine Hauswand. Einer hinter dem anderen. Der Regen hatte sie durchnässt. »Wenn wir weiter herumlungern, löse ich mich auf, und die Brühe schwemmt mich den Rinnstein runter, oder jemand ruft die Bullen. Los, Kameraden. Befehl ist Befehl.« Der Lange fror, griff in die Tasche, spürte den Pistolengriff. Luger 08, aus dem Krieg. In Deutschland mangelte es an vielem, außer für die Reichen. Aber nicht an Waffen. Sie hatten der Kommune Schlachten geliefert, und sie hatten geschossen. Sie hatten Verräter ausgeschaltet. Es war Blut geflossen. Viel Blut. Ein Bürgerkrieg wurde ausgefochten, meist verborgen unter dem Schein der Gaslampen und Neonröhren. Die Republik ging zugrunde, aber was kratzte es den Millionär, was den Arbeitslosen, was den Dieb, was den Räuber?
Der Lange blickte sich um. Sein Magen rumorte, im Darm kniff es. Er hatte am Abend kaum was runtergekriegt. Sie näherten sich dem Schild. Gegen das Laternenlicht sahen sie die Regenschnüre, die aufs Pflaster platterten. Das Schild Goldener Anker war kaum zu entziffern. Es hing an einer Stange und quietschte, wenn die Böen es hin und her rissen.
Der Lange wollte es nicht einmal sich selbst eingestehen, doch er hatte ein schlechtes Gefühl bei dieser Sache. Aber sie mussten sich wehren. Bei der letzten Reichstagswahl am 6. November 1932 hatten sie verloren. Und die Kommune hatte gewonnen. Stärkste Partei in Berlin. Seine Partei, die NSDAP, war pleite. Der Führer zögerte und zögerte. Also, jetzt erst recht. Jetzt die harte Tour. Endlich. Im schlimmsten Fall musste der Führer sie raushauen. Hitler stand hinter seinen Leuten. Am liebsten, wenn sie Kommunisten und Juden in die Hölle schickten.
Der Lange blickte sich immer wieder um. Aber die Straße war leer. Bei diesem Sauwetter traute sich keiner vor die Tür. Es sei denn, er hatte einen Mordauftrag. Eine NSU-Autodroschke der Kraftag schlingerte vorbei. Nicht der einzige besoffene Taxifahrer unterwegs. Das Knattern verlor sich. Es blieb das Prasseln des Regens.
Sie beeilten sich. Der Lange hielt an, hob die Hand. »Alle bereit?«
Er hörte ein zitterndes Ja und ein Husten hinter sich.
Er zog die Luger aus der Tasche. Die anderen griffen ebenfalls nach ihren Waffen. Der Lange öffnete die Tür. Er schob den Filzvorhang zur Seite. Eine Wärmewolke schlug ihm entgegen, der Gestank einer alten Bierkneipe. Der Wirt in seiner Lederschürze lehnte auf dem Tresen und öffnete den Mund. Aber er brachte kein Wort raus. Schnappte wie ein Fisch.
Kurt Esser hörte die Tür, die Schritte und wusste gleich, was ihn erwartete. Er zog seinen Revolver, den er im Krieg einem toten Kanadier abgenommen hatte. Als er den Hahn spannte, trafen ihn schon die Kugeln. Die Männer standen vor dem Tisch und leerten die Trommeln und Magazine. Dann ein Pfiff, und sie verschwanden. Es hatte nur ein paar Sekunden gedauert. Franz hatte alles gesehen. Starr vor Angst. Als die Mörder geflohen waren, eilte er zum Tisch, auf dem die Rote Fahne lag. Kurt war vom Stuhl gefallen. Franz spürte, wie sein Magen sich verkrampfte. Er schaffte es nicht bis zur Tür und übergab sich. Er holte ein Geschirrtuch hinterm Tresen und wischte sich den Mund ab. Er ging zurück zum Tisch. Kurt hatte kein Gesicht mehr. Nur noch einen blutigen Klumpen. Blut und Hirnmasse bedeckten die Holzdielen. Grau und Rot.
Die Männer am Tisch glotzten ihn an. »Ruf die Polente«, rief ein Dicker im Blaumann.
»Die Revierbullen haben sich gemeldet. Goldener Anker, kennen Sie die Kneipe? Da liegt ’ne Leiche. Offenbar ein Kommunist.«
Raben sagte: »Nee, kenn ich nicht. Wedding?«
»Richtig geraten. Wedding«, sagte Lichtigkeit. »Wo kann man blind schießen und trifft immer einen Kommunisten? Im Wedding. Wo der Rotfrontkämpferbund der Kommune die Proletarier vor dem SA-Terror schützen soll. Hat ja gut geklappt diesmal. In Wahrheit sind das Bürgerkriegsarmeen, die SA wie der RFB. So weit ist es gekommen, dass Parteien sich Privatarmeen halten.« Der Kommissar lachte bitter.
»Die haben aber nicht blind geschossen«, sagte Lotte Steinkopf, Lichtigkeits Sekretärin.
Aber der hörte nicht zu. »Spurensicherung benachrichtigt?«
Die Steinkopf hob die Hände. Was vielleicht sagte: Ich bin länger im Polizeipräsidium am Alexanderplatz als du. »Selbstverständlich, Herr Kommissar. Wir können los.«
»Sie kommen mit, Raben«, sagte der Kommissar. »Mal ein echter Fall. Können Sie was lernen. Vielleicht wird aus Ihnen noch ein richtiger Kriminaler.« Dieses Lachen, das keines war. »Kriegen wir das neue Mordauto?«, fragte Lichtigkeit.
»Nein, das alte«, sagte die Steinkopf. »Im neuen kutschiert unser Chef durch die Landschaft.«
»So eine Scheiße«, sagte Lichtigkeit.
Raben schluckte, als er die Leiche sah. Der Kopf zerschossen. Der Oberkörper Fleisch und Blut. Lichtigkeit hatte sich schon über die Leiche gebeugt und kaum eine Reaktion gezeigt. »Mein Gott«, murmelte er. Als er den Gerichtsarzt sah: »Ein bisschen spät, Doktor Schoene.«
Der warf ihm einen Blick zu, als käme er von einer Hetzjagd, bei der er das Wild gewesen war, im letzten Augenblick entkommen.
»Befragen Sie die Zeugen«, sagte Lichtigkeit. »Wo bleiben die anderen, verflucht?«
Raben stellte sich an den Tresen. »Kriminalassistent Raben.«
Der Wirt schob ihm ein Bierglas zu. Raben trank einen Schluck.
»Das hilft«, sagte der Wirt. »Ich weiß nicht, wie viele Leichen ich gesehen habe. Aber das hier ist was anderes.« Er blickte zum Tisch, auf dem die Zeitung lag. Die Kollegen von der Spurensicherung erschienen. Drei. Dazu die Steinkopf. Sie blickte sich um und verließ das Lokal. Sie würde die Schreibmaschine auf den Klapptisch im Mordauto stellen, Papier, Kohle- und dünne Kopierblätter einspannen.
»Sie waren im Krieg?«, fragte der Wirt, um sich selbst zu antworten: »Nee, zu jung … grün hinter den Ohren.«
»Krieg nein, grün nein«, sagte Raben und lächelte.
»Es waren sieben«, sagte der Wirt. »Kamen rein, haben gleich geschossen. Sie kannten ihn. Nazis …«
»Sie sind?«
»Franz Puth, mir gehört die Kneipe, seit 1919, der Kaiser konnte mich nicht mehr besuchen.«
»Sie haben alles gesehen?« Mehr eine Feststellung.
»Ja.«
»Das Opfer heißt?«
»Kurt Esser. Arbeitet im Karl-Liebknecht-Haus.«
Raben nickte. »Offenbar haben sich ein paar Nazis verabredet, Esser zu ermorden.« Er blickte Puth an. Der nickte.
»Keine voreiligen Schlussfolgerungen.« Lichtigkeit stand hinter Raben.
»Klar, Herr Kommissar, nur …«
»Wir machen unsere Arbeit wissenschaftlich-gründlich. Ich dachte, Sie hätten das als Anwärter gelernt.«
»Natürlich«, sagte Raben. »Aber ich dachte …«
»Denken überlassen Sie besser den Pferden, die haben einen größeren Kopf.«
»Den kenn ich schon«, sagte Puth.
»Ist doch nur gut, wenn sich die Wahrheit herumspricht«, erwiderte Lichtigkeit. An Raben: »Kümmern Sie sich mal um die Herren.« Blickte zum Tisch. Lichtigkeit lehnte sich an den Tresen.
Raben zögerte, dann setzte er sich ans freie Ende des Tischs. Die Männer blickten ihn an. Das Bier war schal geworden. Trotzdem nippte der kräftige Typ, der am anderen Ende saß.
Raben sah den Männern den Schrecken an. Nach und nach sickerte ihnen ins Hirn, dass es auch sie hätte erwischen können.
»Sie hatten es auf Kurt abgesehen«, sagte der Mann am Kopfende des Tischs. Schweiß glänzte auf der Stirn.
»Sie heißen?« Raben legte seinen Block auf den Tisch. Er hätte nach den Ausweisen fragen sollen. Aber das wäre ihm seltsam vorgekommen. Eine Horde von Mördern bricht in den Saal, erschießt einen, und der Herr Kriminalassistent fragt nach den Papieren.
Die Tür öffnete sich. Weitere Kollegen der Aktiven Mordkommission.
»Sie haben was am Tatort verändert?«, rief Wendig.
»Nichts«, sagte Puth. Zorn in der Stimme. »Natürlich nichts. Aber ihr werdet die Schweine doch wieder laufen lassen. War bestimmt Notwehr.«
»Halten Sie den Mund!«, sagte Wendig. Er war Kriminalassistent und Lichtigkeits Wadenbeißer. Das erhellte seine Beförderungsaussichten allerdings nicht, alle Kommissarstellen waren besetzt, und Preußen war pleite. Aber wenn doch mal einer Kriminalkommissar werden sollte, dann Wendig.
Lichtigkeit beugte den Kopf und flüsterte seinem Assistenten was zu. Raben glaubte, das Wort »Kommune« und »einer weniger« zu hören. Aber vielleicht war es ein Fehlschluss.
»Bernhard Müller, und Kurt war unser Freund …«, sagte der Mann am Kopfende. Er trug einen Blaumann, der im Gegensatz zu Puths Kneipe des Kaisers hätte angesichtig werden können. Raben sah einen Blaumann vor Wilhelm buckeln. Aber der Kaiser hatte keine Arbeiter gekannt, nur eine Arbeiterfrage, die ihm den Schlaf raubte.
»… und Genosse«, sagte der Mann an der Längsseite links neben Müller. Ihm fehlte ein Ohr.
Raben schlug ein neues Blatt auf und schob den Block Müller zu. »Ich brauche Namen, Anschrift und Arbeitgeber. Von allen.«
Der Mann rechts neben Raben lachte laut auf. »Arbeitgeber! Du glaubst, wir säßen einen ganzen Abend zu fünft vor einem Glas Bier, wenn wir ’nen Ausbeuter hätten?« Er schüttelte den Kopf. »Du kannst gut reden als Bulle.«
»Wir sollen Namen und Adresse der Polente geben?«, fragte Müller. »Damit wir in eurer Kartei landen? Für wie blöd hältst du uns?«
»Sie sind Zeugen eines Mords. Wenn Sie wollen, dass wir die Täter fassen … Außerdem könnte ich Sie nach Ihren Ausweisen fragen.«
Müller grinste. »Das wär ja mal was Neues.« Seine Handflächen trommelten auf dem Tisch. »Gut, gut, Sie sind noch nicht lang dabei, wie ich sehe.«
»Stimmt«, sagte Raben. »Aber Sie müssen mir erzählen, was Sie gesehen haben. Und für Nachfragen brauch ich Ihre Adressen. Wenn ich keine Adressen von Ihnen kriege, dann schickt mein Chef Sie aufs Präsidium. Die Zellen …«
»Ich hatte mir schon so lang einen Bullenbesuch gewünscht. Seit dem Blutmai habt ihr mich vernachlässigt …«, sagte Müller. »Wir denken drüber nach.«
»Ich werde die Adressen nicht überprüfen«, sagte Raben. Blickte jeden an. Blickte zum Tisch, auf dem die Rote Fahne lag. »Ich muss …«
»Schon klar, Kleiner«, sagte der Mann, der links neben Raben saß und ihm bestenfalls bis ans Kinn reichte.
Müller ließ den Block rumgehen. Jeder schrieb etwas hinein. Richtige Namen, falsche Adressen, vielleicht auch falsche Namen und falsche Adressen. Wenn die nicht stimmten, riss ihm Lichtigkeit den Kopf ab.
Als der Block wieder vor Raben lag, blickte der den Kneipengast rechts neben Müller an. »Sie heißen Wilhelm Sondermann.«
»Hab ich doch aufgeschrieben.« Schlesischer Dialekt, berlinisch aufgebohrt.
»Dann erzählen Sie mal.« Den Satz hatte Raben dem Kriminalpolizeirat Gennat abgelauscht, dessen Vernehmungen sich anhörten wie Kaffeetratsch mit Oma.
»Na, die sind rein und haben losgeballert«, sagte Sondermann.
»Haben Sie jemanden erkannt?«
Sondermann wiegte den Kopf.
»Ich habe einen erkannt«, sagte der Mann neben Sondermann.
Raben blickte auf seinen Block. »Horst Brück?«
»So ähnlich.« Er hatte eine Glatze und mächtige Koteletten, graue Streifen blinzelten.
»Gut, Herr Brück. Noch mal: Wenn ich mein Chef wäre, ich würde Sie alle zur Personenfeststellung zum Alex bringen lassen. Ich bin aber nicht mein Chef. Strapazieren Sie’s nicht …«
»Strapazieren? Was …?«
»Halt’s Maul und beantworte die Fragen des Herrn Kommissars«, sagte Müller.
»Beides?« Brück grinste.
»Beides«, sagte Müller.
Brück nickte, drehte sein Gesäß auf dem Stuhl und beugte sich vor zu Raben. »Der Lange war Fehrkamp, die Drecksau. Ist in der SA. Ich hatte den mal in der Mache. Hätte fester zudrücken sollen. Ist was Besseres bei den Braunen. Sturmführer oder wie das bei denen heißt.«
»Wissen Sie Näheres?«
»Frag den.« Brück blickte zum anderen Sitznachbarn Müllers. Ein gedrungener Mann mit mürrischem Gesichtsausdruck.
»Sie heißen Ferdinand Friese«, sagte Raben. Blickte ihn an. Der hieß eher anders.
Friese nickte. »Fehrkamp, Gustav. Verräter. War früher im RFB. Wohnt im selben Hof wie ich. Ich hab mich umgedreht, als die reinkamen, und ihn gleich erkannt.«
»Stimmt … Ferdinand hat recht. Ich war dabei. War auf dem Ku’damm … die Nazis hatten Genossen und sonst jeden angefallen, der kein Nazi … der nicht so aussah«, sagte Brück.
»Haben Sie sich auch umgedreht, Herr Prietzler?« Raben blickte auf seinen Block und nickte, um sich zu bestätigen, dass der Name darinstand.
Prietzler schüttelte seinen hageren Schädel. »Ich habe mich gleich weggeduckt, als die Ballerei begann.« Heiser, zittrig. Er steckte sich eine Selbstgedrehte an. Sog kräftig, das Zigarettenende glühte auf. »Aber den Fehrkamp kenn ich. Wenn man solche Leute … wäre die Welt schon ein bisschen besser … aber …« Den letzten Teil murmelte er.
»Also«, sagte Raben. »Die Herren Müller, Sondermann, Brück und Friese haben Gustav Fehrkamp als Täter identifiziert. Als Anführer …«
Müller nickte.
»Nur Herr Prietzler hat nichts gesehen …«
»Nur gehört«, sagte der. »Gehört. Und wie.«
»Sie kannten das Opfer ebenfalls«, sagte Raben.
»Ja, klar. Kurt, ein guter Mann. Ein Freund, so was wie …«, sagte Müller.
»Er arbeitete im Karl-Liebknecht-Haus, war also KP-Funktionär.« Raben ließ seinen Blick über die Männer schweifen. Sah die abgetragene Kleidung, den Stolz, die Spuren der Verzweiflung in Gesichtern, in die sich der Krieg und die Not eingezeichnet hatten. Menschen, ausgespuckt aus dem Arbeitsleben. Eine Zeit lang Stütze, dann Hunger. Und schließlich gar nichts mehr. Wohlfahrtsamt, Suppenküche. Deutschland im Winter 1932. Wie viele von ihnen hatten schon überlegt, sich aus dem Fenster ihres Mietblocks zu stürzen? Wie viele froren, weil sie nicht mal mehr Münzen für die Gasautomaten hatten? Wie viele bevölkerten die Kneipen, nur um sich aufzuwärmen?
Müller nickte.
»Was war Essers Aufgabe?«
»Fragen Sie die Genossen dort«, sagte Müller. »Die können es Ihnen erklären.«
»Der Wagen ist da.« Die Steinkopf betrat die Kneipe. Blickte sich um. Sah nichts, das sie erschreckte.
»Kommen Sie mit, die Kollegen hier brauchen uns nicht mehr.« Inzwischen war die Aktive Mordkommission komplett. Lichtigkeit winkte Wendig zu sich. »Sie übernehmen die Sauerei hier.«
»Klar, Chef.«
»Raben! Haben Sie die Mörder schon gefunden?«
»Einen.«
»Glückwunsch! Ein blindes Huhn …«
»Den kenn ich auch schon«, sagte Puth.
»Dann kommen Sie mal mit, Sie Genie«, sagte Lichtigkeit. »Wir fahren zum Bolschewistenbunker.«
»Um die Zeit?« Rabens Armbanduhr zeigte fast halb zehn.
»Für die Revolution braucht’s Tag und Nacht«, sagte Lichtigkeit. »Irgendwen werden wir da schon finden.«
»Und die Fahndung nach dem Verdächtigen?«, fragte Raben.
»Welchem Verdächtigen?« Lichtigkeit blickte ihn erstaunt an.
»Gustav Fehrkamp, SA-Sturmführer. Die Zeugen haben ihn erkannt.«
Lichtigkeit blickte sie an. »Klar, diese Herren mögen die SA und ihren Führer nicht. Läuft da gerade was gegen diesen Fehrkamp?«
Müller fixierte den Kommissar. Blickte dann zu Raben. »Hab ich’s nicht gesagt?«
Lichtigkeit winkte Wendig herbei. »Holen Sie ein paar Schupos rein. Die Herren kommen aufs Präsidium. Sind wichtige Zeugen.« Klang wie: Denen glaube ich kein Wort.
Im Karl-Liebknecht-Haus brannte noch Licht. »Wie im Kreml«, sagte Lichtigkeit. »Wo der Führer der Völker noch tief in der Nacht für den Frieden und den Wohlstand des Sowjetvolks arbeitet. Wahrscheinlich arbeitet hier sein Geist … Sie kennen doch die Geschichte vom Heiligen Geist? Stalins Heiliger Geist heißt Ernst Thälmann, unter Genossen Teddy. Wie der Bär meiner Tochter. Nur ist der kleiner und hält keine Reden.«
Raben saß neben ihm im kleinen Opel, Lichtigkeit am Steuer. Sein Chef wollte ihn verarschen. Er hatte Lichtigkeit bisher als sachlich erlebt. Ein Kommissar wie aus dem Kriminalistenbilderbuch. Dass er hin und wieder über die Kommune und die Sozis lästerte, gehörte zum Umgangston in der Roten Burg. Aber dass sein Chef die Kommunisten hasste, das begriff Raben erst jetzt.
Lichtigkeit deutete auf die Hausfront. Ein paar Fenster waren beleuchtet. »Dort arbeitet Teddy fürs Arbeiterparadies.«
Sie stiegen aus. Lichtigkeit klingelte. Eine Klappe in der Tür öffnete sich. Lichtigkeit hielt die Hundemarke ans Guckloch. Die Klappe schloss, und die Tür öffnete sich. Der Mann hatte eine Halbglatze. »So spät noch«, sagte er. »Und nur zu zweit. Ihr seid ja mutig.« Mehr Verachtung konnte man kaum in eine Stimme legen. »Was hat die Kommune wieder verbrochen?«
»Sie heißen?«
»Georg Füllkrug.«
»Sie sind …«
»Der Idiot, der dafür sorgt, dass Leute wie Sie hier nicht einfach reinspazieren.«
»Portier im Hauptquartier der Revolution«, ätzte Lichtigkeit.
»Besser hätte ich es nicht sagen können.«
»Sie kennen Kurt Esser?«
»Ist … ja.« Bedächtig. Er deutete auf ein verschlissenes Sofa. »Warten Sie dort.«
Die Kripobeamten setzten sich. Lichtigkeit blickte sich um. Deutete auf ein riesiges Bild. »Senken Sie Ihre Stimme. Er ist es.«
Stalin blickte Raben an.
Füllkrug telefonierte. Hielt die Hand vor den Mund. Flüsterte.
»Gleich kommt ein Oberchef. Thälmann wird’s kaum sein. Der ist zu Hause bei Mutti oder hält irgendwo wilde Reden«, sagte der Kommissar.
Füllkrug legte auf. »Gleich«, sagte er und setzte sich hinter seinen Tisch. »Gleich.«
Schritte. Dann erschienen auf der Treppe Füße, Beine, schließlich die schlanke Figur eines Mannes. Anzug, lockere Krawatte. Er stellte sich neben Füllkrugs Tisch, blickte die Polizisten an. »Sie wünschen?«
Lichtigkeit erhob sich, dann auch Raben.
»Wo können wir uns in Ruhe unterhalten?«, fragte Lichtigkeit.
Der Mann ging zu einer Seitentür, öffnete sie, winkte die Polizisten herein. Ein Sitzungsraum. An der Wand Wahlplakate. Thälmann, Stalin, Karl Liebknecht. In Regalen Broschüren, Bücher. Auf dem Boden ein Plakatstapel. Wer Hitler wählt, wählt den Krieg!
»Nehmen Sie Platz«, sagte der Mann.
Als sie saßen, sagte Lichtigkeit: »Sie haben bestimmt einen Namen.«
»Sie bestimmt auch«, sagte der Mann.
»Kriminalkommissar Lichtigkeit, mein Assistent Raben.«
»Ernst Torgler.«
»Sie sind Vorsitzender der kommunistischen Reichstagsfraktion«, sagte Lichtigkeit.
»Ich bewundere Ihre politische Bildung.« Ruhe lag in der Stimme. Fast Überheblichkeit. »Sie stehlen mir wertvolle Zeit.«
»Sie kennen Kurt Esser?«
Torgler musterte Lichtigkeit. »Natürlich.«
»Er hat hier gearbeitet?«
»Ja. Er ist offenbar verhaftet oder tot«, sagte Torgler.
»Tot«, erwiderte Lichtigkeit.
»Nazis haben ihn im Goldenen Anker erschossen. Kennen Sie einen Gustav Fehrkamp?«, fragte Raben.
»Sie halten den Mund«, sagte Lichtigkeit.
»Ich kenne die Kneipe. Von Fehrkamp habe ich gehört. Ein SA-Schläger. Der hatte Kurt auf dem Kieker.«
»Was heißt das?«, fragte Lichtigkeit.
»Kurt hat ihm in der Fahne nachgewiesen, dass er eigene Leute umgebracht hat. Mindestens zwei. Die Nazis nennen das Fememord. Die Staatsanwälte und Richter dieser Republik auch. Wie ein Augenzwinkern.«
»Was hat Esser bei Ihnen getrieben?«
»Getrieben hat er nichts. Er hat gearbeitet. Hab ich das nicht schon gesagt? Er war Redakteur der Roten Fahne.«
»Hatte er ein Spezialgebiet?«, fragte Raben.
»Nazis und sonstige Gangsterbanden. Polizei und Justiz eingeschlossen. Es gibt auch Polizisten, die ein Motiv haben. Das werden Sie bestimmt nicht übersehen. Sie ermitteln ja in allen Richtungen.«
Wenn Sarkasmus triefte, würden wir im Schleimbad ersaufen, dachte Raben.
»Wir brauchen Essers Privatanschrift.«
Torgler blickte auf seine Armbanduhr. »Die gibt Ihnen der Genosse an der Pforte.« Er erhob sich. »Fehrkamp also?«, fragte Torgler.
»Und sechs andere. Sie haben ihn erschossen«, sagte Raben.
Im Hinterhof hallten Stimmen. Katzen jaulten und fauchten. In einer Wohnung bellte ein Hund. Ein Mitesser, dachte Raben.
Im dritten Stock, gleich über dem Holzverschlag, auf dessen Tür vornehm Toilette stand. Raben klingelte bei Esser. Und hatte das Gefühl, dass sie beim Falschen klingelten. Fehrkamp hätte auf dem Klingelschild stehen müssen.
Es war 23 Uhr 45, aber Raben war hellwach.
Er klingelte wieder, länger.
Schritte, dann Babygeschrei. Eine Frau öffnete. Verschlafen. »Hast du den Schlüssel …« Ärger in der Stimme. Blickte die Männer an. »Wer sind Sie?«
Lichtigkeits Dienstmarke beantwortete die Frage.
»Was wollen Sie?«
»Wir haben eine traurige Nachricht. Ihr Mann wurde … ermordet.«
Sie starrte ihn an, den Kopf ins Genick gelegt. »Ermordet …? Wer …? Wo?«
»Im Goldenen Anker«, sagte Lichtigkeit. »Kennen Sie den?«
»Ja, ja … aber warum?«
»Nazis«, sagte Raben.
»Wir sind noch in den Ermittlungen. Verzeihen Sie meinem jungen Kollegen. Er ist Anfänger.«
Die Frau starrte Raben an. Sie hatte Falten an Augen- und Mundwinkeln. War jung gewesen und auf einen Schlag gealtert. Ihr Kopf wiegte hin und her, als betete sie lautlos.
»Dürfen wir einen Augenblick reinkommen?«
Von der Etage über ihnen krähte eine Männerstimme. »Luise, brauchst du Hilfe? Soll ich die Partei anrufen?«
»Sie braucht keine Hilfe«, rief Lichtigkeit. »Halten Sie den Mund, wir sind die Polizei. Wenn Sie wollen, dass ich Ihnen ein paar Kollegen zu Besuch schicke …«
»Luise, ich kümmere mich.« Ein Mann trampelte im Eiltempo die Treppe hinunter, rempelte Lichtigkeit an und verschwand.
Luise Esser ließ sie eintreten. Kein Flur. Eine Wohnküche. Von der zwei Türen abgingen. Eine Speisekammer wie üblich. Und ein Schlafzimmer. Ein Kinderbett, das mal weiß gewesen sein mochte. Es roch feucht und scharf nach Schimmel.
Sie deutete auf die Couch. Raben setzte sich. Lichtigkeit schaute sich um, setzte Trauer auf und sagte: »Kurt Esser war Ihr Mann.«
Sie nickte. Die Hand vor dem Mund. »Die Nazis«, flüsterte sie. »Ich hab ihn gewarnt. Irgendwann bringen Sie dich um.«
»Wie gesagt, wir ermitteln noch.«
»Nazis«, sagte sie. »Nazis, wer sonst?«
»Vielleicht hat ihn jemand in der eigenen Partei für einen Verräter gehalten. Und der Genosse Mielke, der Held vom Bülowplatz, ist aus Moskau angereist, um ihn zu liquidieren.«
Raben blickte Lichtigkeit an. War der irre? »Nazis. Einer hieß wohl Fehrkamp. Kennen Sie den?«
Die Esser sah ihn an. Schüttelte den Kopf.
»Welche Arbeit hatte Ihr Mann bei der KP?«, fragte Lichtigkeit.
Raben spürte die Spannung im Magen. Lichtigkeit suchte Widersprüche. In diesem Fall zwischen dem, was Torgler gesagt hatte, und dem, was die Witwe sagen würde.
»Er war Redakteur.«
»Wofür? Sport? Theaterkritik? Küchenrezepte?«
Esser blickte Lichtigkeit kurz an. Sie hatte verstanden. Die Verachtung. Die Zumutung, sich um den Mord an einem Roten kümmern zu müssen. Die diese elende Republik ihrer Polizei abverlangte.
»Lassen Sie mich in Ruhe«, sagte sie. »Raus!«
»Oho!«, sagte Lichtigkeit. »Ja, wenn Sie der Tod Ihres Gatten nichts angeht, nun gut.«
Sie stiegen schweigend die Treppe hinunter.
Die Autotür in der Hand, blickte Lichtigkeit Raben an. »Das soll einer verstehen.«
Thälmanns Körper dampfte. Er hatte den Herd in der Küche eingeschürt. Saß in Unterhemd und Hose, die nackten Füße in Hauslatschen. »Gut, dass du angerufen hast.«
Torgler nickte. »Wann kommt er?«
»Sollte längst da sein.« Der KPD-Chef schämte sich seines Hamburger Dialekts nicht. »So ein Schiet.«
»Ob die uns auf die Spur gekommen sind?«, fragte Torgler mehr sich selbst.
Es klopfte leise an der Haustür. Thälmann erhob sich und öffnete. Sagte kein Wort. In der Küche erschien ein jung aussehender Mann.
Torgler erhob sich. »Gut, dass du gekommen bist, Hans. Guten Morgen.«
Thälmann schenkte Kaffee ein. »Ich hab noch Schmalz und Brot.«
»Hast du mit Wladimir gesprochen?«, fragte Torgler.
Thälmann stellte einen Brotkorb, Teller, Messer und Gabel auf den Tisch.
»Nein.« Kippenberger blickte auf seine Uhr: »Den treff ich planmäßig zum Mittagessen.«
»Sag, Genosse Kippenberger, sind die Nazis auf unserer Spur? Haben sie Kurt ermordet, weil sie wussten, was der plante?« Thälmann blickte ihn streng an.
»Glaub ich nicht. Weiß ich nicht«, sagte Kippenberger.
»Die können den ganzen Apparat aufmischen bei ihren Ermittlungen. Die Bullen waren nur kurz in der Zentrale, aber sie kommen wieder«, sagte Torgler. »Dann stehen wir blöd da, wenn wir nicht aufräumen. Und Moskau hält uns für das, was wir sind. Vollidioten.«
»Übertreib nicht. Überprüf alles. Krieg raus, was die Bullen wissen«, sagte Thälmann. »Am besten gestern.«
Kippenberger blickte in seine Kaffeetasse.
»Der wird kalt«, sagte Thälmann. »Ist echter. Aus der Botschaft. Geschenk vom Genossen Chintschuk. Kennst du diesen Fehrkamp?«
»Hab von ihm gehört. Nach unserer Kenntnis SA-Schläger, schlau und brutal. Ein Spitzenmörder fürs Dritte Reich.« Kippenberger trank. »Wenn er’s war, liquidieren.«
»Nicht ohne Rücksprache mit Wladimir und mir. Mir wär’s recht, die Bullen übernähmen das. Rübe ab, fertig.« Thälmann überlegte. »Aber wahrscheinlich kriegt der drei Tage auf Bewährung, weil er ein national gesinnter Mann mit EK zwo ist. Und die Richter klatschen Beifall.«
»Wie immer«, sagte Torgler. »Unsere Genossen buchten sie wegen jedem Mist jahrelang ein. Und das Pack lassen sie machen.«
»Ich hab’s mir überlegt«, sagte Thälmann. »Wenn Wladimir nichts dagegen hat, erledigen wir den sofort. Damit die kapieren, dass sie zu weit gegangen sind. Wenn wir jetzt hier und da herumklamüsern, glauben die noch, es steckte was Wichtigeres dahinter.«
»Wir reagieren, wie die es erwarten. Sonst denken die nach. Oder die Bullen.«
»Wer ersetzt Kurt?«, fragte Torgler.
»Kippenberger«, sagte Thälmann. »Frag Wladimir, ob er einverstanden ist. Du kennst den Plan so gut wie Kurt. Wer sonst sollte es tun?«
Kippenberger nickte. Er sah nicht aus, als hätte er in der Lotterie gewonnen.
Am nächsten Morgen rief der Portier in der Mordinspektion an. Kurz darauf stand ein Mann mit Lederweste in der Tür, in der Hand knetete er seine Kappe. Die Steinkopf schickte ihn zu Lichtigkeit. Aber der war nicht da. Angeblich was Dienstliches. »Sagen Sie dem Alten nichts«, hatte er Raben angewiesen.
Raben vermutete, dass sein Chef sich wieder die Hucke vollgesoffen hatte. Und dem Kriminalpolizeirat war diese Gewohnheit zweifellos auch bekannt. Aber er sagte nichts.
»Ich bin Stedtner, mit dt, Taxifahrer …«
»Nehmen Sie Platz. Einen Kaffee?«
»Gern.«
Raben bat die Steinkopf, zwei Kaffee zu besorgen. »Aber keinen durchsichtigen.«
»Pfff«, sagte die Steinkopf und marschierte los. Sie trat fester auf als sonst. Die Schritte entfernten sich. Es klang wie das Exerzieren des Infanterieregiments 9, der kaiserlichen Garde.
»Sie sind also Taxichauffeur und haben etwas beobachtet …«
»Ja, ja. Ich weiß nicht … vielleicht …«
»Beruhigen Sie sich. Die Polizei ist Ihnen dankbar. Nehmen Sie sich Zeit. Eines nach dem anderen. Wie kommen Sie darauf, dass Sie etwas gesehen haben, das uns interessiert?«
»Stand heute früh im 12-Uhr-Blatt. Der Mord im Goldenen Anker.« Er zog die Zeitung aus der Innentasche seiner Jacke. Tippte auf die Überschrift. Mord in Kiezkneipe.
Raben nickte. »Und da haben Sie was gesehen.«
»Ich fahr die Straße entlang … war glitschig … es hat gepisst … geregnet.« Der Mann lächelte unsicher. Quälte seine Kappe. Wischte sich die Hände an der Jacke ab. »Ich fahr da also lang, und da seh ich Männer. Einer hinterm andern … wie bei der Polonaise … heißt doch so. Und ich denk mir, was drücken die sich da an der Hauswand rum. Sellerstraße … bin durchgefahren … wir müssen bei der Prüfung zwanzigtausend Straßen kennen. Ist doch verrückt. Aber die Sellerstraße kenn ich … da hatte die Frau von meinem Bruder … nein, die Schwester der …«
Er blickte Raben aus Schweinsäuglein an.
»Was haben Sie gesehen … in der Sellerstraße?«
»Ja, eben die Männer.«
Die Steinkopf öffnete die Tür und stellte ein Tablett mit zwei Kaffeetassen auf den Tisch, Zucker und Milch. »Bitte schön, Herr Kriminalpolizeirat.«
Stedtner nahm Zucker und schüttete Milch bis zum Rand in die Tasse. Trank hastig. »Sehr gut.«
»Wie viele?«, fragte Raben.
»Weiß nicht … vier … nee, mehr … fünf bis sieben …« Er nickte. »Gibt’s eine Belohnung?«
»Bisher nicht. Aber Sie lassen Name und Adresse ja hier …«, sagte Raben. »Wann haben Sie die Männer gesehen?«
Stedtner stutzte. »Ach, so gegen acht …?«
»Dann können Sie gehen. Wenn Ihnen noch was einfällt …«
»Jut, Herr Kommissar.«
Als Stedtner verschwunden war, lehnte sich die Steinkopf in den Türrahmen. »Na, Fall gelöst?«
»Klar«, sagte Raben. »Warum hat der nicht gleich die Kollegen vom Revier …?«
»Weil er erst seit heute Morgen weiß, was passiert ist«, sagte die Steinkopf.
»Sie haben ja recht.« Raben blickte sie an, schüttelte den Kopf.
»Und wenn wir den Mörder fassen, kriegt er Beifall im Gerichtssaal. Richter und Staatsanwalt eingeschlossen. Die zeigen das nicht, aber denen kann man in de Birne kucken.« Wenn sie sich ärgerte, verfiel sie ins Berlinern.
»Na, Fall gelöst?« Als wollte er die Steinkopf nachäffen. Lichtigkeit marschierte ein, fehlten noch Stechschritt und Pickelhaube.
»Fast«, sagte die Steinkopf. »Der Taxifahrer wollte sich schon die Belohnung abholen.«
»Aber wir kennen doch den Namen. Fehrkamp«, sagte Raben.
»Den besuchen wir jetzt«, sagte Lichtigkeit.
Fehrkamp lag auf dem Sofa in der Wohnküche. Oder dem, was Schimmel und Sitzen, Liegen und Vögeln davon übrig gelassen hatten. Er war zufrieden. Goebbels hatte ihn in der Gauleitung zur Seite genommen und ihm auf die Schulter geklopft. »Ein Hetzer weniger, das ist schon was«, sagte er. »Aber lass dich nicht erwischen.«
Des Führers bester Mann hatte ihn geduzt. Das war wie ein Orden. Und eine Prämie hatte er auch versprochen. Nicht sofort, aber wenn die Sache vergessen war. Morgen floss das Blut woanders. Solange es nicht das eigene war, war es gut.
Otilie stand am Herd. Es roch nach Bohnensuppe. Es roch eigentlich immer nach Bohnensuppe. Mehr gab der SA-Lohn nicht her. Er riss sich den Arsch auf, damit seine Frau Bohnen kaufen konnte.
»Willste den ganzen Tag rumliegen?«, fragte sie.
»Mal sehen. Wenn du nicht zu viel Krach machst, könnte ich schlafen.«
Sie drehte sich um. Ihr Gesicht war früh gealtert. Als er sie kennengelernt hatte, strotzte sie vor Jugendlichkeit. Immer fröhlich, immer bereit loszulachen. Aber die Zeiten waren nicht danach. Fehrkamp lächelte sie an. Dachte an fast drei Jahre Arbeitslosigkeit, weil die Bosse Kommunisten als Erste rauswarfen. Und an seine Krämpfe, als Anna ihm sagte, er solle sich nicht so anstellen. Die Braunen seien doch auch Sozialisten, und ihr Führer sei der Einzige, der dieses von den Roten und Juden verrottete Land retten könnte. Bei der SA werde er versorgt, nicht knorke, aber immerhin. Allein hätte er es nicht geschafft. Aber sein Kumpel Werner hatte die Schnauze auch voll. Ihn nervten die Revolutionsgesänge der Führer, leerer als ihre Mägen. Und das Genie in Moskau hatte immer recht, auch wenn er die Parteilinie änderte, hatte die Partei nie geirrt. Was interessierte den Typen Deutschland? Der Reichstag hatte sich über die Zusammenarbeit der Reichswehr mit der Roten Armee gestritten. Die Reichswehr, die immer bereit war, Kommunisten abzuknallen. Außer die in Russland, hatte Werner gesagt. Unsere Führer sind Lügner, die in der Sowjetbotschaft Krimsekt saufen und Kaviar fressen.
»Ich hab Urlaub, Sonderurlaub«, sagte Fehrkamp. »Und den genieß ich auf dem Sofa.«
»Was haste anjestellt, Justav?«
Er winkte ab.
Es klopfte an der Tür. Energisch.
In der Tür stand eine verhärmte Frau.
»Wir möchten mit Ihrem Mann sprechen«, sagte Lichtigkeit und zeigte seine Dienstmarke.
»Und wer sind Sie außer Besitzer einer Hundemarke?«
»Lichtigkeit, Kriminalkommissar. Und der Herr ist der Kriminalassistent Raben, wie der Vogel.«
»Und was wollen Sie?«
»Das habe ich Ihnen schon gesagt. Wir müssen mit Ihrem Mann sprechen.«
»Weshalb?«
»Ist Ihr Mann in der Wohnung?«, fragte Raben.
»Ja, bin ich«, tönte eine Stimme.
Dann stand Fehrkamp hinter seiner Frau. »Unsere Freunde von der Polente. Na, dann kommen Sie rein, wenn Sie schon mal hier sind.«
In den Mietskasernen konnte man die Armut riechen. Die Dünste aus dem Treppenklo. Die Bohnen. Die Feuchtigkeit. Die Abfälle. Geschrei im Hof, eine Frau, Kinder, dann ein Mann. Der Widerhall, tausendmal gebrochen, ergab die einzigartige Geräuschkulisse der Mietblöcke. In der Küche Herd, Spüle, ein Tisch mit zwei Stühlen.
»Den nehmen Sie nicht«, sagte die Frau. »Der wackelt.« Sie zeigte aufs Sofa. Fehrkamp setzte sich neben Raben, Lichtigkeit auf den anderen Stuhl. An der Wand über der Tür ein Bild Hitlers, aus einer Zeitschrift ausgerissen und mit Reißzwecken angepinnt.
»Worum geht’s, Herr Kommissar?«
»Mord. Sie kennen den Goldenen Anker in der Sellerstraße?«, fragte Lichtigkeit.
»Den kennt hier jeder. Ist eine Kommunistenhöhle.«
»Sie waren auch mal einer«, sagte Raben.
»Was Sie so alles wissen. Man kann sich ja mal irren.«
»Und da sind Sie mit ein paar Kameraden rein und haben einen Mann namens Kurt Esser erschossen«, sagte Lichtigkeit.
»Wie bitte?«, sagte Fehrkamp.
»Wann soll denn das gewesen sein?«, fragte die Frau.
»Gestern Abend, so gegen acht Uhr«, sagte Lichtigkeit.
»Na, dann sind Sie beim Falschen«, sagte sie. »Mein Gustav war um die Zeit hier …« Sie deutete auf das Sofa. »Hat langgelegen, der faule Kerl.« Sie zeigte ihrem Mann die Faust.
»Gibt’s weitere Zeugen dieses Ereignisses?«, fragte Raben.
»Was für ein Ereignis? Nix ist passiert. Das isses ja.«
»War noch jemand bei Ihnen, der die Anwesenheit Ihres Mannes bezeugen kann?«
»Wollen Sie sagen, dass ich lüge?«
»Sie haben Ihren Beruf verfehlt«, sagte Raben.
»Ich habe gar keinen. Und wie sollte ich in dieser Scheißzeit …«
»Als Schauspielerin hätten Sie Begabung.«
Als sie vor der Haustür standen, schrie irgendwo jemand irgendwas. Und jemand schrie irgendwas zurück.
»Ganz schön vorwitzig, der Herr Assistent.«
»Ich lern ja nichts, wenn ich nichts tue«, sagte Raben. »Zumal unter Ihrer Aufsicht und Anleitung.«
Lichtigkeit grinste.
»Die Frau lügt«, sagte Raben.
»Kann sein, aber das Alibi ist Beton, solange wir keine Beweise haben.«
»Aber wir haben doch die Zeugen aus der Kneipe. Die haben den Fehrkamp identifiziert.«
»Die zerreißt der Anwalt von Fehrkamp vor Gericht. Der Herr Freisler. Gegen solche Leute brauchen wir Handfestes. Sonst gibt’s die übliche Kampagne vom Angriff, und nicht nur von Goebbels’ Hetzblatt.«
»Und wenn wir die Gauleitung besuchen? Wenn wir eine Durchsuchung bei Fehrkamp machen? Vielleicht finden wir die Waffe. Der Erkennungsdienst hat einen Haufen Hülsen gefunden. Vielleicht passen welche zu Fehrkamps Waffe?«
»Für wie blöd halten Sie den? Glauben Sie ernsthaft, der lässt eine Mordwaffe in der Besteckschublade rumliegen? Sie müssen noch viel lernen. Menschenkenntnis zum Beispiel.«
»Natürlich, Herr Kommissar.«
Lichtigkeit blickte ihn fragend an. Als glaubte er, sein Assistent nähme ihn auf die Schippe.
»Sonst haben wir doch nichts.«
Sie saßen in Kippenbergers Büro im Karl-Liebknecht-Haus. Das Fenster zeigte zum Hinterhof. Kippenberger wippte auf seinem Stuhl. Ihm gegenüber lehnte ein drahtiger Mann an der Wand. Er kniff die Stirn in Falten. Auf einem anderen Stuhl saß Puth.
»Fehrkamp ist klar. Wer noch? Wir brauchen alle Namen.«
»Ich habe noch mal mit dem Genossen Müller gesprochen. Er hat sonst keinen von denen erkannt. Das haben die mit Absicht gemacht. Nur Fehrkamp stammt aus unserem Kiez. Das war ein gut organisierter Anschlag.« Puth war traurig. Er hatte Esser gemocht. Immer freundlich, wenn auch verschlossen. Er las Zeitung in der Kneipe, manchmal zog er auch ein Buch aus der Manteltasche. Mit einem Bleistift unterstrich er und schrieb Kommentare an den Seitenrand. Meistens las er Lenin, zuletzt Was tun? »Außer Fehrkamp und ein paar anderen Verrätern hatte Kurt keine Feinde im Kiez. Die Leute mochten ihn. Wenn einer ihn auf der Straße anhielt, hörte er zu. Und die Leute waren mit seinen Antworten zufrieden.«
»Wir werden ein großes Begräbnis veranstalten. Und seiner Familie helfen«, sagte Kippenberger. »Vielleicht zunächst mit einem Urlaub in der Sowjetunion.« Er blickte Wladimir Bordjuk an.
Der nickte. »Ich kümmer mich drum.«
»Wenn dieser Fehrkamp irgendwo auftaucht, legen wir ihn um. Aber wir brauchen die Namen der anderen. Vielleicht redet Fehrkamp mit ’nem Pistolenlauf am Ohr?«
Puth begann zu schwitzen, obwohl es im Zimmer kalt war.
»Mal sehen, wann die Bullen die Leiche freigeben«, sagte Kippenberger. »Dann bestimmen wir den Beerdigungstag. Plakatieren und veröffentlichen einen Aufruf in der Roten Fahne. Das Berliner Proletariat wird seine Stärke zeigen.«
Es klopfte, die Tür öffnete sich. Ein junger Mann legte eine Zeitung auf den Tisch und verschwand wortlos.
»Danke«, murmelte Kippenberger.
Das Volk wehrt sich. Verdientes Ende eines Sowjetfreunds.
»Die Schweine«, sagte Kippenberger. »Goebbels’ Gülle.« Hielt den Angriff hoch, die Titelseite Puth und Bordjuk zugewendet.
»Ich glaub, der Ehrig war dabei«, sagte Puth zögernd. »Beschwören könnt ich es nicht. Aber der ist mit Fehrkamp zur SA gegangen … nach der Sache auf dem Bülowplatz.«
»Ehrig, sicher?«, fragte Kippenberger.
»Fast, dieses eine Gesicht kam mir bekannt vor. Es ging aber alles so schnell, ich hab ihn nur von der Seite gesehen und mich hinterm Tresen geduckt, als die Schießerei losging.« Er überlegte. „Ich hab den schon lang nicht mehr getroffen. Ist vielleicht umgezogen. Oder übt in der Heide für die nationale Erhebung.«
Wladimir lächelte. »Wir schauen nach.«
Raben war todmüde. Er verließ das Büro. Es rumorte in seinem Hirn, die Ermittlungen liefen falsch. Wenn schon die Zeugenaussage einer Nazi-Ehefrau für ihren Nazi-Ehemann weitere Ermittlungen gegen Fehrkamp ausschloss, konnten sie die Arbeit gleich einstellen. Er winkte dem Pförtner zu, ohne ihn anzusehen. Würde Gennat eine Ermittlung auch so führen? Vielleicht würde er es morgen früh erfahren. Er betrat den Bürgersteig. Die Elektrische nölte, Autos hupten, zwei Männer schrien sich an. Auf dem Boden saß ein Alter ohne Beine. Wie automatisch warf Raben fünf Pfennig in den Hut. Die Toten waren fürs Vaterland gefallen, die Kriegskrüppel waren lästig. Überall stellten sie ihre Hässlichkeit zur Schau.
Dann traf ihn ein Schlag. Raben fiel und sah noch jemanden zu Boden gehen.
»Sind Sie blind!«, schnauzte eine Frauenstimme.
Raben rappelte sich auf und reichte der Frau die Hand. »Entschuldigung, ich war in Gedanken …«
Sie zog sich hoch. Die Frau war leicht, schlank und schön.
»Knorke, dass Sie denken. Die Menschheit macht doch Fortschritte«, sagte sie.
Er lachte sie an. »Tut mir …«
»Ja, ja, ich weiß. Bevor Sie anfangen zu flennen, laden Sie mich auf eine Tasse Kaffee ein, es könnten auch zwei werden, und ein Stück Torte.« Sie hob ihre Handtasche auf. Blickte an sich hinunter. Strich ihren Rock glatt. »Gucken Sie mal von hinten.« Sie drehte sich wie beim Tanz. »Alles gut?«
»Ja, sehr gut. Nichts zerrissen, keine Flecken.« Sonst gefiel ihm ihre Rückseite auch.
»Es geht nichts über Berliner Straßenkehrer. Gehn wir.«
Am Morgen erschien Raben spät zur Dienstbesprechung. Aber rechtzeitig für seinen Fall. Der Sitzungsraum war vernebelt von Qualm.
»Schön, dass Sie nun auch eingetroffen sind«, sagte Lichtigkeit, bevor er zur Runde sprach.
»Entschuldigung, ich …«
Lichtigkeit winkte ab.
Raben sah Liebermann von Sonnenberg grinsen. Nebe saß neben dem und musterte den jungen Schlacks. Gennat beschäftigte sich mit einem Stück Torte. Aber sie wussten, dass er zuhörte. Noch mit vollem Mund sagte er nach Lichtigkeits Vortrag: »Sie haben eine Leiche, Zeugen, welche die Mörder gesehen haben, aber den Fall noch nicht gelöst.« Ganz gemütlich.
»Das ist aber doch ein spezieller Fall«, warf Nebe ein. »Die vorgeblichen Zeugen wollen jemanden gesehen haben, der zufällig ihr politischer Feind ist. Also ich würde diesen Fall ungern vor Gericht vertreten, wäre ich Staatsanwalt.«
Und Raben dachte: Sagt der Nazi, der einen Nazimörder beschützen will.
»Sindse aba nich«, sagte Gennat. »Jeder Mord ist ein besonderer Fall. Haben Sie die Wohnung des Verdächtigen durchsucht?«
Braucht er jetzt nicht mehr, dachte Raben und beobachtete Nebe, der in einen Block kritzelte.
»Nein, dieser Fehrkamp erweckt nicht den Eindruck, blöd zu sein«, sagte Lichtigkeit.
»Wenn Sie wüssten, wie viele Mordfälle aufgeklärt wurden, nur weil der Täter sich für oberschlau hielt«, sagte Gennat.
In der Kriegsmarine hätte man das einen Torpedovolltreffer genannt.
»Und was gedenken Sie nun zu tun?«, fragte Gennat.
»Wir wollen mal sehen, was die Kriminaltechnik herauskriegt. Wir haben massenweise Patronenhülsenprofile in der Kartei. Da wird sich doch was finden«, erwiderte Lichtigkeit.
»Nee, Herr Kollege. Lassen Sie denen mal ihre Zeit. Und Sie besuchen den Fehrkamp noch mal. Und den Ehrig, falls es den gibt. Was in der Verbrecherkartei?«
»Ich hab noch … das sollte Herr Raben übernehmen.«
Der ihn verdutzt anguckte.
Gennat kaute und dachte sich seinen Teil. Dann sagte er doch was in die Stille. »Vielleicht könnten Sie ihm erklären, wie man in der Kartei sucht? Hat Fehrkamp noch was auf der Liste? Vorstrafen und so weiter? Dieser Ehrig, findet sich der in der Sammlung?«
Die Verbrecherkartei hatte einen eigenen Raum. Gennat hatte sie erfunden, und Berlins Gangster fürchteten sie. Namen, Taten, Tatortzeichnungen, Tatmodi, Waffen, Opfer. Die Karteikarten schmückten farbige Reiter, mit deren Hilfe Taten und Täter sortiert waren. Bei Morden fand sich schnell eine Übersicht der Tötungsarten, der Waffen, des Täterverhaltens, der Spuren.
Ehrig fanden sie nicht, Fehrkamp sofort. Drei Verfahren wegen Körperverletzung. Aber er hatte nur zwei Monate in Moabit abgesessen. Liberale oder linke Zeitungen tadelten bei solchen Verfahren die Sympathie von Staatsanwalt und Richter für nationale Kräfte, die doch immerhin an der Front ihr Leben fürs Vaterland aufs Spiel gesetzt hätten. So, wie man den General Ludendorff nach seinem Putsch mit Hitler 1923 vor Gericht gestellt, aber laufen gelassen hatte wegen seiner Verdienste im Krieg.
Fehrkamps Opfer waren in zwei Fällen Kommunisten, im dritten ein Sozialdemokrat. Diesem hätte er fast den Schädel eingeschlagen.
»Kein Schusswaffengebrauch«, sagte Lichtigkeit. »Hätten wir da was gefunden …«
»Warum bringt eine Gruppe von Männern einen Mann um? Die haben sich vorbereitet. Und die hatten einen Auftrag, den sie sich nicht selbst gegeben haben. Ich tippe, der Auftraggeber sitzt in der Gauleitung. Wenn nicht im Braunen Haus in München.«
Lichtigkeit lächelte. Nickte. »Mag sein.«
Raben hatte Lena nach Hause begleitet in dieser Nacht. Nachdem sie Kuchen gegessen, Kaffee und Wein getrunken hatten. Das Café Jädicke in der Kochstraße schloss um neun Uhr. Die Chefin musste sie rausbitten. Sie waren mit der U-Bahn zur Görlitzer Straße gefahren. Sie wohnte in der Liegnitzer Straße bei einer Wäscherin zur Untermiete. Als sie die Haustür aufschloss, schlug ihnen ein Geruchgemisch aus Seifenlauge und Terpentin entgegen. »Ich dachte, mit dem Gaskrieg wär’s vorbei«, sagte Raben.
»Welch Irrtum! Hier stinkt’s immer so«, sagte Lena. »Man gewöhnt sich dran.«
»Darf ich Sie in der Redaktion anrufen?«
»Lieber nicht. Das mag mein Chef gar nicht. Anruf bei einer Volontärin …« Sie legte den Kopf schief. »Aber wenn Sie wollen, gehen wir am Samstag bummeln. Da hab ich frei. Und Sie?«
»Bisher auch. Aber …«
»Klar, wenn jemand meine Leiche findet, haben Sie nicht mehr frei. Holen Sie mich ab? So gegen zwei Uhr?«
»Ja, gerne.« Er gab ihr die Hand. »Und wenn ich eine Leiche finde, bring ich sie mit.«
»Igitt«, sagte sie und schüttelte lachend den Kopf.
Sie sah den Blick ihrer Wirtin. Die spitzelte durchs Fenster und spitzte die Ohren.
Im Flur fing Frau Maier ihre Untermieterin ab. »Guten Abend.« Sie trat näher und schnüffelte wie ein Kaninchen. »Ich hoffe, es war ein anständiges Lokal.«
»Natürlich. Das ist ein Bekannter von der Kriminalpolizei.« Schon mal vorbauen.
»Haben Sie was ausgefressen?«
Was für eine blöde Frage. »Ich fürchte schon. Er ist bei der Mordinspektion am Alex.«
»O Gott.«
Als Wirtin war Frau Erna Maier mit »ai« erträglich. Aber ihr Verstand hielt da nicht mit.
An der Pforte der NSDAP-Gauleitung in der Hedemannstraße empfing Lichtigkeit und Raben der misstrauische Blick eines Mannes, der bei der Bartweltmeisterschaft nur knapp hinter dem Führer lag.
»Sie wünschen?«
Lichtigkeit zeigte seine Dienstmarke. »Ist der Herr Gauleiter zu sprechen?«
»Weiß ich nicht.«
»Dann fragen Sie jemanden, der es weiß.«
Der Portier kräuselte seine Glatze und griff zum Telefonhörer. Hielt die Hand vor den Mund, als wären Polizisten Lippenleser.
Schritte klackten auf den Bodenkacheln. Eine Blondine mit einem Lächeln, das sie auch dem Teufel geschenkt hätte. »Der Doktor erwartet Sie«, sagte sie. »Ich darf vorausgehen.«
Sie führte die Polizisten durch einen Gang in ein Büro. An der Wand Hitler und ein Plakat zum BVG-Streik, dazu Goebbels bei einer Ansprache, mit erhobenem Zeigefinger. Vor dem Schreibtisch ein Holztisch mit Stühlen. Goebbels erhob sich hinter seinem Schreibtisch und hinkte den Besuchern entgegen. Deutete auf den Tisch. Setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch. Links Akten, rechts Manuskripte, Zeitungen. »Was führt Sie zu mir?«
»Der Mord an einem Kurt Esser, gewissermaßen ein Kollege von Ihnen«, sagte Lichtigkeit.
»Sie dürfen von mir nicht erwarten, dass ich in Tränen ausbreche, wenn ein Moskowiter tot umfällt.«
»Er hat nicht gestanden, sondern gesessen«, sagte Raben.
»Also«, sagte Goebbels. »Ich habe nicht viel, eigentlich keine Zeit. Kommen Sie zur Sache.«
»Kennen Sie einen Gustav Fehrkamp?«, fragte Lichtigkeit.
»Natürlich, einer meiner besten SA-Männer.«
»Es … gibt den Verdacht, er könnte zusammen mit anderen Kurt Esser erschossen haben.«
»Ein Verdacht. Haben Sie Beweise?«
»Wir fragen Sie.«
»Dann fragen Sie endlich.«
Lichtigkeit stutzte.
»Wir glauben nicht, dass sieben Männer ohne Auftrag zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort mit Waffen auftauchen, um einen Mann zu erschießen, der Ihr politischer Feind war«, sagte Raben.
»Schön gedacht«, sagte Goebbels. »Bisher habe ich nicht geglaubt, dass Kriminalistik eine Art Theologie sein könnte. Wird Zeit, dass wir das ändern.«
»Sie haben keinen Mordauftrag gegeben?«, fragte Raben.
Goebbels blickte ihn starr an. Schüttelte den Kopf. Wandte sich an Lichtigkeit: »Haben Sie auch seriöse Fragen?«
Den Besuch beim Doktor hätten sie sich schenken können. Dachte Raben. Aber nur, weil er nicht wusste, was nun in der Gauleitung geschah.
Goebbels saß eine Weile und grübelte. Heydrichs SS-Sicherheitsdienst in München hatte auch in Berlin seine Leute. Und die wussten, was in der Roten Burg am Alex los war. Nebe hatte behauptet, dass Lichtigkeit Sympathien für die Braunen habe. Aber dieser Assistent - der hatte zwar so wenig zu sagen wie eine Bettwanze, war aber genauso lästig.
Goebbels ging ins Vorzimmer und vergaß diesmal sogar, seine Sekretärin zu bewundern. Er sagte nur: »Schicken Sie mir unseren Grafen Helldorff her. Heute noch.«
Er humpelte um seinen Schreibtisch. Seine Feinde nannten ihn Klumpfuß, aber das störte ihn schon lange nicht mehr. Gut, dass dieser Esser tot war. Er hätte gefährlich werden können. Dass die Bullen ihn besuchen würden, hatte er erwartet. Aber dass sie sich nicht abfertigen ließen wegen eines Kriminalassistenten, das überraschte Joseph Goebbels dann doch.
Der Graf von Helldorff brauchte nur eine halbe Stunde. »Na, Doktor, was gibt’s?« Der Graf warf sich mehr in den Stuhl, als dass er sich setzte. Er stützte einen Fuß auf dem Nachbarstuhl, zündete sich eine Zigarette an und lachte. »Sagen Sie, Ihre Sekretärin haben Sie wegen ihres Blitztempos beim Stenografieren eingestellt.«
Goebbels lächelte. »Sie haben es erfasst. Wir haben aber andere Sorgen.«
»Sind wir endlich pleite?«
»So gut wie«, sagte Goebbels. »Der Gau kann derzeit kaum noch Veranstaltungssäle mieten. Die Leute nehmen unsere Wechsel nicht mehr. Manchmal könnte ich verzweifeln … unser Führer kennt keine Kompromisse. Soll doch die Bewegung zugrunde gehen, er wird niemals Vizekanzler in einem bürgerlichen Kabinett. Ich oder gar nichts.«
»Das sind ja ganz neue Töne, Doktor. Unser Adolf wird sich schon was denken … hoffe ich.« Helldorff grinste.
Goebbels drückte auf einen Knopf. »Bringen Sie uns zwei Kaffee … Haben Sie Kekse? … Gut, nehmen wir auch.«
»Ich hab Ihnen das schon mal gesagt. Sie sind zu forsch, Herr Kollege. Sie sind mein Assistent oder meinetwegen der vom Buddha. In beiden Fällen heißt es: Sie reden, wenn Sie reden dürfen. Kapiert?«, fragte Lichtigkeit.
»Und wenn mir eine Frage einfällt, die Ihnen vielleicht gerade nicht einfällt?«, fragte Raben.
Er dachte an Lena und daran, dass ihm Lichtigkeits Meckerei scheißegal war. Er wurde sowieso nie Kommissar. Da brauchte er nicht auf brav zu machen. Außerdem hatte er einen Stein im Brett beim dicken Gennat. Da konnte Lichtigkeit nichts ausrichten. »Lassen Sie die jungen Leute mal machen. Sonst lernen die’s nie«, pflegte der Kriminalpolizeirat zu sagen. Da konnte Lichtigkeit sich seine Klagen über Raben sonst wohin stecken. Außerdem war Lichtigkeit nicht dumm, sondern erpicht darauf, Kriminalpolizeirat wie Gennat zu werden. Wenn nicht mehr. Und falls Raben half, den Fall zu lösen, half es Lichtigkeit. Rabens Erfolg war seines Chefs Erfolg. Und bei allem Ärger schätzte er dessen flinkes Hirn. Er wusste auch nicht, ob Hitler jemals was reißen würde. Derzeit sah es nach Untergang aus. Lichtigkeit war nicht blöd. Er wartete ab, ob sich die Nazis erholten. Wenn ja, sollte es ihm recht sein. Dann könnten sie die Verbrecher jagen ohne den juristischen Schnickschnack dieser Republik. Und wenn die Nazis es nicht schafften, hätten der Kamerad Nebe und seine Freunde schlechte Karten. Lichtigkeit blinzelte mal den Braunen freundlich zu, mal den Rosaroten, auch nachdem Papen nach seinem Preußenschlag im Juli die Polizei von Führungskräften gesäubert hatte, die der Demokratie zu nahestanden. Man wusste nie. Er war Kriminalpolizist, kein Politiker. Beim Preußenschlag hatte der Reichspräsident Hindenburg die von der SPD geleitete Regierung ab- und den Kanzler Papen auf dessen Initiative als Reichskommissar eingesetzt. Ein Bruch der Verfassung, aber wen scherte das?
»Wir sollten dem Fehrkamp noch mal auf die Bude rücken. Eine Durchsuchungsanordnung kriegt der Staatsanwalt doch leicht. Nazis erschießen einen Kommunisten …«, sagte Raben.
Lichtigkeit kratzte sich am spitzen Kinn. Zog am Schnurrbart. Nickte. »Gut.«
»Mein Mann ist verreist, aber wenn Sie unser Luxusappartement besichtigen wollen, bitte schön. Hier herrscht Ordnung, damit das klar ist. Und das bleibt so.« Otilie Fehrkamp mit gekreuzten Armen vor der Brust.
Lichtigkeit winkte die drei Kollegen vom Erkennungsdienst in die Wohnung. Fehrkamps Frau blieb im Flur stehen.
»Wo ist Ihr Mann hin? Wann kommt er zurück?«, fragte Lichtigkeit.
»Ich weiß es nicht. Er ist weggegangen und nicht zurückgekommen.«
»Sie wissen also nicht mal, ob er verreist ist?«, fragte Lichtigkeit.
»Wenn Sie das so verstehen wollen.«
»Und wenn die Kommunisten sich gerächt haben? Und Ihr Mann schon tot ist? Oder gefangen in einem Keller sitzt und verprügelt wird?«
»Ach Blödsinn, Unkraut vergeht nicht.«
»Wir können Sie auch aufs Präsidium mitnehmen«, sagte Lichtigkeit. »Sie lügen uns die Hucke voll und behindern die Ermittlungen. Es geht um Mord, Frau Fehrkamp.«
»So ein Quatsch. Haben Sie einen Beweis?« Sie lugte zur Küche, wo die Beamten sich eher im Weg standen oder knieten, als etwas zu finden.
»Wir haben Zeugenaussagen.«
»Ja, ja, von denen.« Sie warf einen Kubikmeter Luft weg. Kreuzte die Arme wieder. »Sie finden hier nichts.« Blickte Lichtigkeit böse an, dann Raben. »Außer dem Modergestank der Armut, in das uns Ihr System geworfen hat.«
»Sie hätten Dichterin werden sollen, nicht Nazisse«, sagte Raben.
»Ach, der Herr Kommissar haben eine Neigung zur Poesie«, sagte sie bissig.
»Er ist nur mein Assistent«, erwiderte Lichtigkeit. »Ich habe keine Neigung zur Poesie, aber was gegen Mord.«
Es dauerte nicht lange, bis eine Mietswohnung mit Wohnküche und Schlafzimmer durchsucht war. Der Chef des Erkennungsdienstes näherte sich Lichtigkeit und schüttelte den Kopf.
»Sag ich doch«, maulte Otilie Fehrkamp. »Was wollen Sie schon finden? Wir leben vom SA-Sold meines Manns. Der ist so mau, dass das Verhungern nur verlängert wird. Wenn er überhaupt noch gezahlt wird.«
»Kommen Sie mal«, sagte die Sekretärin des Chefredakteurs. Lena eilte zum Büro ihres Vorgesetzten.
Der saß zurückgelehnt auf seinem Schreibtischsessel, das Berliner Tageblatt in der Hand. Er blickte sie an und deutete auf den Besucherstuhl. Theodor Wolff lächelte, musterte ihr Gesicht. »Sehr gut, sehr gut«, murmelte er. »Was Sie über die Arbeitslosendemonstration in Lichtenberg geschrieben haben …« Sein Bart war monarchistisch, aber unter der Stirnglatze wohnte der Kaiser nur noch als Holz hackender Idiot in Holland.
Er las wieder, blickte auf. »Wie lange sind Sie schon bei uns?«
Sie richtete den Rücken gerade. »Gut sieben Monate.«
»Fein, Sie gehören offenbar zu den Frauen, die gern lernen, Fräulein Riedle.«
Sie schluckte. Nickte.
»Ich habe mir Ihre Stücke der letzten Wochen angesehen. Sehr gut. Wirklich sehr gut.«
»Herr Schönkopf hilft mir sehr«, sagte sie. »Sie loben in Wahrheit seine Redaktionsarbeit.«
»Ich habe mit ihm gesprochen. Seien Sie bloß nicht zu bescheiden, sonst wird aus Ihnen nichts.«
»Ja, aber …«
»Kein Aber. Der Leiter unserer Lokalredaktion ist ein guter Journalist, hat sich schon über die Entourage des Kaisers lustig gemacht. Müssen Sie mal lesen. Wirklich witzig. Was man über die meisten witzigen Artikel leider nicht sagen kann.«
»Ich habe die Artikel gelesen. Sie sind herausragend. Ich hoffe, irgendwann so gut zu schreiben wie Herr Schönkopf.«
Wolff nickte. »Er ist in der Lokalredaktion unterfordert. Aber er besteht darauf, nicht ins Feuilleton zu wechseln. Seit dem Krieg …«
Lena nickte, obwohl sie kein Wort verstand.
»Der Krieg hat die Menschen verwandelt. Unser Desaster, die ewigen Straßenkämpfe, die Fememorde, die Krise, das Elend gab’s vorher nicht. Und dieser Herr Hitler wäre Postkartenmaler in Wien geblieben, meinetwegen in München.«
»Vielleicht kommt’s darauf an, was wir jetzt machen … Entschuldigung.«
»Nichts zu entschuldigen. Wenn Sie die Haltung unserer ehrwürdigen Zeitung in einem Satz beschreiben wollten, wäre das vielleicht ein Versuch … Obwohl alle Welt mich drängt, mir es mit den Braunen nicht zu verderben.«
Sie nickte.
»Sie kommen aus Kiel?«
Das steht doch alles in meiner Personalakte, dachte Lena. Sie nickte wieder.
»Ihr Vater war im Krieg, dann bei der Post.« Beiläufig, ohne in eine Akte zu blicken. »Er ist neunundzwanzig gestorben, Spätfolge des Kriegs …«
»Granatsplitter im Kopf …«
»Ja, die wandern gern … Entschuldigung … man stumpft ab.«
»Ist gut«, sagte sie.
»Sie haben Geschichte und Germanistik studiert, an der Friedrich-Wilhelms-Universität. Wovon haben Sie gelebt? Doch nicht von der Rente Ihrer Mutter.«
»Ich habe gearbeitet. Zuletzt in einem Anwaltsbüro …«
»Mord und Totschlag.« Er lächelte.
»Nein, Patente, ganz unblutig.«
Wolff zog an seinem Kaiserbart, der sein Gesicht wuchtiger machte, als es ohnehin schon war. Kratzte sich überm Ohr. Er lächelte.
Was sollte dieses Frage-und-Antwort-Spiel, wenn er die Antworten längst kannte? Langsam kam es Lena vor wie Rabens Schilderung von Polizeivernehmungen. Immer wieder Bekanntes durchkauen, bis sich eine Lücke auftat. Bis der Beschuldigte sich verplapperte, weil er müde war oder die Nase voll hatte.
»Ich glaube, Sie sollten sich verändern«, sagte Wolff.
Lena erschrak. So wurde man also vornehm rausgeschmissen. Man rutschte auf einer Schleimspur aus der Redaktion auf die Straße. Um von der Stütze zu leben, die für Berufsanfänger ein paar Wochen gezahlt wurde, und dann war Essig. Beziehungsweise das Wohlfahrtsamt, das mit allem Möglichen zu tun hatte, nur nicht mit der Wohlfahrt.
»Schön«, sagte sie. »Wenn Sie meinen.«
Sie trafen sich wieder im Café Jädicke. Lena erzählte Raben, was sie erlebt hatte. »Stellen Sie sich vor, Assistentin des Kriminalreporters Wagner!« Ihre Augen leuchteten.
»Ich hoffe, Ihre Freude überlebt die erste Leiche … Entschuldigung … ich dachte, eine junge Frau sollte nicht …«
»Guten Morgen«, sagte sie. »Angekommen im zwanzigsten Jahrhundert? Haben Sie gehört, dass Frauen sogar wählen dürfen, obwohl sie eigentlich zu dumm dafür sind?«
»Sie haben recht. Ich bin dumm, nicht Sie.« Er legte seine Hand auf ihre, zog sie gleich wieder zurück.
»Sie werden es lernen, ich bin Optimistin. Wir arbeiten vielleicht an denselben Fällen, ist das nicht lustig?«
»Lustig eher nicht, aber ich freu mich drauf. Vielleicht finden Sie heraus, wer Kurt Esser ermordet hat.«
»Den Kommunisten im Goldenen Anker?«
»Genau den.«
»Dann geben Sie mir die Liste der Zeugen, und ich rück denen auf die Pelle.«
»Das darf ich nicht. Dienstgeheimnis.«
»Ich muss nur einmal draufgucken. Ich habe ein Leica-Gedächtnis.«
»Wenn ich wegen Ihnen rausfliege, ernähren Sie mich. Einverstanden?«
»Wir müssen Ernst Schneller … mit reinnehmen«, sagte Wladimir Bordjuk. »Der Genosse Menschinski hat das vorgeschlagen.«
Kippenberger nickte. Wenn der Leiter des Sowjet-Geheimdienstes GPU etwas vorschlug, war das gleichbedeutend mit einem Befehl für den Militärapparat der KPD, deren Chef Kippenberger war. Kippenberger verstand sich als Mitarbeiter der GPU und den M-Apparat als Teil der Sowjetmacht, ihr Auge im Feindesland.
»Du weißt schon, dass Ernst oft überheblich und bürokratisch ist. Der Genosse Kartothekowitsch …«
Bordjuk blickte ihn griesgrämig an. »Das ist doch egal. Er ist intelligent, schnell im Kopf und kein Feigling.«
Die Idee gefiel Kippenberger gar nicht. Er konnte Schneller nicht leiden, musste sich aber eingestehen, dass der helfen konnte, Fehrkamp zu finden. Schneller hatte keine Skrupel abzudrücken. Klar, die GPU-Genossen hatten recht. »Wenn ihr ihm den Auftrag gebt. Auf mich hört er nicht.«
»Schon geschehen«, sagte Bordjuk. »Wir müssen Fehrkamp vor den Bullen kriegen, sonst sitzt er ein paar Monate bis zur nächsten Amnestie und taucht dann ab.«
Er schob einen Zettel mit einer Adresse über den Tisch.
Lena erhob sich. Wolff winkte sie auf den Stuhl zurück. »Ich habe Hermann Wagner gefragt, ob er sie unter seine Fittiche nehmen will. Aber nur, wenn Sie einverstanden sind. Der Kollege Wagner ist ein schwieriger Mensch, aber Berlins bester Kriminalreporter. Wenn Sie also keine Lust mehr haben, nachts zu schlafen …«
Wagner musterte sie von unten nach oben und zurück. Reglos. »Setzen Sie sich.«
Sie setzte sich auf den einzigen freien Stuhl neben einem kleinen Tisch. Auf dem Boden waren Furchen im Halbkreis wie eingefräst. Sie legte eine schmale Akte auf Wagners Schreibtisch.
Wagner griff zur Akte. »Der Esser-Mord?« Schlug die Akte auf. Las.
»Wo haben Sie die Namen her? Sind das die Zeugen?«
Sie nickte. Blickte ihn ängstlich an.
Berlins bestem Kriminalreporter fehlte ein Bein. Kollegen hatten die Prothese auf dem Schreibtisch liegen sehen. Der Schmerz hatte Furchen in seinem Gesicht hinterlassen. In der Redaktion lief das Gerücht, dass Wagners Frau mit einem Zweibeinigen durchgebrannt war, kurz nach dem Krieg. »Wo haben Sie das her?«
»Quellenschutz.«
Er nickte bedächtig. »Sie führen sich ja gut ein. Müller, Sondermann, Friese, Brück, Prietzler und der Wirt namens Puth. Das ist doch schon mal was.«
Nichts deutete darauf hin, dass hier ein Mensch zusammengeschossen worden war. Der Mord hatte sich rumgesprochen. Das erwies sich als geschäftsfördernd. Den Fleck aus Blut und Hirnmasse hatte Puth weggeschrubbt. Nun war die Stelle aufgehellt. Der Wirt blickte seine Besucher an. Bullen? Nein, Presse? Ja. Welche?
»Wir kommen vom Berliner Tageblatt«, sagte Wagner.
Puth nickte.
»Wir möchten mit Zeugen sprechen«, sagte Wagner.
»Wir versprechen Quellenschutz. Keine Namen, keine Hinweise auf Adressen«, sagte Lena. »Die Polizei wird die Mörder eher nicht fassen. Dafür die Kommune. Die kennen ihre Feinde.«
»Ich hätte nichts dagegen, wenn die Genossen die Sache klärten«, sagte Puth.
»Wir wollen die Namen der Täter, um sie zu veröffentlichen. Wir suchen vor allem diesen Fehrkamp. Ihre Genossen sicher auch. Und: Jeder Hinweis kann nützen. Wir zahlen gut.«
Puth nickte nachdenklich. »Ich werde Rücksprache halten. Wo kann ich Sie erreichen?«
Wagner schob seine Visitenkarte über den Tresen. »Haben Sie zwei Bockwürste für uns, mit Kartoffelsalat? Und zwei Bier?«