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Perth, Westaustralien, 1913: Emily kehrt dem Stadtleben und ihrer äußerst konservativen Familie den Rücken. Kurzentschlossen nimmt sie eine Stelle als Schneiderin bei einer großen, wohlhabenden Farmersfamilie an. Die Kimberley-Region ist atemberaubend schön und die Familie McBride überaus herzlich. Emily genießt das Leben dort, und zunächst scheint es, als hätte sie ihr Glück und ihre Liebe gefunden. Doch dann kommt alles ganz anders, als gedacht ...
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Seitenzahl: 714
Elizabeth Haran wurde in Simbabwe geboren. Schließlich zog ihre Familie nach England und wanderte von dort nach Australien aus. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen in einem Küstenvorort von Adelaide in Südaustralien. Ihre Leidenschaft für das Schreiben entdeckte sie mit Anfang dreißig, zuvor arbeitete sie als Model, besaß eine Gärtnerei und betreute lernbehinderte Kinder.
ELIZABETH HARAN
HELLERMONDWEITETRÄUME
RomanÜbersetzung aus demaustralischen Englischvon Ulrike Werner-Richter
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Titel der australischen Originalausgabe:
»Staircase to the Moon«
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2015 by Elizabeth Haran
Published by arrangement with Elizabeth Haran-Kowalski
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Melanie Blank-Schröder
Textredaktion: Marion Labonte, Labontext
Landkarte: Reinhard Borner
Umschlaggestaltung: Jeannine Schmelzer
Einband-/Umschlagmotiv: © getty-images/Andrew Watson; © shutterstock/godrick; © iStockphoto/zizar 2002
E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7325-1312-3
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
This book is for Ann Kenrick, one of my dearest friends.
I admire her strength which has been tested so many times, her loyalty to everyone she cares about, her generous heart, always open, and something we share, that wonderful Irish sense of humor.
Dieses Buch widme ich Ann Kenrick, einer meiner besten Freundinnen. Ich bewundere ihre oft auf die Probe gestellte Stärke, ihre Loyalität gegenüber all denen, die sie schätzt, ihr großzügiges, immer weit offenes Herz und ihren wunderbaren, irischen Sinn für Humor, der dem meinen so ähnlich ist.
Anfang Oktober 1913Perth, Westaustralien
Der Ofen, auf dem die Bügeleisen aufgeheizt wurden, bullerte seit dem frühen Morgen und machte die Hitze im Atelier der Maßschneiderei Scott noch unerträglicher. Emily Scott fühlte sich wie eingepfercht im Hinterzimmer der Schneiderwerkstatt in der Innenstadt von Perth, wo sie über eine Hose gebeugt bei der Arbeit saß. Schließlich sprang sie gereizt auf, wobei sie sich den Kopf an der Lampe über ihrer Singer-Nähmaschine stieß.
»Verdammt!«, grummelte sie, was ihr umgehend die missbilligenden Blicke ihrer drei Brüder einbrachte. Emily wunderte sich nicht einmal, sie konnte selten einen Atemzug tun, ohne dass die drei sich in irgendeiner Weise einmischten. Sie äußerten ihre Ansicht zu allem und jedem – ganz gleich, ob es sich um ihre Kleidung handelte, um ihre Sprechweise, um das, was sie aß, oder um die Frisur, die sie trug. Die ständige Gängelei machte sie zunehmend verrückt. Ihre Brüder bestimmten zudem, wo sie hingehen durfte, oder besser gesagt, wo sie nicht hingehen durfte, was die Auswahl stark einschränkte. Ihr Vater war zwar nicht ganz so kritisch, dafür aber sehr streng. Wann immer Emily sich auch nur ein winziges Stückchen Freiheit nehmen wollte, war sie gezwungen, zu einer Notlüge zu greifen, was ihr noch Stunden danach ein schlechtes Gewissen bescherte. Nein, ihr Leben gefiel ihr nicht. Es musste etwas geschehen.
Immer wenn einer ihrer Brüder sie mit Worten oder Blicken rügte, wanderten Emilys Gedanken zurück in ihre Kindheit. Sie war erst acht Jahre alt gewesen, als ihre Mutter starb. Verängstigt und zutiefst verunsichert hatte sie dagestanden, ohne zu begreifen, was das Wort »Tuberkulose« bedeutete und dass sie ihre Mutter nie mehr wiedersehen würde.
Nach dem Tod der Mutter zog Freddy, der Bruder ihres Vaters, zu ihnen. Von diesem Augenblick an war Emily ausschließlich von Männern umgeben. Weil keiner von ihnen Erfahrung in der Erziehung kleiner Mädchen hatte, wurde kurzerhand zwischen Emily und ihren Brüdern kein Unterschied gemacht, man ließ ihr einfach die gleichen Freiheiten wie ihren Brüdern. Sie kletterte auf Bäume, ging fischen, machte sich schmutzig, fuhr Fahrrad und spielte wilde Spiele mit ihren Brüdern und deren Freunden. Weil das Geld immer knapp war, trug sie im Haus die Kleider der Jungen auf, was ihr zu einer Freiheit verhalf, die sie in Rüschenkleidchen nie gehabt hätte. In dieser Zeit fühlte sie sich wirklich glücklich. Das jedoch änderte sich schlagartig in der Woche vor ihrem fünfzehnten Geburtstag.
Es war an einem Feiertag, und Emily befand sich allein im Haus. Sie beschloss, die seltene Ruhe zu nutzen und sich ein langes, gemütliches Bad zu gönnen. Als sie aus dem Wasser stieg, fiel ihr auf, dass sie ihren Morgenmantel in ihrem Zimmer vergessen hatte. Sie sah darin kein Problem – schließlich war niemand im Haus. Mit lässig um die Hüften geschlungenem Handtuch lief sie durch den Flur, als plötzlich die Haustür aufgestoßen wurde und ihre Brüder hereinstürmten. Emily erschrak, stolperte und fiel auf den Rücken. Das Handtuch glitt aus ihrer Hand. Sie drehte sich hastig um und bedeckte sich, doch ihre Brüder hatten bereits mehr als genug gesehen. Von einer Sekunde auf die andere ging ihnen auf, dass aus ihrer kleinen Schwester eine voll entwickelte junge Frau geworden war.
Der Schock saß tief. Onkel Freddy entging das veränderte Verhalten der Scott-Jungen nicht, doch als er sie zur Rede stellte, bekam er keine Antwort. Schließlich wandte er sich auf der Suche nach einer Erklärung an Emily. Diese schämte sich zunächst zu erzählen, was geschehen war, doch da sie ihrem Onkel näherstand als allen anderen Familienmitgliedern, gab sie seinem Drängen schließlich nach und beichtete das Geschehen.
»Ich verstehe«, sagte Freddy. »Das erklärt natürlich ihr Verhalten. Trotzdem bin ich überrascht, dass ihnen vorher nie aufgefallen ist, dass du dich zu einer jungen Dame entwickelt hast. Aber so sind Männer nun einmal – sie nehmen manche Dinge einfach nicht wahr, bis ihnen die Realität geradezu ins Gesicht springt.« Er zog eine seiner lustigen Grimassen, und Emily musste wie so oft lächeln.
»Nun, glücklicherweise sind ihnen die Resultate meiner Veränderung nicht wirklich ins Gesicht gesprungen. Trotzdem gedenke ich sie zu behalten. Also werden sich die Jungs wohl oder übel daran gewöhnen müssen«, grinste sie.
Freddy betrachtete sie nachdenklich. »Nach dem Tod deiner Mutter war es für deine Brüder leichter, einfach so zu tun, als wärst du kein Mädchen. Jetzt geht das plötzlich nicht mehr, und sie wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. Ich fürchte, du wirst dich in Geduld üben müssen.«
Und das hatte Emily getan. Doch über die Sache war kein Gras gewachsen, wie sie gehofft hatte. Stattdessen überhäuften ihre Brüder sie mit einer so übermäßigen Fürsorge, dass sie fast daran erstickte.
Heute, sieben Jahre später, hatte sich daran nichts geändert.
Emily ging zur Hintertür der Werkstatt und riss sie auf, aber statt der erhofften kühlen Brise traf sie ein erstickend heißer Windstoß. Es war wirklich ungewöhnlich warm für die Jahreszeit.
»Tür zu, Emily!«, rief ihr Bruder Joe. »Sonst kommt der ganze Staub rein!«
»Aber es ist so stickig hier drinnen«, beschwerte sich Emily. »Ein bisschen Luftaustausch könnte nicht schaden.«
»Wenn die Luft derart heiß ist, ist das sinnlos«, gab Joe zurück.
Emily schloss gehorsam die Tür, und ihr unzufriedenes Murren trug ihr einen weiteren missbilligenden Blick ein. Am liebsten hätte sie ihren Bruder angebrüllt, schließlich war es nicht er, der das Korsett und die Unterröcke tragen musste.
Widerwillig setzte sie sich wieder an die Nähmaschine und widmete sich den Ärmeln eines Gehrocks. Der Schweiß rann ihr den Rücken hinunter, und ihr Korsett und die Unterröcke fühlten sich klebrig an. Ihre kleinen Füße steckten in zweckmäßigen Schnürstiefeletten mit abgerundeter Spitze und mäßig hohen Absätzen und betätigten das Pedal der Singer-Nähmaschine, während ihre Rechte geschickt mit dem Rad hantierte. Rings um ihren Arbeitsplatz waren dunkle Baumwollfäden wie ein Schwarm Tausendfüßler ausgebreitet.
Jimmy, der älteste ihrer Brüder, stand an einem großen Tisch und heftete Schnittmuster auf Stoffbahnen. Joe, der Zweitälteste, schnitt zu. Charlie, der nur achtzehn Monate älter war als Emily, hatte heute die undankbare Aufgabe, Stulpen und Bügelfalten mit dem heißen Plätteisen zu bearbeiten. Dabei konnte auch er ebenso geschickt mit der Nähmaschine umgehen wie die anderen Familienmitglieder.
Von der anderen Seite des Vorhangs, der die Werkstatt vom Verkaufsraum trennte, waren Stimmen zu hören. Ihr Vater bediente einen der Stammkunden des Geschäfts, Winston McMillan. Der Mann frönte einer Leidenschaft für Boote und war eine bekannte Persönlichkeit unter den Seglern von Perth. Er bestellte ein sportliches Jackett, dunkelblau mit Nadelstreifen, aufgesetzten Taschen und Messingknöpfen. Seine Maße brauchte William Scott nicht zu nehmen; sie standen längst in seiner Kundenakte.
»Aber einen Monat wird es sicher dauern, bis Sie das Jackett abholen können, Mr McMillan«, entschuldigte sich Emilys Vater. »Unsere Auftragsbücher sind zurzeit sehr voll, und wir legen, wie Sie wissen, höchsten Wert auf Qualität.«
»Solange es bis zur Swan River Regatta in fünf Wochen fertig ist«, gab Winston in einem Tonfall zurück, der keinen Zweifel daran ließ, dass man ihn besser nicht enttäuschte.
»Ja, das wird sicher ein Ereignis.« William nickte zustimmend. »Ich habe dafür schon mehrere Aufträge angenommen. Und sie werden alle fertig, Sie können ganz beruhigt sein.«
Bei diesen Worten stöhnte Emily innerlich auf. Dauernd nahmen ihr Vater und ihre Brüder neue Aufträge an, und fast immer waren es Anzüge und Jacketts. Für Emily bedeutete das nur weitere schweißtreibende Stunden in der Werkstatt. Sie ging nicht auf in der Näherei von Männerkleidung. Es war nicht mehr als eine leidige Pflicht, die das Gefühl noch verstärkte, gefangen zu sein in einem Leben, das ihr nicht gefiel.
Emilys Magen knurrte, und sie warf einen Blick auf die Uhr über der Tür. Zeit für das Mittagessen. Schon hörte sie, wie Onkel Freddy draußen sein Fahrrad an die Werkstattwand lehnte. Begleitet von einem heißen Windstoß wurde er samt einem Korb voll belegter Brote und Kuchen geradezu zur Tür hineingeweht.
»Hallo, meine Lieben!«, rief er fröhlich. Seine Begrüßungen waren nicht selten melodramatisch mit einem Hang zur Theatralik. Er war ein Exzentriker par excellence mit einem goldenen Herzen, dem die Familie nie vergessen würde, dass er sein Privatleben und sein persönliches Glück geopfert hatte, um seinem Bruder bei der Erziehung seiner Kinder beizustehen. Im Scherz nannte er sich selbst gern »Tantchen«, und tatsächlich hatte er sich immer verhalten wie eine liebenswerte Tante. Er hatte den Kindern mit Rat und Tat zur Seite gestanden, gesunde Kost auf den Tisch gebracht und das Haus in Ordnung gehalten, was Emily jedoch nie darüber hatte hinwegtäuschen können, dass sie ihre Mutter und die Gesellschaft anderer Frauen sehr vermisste.
Heute trug er eine bonbonfarben gestreifte Weste aus Seide, ein weißes Hemd mit hohem Kragen, eine Fliege, Kniehosen und lange Strümpfe. Eine Seite seines für gewöhnlich steif gezwirbelten Schnurrbarts hing jedoch glanzlos über die Lippen hinunter. Emily verkniff sich ein Lächeln und sah, dass es Jimmy ähnlich ging.
»Was gibt es heute zu Mittag, Onkel Freddy?«, rief Charlie.
»Brote mit Corned Beef und meinem himmlischen Tomaten-Relish«, gab Freddy stolz zurück. »Ich bin übrigens auf dem Weg zum Tabakhändler. Ich brauche einen neuen Humidor«, berichtete er, während er durch den Vorhang zu seinem Bruder in den Laden schlüpfte.
»So etwas braucht wirklich nur Onkel Freddy«, flüsterte Charlie schmunzelnd.
»Warte mal ab, bis er sich drüben im Spiegel sieht«, unkte Joe. In diesem Augenblick war aus dem Laden ein Schrei zu hören. Onkel Freddy hatte ganz offensichtlich seinen ramponierten Schnurrbart bemerkt.
Emily ergriff ihre Chance. »Ich bin mal für eine Stunde weg«, sagte sie, stand in Erwartung der unvermeidlichen Reaktion auf und straffte ihren Rücken. Allein der Gedanke an diesen Moment hatte sie schon nervös gemacht.
»Wo willst du hin?«, erkundigte sich Joe mit einem misstrauischen Seitenblick.
»Einkaufen«, antwortete Emily und schluckte den Ärger über seinen Tonfall hinunter.
»Aber du musst etwas essen«, mahnte er.
»Ich besorge mir unterwegs etwas.«
»Freddy kann dir doch die Sachen kaufen, die du brauchst«, meinte Jimmy.
»Onkel Freddy hat nun wirklich genug zu tun«, widersprach Emily mit klopfendem Herzen.
»Dann geh wenigstens mit ihm zusammen, er hat bestimmt nichts dagegen. Er will nur zum Tabakhändler.«
»Ich brauche keinen Babysitter!« Emily konnte den Impuls, ihren Bruder anzuschreien, nur mit Mühe unterdrücken.
»Du solltest nicht allein in der Stadt herumlaufen«, bemerkte Joe streng.
»In der Stadt laufen Hunderte Menschen herum, Joe. Allein bin ich da ganz bestimmt nicht.« Fast hätte sie hinzugefügt: »Ich bin zweiundzwanzig Jahre alt! Hört endlich auf, mich wie ein Kind zu behandeln!«, aber das würde ihre Brüder nicht beeindrucken.
»Du bist eine junge Frau und einem möglichen Angriff hilflos ausgeliefert«, trumpfte Jimmy auf.
Emily stöhnte auf. Natürlich war der Einwand lächerlich, aber das konnte sie ihm kaum ins Gesicht sagen.
»Sei nicht so naiv, Emily«, kritisierte Joe. »Bis vor wenigen Jahren war Perth eine Kolonie von Strafgefangenen. Da draußen laufen jede Menge Knastbrüder auf Bewährung herum, und du hast überhaupt keine Ahnung von Männern, nicht die geringste. Sollte es einer darauf anlegen, wäre es ihm ein Leichtes, dich zu verführen und ins Unglück zu stürzen.«
Emily hielt seinem Blick stand. »Aber wie soll ich mit drei überfürsorglichen Brüdern denn je etwas über Männer oder das Leben lernen?«
»Wir geben bloß auf dich acht«, sagte Joe. »Du solltest dankbar sein, dass deinen Brüdern etwas an dir liegt.«
Emily platzte der Kragen. »Dankbar? Dankbar dafür, dass ihr mich nicht eine Sekunde aus den Augen lasst? Dankbar dafür, dass ich nicht einmal anziehen darf, was ich will und was mir gefällt? Gut, dann nennt mich undankbar, aber ich wünschte, ihr würdet mich in Frieden lassen.«
»Siehst du, schon gehen deine Gefühle wieder mit dir durch«, entgegnete Jimmy. »Wenn du deine Gefühle uns gegenüber schon nicht im Zaum halten kannst, wie willst du dich dann erst wehren, wenn irgendein Schurke dich anpöbelt?«
Emily kochte vor Wut. »Wie soll ich meine Gefühle im Zaum halten, wenn ich meinen eigenen Brüdern nicht einmal sagen darf, dass ich einkaufen gehe, ohne damit eine regelrechte Inquisition in Gang zu setzen? Man könnte fast glauben, ich hätte euch erzählt, dass ich mit einer Bande Vagabunden nach Europa verschwinden will.«
»Über solche Dinge macht man keine Witze«, erwiderte Jimmy empört.
»Ich wünschte, ich würde ein paar Vagabunden kennen!«, stieß Emily hervor.
»Ich gehe mit dir einkaufen, Emily«, bot Charlie an.
»Ich will aber keine Begleitung!«, rief Emily. »Ich möchte einfach nur alleine einkaufen gehen. Ist das denn wirklich zu viel verlangt?«
Plötzlich stand der Vater im Atelier. »Was ist hier los?«
»Emily will in der Stadt essen gehen«, sagte Jimmy.
Emily warf ihm einen wütenden Blick zu. »Ich würde gern einen Schaufensterbummel machen und unterwegs etwas essen«, stellte sie richtig.
»Du wirst hier gebraucht, Emily. Heute Nachmittag kommt Aubrey Tucker zur Anprobe und die Anzughose ist noch nicht fertig. Aubrey ist einer unserer besten Kunden, wir dürfen ihn keinesfalls enttäuschen. Außerdem glaube ich kaum, dass du irgendwelchen Firlefanz benötigst«, erklärte William Scott.
Emily wusste, dass sie verloren hatte. »Schon gut. Ich bleibe hier«, gab sie verdrießlich nach. Die Wut aber verrauchte nicht.
Als Emily die Hosen für Aubrey Tucker endlich fertiggestellt hatte, war es vier Uhr nachmittags. Jimmy hatte ihr einen großen Stapel Arbeit neben die Nähmaschine gelegt, doch sie konnte sich nicht motivieren, ein weiteres Kleidungsstück in Angriff zu nehmen. Sie fühlte sich eingeengter denn je, und weil sie mittags zu erregt gewesen war, etwas zu essen, meldete sich nun ihr Magen. Im Verkaufsraum hörte sie Aubrey Tucker mit ihrem Vater reden. Sollten an seinem neuen Anzug noch Änderungen nötig sein, würde William Scott ihr das Stück sofort bringen.
Einem Impuls folgend sprang Emily auf, griff nach ihrer Handtasche und ihrem Hut und huschte zur Hintertür.
»Wo willst du hin?«, fragte Joe verblüfft.
»Heim.«
»Aber es ist erst vier Uhr!«
»Ich kann die Uhr lesen, seit ich sechs bin«, stieß Emily hervor.
»Fühlst du dich nicht wohl? Sollen wir einen Arzt holen?«
»Nein, ich bin nicht krank«, erklärte Emily erschöpft.
»Dann warte auf uns. Wir gehen zusammen nach Hause«, sagte Jimmy.
»Nein. Ich gehe jetzt. Sofort. Ich bin … müde.« Vielleicht hätte sie ihm einfach sagen sollen, dass sie nur etwas Zeit für sich wollte, doch das hätte er nicht verstanden. Es war ihr auch egal, dass sie sich vielleicht im Ton vergriffen hatte. Sie wollte nur hinaus aus diesem Gefängnis, zu dem ihr Leben geworden war. Wenigstens für eine Stunde. Und dieses Mal würde sie sich von niemandem aufhalten lassen.
Entschlossen verließ sie den Raum, zog die Tür hinter sich zu und trat auf die Straße. Sie sah sich nicht um, wusste aber, dass die Brüder ihr durch das Fenster schockiert hinterherstarrten. Fast erwartete sie, dass einer von ihnen ihr nachlaufen würde, und vor ihrem inneren Auge erschien das Bild von sich selbst, wie sie ihm gegen das Schienbein trat.
Sie trieb die Herausforderung auf die Spitze und ging nicht nach Hause, sondern schlenderte an den Schaufenstern der St. Georges Street entlang. Doch merkwürdigerweise verspürte sie weder Lust, etwas zu kaufen, noch konnte sie ihre mühsam erlangte Freiheit richtig genießen.
Um sie herum herrschte geschäftiges Treiben. Emily beobachtete voller Bewunderung die kaum knöchellangen Kleider und breitkrempigen Hüte der vorbeiflanierenden jungen Damen. Ob diese Frauen sich wohl auch wie Gefangene in einer Männerwelt fühlten? Und was war mit den jungen Männern? Waren das wirklich samt und sonders entlassene Strafgefangene, die nur darauf warteten, ihr die Unschuld zu rauben? Vermutlich nicht, aber selbst wenn manche dieser Männer keine lauteren Absichten hegten – war es nicht besser, bewusst zu leben und schlechte Erfahrungen zu machen, als das Leben sang- und klanglos an sich vorbeirauschen zu lassen?
Emily lief ziellos durch die Straßen und fühlte sich zunehmend deprimiert. Wie würde ihre Zukunft aussehen? Würde sie als alte Jungfer enden, tagein, tagaus in der Werkstatt ihres Vaters über die Nähmaschine gebeugt? Jimmy hatte ihr mitgeteilt, ihr zu gegebener Zeit einen Ehemann suchen zu wollen – vielleicht sogar einen Schneider, der die Familie zudem im Geschäft unterstützen konnte. Zu allem Überfluss hatte er offenbar noch erwartet, dass sie darüber nicht nur erfreut, sondern ihm sogar dankbar war. Doch sie hatte nichts als Entsetzen empfunden. Ihr Bruder wollte den Mann aussuchen, den sie lieben sollte? Und obendrein den Zeitpunkt ihrer Hochzeit bestimmen? Wollte er ihr etwa auch vorschreiben, wann sie Kinder zu bekommen hatte?
Jimmys Vorschlag lag mittlerweile etwa zwei Jahre zurück. Damals war Emily endgültig aufgegangen, dass ihr Wille nicht frei war und es auch nie sein würde, solange sie bei ihrer Familie lebte. Aber wie sollte sie entkommen? Dank des Verhaltens ihrer Brüder hatte sie keine Freunde, die sie unterstützen könnten. Es war hoffnungslos. Sie saß in der Falle.
Sie spürte Tränen aufsteigen und wandte ihr Gesicht dem nächstgelegenen Schaufenster zu, um sie vor den Passanten zu verbergen. Erst nach einer ganzen Weile bemerkte sie, dass vor ihr die Angebote der Arbeitsvermittlungsagentur von Bradford ausgebreitet waren. Sie bemühte sich um Haltung in der Hoffnung, dass niemand ihre Konfusion bemerkt hatte, tupfte sich die Tränen vom Gesicht und schnäuzte sich. Dann widmete sie ihre Aufmerksamkeit den Angeboten, in denen nach Köchen, Küchenhilfen, Schreibkräften und Hutmachern gesucht wurde. Plötzlich blieb ihr Blick an einer Annonce hängen.
Schneiderin gesucht.
Ihr Herz begann bei der Vorstellung einer Arbeit außerhalb des Familienunternehmens sogleich wild zu pochen, doch die Wirklichkeit holte sie schnell wieder ein. Ihr Vater und ihre Brüder würden das niemals erlauben! Dennoch studierte sie die Anzeige neugierig. Die Stelle war auf einer der riesigen, Stations genannten Farmen in der entlegenen Region der Kimberleys ausgeschrieben. Aufgeregt las sie den Text noch einmal, während sie sich vorstellte, wie es wäre, Tausende Kilometer entfernt von Perth und ohne den Druck der Familie zu leben. Ihre Gedanken überschlugen sich. Bot sich hier etwa die Möglichkeit, ihrer Familie zu entkommen? Weit weg in den Kimberleys?
Aus einem Impuls heraus betrat Emily die Agentur. Auf ihre Frage nach weiteren Einzelheiten berichtete die Angestellte, eine hübsche junge, sehr freundliche Frau, die sich als Miss Simms vorstellte, dass sich bisher keine Bewerberin auf die Stelle gefunden hätte und ihr Vorgesetzter beschlossen habe, die Anzeige aus dem Schaufenster zu nehmen.
»Interessieren Sie sich denn für die Stelle?«, fragte sie gespannt.
»Schon möglich«, antwortete Emily. Allein die Vorstellung, etwas derart Rebellisches zu planen, raubte ihr fast den Atem. Hinzu kam die Angst vor der einschneidenden Veränderung. »Aber für eine Entscheidung brauche ich mehr Informationen.«
»Am besten schreiben Sie Ihre Fragen direkt an die North Bundaloon Station. Die Antwort wird allerdings vermutlich mehrere Wochen auf sich warten lassen, denn die Post wird per Schiff verschickt. Das dauert eine Weile, und dann muss auch erst jemand von der Station in die Küstenstadt kommen und den Brief abholen.«
»Das mache ich«, meinte Emily und nahm den Zettel mit dem Namen und der Adresse entgegen. Ein paar Fragen zu stellen konnte schließlich nicht schaden. »Sollte ich mich entschließen, die Stelle anzunehmen – wie komme ich denn in die Kimberleys?«
»Nun, man fährt mit dem Zug nach Fremantle und reist von dort mit einem Schiff bis Derby«, erklärte Miss Simms. »In Derby würde der Betreiber der Station Sie vermutlich abholen lassen.«
In Emilys Ohren klang bereits die Reise abenteuerlich. »Und wie lange braucht man auf dem Seeweg von Fremantle bis Derby?«
»Je nach Wetter dürften es zwischen sechs und acht Tage sein. In der Regel fährt auf der Strecke die Sea Gull. Sollten Sie Interesse an der Stelle haben, teilen Sie das dem Besitzer der Station am besten sofort mit, damit er rechtzeitig Ihre Weiterfahrt organisieren kann.« Miss Simms schrieb die Namen des Schiffs und des Kapitäns auf und gab Emily den Zettel.
»Und wie kann ich Kontakt zu dem Kapitän aufnehmen? Wie bucht man überhaupt eine Passage?«, erkundigte sich Emily.
Die junge Angestellte lächelte. »Vielleicht ist es das Einfachste, wenn ich Ihnen die Passage buche, sobald Sie sich entschlossen haben, die Stelle anzunehmen«, meinte sie. »Sagen Sie einfach Bescheid, dann kümmere ich mich um alles Weitere.«
»Das klingt gut«, sagte Emily, erfreut über die Unterstützung.
Zwei Abende später, als alle anderen zu Bett gegangen waren, schrieb Emily an Kitty McBride auf North Bundaloon Station.
Sie teilte ihr mit, dass sie seit ihrer frühen Kindheit nähte, Kleidung entwarf und Schnitte herstellte. Sie sei sehr interessiert an der Stelle, wüsste aber gern mehr über die Art ihrer Unterbringung auf der Station. Nach dem Gehalt erkundigte sie sich nicht. Das Geld war ihr gleichgültig, für sie zählten allein eine vernünftige Unterkunft, geregelte Mahlzeiten sowie die Aussicht, endlich einmal Kleider für Frauen nähen zu können.
Als Absender gab sie die Adresse von Mabel Douglas aus der Nachbarschaft an. Die alte Dame war halb blind und litt unter schwerer Arthritis. Sie leerte ihren Briefkasten meist nicht selbst, sondern hatte Emily diese Aufgabe übertragen, was deren Chancen, einen Antwortbrief unbemerkt an sich nehmen zu können, erheblich erhöhte.
Die Zeit des Wartens auf die Antwort stürzte Emily in ein Gefühlschaos. Immer wieder versuchte sie sich vorzustellen, wie es wäre, wenn sie ihre Familie und damit das einzige ihr bekannte Leben verließ. Und fast jedes Mal wurde ihr dabei schlecht. Dann aber, wenn sie sich wieder einmal mit einer Herrenhose oder einer Anzugjacke abmühte, erschien ihr der Gedanke an einen Aufbruch ins Ungewisse verlockend und aufregend. Es war ein beständiges Auf und Ab. Dabei wusste sie nicht einmal, ob sie überhaupt den Mut aufbringen würde, allein fortzugehen. Auch wollte sie ihrer Familie keine Unannehmlichkeiten bereiten und sie schon gar nicht enttäuschen. Sie war kurz davor, Mrs McBride in einem weiteren Brief mitzuteilen, ihr Interesse an der Stelle sei erloschen, als etwas geschah, das diese Überlegung hinfällig machte.
Etwa drei Wochen nach Emilys Brief an Mrs McBride führte Joe eines Tages einen Mann in die Werkstatt. Zunächst dachte Emily sich nichts dabei, da neue Kunden manchmal einen Blick in das Atelier werfen wollten. Ihr Argwohn wurde erst geweckt, als niemand Anstalten machte, die Maße des Mannes zu nehmen, sondern Joe ihn stattdessen zu ihr an die Nähmaschine führte und ihn ihr als Herman Wiseman vorstellte.
Der Mann war recht klein. Sein fettiges Haar war bereits schütter, und er hatte eine große Hakennase und dicke Fischlippen, über denen wie eine fette Raupe ein dunkler Schnurrbart zitterte. Das einzig wirklich Gute an ihm war sein Anzug. Emily fand Herman Wiseman widerlich. Er taxierte sie unverhohlen, und als Joe mit ihren Nähkünsten zu prahlen begann, wusste Emily, dass ihr Misstrauen berechtigt war. Ihr Bruder pries sie dem unangenehmen, kleinen Mann, der mindestens doppelt so alt war wie sie, als mögliche Braut an! Allein die Vorstellung verursachte ihr Übelkeit. Und Wut. Sie war so aufgebracht, dass es ihr schwerfiel, Haltung zu bewahren.
Nach dem Besuch im Atelier unterhielt sich Mr Wiseman noch kurz mit ihrem Vater, ehe er den Laden wieder verließ.
Joe schien sehr zufrieden mit sich.
»Wie findest du Herman, Emily?«, erkundigte er sich gespannt. Er ließ ihr jedoch keine Zeit für eine Entgegnung, schon gar nicht in zumindest ansatzweise damenhafter Wortwahl, sondern fuhr fort: »Er ist Schneidermeister, verfügt über einen ausgezeichneten Ruf und besitzt ein Haus.«
Emily gelang es nicht, ihre Gefühle zu verbergen, nicht einmal um des lieben Friedens willen. »Meinetwegen kann er ein Schloss besitzen und für den König höchstpersönlich nähen«, fauchte sie. »Er interessiert mich nicht.«
»Er wäre ein wunderbarer Ehemann«, erklärte Joe geduldig. »Er könnte in unser Geschäft einsteigen. Mit seinem Kapital könnten wir endlich expandieren. Stell dir das einmal vor!«
Emily war entsetzt. »Ihr wollt mich verheiraten, damit wir unser Geschäft ausbauen können?«, fragte sie empört. »Nein, Joe, dazu lasse ich mich ganz bestimmt nicht zwingen. Lieber halte ich ein Jahr lang jeden Tag meine Hand unter die Nähmaschinennadel, als so einen Mann zu heiraten.«
Unwillig blickte Joe sie an. »Du wirst schon wieder melodramatisch, Emily. Herman ist eine richtig gute Partie. Etwas Besseres kann dir gar nicht passieren.«
Emily war fassungslos. Wollte ihr Bruder sie wirklich glauben machen, dass sie höchstens für Männer wie Herman Wiseman taugte? »Wenn er eine so gute Partie ist, wieso hat dann noch keine Frau zugegriffen? Er ist schließlich nicht mehr der Jüngste.«
»Er ist knapp fünfzig«, sagte Joe. »Genau das richtige Alter, um zu heiraten. Er ist erfolgreich, hat ein Haus und massenhaft Geld.«
Emily runzelte die Stirn. »Er ist ein alter Mann.«
»Ich kenne ihn über meinen Freund Norman. Er sagt, dass Herman, was seine künftige Gattin betrifft, immer schon sehr wählerisch war. Er ist eben ein anspruchsvoller Mensch, und das ist durchaus kein Fehler.«
»So, wie er aussieht, sollte er lieber nicht zu anspruchsvoll sein«, meinte Emily.
»Äußerliche Schönheit wird viel zu hoch bewertet, Emily. Wirklich wichtig dagegen ist Sicherheit. Geh doch wenigstens einmal mit ihm aus und gib ihm eine Chance. Vater ist einverstanden. Es wird allmählich Zeit, dass du heiratest, und Herman wäre bestimmt ein guter Ehemann. Er findet dich annehmbar – du solltest also dankbar sein.«
Sprachlos starrte Emily ihn an und ließ ihren Blick auf der Suche nach Unterstützung zu Jimmy und Charlie wandern. Doch auch sie schienen nicht für sie eintreten zu wollen. Fast wäre sie in Tränen ausgebrochen, doch dann fiel ihr North Bundaloon wieder ein. Nun gab es keinen Zweifel mehr, dass sie die Stelle annehmen würde. Sie würde sogar hinschwimmen, wenn sie müsste!
Zwei Tage später kam endlich der Brief, auf den sie so sehnsüchtig gewartet hatte. Der Ton in Kitty McBrides Antwort war eher freundschaftlich als geschäftsmäßig. Sie schrieb, dass im Haushalt neben ihrem Mann und ihrem Sohn drei erwachsene Töchter lebten, die sämtlich neu eingekleidet werden müssten, weil der letzte Einkaufsbummel in Perth mittlerweile fünf Jahre zurücklag. Die Aussicht, eine komplette Garderobe für vier Frauen entwerfen und nähen zu dürfen, begeisterte Emily. Mrs McBride bot ihr einen Vertrag für sechs Monate, ein bescheidenes Gehalt sowie Kost und Logis. Außerdem würde sie die Kosten der Anreise mit dem Schiff namens Sea Gull übernehmen. Sie schlug vor, dass Emily die Passage buchen sollte, die um den 18. November in Derby erwartet wurde. Einer ihrer Angestellten würde sie bei ihrer Ankunft in dem Küstenstädtchen erwarten und zur Station bringen. Emily war begeistert. Der Zeitplan passte perfekt.
Auch über die Station und die ausgedehnten Ländereien von North Bundaloon, wo Schafe und Rinder gezüchtet wurden, berichtete Mrs McBride. Das Wohnhaus liege sehr isoliert etwa vierzig Kilometer von Derby an der Nordwestküste entfernt. Mrs McBride betonte, dass Emily darauf vorbereitet sein sollte, ihr Sozialleben für die Dauer ihres Vertrages aufgeben zu müssen. Beinahe hätte Emily laut aufgelacht. Sozialleben? Da gab es nichts aufzugeben. Die Frau konnte ja nicht ahnen, wie sehr sich Emily danach sehnte, endlich einmal viel Zeit mit anderen Frauen zu verbringen und gleichzeitig ihren überfürsorglichen Brüdern und vor allem Herman Wiseman zu entkommen. Die Kimberleys waren dafür wie geschaffen. Wenn auch zunächst nur für sechs Monate. Danach würde sie einfach weitersehen.
Am folgenden Tag schützte Emily in der Werkstatt heftige Kopfschmerzen vor und erklärte, nach Hause gehen zu wollen. Stattdessen jedoch machte sie sich auf den Weg zur Arbeitsvermittlung.
»Ich nehme die Stelle an, Miss Simms!«, verkündete sie der jungen Angestellten. »Mrs McBride meinte, ich solle mit der Sea Gull reisen, die um den 18. November herum in Derby sein soll. Wann legt das Schiff in Fremantle ab?«
Miss Simms strahlte. »Ich freue mich für Sie! Ich habe mich bereits informiert – für den Fall, dass Sie interessiert wären. Die Sea Gull verlässt Fremantle am Vormittag des 12. November. Schaffen Sie das?«
»Ich denke schon«, erklärte Emily mit heftig pochendem Herzen.
»Wenn Sie morgens den ersten Zug nach Fremantle nehmen, sind sie rechtzeitig um zehn Uhr am Hafen.«
»Das klingt gut«, sagte Emily, doch sie war hin- und hergerissen zwischen Vorfreude und Angst. Sie würde tatsächlich aufbrechen in eine andere Welt! Weg aus dem Gefängnis, weit weg von Herman Wiseman und hin zu einem Leben, das hoffentlich endlich einmal selbstbestimmt und frei war. Wichtig war nun vor allem, sich nichts anmerken zu lassen. Nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn ihre Brüder oder ihr Vater Wind von ihrer Entscheidung bekommen würden. Sie würde sich so gut es ging zusammennehmen müssen, auch wenn ihr das in diesem Augenblick schier unmöglich erschien. Auch die wenigen praktischen Vorbereitungen wie das Packen würde sie in aller Heimlichkeit vornehmen müssen. Das würde nicht leicht werden, aber es war machbar. Sie war froh, dass sie das wenige Taschengeld, das sie in den letzten Jahren erhalten hatte, eisern gespart und somit etwas Geld in der Hinterhand hatte. Nichts und niemand konnte sie jetzt noch daran hindern, in weniger als zwei Wochen die Sea Gull zu besteigen. Entschlossen wandte sie sich an die junge Angestellte. »Ich habe noch eine Frage: Ich würde gerne meine eigene Nähmaschine mitnehmen. Aber ich kann sie natürlich nicht tragen, dazu ist sie viel zu schwer. Gibt es eine Möglichkeit, sie zum Hafen zu transportieren?«
Miss Simms lächelte sie freundlich an. »Das sollte kein Problem sein. Könnten Sie sie in eine Kiste packen?«
»Selbstverständlich.« Emily nickte erleichtert. Sie würde sich schon eine Gelegenheit dafür verschaffen, am besten zu einem Zeitpunkt, an dem niemand sonst im Haus war.
»Gut, dann lasse ich die Kiste kurz vor dem Termin abholen und zum Hafen bringen. Wie wäre es mit dem 11. November? Das ist ein Freitag.«
Emily nickte. Freitags ging Onkel Freddy vormittags immer auf den Wochenmarkt, während sie in der Schneiderei arbeiteten. Da würde sie die Maschine schon irgendwie aus dem Haus schaffen können. »Das ist sehr gut. Die Maschine wäre um halb zehn abholbereit. Ginge das in Ordnung?«
Miss Simms nickte zustimmend. »Wunderbar. Ich gebe dem Kapitän der Sea Gull Bescheid. Jetzt brauche ich nur noch Ihre Adresse.«
Emily machte sich sogleich daran, einen Plan für das Verpacken der Nähmaschine zu schmieden. Schnell entschied sie sich, das Wagnis am Sonntag anzugehen, wo die gesamte Familie Scott für gewöhnlich gemeinsam den Gottesdienst zu besuchen pflegte und niemand ihr Tun bemerken würde. Sie machte sich fertig für den Kirchgang, klagte jedoch im letzten Moment über Kopfschmerzen, wie so oft in letzter Zeit. Sie hasste diese Unehrlichkeit, aber der Zweck heiligt bekanntlich die Mittel, und hier ging es um ihre Zukunft. Ihr Vater und Onkel Freddy machten sich große Sorgen wegen ihres offensichtlich zunehmend angeschlagenen Gesundheitszustands und nahmen ihr das Versprechen ab, so bald wie möglich einen Arzt zu konsultieren. Emily versprach es in dem Bewusstsein, dass ihre Tage in Perth gezählt waren.
Nachdem alle das Haus verlassen hatten, stieg sie in den Keller und nahm die alte Nähmaschine auseinander, die schon seit Jahren dort stand und die vermutlich niemand vermissen würde. Sie schob eine Kiste in eine Ecke des Kellers und verstaute die Nähmaschinenteile darin. In den folgenden Tagen befürchtete sie zwar ständig, dass jemand die Kiste entdecken und unangenehme Fragen stellen könnte, doch nichts dergleichen geschah.
Als der Freitag schließlich kam, waren Emilys Nerven zum Zerreißen gespannt. Sie würde zunächst versuchen müssen, ihre Brüder und ihren Vater abzuschütteln, und dann darauf hoffen, dass auch Onkel Fred rechtzeitig das Haus verließ, um die Kiste unbemerkt abholen zu lassen. Für gewöhnlich liefen Emily, ihr Vater und ihre Brüder gemeinsam zu Fuß in das nur wenige Straßen entfernte Ladenlokal. William Scott öffnete sein Geschäft an sechs Tagen in der Woche jeden Morgen um Viertel vor neun, und nicht selten kam es vor, dass um diese Zeit bereits Kunden vor der Tür warteten.
Es war kein Geheimnis, dass Emily morgens immer viel Zeit benötigte. An diesem Freitagmorgen jedoch gab sie bewusst vor, verschlafen zu haben und nicht schnell genug fertig zu werden. Da ihr Vater und ihre Brüder nicht zu spät kommen wollten, sahen sie sich gezwungen, ohne Emily aufzubrechen, drängten sie aber, so schnell wie möglich nachzukommen. Emily entging die Sorge ihres Vater wegen ihrer Wesensveränderung nicht, und sie betete inständig, dass diese Sorge nicht zu Zweifeln führte, dass irgendetwas nicht stimmte.
Minuten dehnten sich zu Stunden. Endlich brach Onkel Freddy zum Markt auf. Er kramte in der Küche herum, suchte nach Taschen und nach seinem Schlüssel und brachte Emily fast um den Verstand. Nur Augenblicke vor dem vereinbarten Abholtermin verließ er das Haus.
Um halb zehn stellte Emily sich ans Fenster und wartete. Minute um Minute verstrich. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Was, wenn Freddy plötzlich umkehrte, weil er etwas vergessen hatte? Oder wenn einer ihrer Brüder nach Hause kam, um nach ihr zu schauen? Sollte ihr mühsam ausgeklügelter Plan vielleicht doch noch zum Scheitern verurteilt sein?
Um Viertel vor zehn hielt endlich ein Lastwagen vor dem Haus, und zwei starke Männer verluden die mit Emilys Namen und dem Namen des Schiffs gekennzeichnete Kiste. Emily unterschrieb die notwendigen Papiere und ließ sich noch einmal bestätigen, dass die Kiste noch heute nach Fremantle und auf die Sea Gull gebracht werden würde. Nachdem die Männer sich verabschiedet und den Wagen gewendet hatten, blickte Emily sich nervös um. Was, wenn jetzt einer ihrer Brüder um die Ecke bog?!
»Was war denn das, Emily?«, erkundigte sich Mabel Douglas, die plötzlich am Gartentor aufgetaucht war.
Emily zuckte zusammen. »Jetzt haben Sie mich aber erschreckt, Mrs Douglas!«, keuchte sie, während sie fieberhaft nach einer plausiblen Erklärung suchte.
»Tut mir leid, Kleine. Was war das für eine Kiste?«, hakte die alte Dame neugierig nach.
»Oh, nur eine alte Nähmaschine, die repariert werden muss«, improvisierte Emily.
»Repariert dein Vater die Nähmaschinen denn nicht mehr selbst?«
»Doch, normalerweise schon, aber bei dieser ging es nicht«, antwortete Emily mit klopfendem Herzen. Sie hoffte inständig, dass die stark kurzsichtige Nachbarin weder ihren Namen noch den Namen des Schiffs hatte entziffern können. »Es ist eine sehr alte Nähmaschine und Ersatzteile dafür sind kaum noch zu bekommen. Aber ich habe auf dieser Maschine nähen gelernt, und sie liegt mir und ihm am Herzen. Ich möchte sie als Überraschung für ihn reparieren lassen. Also sagen Sie ihm bitte nichts.« Sie zweifelte, dass Mabel alles verstanden hatte, aber die alte Dame nickte und ging zurück in ihr Haus. In diesem Augenblick sah Emily Charlie um die Ecke biegen. Er ging direkt an dem Laster mit der Kiste vorbei und warf sogar einen Blick darauf! Ob er ihren Namen gesehen hatte? Emily zitterte am ganzen Körper, während er auf sie zukam.
»Ist alles in Ordnung, Emily?«, fragte Charlie. »Dad macht sich Sorgen um dich.«
»Ich wollte gerade kommen«, erklärte Emily erleichtert. Offenbar hatte er nichts bemerkt.
»Gut, ich begleite dich«, sagte Charlie. »Ich muss dir nämlich etwas sagen. Die Idee wird dir vielleicht nicht sofort gefallen, aber mit der Zeit wirst du dich sicher daran gewöhnen.«
»Worum geht es denn, Charlie?«
»Du gehst heute Abend aus.«
»Tue ich das? Wohin denn?« Emily sah ihn misstrauisch an. »Oder sollte ich vielleicht lieber fragen: Mit wem?«
»Herman Wiseman führt dich heute Abend ins Hotel Australia aus. Zu einem Dinner mit Show.«
Emily war entsetzt. »Dieser Widerling? Mit dem gehe ich nirgendwohin.«
»Ich habe Erkundigungen über ihn eingezogen. Deinetwegen. Er hat einen ausgezeichneten Ruf. Wir alle haben das Gefühl, dass er der Richtige für dich ist. Gib ihm eine Chance. Er holt dich heute Abend um halb sieben ab.«
Emily widerstand dem Impuls, den Vorschlag mit aller Konsequenz zurückzuweisen. Sie wollte ihren Bruder nicht verärgern und damit vielleicht sogar ihre Pläne in Gefahr bringen. Möglicherweise konnte sie die Sache noch aufschieben.
»Unmöglich. Ich habe nichts Passendes anzuziehen. Schließlich durfte ich bisher noch nie ausgehen«, murrte sie.
»Keine Sorge, du bekommst ein Kleid. Onkel Freddy wird dir gleich eines kaufen.«
Emily fehlten die Worte, aber sie kämpfte ihre Wut nieder. Immerhin hatte sie vor, am folgenden Morgen vor Tau und Tag aufzubrechen und wollte keinesfalls für eine Aufregung sorgen, die der Familie möglicherweise eine schlaflose Nacht eingebracht hätte.
Pünktlich um 19 Uhr 25 fuhr Herman Wiseman mit seinem glänzenden Ford Model T Tourer Baujahr 1910 vor. Als Emily umringt von ihren Brüdern und ihrem Vater an der Tür erschien, glitt sein Blick gierig über ihren Körper. Sie fühlte sich wie eine Milchkuh vor dem Preisrichter.
Herman begrüßte sie herablassend. »Guten Abend, Emily. Sie sehen … köstlich aus.« Emily schauderte. Sie war durchaus attraktiv, wenn vielleicht auch nicht im Sinne klassischer Schönheit. Sie war ziemlich groß, ihr Körper war wohlgeformt, ebenso wie ihr Mund, ihre Haut war blass und rein, ihr lockiges Haar trug sie schulterlang. Heute trug sie ein cremefarbenes Kleid mit Goldbiesen, das Onkel Freddy für sie erstanden hatte, und dazu einen passenden Hut, den sie mit einer goldenen Hutnadel in Seepferdchenform befestigt hatte. Sie ärgerte sich, dass sie ihr erstes neues und sogar recht modisches Kleid nur bekommen hatte, um mit einem Mann auszugehen, den sie verabscheute. Sie sah wirklich hübsch aus, auch wenn sie sich an diesem Abend keinerlei Mühe mit ihrem Äußeren gegeben hatte. Herman Wiseman zu gefallen war wirklich das Letzte, was sie wollte.
Emily war außer Stande, eine höfliche Antwort auch nur zu murmeln. Sie fühlte sich hundeelend, und so schlich sie nur mit gesenktem Kopf an Wiseman vorbei. Sie hörte noch, wie ihr Vater sich hastig für ihr Verhalten entschuldigte und es auf die Nervosität seiner Tochter schob.
Sichtlich stolz öffnete Wiseman ihr den Wagenschlag und gab damit den Blick frei auf die luxuriöse Lederausstattung im Inneren des Wagens. Doch Emily enthielt sich eines Kommentars, ganz im Gegensatz zu ihrem Vater und ihren Brüdern, die Emilys Mangel an Begeisterung mehr als wettmachten. Sie überboten sich förmlich in Komplimenten für das Auto. Emily warf ihnen bei der Abfahrt einen vorwurfsvollen Blick zu, den sie in ihrer Selbstzufriedenheit jedoch kaum wahrnahmen. Vermutlich waren sie in Gedanken bereits mit dem geplanten Geschäftsausbau beschäftigt.
Während der Fahrt hielt sie den Blick fest auf die Straße geheftet, spürte jedoch, dass Herman sie von der Seite beäugte. Verstohlen rutschte sie auf ihrem Sitz so weit wie möglich von ihm fort. Nein, diesen Mann würde sie sicher nicht heiraten. Immer wieder führte sie sich vor Augen, dass sie am nächsten Tag um die gleiche Zeit längst an Deck der Sea Gull stehen und sich frischen Seewind um die Nase wehen lassen würde. Die Freiheit wartete.
Im Hotel Australia wurden sie in ein Separee oberhalb der Showbühne geleitet. Herman bestellte Wein. Der Kellner brachte das Getränk, schenkte Herman ein und füllte dann Emilys Glas zur Gänze, ohne sie vorher kosten zu lassen. Anschließend bestellte Herman selbstherrlich und ohne Emily nach ihren Wünschen zu fragen das Essen – eine leichte Kartoffel-Lauch-Suppe, Boeuf Bourguignon mit Gemüse sowie ein Tiramisu aus Apfel und Rhabarber – alles jeweils für zwei Personen.
Emily spürte Wut in sich aufwallen, während sie dem Kellner ihre Speisekarte zurückgab. Und plötzlich machte die Gewissheit, dass sie nie und nimmer Hermans Frau werden würde, sie stark. Sie nahm sich ein Herz und fragte ihn: »Haben Sie sich eigentlich Gedanken darüber gemacht, ob ich überhaupt Rindfleisch oder Rhabarber mag?«
»Nein, habe ich nicht. Aber ich liebe es, also wirst du es ebenfalls lieben lernen«, entgegnete Herman ohne den geringsten Zweifel.
»Wenn Sie meinen«, murmelte Emily und nippte an ihrem Wein.
»Wie bitte?«
»Oh, ich habe nur gesagt, dass der Wein recht gut ist«, redete Emily sich heraus.
»Recht gut! Hör zu, meine Liebe, das ist ein 1910er Chateau Latour aus Pauillac in Frankreich. Diese Flasche kostet ein Vermögen.«
»Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, erwiderte Emily sarkastisch. »Aber wenn Sie mich damit zu beeindrucken versuchen, ist das reine Geldverschwendung. Ich kann nämlich einen Latour-Wein nicht von einem beliebigen Apfelwein unterscheiden.«
Herman schüttelte entsetzt den Kopf. »Das werden wir so bald wie möglich ändern«, erklärte er.
Glücklicherweise wurde in diesem Moment das Licht im Saal abgedunkelt und die Vorstellung begann. Emily heuchelte großes Interesse, um sich nicht weiter mit Wiseman unterhalten zu müssen.
Kurz darauf wurde die dampfende Suppe serviert. Herman ließ den Kellner warten, während er die Vorspeise mit viel Aufhebens kostete.
»Sie ist weder ausreichend gewürzt noch heiß genug«, behauptete er, salzte und pfefferte nach und kostete das Gericht erneut wie ein routinierter Feinschmecker.
Emily hatte zwar keinen Appetit, kostete ihre Suppe aber ebenfalls. Um Herman zu ärgern, sagte sie freundlich zu dem besorgten Kellner: »Also ich finde diese Suppe geradezu perfekt. Sie ist ausgezeichnet gewürzt und durchaus heiß genug.«
Herman runzelte missbilligend die Stirn, äußerte sich aber nicht weiter. Geräuschvoll schlürfte er seine Suppe, wobei er seinen pompös beringten kleinen Finger abspreizte. Hätte Emily überhaupt Appetit gehabt, wäre er ihr bei diesem Anblick sofort vergangen. Wie konnte ihre Familie bloß von ihr erwarten, diesen widerlichen Esel zu heiraten?
Das Licht im Saal wurde noch weiter abgedunkelt. Der Kellner zündete Kerzen auf dem Tisch an. Emily, die sich ohnehin schon angespannt fühlte, erstarrte geradezu, als Herman näher an sie heranrückte. Ostentativ wandte sie den Blick nicht von der Bühne. Herman murmelte ihr eine anzügliche Bemerkung über die knapp bekleideten Tänzerinnen ins Ohr. Sie ging nicht darauf ein, sondern lehnte sich ein Stück vor, als widme sie sich voll und ganz ihrer Suppe. Einen Augenblick später spürte sie seine Hand auf ihrem Oberschenkel, kurz oberhalb des Knies. Sie erstarrte mitten in der Bewegung, mit dem Suppenlöffel kurz vor ihrem Mund. Als die Hand ein Stück weiter ihren Schenkel hinaufrutschte, legte Emily den Löffel auf den Tisch, stieß die Hand beiseite und warf ihrem Begleiter einen finsteren Blick zu. Anstatt es jedoch bei diesem Versuch zu belassen, legte ihr Begleiter seine Hand sofort wieder auf ihren Oberschenkel.
»Behalten Sie Ihre Finger bei sich, Mr Wiseman«, zischte Emily und stieß seine Hand wieder fort.
»Du wirst schon sehr bald meine Frau sein«, raunte er mit lüsternem Grinsen. »Was also spricht gegen eine etwas intimere Bekanntschaft?« Der Raupenschnurrbart zitterte über seiner Oberlippe.
Emily starrte ihn an. »Wir werden uns niemals intimer kennenlernen!«, fauchte sie vernehmlich.
»Und ob wir das werden, meine Liebe! Dein Vater ist sehr erpicht darauf, sein Geschäft zu vergrößern. Wenn du nicht tust, was ich will, wird nichts aus seinen Expansionsplänen.«
Emily spürte, wie seine Finger weiter nach oben wanderten und Druck auf ihren Oberschenkel ausübten. Als er einen grunzenden Laut ausstieß, wie ein Tier, packte Emily ihre Suppentasse und kippte den Inhalt in seinen Schoß. Die angeblich nicht ausreichend heiße Suppe entlockte ihm einen überraschten Schmerzenslaut. Emily sprang auf.
»Wenn mein Vater wüsste, dass Sie meine Beine betatschen, würde er Sie nie und nimmer als Partner akzeptieren, Sie alter Lüstling!«, rief sie.
Nur Augenblicke später stand sie auf der Straße. Sie atmete tief durch und machte sich mit hastigen Schritten auf den Heimweg.
Als Emily die Wohnungstür öffnete, kam ihr Vater aus dem Wohnzimmer.
»Ich habe Hermans Wagen gar nicht gehört«, sagte er und warf einen skeptischen Blick auf ihre geröteten Wangen.
Emily hatte sich die Antwort unterwegs zurechtgelegt. Zu behaupten, dass es ihr gefallen hätte, war sie nicht in der Lage.
»Ich habe ihn gebeten, mich an der Ecke abzusetzen, damit der Motorlärm die Nachbarn nicht stört«, flunkerte sie.
»War das Essen gut?«, erkundigte er sich.
»Ach, weißt du, Herman hat etwas Französisches und Wein bestellt, und das bin ich nicht gewöhnt«, antwortete sie ohne ihn anzusehen und machte Anstalten, in ihr Zimmer zu gehen.
»Ja, er hat den Geschmack eines welterfahrenen Mannes«, stellte William Scott beeindruckt fest. »Wenn du erst seine Frau bist, wirst du sicher die wirklich schönen Dinge des Lebens kennenlernen, Emily.«
Emily konnte sich nur mit Mühe beherrschen, ihm nicht zu erzählen, was für ein widerlicher Lüstling Herman Wiseman war. Sie wollte, dass ihre letzte Nacht zu Hause friedlich verlief.
»Ich möchte jetzt gern schlafen gehen, Dad«, sagte sie. Beinahe hätte sie noch ein »Bis morgen« hinzugefügt, doch sie brachte es nicht über die Lippen und verabschiedete sich mit einem schlichten »Gute Nacht«.
In ihrem Zimmer machte sie sich sogleich daran, einen Abschiedsbrief zu schreiben, den sie auf ihrem Nachttisch deponieren wollte. Sie brauchte dafür viele Stunden, zerknüllte das Geschriebene mehrmals und warf es in den Papierkorb, setzte neu an, formulierte um. Sie wusste, dass sie die Familie ausgerechnet zu einem Zeitpunkt verließ, wo sehr viel zu tun war, und entschuldigte sich dafür, andererseits war sie sicher, dass es keine Zeit gab, die günstig wäre. Nun hatte sich eine Gelegenheit ergeben und die würde sie nicht verstreichen lassen.
Sie schrieb, sie habe für sechs Monate eine Stelle als Näherin angenommen, die auch Kost und Logis bot, sie sollten sich keine Sorgen machen. Gern hätte sie die zahlreichen Gründe erläutert, warum sie fortging, aber das wäre vergebliche Mühe gewesen. Onkel Freddy hätte sie vielleicht verstanden, ihre Brüder und ihr Vater aber sicher nicht. In einer der vielen Versionen erwähnte sie sogar North Bundaloon als Namen der Station, entschied sich dann aber dagegen, ihren genauen Aufenthaltsort zu verraten. Vor ihrem inneren Auge tauchte das Bild ihrer Brüder auf, die sie unter wildem Protest zurück nach Hause schleiften, geradewegs in die Arme des lüsternen Herman Wiseman.
Nein, sie würde nicht auf Einzelheiten eingehen und es doch lieber bei einer kurzen Nachricht belassen. Für ihre Familie wäre es ohnehin schockierend genug.
Am nächsten Morgen um fünf Uhr schlüpfte Emily aus dem Haus und machte sich auf den Weg zum Bahnhof. Es war befremdlich, mit einem Koffer in der Hand allein durch die Dunkelheit zu laufen. Als sie an ein paar Männern vorüberkam, die ihr vieldeutige Blicke zuwarfen, musste sie all ihren Mut zusammennehmen. Jeder Nerv in ihr war zum Zerreißen gespannt. Heute begann ihr neues Leben.
Der Weg zum Bahnhof erschien ihr endlos, und ihr Koffer wurde mit jedem Schritt schwerer. Noch war auf den Straßen nicht viel los. Sie sah den Milchmann auf seinem Pferdekarren, einen Bäcker, der seinen Laden öffnete, und einen Zeitungsjungen. Manchmal spielte ihre Fantasie ihr einen Streich und sie glaubte, die Schritte eines ihrer Brüder hinter sich zu hören, der sie verfolgte.
Als sie den Bahnhof schließlich erreichte, zitterte sie am ganzen Körper. Ihre Stimme bebte, als sie den Bahnhofsvorsteher nach dem richtigen Gleis fragte.
»Der Zug nach Fremantle geht aber erst um halb neun, Miss«, sagte der Beamte und zeigte auf die große Bahnhofsuhr. Es war noch nicht einmal sechs.
»Ich weiß«, murmelte Emily, »aber ich wollte ihn keinesfalls verpassen.« Im selben Augenblick fiel ihr auf, wie albern das klang.
Der Beamte schien ihre Unsicherheit zu spüren. »Der Zug fährt am Bahnsteig drei ab«, sagte er freundlich. »Sie haben also noch viel Zeit, im Bahnhofscafé eine schöne Tasse Tee zu trinken. Es öffnet um sechs Uhr.«
Sie bedankte sich und wandte sich ab.
Um sechs Uhr war Emily die erste Kundin im Café. Sie setzte sich an einen abseits gelegenen Tisch im hinteren Bereich und bestellte eine Tasse Kakao. Außerdem kaufte sie eine Zeitung, hinter der sie sich vor neugierigen Blicken verbergen konnte.
Die Minuten vergingen wie Stunden. Allmählich füllten sich Bahnhofshalle und Café mit Menschen. Emily spürte immer deutlicher, dass die Anspannung erst von ihr abfallen würde, wenn die Sea Gull abgelegt hatte. Immer wieder warf sie besorgt einen Blick aus dem Fenster, manchmal in der festen Überzeugung, dass einer ihrer Brüder ihre Fährte aufgenommen hatte.
»Dürfte ich mich zu Ihnen setzen?«, erkundigte sich plötzlich eine freundliche Stimme.
Emily zuckte erschrocken zusammen und ließ die Zeitung sinken. Eine Frau mittleren Alters stand vor ihr. Längst waren alle Tische des Cafés besetzt.
»Wenn es sein muss«, sagte Emily ohne nachzudenken.
»Ich kann mir gern auch einen anderen Platz suchen«, erklärte die Dame. Ihre Stimme klang warm.
»Nein, setzen Sie sich ruhig zu mir«, bat Emily und stand höflich auf. Beschämt wurde ihr bewusst, wie unfreundlich sie gewesen war.
»Sind Sie ganz sicher?«, erkundigte sich die Frau.
»Aber gern. Ich freue mich über nette Gesellschaft«, sagte Emily und bemerkte, dass die Dame neben einem Koffer auch einen Gehstock bei sich hatte. Emily rückte ihr einen Stuhl zurecht, nahm ihr das Gepäck ab und stellte es neben ihren eigenen Koffer an die Wand.
»Danke, das ist sehr nett«, sagte die Lady und nahm mit einem Stöhnen Platz.
»Geht es Ihnen gut?«, erkundigte sich Emily.
»Es ist nur mein Knie. Im Moment schmerzt es höllisch, aber sobald ich ein wenig ausgeruht habe, wird es besser sein. Ich heiße übrigens Annie Williams.« Sie streifte einen Handschuh ab und reichte Emily eine gepflegte Hand, an der zwei goldene Ringe glänzten.
»Emily … Emily Scott«, stellte Emily sich vor. Noch während sie ihren Namen aussprach, überlegte sie, ob es nicht besser gewesen wäre, einen falschen Namen zu nennen. Sie schalt sich selbst. In Sachen List taugte sie wirklich nicht viel!
Sie musterte Mrs Williams, doch sie schien keinen Verdacht zu schöpfen. Emilys Blick wanderte zu einer wundervollen Brosche am Kleid ihres Gegenübers, das der neuesten Mode entsprach. Offenbar hatte sie ganz schön was an den Füßen, wie Onkel Freddy es vermutlich ausgedrückt hätte. Emily fühlte sich in ihrem abgetragenen Kleid neben ihr plötzlich geradezu schäbig.
»Schmeckt der Kakao nicht?«, fragte Annie, während sie den zweiten Handschuh ablegte.
»Ich weiß nicht«, gab Emily zurück, die jetzt erst bemerkte, dass sie ihr Getränk noch nicht angerührt hatte.
Annie drehte sich um und rief einen Kellner. »Zwei heiße Kakao bitte!«, bestellte sie und reichte ihm Emilys abgekühlte Tasse.
Emily fühlte sich wie eine arme Verwandte. »Meinetwegen müssen Sie keinen neuen Kakao bestellen, Mrs Williams«, sagte sie verlegen. »Ich hätte ihn auch kalt getrunken.«
»Kalter Kakao ist eine Sünde! Und nennen Sie mich doch bitte Annie«, stellte die Dame freundlich richtig.
Der Kellner brachte zwei Tassen Kakao, die Annie bezahlte. »Nehmen Sie Zucker?«, erkundigte sie sich und griff zur Zuckerzange.
»Ja gern. Ein Stückchen bitte.«
»Darf ich wissen, wohin Sie unterwegs sind?«, fragte Annie, während Emily ihren Kakao umrührte.
»Fremantle«, antwortete Emily hastig.
»Sieh an – ich auch«, sagte Annie. »Aber Sie wissen sicher, dass der Zug erst in knapp zwei Stunden abfährt.«
»Ja, ich weiß«, nickte Emily mit einem Blick auf die große Bahnhofsuhr, die sie von ihrem Platz aus sehen konnte.
»Wenn mein Knie so verrücktspielt wie heute, schlafe ich sehr schlecht. Deshalb bin ich so früh hier. Sie scheinen auf jemanden zu warten, oder?«
Emily senkte den Blick und starrte in ihren Kakao. »Nein, ich warte auf niemanden«, flüsterte sie. »Ich reise allein.« Die Worte waren in diesem Moment ein Spiegel ihrer Seele. Zum ersten Mal seit ihrem Aufbruch fühlte sie sich wirklich allein. Sie spürte Annies Blick und nahm sich zusammen. »Fahren Sie von Fremantle aus mit dem Schiff weiter?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln.
»Ja, ich habe auf der Sea Gull eine Passage nach Broome gebucht. Und Sie?«
Emily traute ihren Ohren nicht. »Wie schön! Ich reise auch mit der Sea Gull. Nach Derby.«
»Nach Derby?« Annie musterte sie erstaunt. »Aber da ist doch absolut nichts los!«
»Ich bleibe gar nicht in der Stadt. Ich habe eine Stellung als Schneiderin auf einer großen Station angenommen und freue mich schon sehr darauf.«
»Tatsächlich? Das Leben auf einer Station unterscheidet sich aber sehr vom Leben in einer großen Stadt wie Perth«, meinte Annie, rührte ihren Kakao um und kostete.
»Das mag sein, aber dort kann ich endlich einmal Damenkleider schneidern anstatt wie bisher immer nur Herrenanzüge.«
»Aha, dann haben Sie also in einer Schneiderei gearbeitet?«
Emily zögerte kurz, beschloss aber dann, das Geschäft ihres Vaters zu erwähnen.
»Mein Vater näht seit seiner frühesten Jugend und besitzt eine Maßschneiderei. Meine Brüder und ich hatten gar keine andere Wahl, als in das Geschäft einzusteigen.«
»Und was sagt Ihr Vater dazu, dass Sie jetzt fortgehen? Oder sollte ich das lieber nicht fragen?«
Emily wandte den Blick ab. »Er wird sicher nicht glücklich darüber sein«, sagte sie leise, wohl wissend, dass dies eine drastische Untertreibung war.
»Dann weiß er es also noch gar nicht? Und Sie haben Angst, er könnte Sie im letzten Augenblick daran hindern?«
Emily nickte und warf erneut einen Blick aus dem Fenster. »Ist das so offensichtlich?« Plötzlich schrak sie zusammen, als ihr in den Sinn kam, dass ihr Vater sie vielleicht sogar von der Polizei suchen lassen würde.
»Ich fürchte ja. Ihre Nervosität ist nicht zu übersehen.«
Erschrocken starrte Emily sie an. »Glauben Sie, dass meine Familie die Polizei informiert?«, flüsterte sie. Noch schliefen vielleicht alle, aber was würde geschehen, wenn sie aufwachten und feststellten, dass sie nicht da war?
Annie warf ihr einen beruhigenden Blick zu. »Ich denke, Sie sind älter, als Sie aussehen. Oder?«
»Ich bin zweiundzwanzig«, sagte Emily.
»Ich hätte Sie auf höchstens neunzehn geschätzt. Und in Ihrem Alter ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Polizei aktiv wird.« Annie blinzelte ihr verschmitzt zu, und Emily musste lachen.
»So gefallen Sie mir schon viel besser«, grinste Annie. »So, und jetzt kommen Sie mit.« Sie stand mühsam auf und streifte die Handschuhe über.
Emily erhob sich erleichtert. Vermutlich hatte Annie recht. Selbst wenn ihr Vater zur Polizei gehen würde, war es nicht sehr wahrscheinlich, dass die Beamten sich auf die Suche nach ihr machen würden. Sie holte ihren und Annies Koffer. »Wo gehen wir hin?«
»An einen Ort, an dem Sie bis zur Abfahrt entspannen können«, sagte Annie und wandte sich zur Tür. »Bei Ihrem Anblick werde ja sogar ich nervös.«
Im morgendlichen Dämmerlicht überquerten sie die Straße und gingen zu einem winzigen Café, das dem Bahnhof gegenüber versteckt in einer Passage zwischen einem Hutladen und einer Uhrmacherei lag. Es machte gerade auf.
»Ich kenne die Eigentümer seit vielen Jahren«, sagte Annie und winkte dem Paar hinter dem Tresen zu. »Sie sind sehr nett und kochen vorzüglich.« Ihre Stimme wurde leiser. »Sie sind Inder, aber da die meisten Einheimischen sich schwertun, Fremde zu akzeptieren, ist es hier nie überfüllt. Genau das Richtige für uns.«
Sie setzten sich an einen Tisch, von dem aus die Straße und der Bahnhof zu überblicken waren.
Emily entspannte sich mit jeder Minute mehr. »Herzlichen Dank, Annie«, sagte sie. »Hier fühle ich mich sicher. Ich glaube, im Bahnhofscafé hätten meine Nerven nicht mehr bis zur Abfahrt durchgehalten.«
»Gern geschehen. So, und jetzt frühstücken wir beide erst einmal.«
Sie bestellten ein herzhaftes Frühstück. Während sie mit großem Appetit zugriffen, erzählte Annie von ihrem Mann, der sich mit Leib und Seele der Fischerei verschrieben hatte, und von ihren beiden Söhnen, deren Ehefrauen und von ihren Enkelkindern. Auch über ihr Leben vor der Heirat sprach sie.
»Ich habe als Maskenbildnerin bei einer Vaudeville-Show gearbeitet. Dort habe ich Desmond kennengelernt, er war der Produzent und ein verflixt gut aussehender Kerl. Alle Tänzerinnen waren verliebt in ihn. Wir traten einige Monate in Perth auf und gingen dann auf Tournee, spielten in vielen Goldgräbersiedlungen, bis hinüber nach Kalgoorlie. Ich kann mich gut erinnern, dass die Arbeit wirklich hart war, aber ich war blind vor Liebe. Die ganze Reise kam mir wie ein unendliches Abenteuer vor.« Sie lachte.
»Das klingt alles faszinierend und sehr romantisch«, sagte Emily ehrfürchtig.
»Das war es wohl auch, trotz der Hitze und der vielen Fliegen. Dabei sind es weder die Vorstellungen noch die Entdeckung der aufregenden und für mich unbekannten Städte, an die ich mich am besten erinnere, sondern vielmehr die Schwierigkeit, die Schminke auf den ständig schwitzenden Gesichtern zu fixieren.« Wieder musste Annie lachen. »Wie auch immer: Desmond und ich kehrten nach Perth zurück, heirateten und gründeten eine Familie. Danach arbeitete er als Theaterproduzent hier in der Stadt. Ich half manchmal in der Maskenbildnerei aus, aber wir gingen wegen der kleinen Kinder nicht mehr auf Tournee.«
Noch nie hatte Emily eine Frau wie Annie kennengelernt. Sie hatte ein aufregendes Leben geführt, aber wenn sie erzählte, klangen selbst ihre kleinen Alltagsgeschichten richtig fesselnd.
»Bis heute sehe ich in jedem Gesicht eine Art leere Leinwand«, sagte Annie und studierte Emilys Züge. »Sie zum Beispiel, Sie würde ich liebend gern einmal schminken. Sie sind wirklich hübsch, haben ein keckes Näschen, ein perfektes Kinn, hohe Wangenknochen und wunderschöne grüne Augen.«
»Habe ich nicht«, protestierte Emily ernst.
»Sie glauben nicht, dass Ihre Augen grün sind?«
»Doch, aber es ist ein langweiliges Grün. Und ansonsten sehe ich ziemlich durchschnittlich aus.«
»Papperlapapp! Sie sind ein bildhübsches Mädchen!«
»Das kann überhaupt nicht sein! Wie könnte es sonst angehen, dass einer meiner Brüder – wie kürzlich geschehen – einen äußerst unattraktiven Mann mittleren Alters mit ins Atelier bringt und ihn mir als meinen zukünftigen Ehemann vorstellt, mit dem Argument, etwas Besseres könne ich nicht bekommen? Der Mann war schrecklich! Als Schneider war er natürlich gut gekleidet, aber er sah mit seinen hervortretenden Augen und wulstigen Lippen aus wie ein Kugelfisch, und dazu hatte er noch Hände wie ein Oktopus. Gestern Abend hat er mich zum Essen ausgeführt. Ich hatte kaum meine Suppe gekostet, als der alte Lüstling auch schon meine Oberschenkel betatschte.«
»Und was haben Ihr Vater und Ihre Brüder dazu gesagt?«
»Ich habe es ihnen verschwiegen, weil ich wusste, dass ich heute Morgen fortgehen würde. Außerdem hätten sie mir sicher nicht geglaubt. Sie hielten den Kerl für den perfekten Kandidaten, weil er viel Geld hat.«
»Na, dann sollen sie ihn doch selbst heiraten.«
Emily musste lachen. Annie lächelte.
»Dann haben Sie die Stellung so weit entfernt von Perth also angenommen, um den alten Fischkopp nicht heiraten zu müssen«, sagte sie.
»Das war nur einer der Gründe, Annie.« Emily wurde ernst. »Mein Vater und meine Brüder kontrollieren mich ununterbrochen und lassen mich keine Sekunde aus den Augen. Sie kritisieren alles, was ich mache. Ich habe weder Freunde noch ein Leben außerhalb meiner Arbeit. Mit inzwischen zweiundzwanzig habe ich noch nie einen festen Freund gehabt. Dass mein Bruder diesen Fischkopp anschleppte und ihn mir als perfekten Ehemann anpries, brachte das Fass schließlich zum Überlaufen. Ich musste einfach weg.«
»Das kann ich nur allzu gut nachvollziehen«, grummelte Annie. »Allein die Vorstellung, dass man Ihnen einen Ehemann aussucht! Wo sind wir denn? Mag sein, dass ein solches Vorgehen in manchen Kulturen üblich ist, aber wir leben in Australien!«
Emily wurde von Dankbarkeit und Erleichterung überwältigt. Endlich verstand einmal jemand, was sie empfand! »Meine Schulkameraden hörten irgendwann auf, mich zu Festen einzuladen, weil ich immer so lange arbeiten musste und meinem Vater und meinen Brüdern immer irgendeine Ausrede einfiel, warum ich nicht hingehen konnte«, berichtete sie. »Einmal habe ich in der Kirche einen netten jungen Mann kennengelernt. Wir schafften es tatsächlich, uns ein paarmal ungestört zu treffen, bis mein ältester Bruder dahinterkam. Das war dann das Ende. Es gab da auch einen Nachbarn, den ich sehr nett fand und der an mir interessiert war, aber einer meiner Brüder verscheuchte ihn.«
Annie starrte sie verblüfft an.
»Klingt ziemlich erbärmlich, nicht wahr?«, meinte Emily verlegen.
»Das ist doch nicht Ihre Schuld! Aber Ihnen ist hoffentlich klar, dass das Leben auf einer großen Station, wo Schafe oder Rinder gezüchtet werden, in sozialer Hinsicht auch nicht gerade großen Spielraum bietet«, gab Annie zu bedenken.
»Ja, meine neue Arbeitgeberin hat mir das schon mitgeteilt.«
»Und trotzdem haben Sie die Stelle angenommen? Tauschen Sie nicht ein Gefängnis gegen ein anderes?«